Diagnostische und therapeutische Aspekte sekundärer ... - APA
Diagnostische und therapeutische Aspekte sekundärer ... - APA
Diagnostische und therapeutische Aspekte sekundärer ... - APA
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Vortrag auf der Tagung »Sek<strong>und</strong>äre Traumatisierung – ein Kernproblem der Psychiatrie«,<br />
veranstaltet von der Akademie für Sozialmedizin e.V. Hannover im LKH Wunstorf (26.08.2004)<br />
<strong>Diagnostische</strong> <strong>und</strong> <strong>therapeutische</strong> <strong>Aspekte</strong><br />
sek<strong>und</strong>ärer psychischer Traumatisierung<br />
von Psychosekranken<br />
Stefan Gunkel *)<br />
Einführung<br />
Der Titel meines Vortrages suggeriert möglicherweise, ich könnte Handreichungen<br />
zu einer zielsicheren Diagnostik psychotraumatisch bedingter Zusatzschäden<br />
bei Psychosekranken liefern <strong>und</strong> wirkungsvolle Interventionsstrategien<br />
referieren. Das ist nicht der Fall. Ich möchte vielmehr Denkanstöße <strong>und</strong> Anregungen<br />
geben <strong>und</strong> darlegen, inwiefern das Erkranken an einer Psychose bzw. das<br />
Leben mit dieser Krankheit, besonders aber das Behandeltwerden in einer<br />
psychiatrischen Institution eine vielschichtige Belastung, ein »Multitrauma«,<br />
darstellt, unter dem Schizophrene leiden <strong>und</strong> das in der Therapie unbedingt<br />
angesprochen werden sollte.<br />
Ich will gleich einräumen, dass man hier wissenschaftlich <strong>und</strong> therapeutisch<br />
ziemlich am Anfang steht. Nur wenige beschäftigen sich überhaupt ernsthaft<br />
mit Themenkomplexen wie »Psychose <strong>und</strong> Trauma« oder »Schizophreniebehandlung<br />
als traumatisierende Erfahrung«. Schon die hier anklingende Gr<strong>und</strong>these,<br />
dass die schizophrene Psychose, als Prototyp einer schweren seelischen Erkrankung,<br />
im Gr<strong>und</strong>e eine komplexe traumatische Erfahrung darstellt, die ungünstige<br />
Auswirkungen auf den Erkrankten hat, ist in der psychiatrischen Literatur ein<br />
relatives Novum.<br />
So sind auch entsprechende Untersuchungen eine Rarität <strong>und</strong> erst seit ca. 10<br />
Jahren durchgeführt worden. Weltweit habe ich gerade mal 20 entsprechende<br />
Studien gef<strong>und</strong>en, in denen psychische Belastungsstörungen als Folge einer schizophrenen<br />
Psychose bzw. einer eingreifenden psychiatrischen Behandlung Forschungsgegenstand<br />
waren.<br />
Das ist erstaunlich wenig, zumal jeder Psychiater, Pfleger oder Psychotherapeut,<br />
der mit schizophrenen Patienten zu tun hat, aus Schilderungen das Grauen<br />
<strong>und</strong> Entsetzen wahnhafter oder halluzinatorischer Zustände kennt. Viele Patienten<br />
berichten darüber hinausgehend - sowohl klagend als auch anklagend - von<br />
psychischen Belastungen bzw. deren Folgeerscheinungen, welche zurückgehen<br />
*) Anschrift des Autors: Dipl.-Psych. Stefan Gunkel, Klinik für Psychiatrie <strong>und</strong> Psychotherapie, Klinikum Hannover, Rohdehof 3, D-30853 Langenhagen,<br />
(0511) 7300-520 / -501 (Sekr.) / Fax: -518; email: Stefan.Gunkel.Langenhagen@Klinikum-Hannover.de
auf äußerst unangenehme (traumatische) Erlebnisse im Kontext stationärer<br />
psychiatrischer Behandlung.<br />
Natürlich stehen psychiatriebedingte Extrembelastungen meist untrennbar in<br />
Verbindung mit der Psychose, zumal diese ja einer Unterbringung vorausgeht.<br />
Ob allerdings eine direkte Beziehung zwischen der spezifischen Ausprägung bzw.<br />
Schwere psychotischer Zustände oder der Intensität intensivpsychiatrischer<br />
Maßnahmen einerseits <strong>und</strong> der tatsächlich erlebten Traumatizität andererseits<br />
besteht, ist empirisch nicht erwiesen. Inwieweit psychotische Zustände <strong>und</strong><br />
auch psychiatrische Behandlungserfahrungen ein Trauma darstellen, ist nämlich<br />
in erheblichem Umfang abhängig von der jeweils subjektiven Bewertung des<br />
Geschehens.<br />
Wie auch immer die Wirkstärke von Belastungen determiniert ist, beide Bereiche,<br />
Psychose <strong>und</strong> akutpsychiatrische Intervention - allerdings auch die Vorgänge<br />
im Zusammenhang mit der manchmal nicht ganz freiwilligen Unterbringung<br />
– sind mit allerlei unliebsamen, drastischer gesagt traumatischen Erfahrungen<br />
verknüpft, die es zu realisieren <strong>und</strong> zu identifizieren gilt, damit wenigstens auf<br />
dem Gebiet der iatrogenen, sek<strong>und</strong>ären Schädigung präventive Strategien entwickelt<br />
werden können.<br />
Damit die Darlegung traumatogener Gesichtspunkte schizophrenen In-der-Welt-<br />
Seins bei Ihnen, den psychiatrischen Experten, nicht das Gegenteil von Sensibilisierung<br />
bewirkt, werde ich die erkrankungsimmanenten Belastungsfaktoren<br />
der Schizophrenie nur überblicksartig ansprechen <strong>und</strong> mich danach auf die von<br />
der Psychiatrie zu verantwortenden Traumatisierungsgesichtspunkte konzentrieren.<br />
Seite 2 von 22
Psychose als traumatisierende Erfahrung<br />
[Abb. 1] Im Hintergr<strong>und</strong> sehen Sie den bekannt gewordenen Holzschnitt »Der<br />
Schrei« von Edvard Munch. (Sie werden auch gehört haben, dass dieses Werk<br />
vor wenigen Tagen aus dem Museum in Oslo gestohlen wurde.) Munch hat - wie<br />
einige andere Künstler auch, z.B. Salvadore Dali mit seinen dysmorphen Verformungen<br />
von Personen <strong>und</strong> Gegenständen - die Fähigkeit gehabt, extreme psychische<br />
Zustände zur Darstellung zu bringen. Hier erhält man eine Ahnung davon,<br />
was unbeherrschbare psychotische Angst im Erleben tatsächlich bedeutet.<br />
Abb. 1: »Der Schrei«, 1893,<br />
(Edvard Munch).<br />
Seite 3 von 22<br />
Abb. 2: »Paranoia«, 1997,<br />
(Maria Burd).<br />
Ich meine, dass besonders bei paranoid-schizophrenen Erkrankungen Symptome<br />
auftreten, die nicht nur belastungsintensiv, sondern potentiell eine traumatische<br />
Erfahrung darstellen.<br />
[Abb. 2] In erster Linie sind hier negativistische Wahnideen zu nennen, z.B. das<br />
Empfinden, von Personen oder Mächten manipuliert, verfolgt, gequält oder bestraft<br />
zu werden.<br />
Diese ängstigenden Vorstellungen gehen manchmal soweit, dass eine Todesbedrohung<br />
wahrgenommen wird.<br />
Das Selbst- <strong>und</strong> Welterleben mancher Patienten kann so stark verändert sein,<br />
dass sie sich selbst als Unwesen oder Dämon erleben, oder z.B. davon überzeugt<br />
sind, ihrer geistigen Autonomie beraubt zu sein.
Einige schizophren Erkrankte berichten sogar von regelrechten Spaltungserlebnissen,<br />
von Zerrissenheit des Denkens, von Unverb<strong>und</strong>enheits- <strong>und</strong> Entfremdungsgefühlen.<br />
Andere erleben gewissermaßen die Auflösung der Ich-Grenzen.<br />
Nicht weniger quälend sind akustische Halluzinationen <strong>und</strong> kognitive Störungen,<br />
wie das Rasen, das Lautwerden, die Ausbreitung oder das Abreißen von Gedanken.<br />
Solche Erscheinungen können bedrohliche Form annehmen, wenn Betroffene sich<br />
nicht nur permanent kommentierenden oder schimpfenden, sondern auch imperativen<br />
Stimmen ausgesetzt erleben.<br />
Da Kranke vielfach nicht in der Lage sind, ihre intensiven Wahrnehmungen wegen<br />
deren Fremdartigkeit zu artikulieren <strong>und</strong> darüber hinaus manchmal wahnbedingt<br />
das Sprechen darüber verboten bzw. hochgefährlich ist, geraten viele darüber<br />
in Verzweiflung.<br />
[Abb. 3] Möglicherweise befand sich der Maler van Gogh (1853-1890) in einer<br />
solchen Lage, als er sich 1888 (am 23.12.1888) am linken Ohr selbst verstümmelte.<br />
Es wird ja vermutet, dass er tinnitusartige Ohrgeräusche wahrnahm, daraufhin<br />
einen Hörwahn entwickelte <strong>und</strong> in einem Anfall von Verzweiflung per Radikalschnitt<br />
mit einem Rasiermesser versuchte, die quälenden Phänomene zu beseitigen.<br />
Anschließend soll der Maler - bevor er in die Klinik von Arles kam - das abgetrennte<br />
Ohr gut verpackt einer Prostituierten übergeben haben 1 . Kurz darauf<br />
brachte man ihn nach einem anfallsartigen Vergiftungswahn <strong>und</strong> wegen Halluzinationen<br />
in eine Nervenheilanstalt. 2<br />
Circa ein Jahr später (am 27. Juli 1890) suizidierte sich van Gogh im Kornfeld mit einem Revolver. 3 Unter<br />
Fachleuten stehen allerdings die Einzelheiten des Vorfalls mit der Ohrabtrennung nicht mit letzter<br />
Sicherheit fest. Ob z.B. tatsächlich akustische Halluzinationen vorgelegen haben, oder es sich um eine<br />
nervliche Krise, eine schwere Depression, ein epileptisches Anfallsleiden oder gar um einen unkontrollierten<br />
Erregungszustand als Folge einer Absinth-Intoxikation gehandelt hat. Außerdem wurde spekuliert, ob den<br />
1) »In Arles kam Gauguin zu ihm, jedoch gerieten die beiden Fre<strong>und</strong>e ständig in Streit. Van Gogh litt unter den ersten<br />
Anfällen seiner psychischen Störungen <strong>und</strong> schnitt sich die Ohrmuschel ab ...« (aus: Weltgeschichte der Malerei in 27<br />
Bänden, Editions Recontre, Lausanne, Bd. 18, S. 168). »In einem Augenblick geistiger Überspannung schnitt Vincent<br />
sich sein rechtes Ohr ab. Nervenkrisen, Halluzinationen <strong>und</strong> Anfälle von Verfolgungswahn wiederholten sich ...« (aus:<br />
Kindlers Malerei Lexikon in 15 Bänden, Bd. 5, S. 114). »Gauguin trifft am 20. Oktober 1888 ein; es folgen für beide zwei<br />
Monate fruchtbarer Arbeit. Aber die Verschiedenartigkeit ihrer Temperament sowie die dauernden Streitigkeiten reiben<br />
die schwachen Nerven van Goghs völlig auf. In der Nacht des 23. Dezember versucht er zweimal, sich mit einem<br />
Rasiermesser auf den Fre<strong>und</strong> zu stürzen. Dann richtet er das Messer gegen sich selbst, um sich zu bestrafen, <strong>und</strong><br />
schneidet sich ein Ohr ab, das er gut verpackt einem Mädchen in einem Bordell bringt ...« (aus: Galerie der großen<br />
Maler, Nr. 5: van Gogh, Bastei Verlag; vgl. auch "Van Gogh" von Rene Huyghe, München, Südwest Verlag, S. 80).<br />
2) Am 7. Februar 1889 kam er freiwillig für 10 Tage beobachtungshalber in die von Dr. Théophile Peyro geleitete Klinik<br />
SAINT PAUL-DE-MAUSOLE in Saint-Rémy-de-Provence. Im Mai wurde er dann noch einmal – <strong>und</strong> diesmal nach einem<br />
„Bürgerbegehren“ per Beschluss – für 6 Wochen eingewiesen.<br />
3) Franceschini, S. (2002). Vincent van Gogh: Wie das Genie verrückt wurde / Glanz <strong>und</strong> Elend in der Anstalt / Das<br />
tragische Ende eines Genies. Internetpublikation vom 8.12.02 [http://www.schuelerweb.de/Referate/kun0025.asp];<br />
siehe auch den schönen Text von Bruno Wenk [http://www.vangoghgallery.com/international/german/misc/bio.htm].<br />
Seite 4 von 22
Maler ein vorausgegangener Streit mit Gauguin zur Selbstverletzung veranlasst hat oder ihn ein Degenhieb<br />
des Künstlerkollegen traf. Weiterhin wird diskutiert, ob es nicht eher das rechte Ohr gewesen sein dürfte,<br />
oder lediglich ein Teil der Ohrmuschel bzw. eher des Läppchens, welches vielleicht auch nur angeschnitten<br />
war. Andere glauben, dass es sich ohnehin nur um eine Legende handelt, denn anderenfalls hätte der Künstler<br />
auf der Stelle verbluten müssen (vgl. Koldehoff, 2002, 2003a,b) 4 .<br />
Nun aber zurück zur schizophrenen Symptomatik.<br />
[Abb. 4] Gelegentlich treten auch penetrante Leibhalluzinationen sowie sog.<br />
Verkennungen auf, die entsprechende Fehlhandlungen auslösen können.<br />
Abb. 3: »Selbstbildnis mit verb<strong>und</strong>enem Ohr«, 1889,<br />
(Vincent van Gogh).<br />
Seite 5 von 22<br />
Abb. 4: »CataTon not happy«, 2000,<br />
(Fabrice Plas).<br />
Schließlich seien Depersonalisationsphänomene erwähnen, bei denen der Kranke<br />
seine eigene Erscheinung desintegriert oder Teile des Körpers verzerrt oder<br />
fremd empfindet.<br />
Insgesamt ist von einer desintegrierenden Qualität schizophrener Psychosen<br />
auszugehen, nicht nur wegen der zahlreichen Symptome oder die Mitteilung der<br />
Diagnose, sondern auch bedingt durch einschneidende Verschlechterungen im<br />
psychosozialen Gefüge der Betroffenen.<br />
Nicht selten kommt es ja zur Trennung vom Partner, zum Arbeitsplatzverlust,<br />
zur Kündigung der Wohnung <strong>und</strong> zu Distanzierungsreaktionen im personellen Umfeld<br />
des Kranken.<br />
4) Koldehoff, S. (2002). Meier-Graefes van Gogh. Wie Fiktionen zu Fakten werden. (Reihe: Schriften zur Kunstkritik, Bd. 12,<br />
herausgeg. von Walter Vitt). Köln/Nördlingen: AICA.<br />
Koldehoff, S. (2003). Vincent van Gogh. Reinbek: Rowohlt TB.<br />
Koldehoff, S. (2003). Van Gogh, Mythos <strong>und</strong> Wirklichkeit. Köln: Dumont.<br />
5) Gureje, O., Harvey, C. & Herrman, H. (2004). Self-esteem in patients who have recovered from psychosis: Profile and<br />
relationship to quality of life. Australian and New Zealand Journal of Psychiatry, 38(5), 334-338.
Die Folgewirkungen sind Verlust von Selbstvertrauen <strong>und</strong> Lebensqualität (Gureje<br />
et al., 2004), 5 nicht selten auch mit einem suizidalen Endpunkt.<br />
Psychiatrische Behandlung als traumatisierende Erfahrung<br />
Die Zeiten offensichtlich inhumaner Behandlung psychisch Kranker Menschen,<br />
deren Vorgehen <strong>und</strong> Maßnahmenkatalog geprägt war durch Unkenntnis, Bestrafung<br />
oder Nichtbehandlung - m.a.W. in Verwahrung bestand - sind sicherlich<br />
vorüber.<br />
Dennoch sei kurz erinnert an einige Prozeduren früherer Epochen.<br />
Abb. 5: »Extraction of the Stone of Madness«,<br />
1500, (Hieronymus Bosch, 1450-1516).<br />
Abb. 6: Psychiatriegeschichte ist mit inhumanen<br />
Praktiken <strong>und</strong> Unterbringungsbedingungen verb<strong>und</strong>en.<br />
Anmerkung: Der „Beruhigungsstuhl“ (tranquilizing chair) stammt aus dem<br />
18. Jahrh<strong>und</strong>ert, geht auf Benjamin Rush zurück (HPSC3010/pic/ture)<br />
<strong>und</strong> war dazu gedacht sehr unruhige Patienten zu sedieren. Diese konnten<br />
durchaus über Wochen in den Stuhl geschnallt bleiben. Eine ähnlichen<br />
Therapieansatz bildete der Schleuder- bzw. Kreiselstuhl (gyrating<br />
chair). Es gab noch andere, vom heutigen Kenntnisstand betrachtet, absurde<br />
Behandlungsmethoden, wie z.B. eine Brücke, die so konstruiert<br />
war, dass der hinübergehende Patient unerwartet in ein darunter platziertes<br />
Becken mit Eiswasser fiel. Die hinter solchen Schockverfahren<br />
steckende Vorstellung war, dass ein intensives Erschrecken zur Beendigung<br />
des Krankheitszustands, mithin zur Wiederherstellung von Ges<strong>und</strong>heit<br />
führt. Repressive Maßnahmen dieser Art führten scheinbar zum<br />
Erfolg, allerdings handelte es sich bei den festgestellten Reaktionen der<br />
Patienten eher um ängstliche Unterordnung <strong>und</strong> Submissivität <strong>und</strong> nicht<br />
um echte Befreiung von psychiatrischen Symptomen.<br />
[Abb. 5] Auf diesem Ausschnitt eines Gemäldes von Hieronymus Bosch aus dem<br />
Jahre 1500 ist eine sog. »Stein-Operation« zu erkennen. Das war ein mittelalterliches<br />
chirurgisches Verfahren, das darin bestand, in den Schädel des Psychosekranken<br />
ein Loch zu schlagen, in der Hoffnung, die Verrücktheit des<br />
Patienten so entweichen lassen, also beseitigen zu können.<br />
[Abb. 6] Auch wenn man einen Zeitsprung von mehreren h<strong>und</strong>ert Jahren macht,<br />
findet man in der Geschichte unseres Faches menschenunwürdige Behandlungspraktiken<br />
<strong>und</strong> Unterbringungsbedingungen für psychisch Kranke. Zwar hat sich<br />
Seite 6 von 22
in den westlichen Ländern während der letzten 50 Jahre sehr viel geändert. In<br />
anderen Regionen unseres Kontinents, wie in Südosteuropa, ist die Situation<br />
Psychosekranker in den Nervenheilanstalten noch heute durchaus traumatisierend.<br />
Abb. 7: Psychiatrische Klinik Nis (Süd-Serbien, 1994, Bilder einer Reportage von Achim Pohl).<br />
[Abb. 7] Diese Fotos entstammen einer Reportage über die psychiatrische Klinik<br />
Nis im Süden Serbiens; sie vermitteln einen Eindruck der katastrophalen dortigen<br />
Zustände während eines Embargos im Winter 1994, als täglich mehr als zehn<br />
Insassen starben, Krankheiten grassierten, bei Minusgraden keine Heizungen<br />
vorhanden waren <strong>und</strong> Patienten sich im Bett gegenseitig wärmten.<br />
Auf andere zu zeigen ist natürlich einfacher, als eigene Missstände <strong>und</strong> Probleme<br />
zu betrachten.<br />
Die Diskussion über Stigmatisierung <strong>und</strong> Etikettierung psychisch Kranker (z.B.<br />
Scheff, 1973 6 ; Hohmeier, 1975 7 ; Trojan, 1978 8 ; Link et al., 1989 9 ; Finzen,<br />
2000 10 , 2001 11 ) sowie über sek<strong>und</strong>äre Schädigungen von Patienten durch psy-<br />
6) Scheff, T.J. (1973). Das Etikett „Geisteskrankheit“. Soziale Interaktion <strong>und</strong> psychische Störung. Frankfurt a.M.: S. Fischer<br />
(Orig. „Labeling madness“, Upper Saddle, NJ, U.S.A.: Prentice-Hall, 1975).<br />
7) Hohmeier, J. (1975). Stigmatisierung als sozialer Definitionsprozeß. In: M. Brusten & J. Hohmeier (Hrsg.), Stigmatisierung<br />
Bd. 1: Zur Produktion gesellschaftlicher Randgruppen (S. 5-24). Neuwied: Herrmann Luchterhand..<br />
8) Trojan, A. (1978). Psychisch krank durch Etikettierung? Die Bedeutung des Labeling- Ansatzes für die Sozialpsychiatrie.<br />
München: Urban & Schwarzenberg.<br />
9) Link, B.G., Cullen, F.T., Struening, R., Shrout, P.E. & Dohrenwend, B.P. (1989). A modified labeling theory approach to<br />
mental disorders: An empirical assessment. American Sociological Review, 54, 400-423.<br />
10) Finzen, A. (2000). Stigma, Stigmabewältigung, Entstigmatisierung. Psychiatrische Praxis, 27, 316-320.<br />
11) Finzen, A. (2001). Psychose <strong>und</strong> Stigma. Stigmabewaltigung - zum Umgang mit Vorurteilen <strong>und</strong> Schuldzuweisungen.<br />
Bonn: Psychiatrie-Verlag.<br />
12) Moßler, A. (1981). Der Aufenthalt in einem psychiatrischen Krankenhaus aus der Sicht der Patienten. Versuch der<br />
Darstellung der emotionalaffektiven Reaktionsweisen auf die Hospitalisierung. Dissertation.<br />
13) Finzen, A. (Hg.) (1974). Hospitalisierungsschäden in psychiatrischen Krankenhäusern. Ursachen, Behandlung, Prävention.<br />
München: Piper.<br />
Seite 7 von 22
chiatrische Behandlung bzw. innerhalb psychiatrischer Kliniken ist bereits seit<br />
den 70er Jahren intensiv geführt worden (Moßler, 1980 12 ; Finzen, 1994 13 ).<br />
Sie fand ihren Niederschlag in der Berufung der »Psychiatrie-Enquěte-Kommission«<br />
bzw. in einer kritischen Bestandsaufnahme der b<strong>und</strong>esdeutschen psychiatrischen<br />
Versorgungslandschaft.<br />
Im Rahmen der „Psychiatriereform“ kam es zu einer deutlichen Verbesserung baulicher<br />
<strong>und</strong> personeller Voraussetzungen sowie einer Veränderung der institutionellen<br />
Versorgungsstrukturen (Bettenreduzierung, De-Institutionalisierung, Dezentralisierung).<br />
Abb. 8: Impressionen aus der heutigen Psychiatrie.<br />
[Abb. 8] Der Schrecken heutiger psychiatrischer Anstalten stellt sich dementsprechend<br />
anders dar. Das hier sind Bilder aus dem Internet, die aber amerikanische<br />
Verhältnisse in der Psychiatrie zeigen.<br />
Die Patientin unten leidet vermutlich an einer chronischen Psychose <strong>und</strong> weist<br />
jene Symptome auf, die für einen schizophrenen Residualzustand typisch sind,<br />
wenn dieser sich mit einem Hospitalismussyndrom <strong>und</strong> schädlichen Auswirkungen<br />
langzeitiger Neuroleptikaeinnahme paart, nämlich Antriebslosigkeit, Interessenverlust<br />
<strong>und</strong> Apathie.<br />
Russel Barton hatte 1966 Hospitalisierungsschäden beschrieben (Barton,<br />
1966) 14 <strong>und</strong> diese auf besondere Zustände in englischen psychiatrischen Kranken-<br />
14) Barton, R. (1966). Institutional neurosis. Bristol: John Wright (dtsch.: "Hospitalisierungsschäden in psychiatrischen Krankenhäusern",<br />
in: A. Finzen (Hg.), Hospitalisierungsschäden in psychiatrischen Krankenhäusern: Ursachen, Behandlung,<br />
Prävention, S. 11-79, München: Piper, 1997).<br />
Seite 8 von 22
häusern der damaligen Zeit zurückgeführt. Hierfür hatte er ein Faktorenbündel<br />
verantwortlich gemacht, das bis heute nicht vollständig beseitigt ist:<br />
(Sie sehen die Faktoren unten rechts auf der Abbildung)<br />
(1) fehlender Kontakt zur Außenwelt<br />
(2) erzwungene Untätigkeit im Tagesablauf<br />
(3) autoritäres Verhalten von Ärzten <strong>und</strong> Pflegepersonal<br />
(4) Verlust von Fre<strong>und</strong>en, persönlichem Besitz <strong>und</strong> Privatleben<br />
(5) Medikamente<br />
(6) Anstaltsatmosphäre<br />
(7) mangelnde Zukunftsaussichten außerhalb der Klinik<br />
Erfreulicherweise sind solche Entwicklungen immer seltener anzutreffen, was an<br />
Fortschritten in der Pharmakotherapie ebenso liegt, wie am sozialpsychiatrischen<br />
Ansatz insgesamt.<br />
Abb. 9: Kommt Psychiatrie auch ohne Zwang aus?<br />
[Abb. 9] Zu den zentralen äußeren traumatisierenden Faktoren, denen akutkranke<br />
Psychotiker ausgesetzt sind, zählen in erheblichem Maße Reaktionen der sozialen<br />
Umwelt, der Gerichte, der Polizei, Feuerwehr <strong>und</strong> anderer Institutionen.<br />
Zweitens auch die Bedingungen der Hospitalisierung sowie - ganz wesentlich - im<br />
psychiatrischen Krankenhaus durchgeführte Behandlungsmaßnahmen, die je nach<br />
Krankheitszustand - z.B. bei Erregungs- <strong>und</strong> Gefährdungssituation – durchaus<br />
eingreifend sein können.<br />
Seite 9 von 22
Moderne soziale Psychiatrie sollte zwar gewaltfrei sein, ist aber allenfalls gewaltarm.<br />
Der italienische Soziologe Alonzo (2000) 15 hat den Prozess der »sek<strong>und</strong>ären<br />
Traumatisierung« durch eine schwerwiegende (internistische) Erkrankung in<br />
Verbindung mit einer erforderlichen invasiven Behandlung beschrieben <strong>und</strong> dabei<br />
einen Begriff verwendet, der die Lebenssituation psychiatrieerfahrener Schizophrener<br />
passend beschreibt.<br />
Das infernalische Doppelpack einer ängstigenden Krankheit <strong>und</strong> einer gewaltsame<br />
Eingriffe beinhaltenden Therapie bezeichnete er als »accumulated burden<br />
of adversity«, übersetzbar mit »sich anhäufende Unglückslast«. Außerdem wies<br />
Alonzo darauf hin, dass die im Rahmen der Therapie erzeugten psychischen Störungen,<br />
d.h. iatrogen begründete Belastungsreaktionen oder Ängste, äußerst ungünstige<br />
Effekte im Sinne nachlassender Therapietreue (Compliance) haben.<br />
Welche Belastungen kumulieren mit Blick auf die psychiatrische Behandlung auf<br />
einer Akutstation?<br />
Um Ihnen einzelne traumatogene <strong>Aspekte</strong> psychiatrischer Einflußnahme vor Augen<br />
zu führen, möchte ich Angaben von 110 schizophren Erkrankten einer Berliner<br />
Klinik vorstellen, die ich 1993 ausführlich befragt habe.<br />
Unter anderem sollten sie berichten, welche Erfahrungen <strong>und</strong> Erlebnisse im Zusammenhang<br />
mit der psychiatrischen Behandlung als extrem negativ in Erinnerung<br />
geblieben sind.<br />
psychiatrische Klinik ist/war negativ (nnb) 43%<br />
Belastung durch Mitpatienten 40%<br />
Monotonie des Tagesablaufs (Leerlauf, Langeweile) 26%<br />
in Psychiatrie abgeschoben (von der Gesellschaft) 18%<br />
entwürdigende/menschenunwürdige Situationen<br />
(z.B. ausgezogen werden, keine Privatsachen mitnehmen) 18%<br />
anstrengende Atmosphäre (räum-<br />
liche Bedingungen, Lautstärke, Unruhe) 17%<br />
nicht besucht/unterstützt von Verwandten/Fre<strong>und</strong>en 14%<br />
schlechte Unterbringung 11%<br />
von d. Außenwelt abgeschnitten 6%<br />
Tragen von Anstaltskleidung 5%<br />
wenig/keine Aussicht auf Entlassung 5%<br />
unhaltbare Zustände bzw. schlechte Infrastruktur<br />
(Essen, Eßsitten) 5%<br />
keine bzw. zu wenig Privatsphäre 3%<br />
Anonymität, zwischenmenschliche Kälte in der Klinik 3%<br />
Abb. 10: Allgemeine beeinträchtigende Bedingungen psychiatrischer Anstalten.<br />
15) Alonzo, A.A. (2000). The experience of chronic illness and post-traumatic stress disorder: The consequences of<br />
cumulative adversity. Social Science and Medicine, 50(10), 1475-1484.<br />
Seite 10 von 22
[Abb. 10] Hier sind allgemeine <strong>und</strong> atmosphärische Bedingungen psychiatrischer<br />
Behandlung aufgeführt, welche von den Befragten als stark beeinträchtigend<br />
herausgestellt wurden.<br />
Generell bzw. phasenweise extrem unzufrieden mit der Krankenhausbehandlung<br />
waren immerhin 43%.<br />
Fast ebenso viele fühlten sich durch Mitpatienten stark belastet.<br />
Dies korrespondiert mit Ergebnissen einer Studie aus England (Thomas et al.,<br />
1993). 16 Hier stellten körperliche <strong>und</strong> sexuelle Belästigungen durch Mitpatienten<br />
für 75% der stationär Behandelten eine nicht unwesentliche Belastung dar. Hingegen<br />
gaben 39% der Befragten an, bei der Aufnahme körperliche Gewalt erlitten<br />
zu haben.<br />
In der Studie von Gallop et al. (1999) 17 fühlten 85% der Frauen sich auf geschlechtsgemischten<br />
Stationen nicht hinreichend sicher vor sexuellen Übergriffen<br />
anderer Patienten. Cusack et al. (2003) 18 berichten, dass 7% solche sexuellen<br />
Übergriffe am eigenen Leib erfahren <strong>und</strong> 5% diese miterleben.<br />
Doch ... zurück zu unserer eigenen Untersuchung ...<br />
R<strong>und</strong> ein Fünftel der Berliner Studienteilnehmer litt in besonderem Maße unter<br />
der Eintönigkeit <strong>und</strong> dem Empfinden abgeschoben worden zu sein <strong>und</strong> sonstigen<br />
entwürdigenden Umständen in der Klinik.<br />
vollstationäre Behandlung (Klinik) 42%<br />
Behandlung insgesamt/allgemein 34%<br />
Unfre<strong>und</strong>lichkeit/Desinteresse von Therapeuten 31%<br />
zu wenig / wenig effektive therap. Einzelgespräche 28%<br />
Tagesklinik 20%<br />
wenig Verständnis, Mitgefühl, Vertrauen, emotionaler<br />
Beistand, keine gute <strong>therapeutische</strong> Beziehung 20%<br />
Länge der Behandlung (Klinikaufenthalt) 18%<br />
zu wenig Information/Aufklärung 14%<br />
unzureichende Betreuung durch niedergel. NA/Psyth. 12%<br />
fachliche Inkompetenz etc. 11%<br />
kreative Therapie, bildnerisches Gestalten 11%<br />
Arbeits- <strong>und</strong> Beschäftigungstherapie 9%<br />
wenig konkr. Hilfe/Unterstützung durch Therapeuten 8%<br />
häufiger Betreuerwechsel (Diskontinuität) 8%<br />
AT / NK / div. Gruppentherapie 6% jeweils<br />
Abb. 11: Spezielle negative Gesichtspunkte bisheriger psychiatrischer Behandlung.<br />
16) Thomas, C.S., Stone, K., Osborn, M., Thomas, P.F. & Fisher M. (1993). Psychiatric morbidity and compulsory admission<br />
among UK-born Europeans, Afro-Caribbeans and Asians in Central Manchester. British Journal of Psychiatry, 163, 91-99.<br />
17) Gallop, R., McCay, E., Guha, M. & Khan, P. (1999). The experience of hospitalization and restraint of women who have a<br />
history of childhood sexual abuse. Health Care for Women International, 20, 401-416.<br />
18) Cusack, K.J., Frueh, B.C., Hiers, T., Suffoletta-Maierle, S. & Bennett, S. (2003). Trauma within the psychiatric setting: A<br />
preliminary empirical report. Administration and Policy in Mental Health, 30(5), 453-460.<br />
Seite 11 von 22
[Abb. 11] Hier sind spezielle <strong>Aspekte</strong> der psychiatrischen Behandlung aufgelistet,<br />
die von den Befragten als besonders negativ beschrieben wurden.<br />
Ein Drittel fühlten sich von Therapeuten z.B. herablassend behandelt <strong>und</strong> hinsichtlich<br />
Anzahl <strong>und</strong> Qualität nicht ausreichend mit Einzelgesprächen versorgt.<br />
Auch die Information wurde als unzureichend erlebt <strong>und</strong> die Aufenthalte als zu<br />
lang, jedenfalls von einem Fünftel der Patienten.<br />
[Abb. 12] Erwartungsgemäß berichteten zahlreiche Patienten auch sehr kritisch<br />
über die erhaltene medikamentöse Behandlung. Dazu diese Folie.<br />
Psychopharmaka sind (allgemein) negativ 42%<br />
inadäquate Präparate, Dosierung etc. 29%<br />
Leiden unter Nebenwirkungen (nnb)<br />
spezielle Medikamenten-Nebenwirkungen:<br />
psychische <strong>und</strong> emotionale Störungen (einge-<br />
22%<br />
schränkte Empfindungsfähigkeit, Depressivität) 32%<br />
Antriebslosigkeit, starke Müdigkeit 26%<br />
kognitive Beeinträchtigungen 22%<br />
Krämpfe, Blickstarre 18%<br />
motorische Unruhe oder Schlafstörungen 15%<br />
innere Unruhe 12%<br />
Bewegungsstörungen, Steifheit, Robotergang 12%<br />
massiver Speichelfluß 11%<br />
Gewichtszunahme 8%<br />
Schmerzen, Brechreiz, Schwindel, Sehstörungen, Herzstiche 8%<br />
sexuelle Funktionsstörungen 6%<br />
Abb. 12: Medikamentöse Behandlung wird in verschiedener Hinsicht als belastend erlebt.<br />
Wenn man die Häufigkeit negativer Bewertungen psychopharmako<strong>therapeutische</strong>r<br />
Erfahrungen sowie einschneidender Nebenwirkungen betrachtet, ist festzuhalten,<br />
dass 42% diese Art der Behandlung generell als Beeinträchtigung <strong>und</strong><br />
weniger als Hilfe erlebt haben. 29% empfanden v.a. Art <strong>und</strong> Dosierung der verordneten<br />
Präparate als unzureichend <strong>und</strong> 22% der Patienten beklagten arge Belastungen<br />
wegen aufgetretener Nebenwirkungen.<br />
Retrospektiv wurden hierbei psychische Auswirkungen gegenüber motorischen,<br />
vegetativen <strong>und</strong> anderen körperlichen Beschwerden als stärker belastend bewertet.<br />
Eine Schizophrenieerfahrene, die in mehreren psychiatrischen Kliniken der Region<br />
Hannover behandelt wurde, schrieb kürzlich in einem autobiografischen<br />
Buch: »Haldol durchwühlt den Geist <strong>und</strong> die Seele wie ein Tiefflug. (...) Man altert<br />
in zwei St<strong>und</strong>en um 20 Jahre.« (Bauer, 2004, S. 37f). 19<br />
19) Bauer, G. (2004). Graue Wahrheit: Schizophrenie - eine heilbare unheilbare Krankheit. Frankfurt a.M.: R.G. Fischer.<br />
Seite 12 von 22
[Abb. 13] Natürlich wurde auch über Zwangsmaßnahmen gesprochen, die bekanntermaßen<br />
mit psychiatrischer Hospitalisierung einhergehen.<br />
Abb. 13: Repressive Behandlungsformen bzw. Zwangsmaßnahmen als Trauma.<br />
Man sieht, dass tatsächlich viele der Befragten über Behandlungsmodalitäten<br />
klagten, die Zwang bzw. die Anwendung von Gewalt beinhalten.<br />
Als einschneidend negativ empfanden die Befragten den Umstand, geschlossen<br />
untergebracht zu sein (51%) sowie als Patient quasi in der Rolle eines passiven<br />
Objekts unterschiedlichsten Reglementierungen ausgesetzt zu sein.<br />
Hier scheint allerdings nicht so sehr die persönliche Kränkung durch eine gerichtliche<br />
Anordnung der entscheidende Faktor zu sein, sondern eher der konkrete<br />
Autonomieverlust, der direkt körperlich oder verbal ausgeübte Zwang<br />
bzw. auch die erlebte Gewalt bei der Verbringung durch Ordnungskräfte, im Zusammenhang<br />
mit der Fixierung <strong>und</strong> bei einer Medikation gegen den eigenen Willen.<br />
Bemerkenswert ist außerdem, dass 20% ihr eigenes gewalttätiges Verhalten als<br />
schwere seelische Belastung ansehen.<br />
Hier geht es vorwiegend um Scham, wenn Patienten bedrohlich-aggressiv aufgetreten<br />
waren, getobt oder randaliert hatten, also in einen unbeherrschbaren Erregungszustand<br />
geraten waren, bevor sie fixiert <strong>und</strong> gespritzt wurden.<br />
Seite 13 von 22
Sek<strong>und</strong>äre Traumatisierungsfolgen schizophrener Erkrankungen<br />
<strong>und</strong> psychiatrischer Hospitalisierung<br />
Ich habe bisher gezeigt, dass psychotisches Kranksein <strong>und</strong> nachfolgende Psychiatrisierung<br />
ein komplexes, vielschichtig belastendes Geschehen mit traumatogener<br />
Potenz darstellt.<br />
Über diesen Zusammenhang ist in der Fachliteratur vereinzelt diskutiert worden<br />
<strong>und</strong> es liegen auch einige Studien vor, bei denen entsprechende psychische Auswirkungen<br />
im Sinne einer Posttraumatischen Belastungsstörung (abgek. PTSD:<br />
»posttraumatic stress disorder«) untersucht wurden.<br />
PTSD tritt bekanntlich nach extremen seelischen Belastungen, d.h. hochgradig<br />
Stress induzierenden Situationen, auf, wobei auslösende Traumata in den Klassifikationssystemen<br />
teilweise konkretisiert werden.<br />
Erforderlich zur Diagnosestellung PTSD ist, dass tatsächlich ein traumatischer Stressor vorliegt; weiterhin, dass aus<br />
den drei Gruppen jeweils mehrere Symptome aufgetreten sind <strong>und</strong> zudem die traumatisierte Person bestimmte Akutreaktionen<br />
zeigt, <strong>und</strong> zwar intensive Furcht, Hilflosigkeit <strong>und</strong> Entsetzen/Erschrecken.<br />
Möglich sind singuläre, aber auch serielle Traumatisierungen. D.h. eine außergewöhnliche psychische oder physische Bedrohung,<br />
die zu einer Belastungsstörung führt, kann entstehen durch ein katastrophales Einzel-Ereignis oder sie kann<br />
hervorgerufen werden durch eine Folge von aversiven Ereignissen.<br />
Das klinische Bild ist Ihnen bestimmt geläufig.<br />
Zur Diagnosestellung erforderliche Symptome (insges. 17 werden in DSM <strong>und</strong><br />
ICD aufgeführt) lassen sich drei Gruppen zuordnen:<br />
(1) häufiges Wiedererinnern (Intrusionen),<br />
(2) emotionale Abstumpfung (Numbing) <strong>und</strong> Vermeidungsverhalten<br />
(Avoidance) sowie<br />
(3) generell erhöhtes Erregungsniveau (Hyperarousal).<br />
Teilweise sind die Beschwerden unspezifisch, kommen also nicht nur bei der<br />
PTSD, sondern in gleicher oder ganz ähnlicher Form z.B. auch bei schizophrenen<br />
Psychosen vor, so dass man auch von einer symptomatischen Überlagerung beider<br />
Krankheitsbilder sprechen kann.<br />
Dieser „symptom overlap“ erschwert eine Abgrenzung, bringt differentialdiagnostische<br />
Probleme mit sich <strong>und</strong> führt wahrscheinlich auch dazu, dass tatsächlich<br />
vorhandene posttraumatische Störungen in der heterogenen Psychosesymptomatik<br />
gewissermaßen untergehen <strong>und</strong> diagnostisch unberücksichtigt bleiben.<br />
Überhaupt kann die PTSD auch als Mediatorphänomen betrachtet werden, das<br />
gleichermaßen Folge <strong>und</strong> Ausgangsbedingung anderer psychischer oder körperlicher<br />
Ges<strong>und</strong>heitsstörungen ist (hierzu Mueser et al., 2002 20 ; Keane & Kaloupek,<br />
20) Mueser, K.T., Rosenberg, S.D., Goodman, L.A. & Trumbetta, S.L. (2002). Trauma, PTSD, and the course of severe<br />
mental illness: An interactive model. Schizophrenia Research, 53(1-2), 123-143.<br />
Seite 14 von 22
1997 21 ). Solche tertiären komorbiden Folgestörungen können Depressionen,<br />
Ängste <strong>und</strong> Suchtmittelabusus sein. Gerade das letztgenannte Problem – wir<br />
sprechen hier ja von „Doppeldiagnosepatienten“ – kann die Psychosebehandlung<br />
erheblich komplizieren.<br />
Neben PTSD kommen bei Schizophrenen eigentlich auch andere Zusatzdiagnosen<br />
in Betracht, d.h. Krankheitsbilder, die Folge von chronischen Belastungen sein<br />
können. So steht in der ICD-Klassifikation unter der Ziffer F62.1 eine psychogen<br />
bedingte anhaltende Persönlichkeitsalteration als Spätfolge einer schweren<br />
psychischen Erkrankung vom Kaliber einer Psychose zur Verfügung (Dilling et al.,<br />
1997 22 ; Beltran & Silove, 1999 23 ). Schizophrenie ist durchaus eine anhaltende<br />
Belastung, die eine „komplexe Traumatisierung“ impliziert, die die Copingmechanismen<br />
überfordert, <strong>und</strong> letztlich im Sinne der ICD-Beschreibung (für F62.1)<br />
überschießende Reaktionen, ein permanent erhöhtes Erregungsniveau, sowie<br />
Störungen selbstregulativer affektiver Prozesse sowie Störungen des Selbstkonzepts<br />
<strong>und</strong> der interpersonellen Funktionsfähigkeit hervorruft <strong>und</strong> einen<br />
misstrauischen Rückzug in Verbindung mit pessimistischer Zerknirschung nach<br />
sich zieht. All dies ist uns als Negativsymptomatik schizophrener Residuen<br />
bekannt.<br />
Eine andere Diagnose, die allerdings nur im Anhang des DSM-IV beschrieben<br />
wird, ist die „komplexe PTSD“ (Sack, 2004 24 ), englisch DESNOS für „Disorder<br />
of Extreme Stress, not otherwise specified“). Dabei geht es um eine langfristige<br />
persönlichkeitsverändernde psychische Fehlentwicklung, welche durch eine über<br />
Jahre persistierende psychische Traumatisierung entsteht (Herman, 1993 25 ;<br />
Pain, 2002 26 ; van der Kolk & Pelcovitz, 1999 27 ; Pelcovitz et al., 1997 28 ; Luxenberg<br />
et al., 2001a 29 ,b 30 ). In den USA ist diese Diagnose bisher häufig bei Beschwer-<br />
21) Keane, T.M. & Kaloupek, D.G. (1997). Comorbid psychiatric disorders in PTSD. Implications for research. Annals of the<br />
New York Academy of Sciences, 821, 24-34.<br />
22) Dilling, H., Mombour, W. & Schmidt, M. (Hg.) (1997). ICD-10 – Internationale Klassifikation Psychischer Störungen. Bern:<br />
Hans Huber.<br />
23) Beltran, R.O. & Silove, D. (1999). Expert opinions about the ICD-10 category of enduring personality change after<br />
catastrophic experience. Comprehensive Psychiatry, 40(5), 396-403.<br />
24) Sack, M. (2004). <strong>Diagnostische</strong> <strong>und</strong> klinische <strong>Aspekte</strong> der komplexen posttraumatischen Belastungsstörung. Nervenarzt,<br />
75(5), 451-459.<br />
25) Herman, J.L. (1993). Sequelae of prolonged and repeated trauma: Evidence for a complex posttraumatic syndrome<br />
(DESNOS). In: J.R.T. Davidson and E.B. Foa (Eds.), Posttraumatic Stress Disorder: DSM IV and Beyond (pp. 213-228).<br />
Washington: American Psychiatric Press.<br />
26) Pain, C. (2002). Posttraumatic stress disorder - PTSD and comorbidity or Disorder of Extreme Stress Not Otherwise<br />
Specified? CPA Bulletin de l’APC, Bulletin of the Canadian Psychiatric Association, August, 12-14. [http://www.cpaapc.org/publications/archives/bulletin/2002/august/painEn.asp][http://www.cpaapc.org/publications/archives/bulletin/2002/august/ptsdPain.pdf]<br />
27) van der Kolk, B. & Pelcovitz, D. (1999). Clinical applications of the structured interview for disorders of extreme stress<br />
(SIDES). National Center for PTSD (NCP) Clinical Quarterly, 8(2), 21-26.<br />
[http://www.ncptsd.org/treatment/cq/v8/n2/V8N2.pdf]<br />
28) Pelcovitz, D., van der Kolk, B., Roth, S., Mandel, F., Kaplan, S. & Resick, P. (1997). Development of a criteria set and a<br />
structured interview for disorders of extreme stress (SIDES). Journal of Traumatic Stress, 10(1), 3-16.<br />
29) Luxenberg, T., Spinazzola, J. & van der Kolk, B.A. (2001). Complex trauma and disorders of extreme stress (DESNOS)<br />
diagnosis, part one: Assessment. Directions in Psychiatry, 21, 373-394 (lesson 25).<br />
30) Luxenberg, T., Spinazzola, J., Hildalgo, J., Hunt, C. & van der Kolk, B.A. (2001). Complex trauma and disorders of<br />
extreme stress (DESNOS) diagnosis, part two: Treatment. Directions in Psychiatry, 21, 395-415 (lesson 26).<br />
Seite 15 von 22
debildern gestellt worden, in denen sexuelle Traumatisierungen im Kindesalter<br />
vorlagen.<br />
Natürlich ist selbstkritisch zu fragen, ob das Stellen einer oder mehrerer zusätzlicher<br />
Diagnosen in irgendeiner Weise weiterhilft, zumal die Symptomatiken<br />
eher miteinander verflochten sind, als dass klar abgrenzbare Komplexe vorliegen.<br />
Außerdem wird das Schwergewicht der Behandlung ohnehin die Psychose als<br />
Primärkrankheit betreffen <strong>und</strong> derzeit können auch – was ein komorbides<br />
Stresssyndrom betrifft – noch keine spezifischen Behandlungsempfehlungen abgegeben<br />
werden. So erscheint eine gesonderte Traumatherapie riskant oder<br />
kontraindiziert, da ein konfrontatives Vorgehen zu einer gefährlichen Dramatisierung<br />
<strong>und</strong> zu einer erneuten Dekompensation beitragen kann. Eher sollte wohl<br />
ein vorsichtiges Thematisieren des traumatischen Gehalts von Erkrankung <strong>und</strong><br />
Therapie <strong>und</strong> ein sensibles Eingehen auf deren psychische Auswirkungen<br />
erfolgen.<br />
Dass eine krankheitswertige Stresssymptomatik infolge schwerer Ges<strong>und</strong>heitsstörungen<br />
wie HIV, Krebs oder Herzinfarkt, auftreten kann, aber auch durch<br />
invasive medizinische Maßnahmen, etwa Chemotherapie oder Organtransplantation,<br />
induziert wird, ist unmittelbar evident <strong>und</strong> auch durch zahlreiche empirische<br />
Studien belegt.<br />
Dennoch gibt es nach wie vor eine kontroverse Debatte darüber, ob auch körperliche<br />
<strong>und</strong> seelische Krankheiten als traumatisierende Vorkommnisse einzuordnen<br />
sind, oder ob Krankheiten lediglich minderschwere Stressoren, also nur<br />
„belastende Lebensereignisse“ darstellen, welche höchstens zu Anpassungsstörungen<br />
führen können.<br />
Eine Diagnose stellen zu können wie »psychosebedingte PTSD« oder »schwere<br />
seelische Belastungsreaktion auf eine Zwangsunterbringung <strong>und</strong> akutpsychiatrische<br />
Behandlung in der Klinik«, hängt davon ab, ob solche Ereignisse <strong>und</strong> Erfahrungen<br />
als traumatischer Stressor zu werten sind.<br />
Das ist prinzipiell möglich, da in den Klassifikationssystemen (DSM-IV, ICD-10)<br />
zwar in erster Linie auf das Kriterium der vitalen Lebensgefahr rekurriert wird,<br />
andererseits aber auch Fälle indirekter Traumatisierung subsumiert werden,<br />
also Gelegenheiten, in denen eine Person traumatische Vorfälle beobachtet oder<br />
von ihnen erfährt.<br />
Ich möchte an dieser Stelle außerdem betonen, dass empirische Untersuchungen<br />
zeigen, dass es hier weniger auf die objektive Belastung, also die physikalisch<br />
oder medizinisch messbare Stressorintensität ankommt, die eine Reizkonfiguration<br />
als schwer belastend, d.h. als Trauma qualifiziert, sondern vielmehr auf die<br />
subjektive Bewertung durch den jeweils Betroffenen.<br />
Seite 16 von 22
Z.B. ist bei Krebspatienten (Taieb et al., 2003 31 ; Stuber et al., 1997 32 ) - aber<br />
auch psychotisch Erkrankten (Jackson et al., 2004) 33 - das persönliche Erleben<br />
der Erkrankung, die empf<strong>und</strong>ene Lebensgefahr aber auch die subjektive Bewertung<br />
einer invasiven Therapie prädiktiv bedeutsamer als medizinische Parameter.<br />
Auch kontextuelle, psychosoziale <strong>und</strong> physiologische Faktoren tragen dazu bei, dass sich ein Erleben von traumatischem<br />
Stress herstellt (Sivik et al., 1997). 34<br />
Zum Beispiel kann die Antizipation einer möglichen Retraumatisierung die Wirkung einer Stresserfahrung verstärken, so<br />
dass man sagen kann, dass Belastungsintensität letztlich eine subjektive Größe ist (Schnyder et al., 2000 35 , 2003 36 ).<br />
Traumata sollten im Zusammenhang mit schizophrenen Patienten als multidimensionale <strong>und</strong> komplexe Phänomene<br />
begriffen werden, die nicht auf einzelne Dimensionen von Stress reduzierbar sind.<br />
Abb. 14: Leben mit einer schizophrenen Psychose als chronischer traumatischer Belastung<br />
(in Anlehnung an Alonzo, 2000 37 <strong>und</strong> Mueser et al., 2002 38 ).<br />
[Abb. 14] Den multiplen <strong>und</strong> kumulativen Stress, dem Psychosekranke im Laufe<br />
ihres Lebens bzw. ihrer Krankheits- <strong>und</strong> Behandlungsgeschichte, ausgesetzt<br />
sind, habe ich in diesem Übersichtsschema einmal versucht darzustellen <strong>und</strong> dabei<br />
auch die sek<strong>und</strong>äre Traumatisierung durch Psychiatrie sowie psychopathologische<br />
Folgewirkungen einbezogen.<br />
31) Taieb, O., Moro, M.R., Baubet, T., Revah-Levy, A. & Flament, M.F. (2003). Posttraumatic stress symptoms after childhood<br />
cancer. European Child and Adolescent Psychiatry, 12(6), 255-264.<br />
32) Stuber, M,L., Kazak, A.E., Meeske, K., Barakat, L., Guthrie, D., Garnier, H., Pynoos, R. & Meadows, A. (1997). Predictors<br />
of posttraumatic stress symptoms in childhood cancer survivors. Pediatrics, 100(6), 958-964.<br />
33) Jackson, C., Knott, C., Skeate, A. & Birchwood, M. (2004). The trauma of first episode psychosis: The role of cognitive<br />
mediation. Australian and New Zealand Journal of Psychiatry, 38(5), 327-333.<br />
34) Sivik, T., Delimar, D., Korenjak, P. & Delimar, N. (1997). The role of blood pressure, cortisol, and prolactine among<br />
soldiers injured in the 1991-1993 war in Croatia. Integrative Physiological and Behavioral Science, 32(4), 364-372.<br />
35) Schnyder, U., Morgeli, H., Nigg, C., Klaghofer, R., Renner, N., Trentz, O. & Buddeberg, C. (2000). Early psychological<br />
reactions to life-threatening injuries. Critical Care Medicine, 28(1), 86-92.<br />
36) Schnyder, U., Moergeli, H., Klaghofer, R., Sensky, T. & Buchi, S. (2003). Does patient cognition predict time off from work<br />
after life-threatening accidents? American Journal of Psychiatry, 160(11), 2025-2031.<br />
37) Alonzo, A.A. (2000). The experience of chronic illness and post-traumatic stress disorder: The consequences of<br />
cumulative adversity. Social Science and Medicine, 50(10), 1475-1484.<br />
38) Mueser, K.T., Rosenberg, S.D., Goodman, L.A. & Trumbetta, S.L. (2002). Trauma, PTSD, and the course of severe<br />
mental illness: An interactive model. Schizophrenia Research, 53(1-2), 123-143.<br />
Seite 17 von 22
Resümee <strong>und</strong> Forderungen<br />
Ich möchte nun zu einigen Folgerungen aus dem bisher Gesagten kommen.<br />
Schizophrene Psychosen bergen ein Aggressionspotential, das sich im Zusammenhang<br />
mit einer unfreiwilligen Unterbringung, psychotischen Verkennungen<br />
<strong>und</strong> einer unsensiblen Herangehensweise in einem unruhigen Stationskontext unversehens<br />
entladen kann.<br />
Reaktive Gewalt <strong>und</strong> Zwang seitens der Mitarbeiter, was Seidel »gewaltüberwältigende<br />
Gewalt« nannte (Seidel, 1998, S. 38) 39 ; ist nicht ausschließbar, sollte<br />
aber vermieden werden - nicht nur bei Ersterkrankten, sondern generell.<br />
Wie wir aus Studien wissen, besteht ein Zusammenhang zwischen der Fixierungshäufigkeit<br />
<strong>und</strong> der Einstellung des Pflegepersonals (Soloff et al., 1985), 40<br />
vor allen auch seiner Verfügbarkeit, der Qualifikation <strong>und</strong> der Berufserfahrung<br />
(Reimer & Starz, 1989 41 ; Zeiler, 1994 42 ; Mattson & Sacks, 1978 43 ; Oldham et al.,<br />
1983 44 ; Soloff & Turner, 1981 45 ), sogar auch mit der Tageszeit (Porat et al.,<br />
1997) 46 , also der Stationsbesetzung.<br />
Die Anwendung von Zwangsmitteln muss die Ausnahme bleiben <strong>und</strong> sich auf die<br />
Wiederherstellung von Sicherheit <strong>und</strong> die Gefahrenabwehr beschränken, weil sie<br />
therapeutisch unwirksam <strong>und</strong> bei Patienten ausgesprochen unbeliebt sind, was<br />
auch die Anwender wissen (Quinn, 1993 47 ; Frengley & Mion, 1998 48 ), <strong>und</strong> dazu<br />
noch psychische Störungen im Sinne einer PTSD hervorrufen können.<br />
39) Seidel, R. (1998). Psychiatrie im Kontext der gesellschaftlichen Wirklichkeit – Reflexionen über den Zusammenhang<br />
zwischen Gewaltpotentialen »drinnen« <strong>und</strong> »draußen«. In: J. Kebbel & N. Pörksen & Aktion Psychisch Kranke (Hg.),<br />
Gewalt <strong>und</strong> Zwang in der stationären Psychiatrie, Tagungsbericht, Bd. 25. Tagung am 24.-25.9.1997 in Bonn (S. 36-40).<br />
Köln: Rheinland Verlag.<br />
40) Soloff, P.H., Gutheil, T.G. & Wexler, D.B. (1985). Seclusion and restraint in 1985: A review and update. Hospital and<br />
Community Psychiatry, 36(6), 652-657.<br />
41) Reimer, F. & Starz, H. (1989). Gewalt <strong>und</strong> Sicherheit im Psychiatrischen Krankenhaus. Spektrum der Psychiatrie <strong>und</strong><br />
Nervenheilk<strong>und</strong>e, 18(5), 195-198; auch in: Die Kerbe, 7(3) (1989), 16-18.<br />
42) Zeiler, J. (1994). Gewalttätiger Patient <strong>und</strong> institutionelle Gegengewalt. Ges<strong>und</strong>heits-Wesen, 56, 543-547.<br />
43) Mattson, M.R. & Sacks, M.H. (1978). Seclusion: Uses and complications. American Journal of Psychiatry, 135(10), 1210-<br />
1213.<br />
44) Oldham, J.M., Russakoff, L.M. & Prusnofsky, L. (1983). Seclusion. Patterns and milieu. Journal of Nervous and Mental<br />
Diseases, 171(11), 645-650.<br />
45) Soloff, P.H. & Turner, S.M. (1981). Patterns of seclusion: A prospective study. Journal of Nervous and Mental Disease,<br />
169(1), 37-44.<br />
46) Porat, S., Bornstein, J. & Shemesh, A.A. (1997). The use of restraint on patients in Israeli psychiatric hospitals. British<br />
Journal of Nursing, 6(15), 864-873.<br />
47) Quinn, C.A. (1993). Nurses’ perceptions about physical restraints. Western Journal of Nursing Research, 15(2), 148-162.<br />
48) Frengley, J.D. & Mion, L.C. (1998). Physical restraints in the acute care setting: Issues and future directions. Clinical<br />
Geriatric Medicine, 14(4), 727-743.<br />
Seite 18 von 22
Abb. 15: Posttraumatische Belastungsstörungen infolge psychiatrischer Behandlungserfahrung:<br />
Ergebnisse einer Studie von Mueser et al. (2004) an n=363 schizophrenen Patienten.<br />
[Abb. 15] Dies ist durch Ergebnisse einer soeben publizierten Studie von Mueser<br />
et al. (2004) 49 belegt. Hier sehen Sie, dass die PTSD-Quote um so höher ist, je<br />
häufiger Patienten wegen ihrer schizophrenen Erkrankung hospitalisiert wurden.<br />
Abb. 16: Studien über PTSD bei psychiatrisch behandelten Patienten mit einer schizophrenen Psychose.<br />
49) Mueser, K.T., Salyers, M.P., Rosenberg, S.D., Goodman, L.A., Essock, S.M., Osher, F.C., Swartz, M.S., Butterfield, M. &<br />
The 5 Site Health and Risk Study Research Committee (2004). Interpersonal trauma and posttraumatic stress disorder in<br />
patients with severe mental illness: Demographic, clinical, and health correlates. Schizophrenia Bulletin, 30(1), 45-57.<br />
Seite 19 von 22
[Abb. 16] Auf dieser Übersicht habe ich 19 Studien zusammengestellt, in denen<br />
PTSD bei schizophrenen Patienten festgestellt wurde, nachdem die akutpsychiatrische<br />
Behandlung abgeschlossen war. Es wurden überwiegend Raten zwischen<br />
25% <strong>und</strong> 45% derzeitig bestehender Belastungsstörungen ermittelt.<br />
Fixierung, Isolierung <strong>und</strong> Zwangsmedizierung bilden den Kern traumatogener<br />
Vorgehensweisen, <strong>und</strong> verdienen die Bezeichnung Therapeutikum nicht, weil sie<br />
gegen den Willen des Patienten gerichtet sind, Vertrauen zerstören <strong>und</strong> seelische<br />
Schäden hervorrufen.<br />
Diese drei „Hilfsmittel“ kommen leider oft zur Anwendung. Sie werden als kleineres<br />
Übel für erforderlich <strong>und</strong> wirksam gehalten (Mattson & Sacks, 1978 50 ;<br />
Plutchik et al., 1978 51 ; Wells, 1973 52 ; Soliday, 1985 53 ), wenn zu wenig Personal<br />
oder keine anderen Ideen zur Hand sind. Ihr Einsatz in der Psychiatrie ist Ausdruck<br />
von Hilflosigkeit <strong>und</strong> Ohnmacht dem Krankheitsgeschehen gegenüber.<br />
Traumasensitivität ist im Umgang mit Schizophrenen ein anzustrebendes Qualitätsmerkmal.<br />
Abb. 17: Ergebnisse der Studie von Renner (1998) über die Wirkung von<br />
Zwangsbehandlung auf die Bewertung <strong>und</strong> die Compliance.<br />
50) Mattson, M.R. & Sacks, M.H. (1978). Seclusion: Uses and complications. American Journal of Psychiatry, 135(10), 1210-<br />
1213.<br />
51) Plutchik, R., Karasu, T.B., Conte, H.R., Siegel, B. & Jerrett, I. (1978). Toward a rationale for the seclusion process.<br />
Journal of Nervous and Mental Disease, 166(8), 571-579.<br />
52) Wells, D.A. (1973). The use of seclusion on a university hospital psychiatric floor. Archives of General Psychiatry, 26(5),<br />
410-413.<br />
53) Soliday, S.M. (1985). A comparison of patient and staff attitudes toward seclusion. Journal of Nervous and Mental<br />
Disease, 173(5), 282-291.<br />
Seite 20 von 22
[Abb. 17] In einer Studie der Tübinger Uniklinik (Renner, 1998) 54 wurden<br />
zwangsuntergebrachte schizophrene Patienten im Anschluss an ihre erstmalige<br />
Hospitalisierung befragt. Bei der Hälfte (49%) von ihnen war eine Zwangsmedikation<br />
<strong>und</strong> bei wenigen (6%) auch eine Fixierung erfolgt. Solche Maßnahmen<br />
führten bei den Betreffenden weit überwiegend (bei 73%) zu der Gesamteinschätzung,<br />
dass die ganze Unterbringung ein „ungerechtfertigter Eingriff“ in die<br />
Selbstbestimmung gewesen wäre, während Patienten ohne derartige Erfahrungen<br />
von Zwang wesentlich seltener (47%) die gesamte Behandlungsmaßnahme als<br />
ungerechtfertigt werteten. Sie sahen die durchgeführte Therapie zu 58% als<br />
„eher gut“ an, während bei den Zwangsmedizierten <strong>und</strong> Fixierten nur 39% zu<br />
einer positiven Einschätzung kamen. 68% der ohne Zwang Behandelten würden<br />
trotz der gerichtlichen Unterbringung die Klinik erneut freiwillig aufsuchen,<br />
während sich von den Traumatisierten nur 39% so etwas vorstellen konnten. Die<br />
Studie belegt, dass der Verzicht auf Zwangsmaßnahmen freiwillige<br />
Wiederaufnahmen begünstigt!<br />
Eine nachhaltige emotionale <strong>und</strong> kognitive Krankheitsbewältigung erfordert v.a.<br />
bei ersterkrankten Patienten <strong>therapeutische</strong> Gespräche, in denen auch <strong>und</strong> gerade<br />
belastende Erfahrungen unterschiedlicher Art behutsam zur Sprache gebracht<br />
werden (siehe Klösterkötter & Hambrecht, 1999). 55<br />
Die Verbalisierung traumatisierender Vorfälle <strong>und</strong> Maßnahmen im Zusammenhang<br />
mit der Aufnahme, also zwangsweise Unterbringung, Isolierung oder Fixierung<br />
<strong>und</strong> Zwangsmedizierung, kann durchaus schwierig sein, insbesondere wenn die<br />
behandelnden Ärzte oder Pfleger selbst die betreffenden belastungsintensiven<br />
<strong>und</strong> restriktiven Vorgehensweisen veranlasst haben oder an deren Durchführung<br />
beteiligt waren <strong>und</strong> sich somit quasi in einer Rechtfertigungsposition befinden.<br />
Nach Abklingen akuter Symptome <strong>und</strong> wiedererlangter Reflexionsfähigkeit sind<br />
offene Aussprachen sowie empathische Zuwendung hilfreich <strong>und</strong> wichtig, um ein<br />
geschwächtes Vertrauen zu stärken, d.h. die <strong>therapeutische</strong> Beziehung zu verbessern.<br />
Im Falle einer späteren erneuten behandlungsbedürftigen Krankheitsepisode begünstigt<br />
dies die Kooperation <strong>und</strong> erleichtert die Rückkehr in ein stationäres<br />
Setting.<br />
Traumasensitive Zuwendung zahlt sich also in erhöhter Compliance <strong>und</strong> günstigeren<br />
Therapieverläufen aus.<br />
54) Renner, G. (1998). Behandlung ohne Enwilligung - Untersuchungen zur Reaktion von Patientinnen <strong>und</strong> Patienten auf<br />
Freiheitseinschränkungen <strong>und</strong> Handlungsansätze. In: J. Kebbel, N. Pörksen & Aktion Psychisch Kranke (Hg.), Gewalt<br />
<strong>und</strong> Zwang in der stationären Psychiatrie [Tagungsbericht Bonn, 24./25.9.97] (Reihe Tagungsberichte, Band 25, S. 141-<br />
152). Bonn: Rheinland Verlag.<br />
55) Klosterkötter, J. & Hambrecht, M. (Hg.) (1999). Erste psychotische Episoden erkennen <strong>und</strong> behandeln. Ein<br />
Trainingsmanual - Modul 3: Die Eingangsuntersuchung bei Erstmanifestation einer Psychose. (Orig. von P.M. McGorry &<br />
J. Edwards, 1997). Janssen-Cilag.<br />
Seite 21 von 22
Nicht alle belastenden <strong>und</strong> einschneidend negativen Erfahrungen werden sich –<br />
wenigstens im akutpsychiatrischen Setting – verhindern lassen, das steht fest.<br />
Aber eine iatrogene, also sek<strong>und</strong>äre Traumatisierung mit substantiellen psychopathologischen<br />
Folgeschäden im Sinne der PTSD lässt sich m.E. durch Sensibilität<br />
im Umgang mit dem Kranken <strong>und</strong> seiner abnormen Erlebniswelt vermeiden.<br />
Hierzu benötigen wir allerdings sehr viel mehr <strong>und</strong> gut ausgebildetes bzw. motiviertes<br />
Personal, also Zeit <strong>und</strong> Raum, kompetente Zuwendung in einem qualitätsgesicherten<br />
institutionellen Rahmen. Das impliziert Fortbildung, Fallsupervision<br />
<strong>und</strong> Teamsupervision.<br />
Natürlich kann die Fokussierung traumatischer Erfahrungsinhalte auch für die<br />
betreffenden Mitarbeiter belastend sein.<br />
Wer kann es schon aushalten, sich ohne Abwehr tagaus tagein mit dem grauenhaften<br />
Erleben, der desolaten Verfassung <strong>und</strong> dem Hilflosigkeitserleben akut<br />
Schizophreniekranker angesichts erlebter Zwangsmaßnahmen zu konfrontieren.<br />
Teamgespräche sollten Traumaaspekte <strong>und</strong> auch die eigene Reaktion darauf<br />
thematisieren, denn Psychohygiene ist im stressreichen Tätigkeitsfeld der<br />
Akutversorgung von hoher Bedeutung.<br />
Nur stabile, unabgestumpft empfindungsfähige Mitarbeiterinnen <strong>und</strong> Mitarbeiter<br />
können durch geeignete Interventionen das Leid der Betroffenen lindern<br />
helfen.<br />
Vielen Dank<br />
Seite 22 von 22