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UNI on 52 - European University Viadrina Frankfurt (Oder)

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Diskussi<strong>on</strong> 7<br />

[<str<strong>on</strong>g>UNI</str<strong>on</strong>g><strong>on</strong>]<br />

Podiumsdiskussi<strong>on</strong> mit Gerhard A. Ritter „Der Preis der deutschen<br />

Einheit und die Reform des deutschen Sozialstaates”<br />

Am 5. Februar 2007 lud Alexander Nützenadel,<br />

Professor für vergleichende europäische<br />

Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der <strong>Viadrina</strong>,<br />

zu einer Podiumsdiskussi<strong>on</strong> über Gerhard<br />

A. Ritters im Beck-Verlag erschienenes<br />

Buch „Der Preis der deutschen Einheit. Die<br />

Wiedervereinigung und die Krise des Sozialstaates“<br />

ein. Daran nahmen neben dem<br />

Gastgeber und dem Autor die <strong>Viadrina</strong>-Professoren<br />

Hans-Jürgen Wagener und Hermann<br />

Ribhegge teil – zwei Ök<strong>on</strong>omen, die seit Jahren<br />

die deutsche und europäische Wirtschafts-<br />

und Sozialpolitik untersuchen und<br />

sich insbes<strong>on</strong>dere mit den Problemen der<br />

Transformati<strong>on</strong> v<strong>on</strong> der Plan- zur Marktwirtschaft<br />

beschäftigen. Die Veranstaltung wurde<br />

vom Beck-Verlag unterstützt.<br />

Gerhard A. Ritter, emeritierter Professor für<br />

Neuere und Neueste Geschichte der Ludwig-<br />

Maximilians-Universität München, ist einer<br />

der bekanntesten deutschen Historiker und<br />

hat sich insbes<strong>on</strong>dere mit der Geschichte der<br />

Sozialpolitik, der Arbeiterbewegung und des<br />

Parlamentarismus seit dem Kaiserreich sowie<br />

der jüngeren deutschen Zeitgeschichte<br />

beschäftigt. Für sein neuestes und vielleicht<br />

wichtigstes Buch hat er mehr als sechs Jahre<br />

lang die schriftliche Überlieferung zahlreicher<br />

west-, ost- und gesamtdeutscher Ministerien<br />

durchgearbeitet und Interviews mit wichtigen<br />

Zeitzeugen, wie Norbert Blüm und der inzwischen<br />

verstorbenen Regine Hildebrand,<br />

geführt. Im Mittelpunkt des Buches stehen die<br />

Herstellung der Sozialuni<strong>on</strong> zwischen der<br />

Bundesrepublik und der DDR im Jahre 1990<br />

sowie der Einfluss der Wiedervereinigung auf<br />

die Entwicklung des deutschen Sozialstaates<br />

bis 1994.<br />

Prof. Ritter erläuterte einleitend die zentralen<br />

Thesen seines Buches. Danach war die rasche<br />

und komplette Übertragung des westdeutschen<br />

Sozialmodells auf die DDR bzw. die<br />

neuen Bundesländer angesichts der außenund<br />

innenpolitischen sowie ök<strong>on</strong>omischen<br />

Rahmenbedingungen im rasant verlaufenden<br />

Wiedervereinigungsprozess im Prinzip alternativlos.<br />

Die administrative Umsetzung des<br />

Transfers eines durchaus komplexen Instituti<strong>on</strong>ensystems<br />

gelang in einer bemerkenswerten<br />

Perfekti<strong>on</strong>. Insbes<strong>on</strong>dere die Sozialleistungen<br />

für Rentner und Hinterbliebene haben sich in<br />

Ostdeutschland deutlich erhöht. Auf der<br />

anderen Seite waren vor allem alleinerziehende<br />

Frauen v<strong>on</strong> der steigenden Arbeitslosigkeit<br />

in bes<strong>on</strong>derem Maße betroffen. Ritter<br />

hob hervor, dass die deutsche Wiedervereinigung<br />

die gerade beg<strong>on</strong>nenen Bemühungen<br />

um eine Reform des westdeutschen Sozialstaates<br />

gestoppt und die Ausgangslage für<br />

eine solche Reform deutlich verschlechtert<br />

hat. Dies äußerte sich unter anderem in einem<br />

dramatischen Anstieg der Staatsverschuldung<br />

sowie in der beinahe vollständigen K<strong>on</strong>zentra-<br />

Foto: KATRIN NOACK<br />

ti<strong>on</strong> der Regierung und Verwaltung auf die<br />

Bewältigung der mit der Wiedervereinigung<br />

verbundenen Probleme. Die heute offensichtliche<br />

Krise des deutschen Sozialstaates, der<br />

zum einen die Grenzen seiner Finanzierbarkeit<br />

überschritten hat und zum anderen die internati<strong>on</strong>ale<br />

Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft<br />

beeinträchtigt, ist folglich durch die<br />

Wiedervereinigung deutlich verschärft worden.<br />

Als „vermeidbare Fehler“ des Vereinigungsprozesses<br />

bezeichnete Ritter den zu<br />

starken Anstieg der Löhne in den ostdeutschen<br />

Unternehmen, der deren Wettbewerbsfähigkeit<br />

entscheidend verringert hat, sowie<br />

die weitgehende Finanzierung der Sozialtransfers<br />

über die Sozialversicherung, wodurch die<br />

Arbeitskosten in ganz Deutschland zu stark<br />

angestiegen sind.<br />

Die beiden Kommentatoren Hans-Jürgen<br />

Wagener und Hermann Ribhegge stimmten<br />

den wesentlichen Aussagen des Buches ausdrücklich<br />

zu, bezweifelten allerdings die Vermeidbarkeit<br />

der genannten Fehler. Wagener<br />

verwies darauf, dass die Lohnsteigerungen<br />

eine unvermeidlich Folge v<strong>on</strong> Tarifaut<strong>on</strong>omie<br />

und Flächentarifvertrag waren und im Übrigen<br />

die Entwicklung in anderen Transformati<strong>on</strong>sstaaten<br />

gezeigt hat, dass auch niedrige<br />

Löhne nicht vor Arbeitslosigkeit schützen. Ribhegge<br />

ergänzte, dass an der Produktivität ausgerichtete<br />

Löhne damals unter Sozialhilfeniveau<br />

gelegen hätten. Eine stärkere Finanzierung<br />

der Kosten der deutschen Einheit aus<br />

Steuermitteln wäre zwar ök<strong>on</strong>omisch sinnvoller<br />

und sozial gerechter gewesen, aber angesichts<br />

der bestehenden Staatsverschuldung<br />

und der Mobilität des Kapitals kaum realisier-<br />

bar.<br />

In der anschließenden Diskussi<strong>on</strong> ist die Frage<br />

aufgeworfen worden, ob die Wiedervereinigung<br />

nicht zur Blockade, s<strong>on</strong>dern sogar zur<br />

Belebung der Sozialstaatsreform hätte führen<br />

können, wenn es den politischen Mut gegeben<br />

hätte, sozialpolitische Besitzstände in<br />

Westdeutschland mit Verweis auf die gemeinsam<br />

zu tragenden Lasten der nati<strong>on</strong>alen<br />

Wiedervereinigung zu beschneiden. Ans<strong>on</strong>sten<br />

standen in der sehr lebhaften Debatte<br />

weniger die eigentliche Sozialpolitik und die<br />

Situati<strong>on</strong> des Sozialstaates als die vielfältigen<br />

mit dem deutschen Einigungsprozess verbundenen<br />

Probleme im Mittelpunkt. In den vollständig<br />

gefüllten Senatssaal waren vor allem<br />

<strong>Frankfurt</strong>er Bürger gekommen, die oft auch<br />

v<strong>on</strong> ihren individuellen Erfahrungen berichteten.<br />

Daraus ergaben sich die unterschiedlichsten<br />

Fragen, etwa nach einer Vermögens- und<br />

Transferbilanz, nach der k<strong>on</strong>kreten Politik der<br />

Treuhandanstalt sowie dem Nutzen und der<br />

Nutzung der in der westdeutschen DDR-Forschung<br />

vorhandenen Erkenntnisse. Erneut<br />

wurde deutlich, dass die historische, auf breiter<br />

empirischer Grundlage stehende, mit dem<br />

nötigen Abstand nüchtern urteilende Erforschung<br />

des deutschen Vereinigungsprozesses<br />

noch ganz am Anfang steht. Gerhard A. Ritter<br />

hat dafür mit seinem Buch in Bezug auf die<br />

Sozialpolitik einen wichtigen Baustein geliefert<br />

und zum Abschluss der Diskussi<strong>on</strong> völlig zu<br />

Recht darauf verwiesen, dass die deutsche<br />

Vereinigung trotz aller Fehler im Detail und<br />

der vorrangig die Ostdeutschen treffenden<br />

Belastungen eine „Sternstunde“ – man<br />

könnte auch sagen, einer der seltenen Glücksfälle<br />

der Geschichte – war. UWE<br />

Prof. Dr. Hermann Ribhegge, Prof. Dr. Hans-Jürgen Wagener, Prof. Dr. Gerhard A. Ritter und Prof.<br />

Dr. Alexander Nützenadel (v.l.n.r.) diskutierten im Podium.

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