medtropoleAktuelles aus der Klinik für einweisende Ärzte - Asklepios
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medtropole Aktuelles<br />
Nr. 18 Juli 2009<br />
EINE GEFÄHRLICHE KOMBINATION:<br />
Protonenpumpeninhibitoren + Clopidogrel<br />
WER BIN ICH – UND WENN JA, WIE VIELE?<br />
Dissoziative Identitätsstörungen<br />
KOPF-HALS-TUMORE<br />
Mo<strong>der</strong>ne chirurgische Konzepte<br />
<strong>aus</strong> <strong>der</strong> <strong>Klinik</strong><br />
<strong>für</strong> <strong>einweisende</strong> <strong>Ärzte</strong>
Impressum<br />
Redaktion<br />
Jens Oliver Bonnet<br />
(verantw.)<br />
Prof. Dr. Dr. Stephan Ahrens<br />
Prof. Dr. Christian Arning<br />
PD Dr. Oliver Detsch<br />
Dr. Birger Dulz<br />
PD Dr. Siegbert Faiss<br />
Dr. Christian Frerker<br />
Dr. Annette Hager<br />
Dr. Susanne Huggett<br />
Prof. Dr. Uwe Kehler<br />
Dr. Jürgen Ma<strong>der</strong>t<br />
Dr. Ulrich Müllerleile<br />
Dr. Ursula Scholz<br />
PD Dr. Gunther Harald Wiest<br />
Prof. Dr. Gerd Witte<br />
Cornelia Wolf<br />
Her<strong>aus</strong>geber<br />
<strong>Asklepios</strong> <strong>Klinik</strong>en<br />
Hamburg GmbH<br />
Unternehmenskommunikation<br />
Rudi Schmidt V. i. S. d. P.<br />
Rübenkamp 226<br />
22307 Hamburg<br />
Tel. (0 40) 18 18-82 66 36<br />
Fax (0 40) 18 18-82 66 39<br />
E-Mail:<br />
medtropole@asklepios.com<br />
Auflage: 15.000<br />
Erscheinungsweise:<br />
4 x jährlich<br />
ISSN 1863-8341<br />
Editorial<br />
Liebe Leserinnen und Leser,<br />
Fortschritt in <strong>der</strong> Medizin entsteht durch Fortbildung. Ein Umstand, dem auch<br />
die 18. Ausgabe <strong>der</strong> medtropole gerecht werden möchte. Im vorliegenden Heft<br />
werden unterschiedliche Themen <strong>der</strong> Medizin, denen wir mitunter täglich<br />
begegnen, diskutiert.<br />
Arzneimittelwechselwirkungen spielen eine immer größere Rolle in unserer<br />
täglichen Praxis. Frau Dr. Liekweg und Privatdozent Dr. Faiss machen auf die<br />
gefährliche Kombination von Protonenpumpeninhibitoren und Clopidogrel<br />
aufmerksam.<br />
Professor Dr. Schwenk gibt einen Überblick über die „Fast-track“-Rehabilitation, eine zukunftorientierte<br />
Behandlungsoption. Der plötzliche Herztod ist ein nicht seltenes Ereignis, man erinnere<br />
sich an die Berichte über zwei unserer besten Sportler, die in diesem Jahr akut in jungen Jahren<br />
starben. Dr. Tönnis berichtet über eine erfolgversprechende neue Technik, das „Magnetic Field<br />
Imaging“.<br />
Im nächsten Artikel diskutiert Frau Dr. Dr. Moldzio Dissoziative Identitätsstörungen, psychische<br />
Erkrankungen, bei denen die drei wesentlichen integrierenden Funktionen des Bewusstseins nachhaltig<br />
gestört sind. Neurologische Erkrankungen verursachen häufig Komplikationen im Bereich<br />
des Gastrointestinaltrakts – und umgekehrt. Privatdozent Dr. Christl und Professor Dr. Töpper<br />
geben hierzu einen interessanten Einblick. Pseudarthrosen, Pathophysiologie und Therapie sind<br />
das Thema <strong>der</strong> Übersichtarbeit von Professor Dr. Schildhauer.<br />
Dr. Külkens beschreibt mo<strong>der</strong>ne chirurgische Konzepte <strong>der</strong> Kopf-Hals-Tumore.<br />
Zwei Arbeiten <strong>aus</strong> <strong>der</strong> Neurologie bzw. Onkologie, zur interdiziplinären Versorgung neuroonkologischer<br />
Patienten von Dr. Kämper et al., sowie zum Schlaganfall von Professor Dr. Arning runden<br />
die 18. Ausgabe ab.<br />
Ich hoffe, dass sie Ihr Interesse findet und verbleibe<br />
mit freundlichen Grüßen<br />
Ihr<br />
Prof. Dr. Christian San<strong>der</strong><br />
Ärztlicher Direktor <strong>der</strong> <strong>Asklepios</strong> <strong>Klinik</strong> St. Georg
Inhalt<br />
676 | PHARMAKOLOGIE/INNERE MEDIZIN<br />
Eine gefährliche Kombination:<br />
Protonenpumpeninhibitoren + Clopidogrel<br />
678 | CHIRURGIE<br />
„Fast-track“-Rehabilitation<br />
682 | KARDIOLOGIE<br />
Magnetic Field Imaging<br />
684| PSYCHIATRIE<br />
Dissoziative Identitätsstörungen<br />
688 | NEUROLOGIE / GASTROENTEROLOGIE<br />
Gehirn und Darm – Neurogastroenterologie<br />
691 | UNFALLCHIRURGIE<br />
Pseudarthrosen: Pathophysiologie und Therapie<br />
694 | PERSONALIA<br />
695 | HALS-NASEN-OHRENHEILKUNDE<br />
Kopf-Hals-Tumore – mo<strong>der</strong>ne chirurgische Konzepte<br />
698 | NEUROCHIRURGIE UND ONKOLOGIE<br />
Interdisziplinäre Versorgung neuroonkologischer Patienten<br />
700 | NEUROLOGIE<br />
Schlaganfall – ein Notfall<br />
704 | GESCHICHTE DER MEDIZIN<br />
Hilfe <strong>für</strong> Schwerkranke – die Geschichte <strong>der</strong> Intensivmedizin<br />
S. 682<br />
S. 684<br />
S. 700
Medtropole | Ausgabe 18 | Juli 2009<br />
Eine gefährliche Kombination:<br />
Protonenpumpeninhibitoren +<br />
Clopidogrel<br />
Priv.-Doz. Dr. Siegbert Faiss, Dr. Andrea Liekweg<br />
Eine gemeinsame medikamentöse Therapie mit PPI und Clopidogrel als einem <strong>der</strong> vor allem in Kardio- und<br />
Neurologie verwendeten Thrombozytenaggregationshemmer galt bis vor kurzem als völlig unproblematisch.<br />
Die klinische Relevanz <strong>der</strong> Arzneimittelinteraktionen bei<strong>der</strong> Substanzgruppen war bislang wenig bekannt.<br />
Doch in den vergangenen Monaten wurden mehrere klinische Studien publiziert, die ganz erhebliche Arznei -<br />
mittelinteraktionen dieser beiden Substanzgruppen postulieren und das künftige Management im gemeinsamen<br />
Umgang mit PPI und Clopidogrel nachhaltig verän<strong>der</strong>n werden.<br />
Protonenpumpeninhibitoren (PPI, z. B.<br />
Omeprazol, Esomeprazol, Pantoprazol)<br />
und Thrombozytenaggregationshemmer<br />
(z. B. ASS, Clopidogrel) zählen seit einigen<br />
Jahren zu den weltweit meistverordneten<br />
und zugleich umsatzstärksten Arzneimittelgruppen.<br />
In Deutschland hat sich die<br />
Zahl <strong>der</strong> verordneten definierten Tagesdosen<br />
an PPI in den vergangenen 10 Jahren<br />
versechsfacht. [9] Dabei stehen die Omeprazol-Generika<br />
im Vor<strong>der</strong>grund.<br />
PPI werden vor allem zur Therapie säurebedingter<br />
gastrointestinaler Erkrankungen<br />
wie Ulcera ventriculi et duodeni, gastro -<br />
ösophagealer Refluxerkrankungen sowie in<br />
Kombination mit Antibiotika zur Helico -<br />
bacter-Eradikation eingesetzt. Darüber hin<strong>aus</strong><br />
werden sie leitliniengerecht [2] auch bei<br />
Patienten mit erhöhtem gastrointestinalen<br />
Blutungsrisiko, insbeson<strong>der</strong>e ab einem<br />
Lebensalter von 60 Jahren, prophylaktisch<br />
in <strong>der</strong> Kombination mit nichtsteroidalen<br />
Antirheumatika, Corticosteroiden und bei<br />
<strong>der</strong> Therapie mit oralen Antikoagulantien<br />
eingesetzt.<br />
Clopidogrel findet Einsatz bei Patienten<br />
mit Herzinfarkt, ischämischem Schlaganfall<br />
676<br />
o<strong>der</strong> nachgewiesener peripherer arterieller<br />
Verschlusskrankheit. Auch Patienten mit<br />
akutem Koronarsyndrom profitieren von<br />
diesem Thrombozytenaggregationshemmer<br />
(ADP-Rezeptorantagonist). Kardiologische<br />
und neurologische Therapieleitlinien<br />
differenzieren die Patientenkollektive,<br />
die von Clopidogrel als Monotherapie, in<br />
Kombination mit Acetylsalicylsäure o<strong>der</strong><br />
von Acetylsalicylsäure allein profitieren.<br />
Auch <strong>der</strong> notwendige Anwendungszeit -<br />
raum wird indikationsabhängig beschränkt.<br />
Anfang 2008 beschrieb erstmals eine Studie<br />
eine Interaktion zwischen Clopidogrel und<br />
Omeprazol bei Patienten, die im Anschluss<br />
an eine Stent-Implantation mit einer Kombination<br />
von ASS und Clopidogrel behandelt<br />
wurden. [4] Dabei zeigte sich, dass die<br />
Patienten in <strong>der</strong> Omeprazol-Gruppe<br />
gegenüber <strong>der</strong> Kontrollgruppe einen vermin<strong>der</strong>ten<br />
Clopidogrel-abhängigen Effekt<br />
erreichten, die Aggregationshemmung<br />
durch Clopidogrel also schwächer <strong>aus</strong>geprägt<br />
war (Abnahme des Platelet Reactivity<br />
Index in <strong>der</strong> Placebo-Gruppe um 43,3 %, in<br />
<strong>der</strong> Omeprazol-Gruppe um 32,6 %). Die<br />
Autoren schreiben diesem Effekt eine<br />
große klinische Bedeutung zu, da <strong>der</strong> zur<br />
Risikoabsenkung gefor<strong>der</strong>te PRI-Wert von<br />
< 50 % von 61 % <strong>der</strong> mit Omeprazol behandelten<br />
Patienten nicht mehr erreicht wurde<br />
(vs. 27 % in <strong>der</strong> Placebo-Gruppe).<br />
Eine mögliche Erklärung ist, dass Clopidogrel<br />
als inaktives Prodrug verabreicht wird<br />
und <strong>für</strong> die Aktivierung auf das Cytochrom-<br />
P450-Subenzym 2C19 angewiesen ist.<br />
Omeprazol kann als Cytochrom-P450<br />
2C19-Inhibitor bei gleichzeitiger Gabe die<br />
Umwandlung von Clopidogrel in die aktive<br />
Form hemmen. Die Cytochrom-P450-<br />
Enzyme unterliegen zudem einer erheblichen<br />
genetischen Variabilität. Bei drei bis<br />
fünf Prozent <strong>der</strong> Bevölkerung ist Cyto -<br />
chrom-P450-2C19 inaktiv, was in einer<br />
langsameren Metabolisierung resultiert.<br />
Diese Erkenntnis schlägt sich jedoch bislang<br />
nicht in konkreten Therapieempfehlungen<br />
nie<strong>der</strong>, da die Identifizierung <strong>der</strong><br />
„Langsam-Metabolisierer“ im klinischen<br />
Alltag bislang noch nicht möglich ist.<br />
Nach Daten <strong>aus</strong> Kohortenstudien sind<br />
diese CYP-2C19-Varianten mit verringerten<br />
Blutspiegeln des aktiven Clopidogrelmetaboliten<br />
und gesteigerter Plättchenaggregation<br />
verbunden. [3,8] Neben genetischen Variabilitäten,<br />
die eine Clopidogrel-Resistenz
erklären können, sind aber auch extrinsische<br />
Ursachen wie Non-Compliance und<br />
Arzneimittelwechselwirkungen in Erwägung<br />
zu ziehen. Wirkstoffe, die dieses<br />
Cytochrom hemmen o<strong>der</strong> um die Bindungsstelle<br />
konkurrieren, behin<strong>der</strong>n die<br />
Umwandlung in den aktiven Metaboliten<br />
und schwächen die Clopidogrel-Wirkung.<br />
Hierzu gehören einige Protonenpumpenhemmer<br />
(Omeprazol, Esomeprazol, Lansoprazol).<br />
In einer weiteren klinischen Studie zur<br />
gleichzeitigen Gabe von Pantoprazol und<br />
Clopidogrel wurde zwischen diesen beiden<br />
Substanzen keine Interaktion beobachtet. [10]<br />
Die mögliche Erklärung hier<strong>für</strong> ist, dass<br />
Pantoprazol eine 10-fach geringere Affinität<br />
zum Cytochrom Subenzym 2C19 hat<br />
als Omeprazol. Pantoprazol wird darüber<br />
hin<strong>aus</strong> vorrangig über das Cytochrom<br />
(CYP) 2C9 verstoffwechselt und interagiert<br />
daher nicht mit dem über CYP 2C19 in seinen<br />
aktiven Metaboliten überführten Clo-<br />
pidogrel. [7]<br />
Seit November letzten Jahres wurden nun<br />
auch bereits mehrere Fall-Kontroll-Studien<br />
publiziert, die an großen Patientenkollektiven<br />
die klinische Auswirkung des Clopidogrel-inhibierenden<br />
Effekts von Protonenpumpenhemmern<br />
untersuchten: Eine Ende<br />
2008 erschienene Studie bezieht sich auf<br />
Daten von 16.690 Patienten einer Online-<br />
Apotheke und ergab <strong>für</strong> die Gruppe <strong>der</strong><br />
Clopidogrel-Patienten, die zusätzlich einen<br />
PPI bekamen, innerhalb eines Jahres ein<br />
um 50 Prozent höheres relatives Risiko <strong>für</strong><br />
schwere kardiovaskuläre Ereignisse. [1]<br />
Bei einer Auswertung von 8.205 Patienten<br />
einer US-Veteranenklinik erreichten 29,8 %<br />
<strong>der</strong> Patienten, die PPI zusammen mit Clopidogrel<br />
einnahmen, den Endpunkt Tod<br />
o<strong>der</strong> Re-Hospitalisierung. In <strong>der</strong> Kontrollgruppe<br />
waren es nur 20,8 %. [5] Wie alle Fall-<br />
Kontroll-Studien unterliegen auch diese<br />
Arbeiten entsprechenden Limitationen.<br />
Außerdem wurde in den Auswertungen<br />
<strong>der</strong> Patientendaten nicht nach den einzelnen<br />
PPI differenziert.<br />
Eine aktuelle kanadische Studie [6] be schreibt<br />
nun erstmals eine differenzierte Heran -<br />
gehensweise an diese Fragestellung, indem<br />
<strong>der</strong> Einfluss von PPI auf die Häufigkeit<br />
von Reinfarkten bei Koronarpatienten<br />
unter Clopidogrel-Therapie untersucht<br />
wird. In die Fall-Kontroll-Studie wurden in<br />
den Jahren 2002 – 2007 insgesamt 13.636<br />
Patienten eingeschlossen, die nach einem<br />
akuten Herzinfarkt Clopidogrel und als<br />
Magenschutz einen Protonenpumpenhemmer<br />
erhielten. Im Anschluss wurde die<br />
Reinfarktrate <strong>der</strong> folgenden 90 Tage beobachtet.<br />
Insgesamt 734 Patienten erlitten im<br />
Beobachtungszeitraum einen Reinfarkt, <strong>der</strong><br />
Vergleich mit 2.057 Kontrollpatienten<br />
brachte ein überzeugendes Ergebnis: Die<br />
Reinfarktrate war unter allen Protonenpumpenhemmern<br />
bis auf Pantoprazol signifikant<br />
erhöht. Das Risiko stieg unter<br />
Omeprazol, Rabeprazol o<strong>der</strong> Lansoprazol<br />
um 40 Prozent, während es unter Pantoprazol<br />
unverän<strong>der</strong>t blieb.<br />
Fazit<br />
Der sehr breite Einsatz von PPI insbeson<strong>der</strong>e<br />
bei <strong>der</strong> Prophylaxe von NSARbedingten<br />
Schädigungen sollte überdacht<br />
werden. Die 2C19 Interaktion kann neben<br />
<strong>der</strong> Clopidogrel-Wirkung auch die Wirksamkeit<br />
an<strong>der</strong>er Arzneimittel (z. B. Diazepam,<br />
Phenytoin, Cyclosporin) verän<strong>der</strong>n.<br />
Der Einsatz von Ranitidin in <strong>der</strong> Prophylaxe<br />
NSAR-bedingter Schädigungen sollte<br />
gegebenenfalls erwogen werden. CAVE!<br />
Cimetidin ist hier keine Option, da es<br />
ebenfalls Cytochrom-P450-2C19 inhibiert!<br />
Besteht weiter eine Indikation <strong>für</strong> einen<br />
PPI, sollte Pantoprazol überall dort eingesetzt<br />
werden, wo eine Cytochrom-P450-<br />
2C19-vermittelte Interaktion mit an<strong>der</strong>en<br />
Arzneimitteln möglich ist. Beim Einsatz<br />
von Clopidogrel in Kombination mit einem<br />
PPI ist daher Pantoprazol den an<strong>der</strong>en PPI<br />
(Omeprazol, Esomeprazol, Lansoprazol)<br />
vorzuziehen.<br />
Ist die gleichzeitige Gabe eines Thrombozytenaggregationshemmers<br />
und eines PPI<br />
erfor<strong>der</strong>lich, ist auch zu prüfen, inwieweit<br />
die Monotherapie mit Acetylsalicylsäure<br />
dem Patienten einen <strong>aus</strong>reichenden Schutz<br />
bietet, da hier keine Interaktionsgefahr<br />
besteht.<br />
Interessenkonflikt: Die Autoren erklären, dass<br />
kein Interessenkonflikt besteht.<br />
Literatur<br />
Pharmakologie/Innere Medizin<br />
[1] Aubert RE, Epstein RS, Teagarden JR, et al. Proton<br />
pump inhibitors effect on clopidogrel effectiveness: The<br />
Clopidogrel Medco Outcomes Study. Circulation. 2008;<br />
118: S_815.<br />
[2] Fischbach W, Malfertheiner P, Hoffmann JC, et al. S3-<br />
Leitlinie „Helicobacter pylori und gastroduodenal ulcer<br />
disease“. Z Gastroenterol. 2009 Jan; 47(1): 68-102.<br />
[3] Frere C, Cuisset T, Morange PE, et al. Effect of cytochrome<br />
p450 polymorphisms on platelet reactivity after treatment<br />
with clopidogrel in acute coronary syndrome. Am J<br />
Cardiol. 2008 Apr 15; 101(8): 1088-93.<br />
[4] Gilard M, Arnaud B, Cornily JC, et al. Influence of omeprazole<br />
on the antiplatelet action of clopidogrel associated<br />
with aspirin: the randomized, double-blind OCLA (Omeprazole<br />
CLopidogrel Aspirin) study. J Am Coll Cardiol.<br />
2008 Jan 22; 51(3): 256-60.<br />
[5] Ho M, Maddox T, Wang L, et al. Risk of Adverse Outcomes<br />
Associated With Concomitant Use of Clopidogrel and<br />
Proton Pump Inhibitors Following Acute Coronary Syndrome.<br />
JAMA 2009; 301(9): 937-44.<br />
[6] Juurlink DN, Gomes T, Ko DT, et al. A populationbased<br />
study of the drug interaction between proton pump<br />
inhibitors and clopidogrel. CMAJ 2009; 1 80(7): 713-8.<br />
[7] Lau WC, Gurbel PA. The drug-drug interaction between<br />
proton pump inhibitors and clopidogrel. CMAJ. 2009;<br />
180(7): 699-700.<br />
[8] Mega J, Close S, Wiviott S, et al. Cytochrome P-450<br />
Polymorphisms and Response to Clopidogrel. N Engl J<br />
Med. 2009; 360(4): 354-62.<br />
[9] Mössner J. In: Schwabe U, Paffrath D. Arzneiverordnungsreport<br />
2008; Kapitel 32: 661-90.<br />
[10] Siller-Matula JM, Spiel AO, Lang IM, Kreiner G, Christ<br />
G, Jilma B. Effects of pantoprazole and esomeprazole on<br />
platelet inhibition by clopidogrel. Am Heart J. 2009 Jan;<br />
157(1): 148.e1-5.<br />
Kontakt<br />
Priv.-Doz. Dr. Siegbert Faiss<br />
III. Med. Abteilung<br />
(Gastroenterologie/Hepatologie)<br />
Tel. (0 40) 18 18-82 38 10<br />
Fax (0 40) 18 18-82 38 19<br />
E-Mail: s.faiss@asklepios.com<br />
Dr. Andrea Liekweg<br />
Krankenh<strong>aus</strong>apotheke<br />
<strong>der</strong> <strong>Asklepios</strong> <strong>Klinik</strong>en Hamburg GmbH<br />
<strong>Asklepios</strong> <strong>Klinik</strong> Barmbek<br />
Rübenkamp 220, 22291 Hamburg<br />
Tel. (0 40) 18 18-82 64 72<br />
E-Mail: a.liekweg@asklepios.com<br />
677
Medtropole | Ausgabe 18 | Juli 2009<br />
„Fast-track“-Rehabilitation<br />
Optimierte perioperative Behandlung<br />
zur Beschleunigung <strong>der</strong> Genesung und Vermeidung allgemeiner Komplikationen<br />
Prof. Dr. Wolfgang Schwenk<br />
Die perioperative Behandlung folgt in weiten Bereichen <strong>der</strong> operativen Medizin traditionellen Vorstellungen,<br />
ohne die Erkenntnisse mo<strong>der</strong>ner wissenschaftlicher Untersuchungen zu berücksichtigen. Die Kombination von<br />
Behandlungsmaßnahmen, <strong>der</strong>en Effektivität in randomisierten, kontrollierten klinischen Studien nachgewiesen<br />
wurde, zu einem interprofessionellen, multimodalen und patientenzentrierten klinischen Behandlungspfad nennt<br />
man „Fast-track“-Rehabilitation. Die optimierte perioperative Behandlung vermeidet allgemeine Komplikationen,<br />
beschleunigt die Genesung und stellt die Leistungsfähigkeit <strong>der</strong> Patienten rasch wie<strong>der</strong> her.<br />
Interventionelle und minimal-invasive<br />
Techniken reduzierten Ende des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />
das Zugangstrauma zahlreicher<br />
Eingriffe und beschleunigten so die Genesung<br />
<strong>der</strong> Patienten. Insbeson<strong>der</strong>e in <strong>der</strong><br />
Allgemein- und Viszeralchirurgie setzt sich<br />
diese Entwicklung mit <strong>der</strong> Chirurgie natürlicher<br />
Körperöffnungen („Natural Orifice<br />
Surgery“ – NOS) <strong>der</strong>zeit weiter fort.<br />
Dagegen sind die meisten perioperativen<br />
Behandlungskonzepte durch Traditionen<br />
geprägt und halten einer kritischen Überprüfung<br />
in klinischen randomisierten, kontrollierten<br />
Studien (RCT) nicht stand. Eine<br />
mo<strong>der</strong>ne „evidenzbasierte“ perioperative<br />
Therapie unterscheidet sich daher erheblich<br />
von „traditionellen“ Behandlungskonzepten.<br />
Unter „Fast-track“-Rehabilitation<br />
versteht man die sinnvolle Kombination<br />
von Einzelmaßnahmen, <strong>der</strong>en Wirksamkeit<br />
in randomisierten, kontrollierten Studien<br />
nachgewiesen wurde, zu einem patientenzentrierten,<br />
evidenzbasierten, multimodalen<br />
und interprofessionellen Behandlungspfad.<br />
Alle erfolgreichen „Fast-track“-Rehabilitationskonzepte<br />
ruhen auf den Säulen<br />
Patienteninformation und -motivation,<br />
678<br />
Risikooptimierung, bestmögliche Operationsvorbereitung,<br />
mo<strong>der</strong>ne Narkoseführung,<br />
Verzicht auf Sonden, Drainagen und<br />
Katheter, optimale Schmerztherapie, rasche<br />
orale (o<strong>der</strong> enterale) Ernährung, forcierte<br />
Mobilisation (Abb. 1). Am Beispiel <strong>der</strong><br />
elektiven Kolonresektionen lassen sich die<br />
Prinzipien und Effekte gut erklären:<br />
■ Elektive Kolonresektionen sind häufige<br />
Eingriffe.<br />
■ Schwerwiegende chirurgische Komplikationen<br />
sind selten.<br />
■ Die perioperative Behandlung bei elektiven<br />
Kolonresektionen folgt weltweit<br />
chirurgischen Traditionen und ist nicht<br />
evidenzbasiert. [1]<br />
■ Die Inzidenz postoperativer allgemeiner<br />
Komplikationen ist trotz elektiver<br />
Vorbereitung mit 25 – 35 Prozent hoch. [2]<br />
■ Die Patienten genesen unter diesen<br />
Bedingungen nur langsam, sodass die<br />
postoperative Krankenh<strong>aus</strong>verweil -<br />
dauer bei laparoskopischen und konventionellen<br />
Kolonresektionen zwischen<br />
12 und 18 Tagen beträgt. [2,3]<br />
Um die Grundzüge einer optimierten perioperativen<br />
Behandlung am Beispiel <strong>der</strong><br />
elektiven Kolonresektion zu verdeutlichen,<br />
zeigt Tabelle 1 beispielhaft die Unterschiede<br />
zwischen „traditioneller“ Behandlung<br />
und „Fast-track“-Rehabilitation. Zahlreiche<br />
dieser Maßnahmen werden aber in gleicher<br />
Form bei an<strong>der</strong>en Operationen zur Verlaufsoptimierung<br />
eingesetzt. [4]<br />
Präoperative optimierte Behandlung<br />
Patientenschulung und -motivation: Im<br />
präoperativen Arzt-Patienten-Gespräch<br />
werden <strong>der</strong> Patient und seine Angehörigen<br />
auf ihre aktive Rolle im postoperativen<br />
Genesungsprozess hingewiesen. Der optimale<br />
Verlauf nach dem Eingriff und die<br />
erfor<strong>der</strong>lichen Leistungen des Patienten<br />
zur Beschleunigung <strong>der</strong> Genesung werden<br />
betont, eindeutige Behandlungsziele festgelegt<br />
und <strong>der</strong> Patient als aktiver Partner<br />
im Genesungsprozess gewonnen.<br />
Operationsvorbereitung: In <strong>der</strong> Operationsvorbereitung<br />
werden Autonomie und<br />
Homöostase des Patienten aufrechterhal-
Maßnahme „traditionell“ „Fast-track“<br />
Präoperative Nüchternheit 6 – 8 Stunden 2 Stunden<br />
Darmvorbereitung Spülung mit Polyethylenglykollösung Natriumpicosulfat, Klistier<br />
„liberal“ „restriktiv“<br />
Intraoperative Infusionstherapie orientiert an Urin<strong>aus</strong>scheidung, ZVD<br />
o<strong>der</strong> potenziellen Verlusten in den „3. Raum“<br />
Intraoperativer Temperaturerhalt ? aktive konvektive Wärmezufuhr<br />
Analgesie Systemische Opioide<br />
Thorakale Periduralanalgesie mit Lokalanästhetika-Opioid-Gemisch<br />
und systemische Nicht-Opioid-Analgesie<br />
Längslaparotomie o<strong>der</strong> minimal-invasive Chirurgie Quere Laparotomie o<strong>der</strong> minimal-invasive Chirurgie<br />
Operationstechnik<br />
Intraperitoneale Drainage(n) Keine Drainage<br />
Magensonde / Blasenkatheter Keine Magensonde, kein Blasenkatheter<br />
Postoperative Infusionstherapie<br />
Kostaufbau<br />
3 – 5 Tage am OP-Tag<br />
flüssige Kost nach 1 – 3 Tagen am OP-Tag<br />
feste Kost<br />
Mobilisation<br />
nach 4 – 6 Tagen am 1. Tag<br />
Bettkante / Stuhl am 1. Tag / am 2. Tag am OP-Tag / am OP-Tag<br />
> 8 Stunden <strong>aus</strong> dem Bett am 3. – 5. Tag (?) am 1. – 2. Tag<br />
Entlassungskriterien erfüllt 1 am 7. – 10. Tag am 3. – 5. Tag<br />
Tabelle 1: Unterschiede „traditioneller“ und optimierter, evidenzbasierter „Fast-track“-Rehabilitation bei elektiven Kolonresektionen<br />
ten. Ein wichtiges Ziel ist dabei die intravasale<br />
Normovolämie, sodass auf die<br />
orthograde Darmspülung mit osmotisch<br />
wirksamen Substanzen verzichtet wird<br />
und Patienten bis zwei Stunden vor <strong>der</strong><br />
Operation klare Flüssigkeiten zu sich nehmen<br />
dürfen. Zudem trinken sie am Abend<br />
und zwei Stunden vor dem Eingriff kohlenhydratreiche<br />
Trinklösungen. Eine Prämedikation<br />
beugt bei Risikopatienten dem<br />
Syndrom <strong>der</strong> postoperativen Übelkeit und<br />
des Erbrechens („PONV“-Syndrom –<br />
„postoperative n<strong>aus</strong>ea and vomiting“) vor.<br />
Intraoperative optimierte Behandlung<br />
Interventionelle und minimal-invasive<br />
Operationstechniken reduzieren das<br />
Zugangstrauma und gehen mit geringeren<br />
Schmerzen, einer geringeren posttraumatischen<br />
neuroendokrinen Stressreaktion,<br />
einer besseren Lungenfunktion und einer<br />
rascheren Wie<strong>der</strong>herstellung <strong>der</strong> normalen<br />
Magen-Darmfunktion einher. Daher ist die<br />
minimal-invasive Chirurgie ein wesentlicher<br />
Bestandteil <strong>der</strong> „Fast-track“-Rehabilitation.<br />
Darüber hin<strong>aus</strong> kann aber auch die<br />
Art <strong>der</strong> Laparotomie (quere statt mediane<br />
o<strong>der</strong> paramediane Längslaparotomien) mit<br />
geringeren Schmerzen und einer besseren<br />
postoperativen Lungenfunktion einhergehen.<br />
Mo<strong>der</strong>ne Narkoseführung: Bereits kurz<br />
nach total intravenöser Anästhesie o<strong>der</strong><br />
neueren Inhalationsanästhetika sind die<br />
Patienten wie<strong>der</strong> vigilant und nehmen<br />
aktiv am Rehabilitationsprozess teil. Eine<br />
wesentliche Bedeutung <strong>für</strong> den postoperativen<br />
Verlauf haben die intraoperative<br />
Wärme-, Flüssigkeits- und Volumenhomöostase.<br />
Dabei wird <strong>der</strong> Erhalt <strong>der</strong> Normo -<br />
thermie durch aktive Wärmung und <strong>der</strong><br />
Normovolämie durch mo<strong>der</strong>aten Einsatz<br />
von Infusionslösungen angestrebt. Die<br />
Orientierung <strong>der</strong> Infusionsmenge an traditionellen<br />
Parametern wie ZVD, Urin -<br />
<strong>aus</strong>scheidung o<strong>der</strong> Flüssigkeitsverlust in<br />
einen angeblich vorhandenen sogenannten<br />
„Dritten Raum“ führt zu hohen Infusionsmengen<br />
mit verzögertem und komplikativem<br />
postoperativen Verlauf und ist daher<br />
heute obsolet.<br />
Chirurgie<br />
1 Entlassungskriterien: präoperativer Mobilitätsgrad weitestgehend erreicht, mit oraler Analgesie keine o<strong>der</strong> geringe Schmerzen, essen und trinken, keine Infusionen, Stuhlgang.<br />
Postoperative optimierte Behandlung<br />
Verzicht auf Sonden, Drainagen und<br />
Katheter: Eine wesentliche Ursache <strong>für</strong><br />
postoperative Immobilität sind Sonden,<br />
Drainagen und Katheter. Die Verwendung<br />
einer Nasogastralsonde hat auch nach gastrointestinalen<br />
Resektionen keinen nachweisbaren<br />
Vorteil <strong>für</strong> die Patienten, führt<br />
aber zu erheblichen Schmerzen und verzögert<br />
die Auflösung <strong>der</strong> postoperativen Darmatonie.<br />
Intraabdominelle Drainagen sind<br />
bei den meisten abdominalchirurgischen<br />
Operationen nutzlos und behin<strong>der</strong>n<br />
Patienten bei <strong>der</strong> Mobilisation. Sie sollten<br />
daher ebenso wie ein Blasenkatheter vermieden<br />
o<strong>der</strong> möglichst rasch entfernt werden.<br />
Optimale Schmerztherapie: Eine optimale<br />
Analgesie ist Grundvor<strong>aus</strong>setzung <strong>für</strong> eine<br />
aktive Kooperation des Patienten in <strong>der</strong><br />
postoperativen Phase. Lokal- und regionalanästhetische<br />
Analgesietechniken ergänzen<br />
daher die systemische Schmerztherapie<br />
und reduzieren postoperative Schmerzen,<br />
die postoperative Darmatonie und die Inzi-<br />
679
Medtropole | Ausgabe 18 | Juli 2009<br />
Abb. 1: Säulen <strong>der</strong> „Fast-track“-Rehabilitation Abb. 2: Metaananlyse – Fast-track versus traditionelle Therapie<br />
denz allgemeiner postoperativer Komplikationen.<br />
Rasche orale/enterale Ernährung: Traditionell<br />
folgt auf einen abdominalchirurgischen<br />
Eingriff eine Phase <strong>der</strong> völligen<br />
oralen und enteralen Nahrungskarenz,<br />
anschließend ein abgestufter Kostaufbau.<br />
Im Gegensatz dazu reduziert <strong>der</strong> rasche<br />
postoperative orale/enterale Kostaufbau<br />
nach Operationen am oberen und unteren<br />
Gastrointestinaltrakt die gesamte Komplikationsrate.<br />
Forcierte Mobilisation: Die negativen Auswirkungen<br />
einer verlängerten Bettruhe<br />
nach ärztlichen Interventionen sind lange<br />
bekannt. Die rasche Mobilisation noch am<br />
Operationstag verbessert die postoperative<br />
Lungenfunktion, vermin<strong>der</strong>t das Risiko<br />
thromboembolischer Komplikationen und<br />
för<strong>der</strong>t die Patientenautonomie.<br />
680<br />
Klinische Ergebnisse<br />
Schriftlich formulierte Behandlungspfade<br />
zur optimierten perioperativen Behandlung<br />
liegen heute <strong>für</strong> zahlreiche Operationen<br />
<strong>der</strong> Allgemein-, Viszeral-, Gefäß- und<br />
Thoraxchirurgie sowie <strong>der</strong> Urologie und<br />
Gynäkologie vor. [4] Die größten klinischen<br />
Erfahrungen zur „Fast-track“-Rehabilitation<br />
gibt es heute bei elektiven Kolonresektionen.<br />
Im Gegensatz zur traditionellen<br />
Behandlung sind bei den meisten Patienten<br />
Kostaufbau und Mobilisation bereits nach<br />
2 – 3 Tagen abgeschlossen, die Darmtätigkeit<br />
normalisiert. Eine aktuelle Metaanalyse<br />
belegte die Vorteile <strong>der</strong> „Fast-track“-Be -<br />
handlung gegenüber <strong>der</strong> „traditionellen“<br />
Therapie bei Kolonresektionen eindrucksvoll:<br />
Die Krankenh<strong>aus</strong>verweildauer (als<br />
Maß <strong>der</strong> Rekonvaleszenz) wurde deutlich<br />
reduziert, die Quote postoperativer Komplikationen<br />
um mehr als 40 Prozent gesenkt!<br />
Dabei war die Wie<strong>der</strong>aufnahmequote bei<br />
beiden Formen <strong>der</strong> perioperativen Behandlung<br />
vergleichbar, „Fast-track“-Patienten<br />
werden demnach zwar frühzeitig, aber nicht<br />
verfrüht nach H<strong>aus</strong>e entlassen (Abb. 2). [5]<br />
5 0 -5<br />
10 1 0,1<br />
Der Vergleich deutschlandweiter Qualitätssicherungsmaßnahmen<br />
unter „traditioneller“<br />
[2,3] und „Fast-track“-Rehabilitation [6,7]<br />
bestätigt die positiven Effekte <strong>der</strong> optimierten<br />
Therapie in gleicher Weise (Tab. 2).<br />
Die positiven Effekte einer optimierten<br />
perioperativen Behandlung hängen zudem<br />
von Risiko und Schweregrad <strong>der</strong> Operation<br />
ab. Bei kleineren Eingriffen bessert die<br />
„Fast-track“-Rehabilitation vor allem durch<br />
die Vermeidung postoperativer Schmerzen<br />
und des PONV-Syndroms den Behandlungskomfort<br />
<strong>der</strong> Patienten. Bei mittelgroßen<br />
Eingriffen senkt die optimierte Therapie<br />
die Inzidenz postoperativer Komplikationen<br />
und bei großen Eingriffen kann die Vermeidung<br />
von Organdysfunktionen unter<br />
Umständen auch die postoperative Sterblichkeit<br />
günstig beeinflussen (Abb. 3).
„traditionell“ „Fast-track“<br />
konventionell laparoskopisch konventionell laparoskopisch<br />
Patienten 2.293 1.311 748 846<br />
Alter (Jahre) 68 (18 – 97) 64 (13 – 94) 70 (26 – 96) 63 (23 – 91)<br />
Weiblich 53,7 % 56,5 % 50 % 57,4 %<br />
ASA Klasse III – IV 43,9 % k. A. 41,3 % 22,4 %<br />
Komplikationen<br />
chirurgisch 21,8 % 14,5 % 20,4 % 8,6 %<br />
allgemein 27,0 % 10,9 % 13,2 % 4,7 %<br />
Postoperativer<br />
Aufenthalt (Tage)<br />
21 (0 – 164) 2 12 (1 – 99) 9 (4 – 93) 7 (3 – 72)<br />
Tab. 2: „Traditionelle“ und „Fast-track“-Rehabilitation in deutschlandweiten freiwilligen<br />
prospektiven Qualitätssicherungsmaßnahmen (2, 3, 6, 8)<br />
2 gesamte Krankenh<strong>aus</strong>verweildauer<br />
Fazit<br />
Die perioperative Behandlung entscheidet<br />
ebenso wie die operative Technik über den<br />
postoperativen Verlauf <strong>der</strong> Patienten. Eine<br />
mo<strong>der</strong>ne multimodale und interprofessionelle,<br />
patientenzentrierte perioperative<br />
Behandlung erhält die Homöostase o<strong>der</strong><br />
stellt sie so rasch wie möglich wie<strong>der</strong> her.<br />
So vermeidet die „Fast-track“-Rehabilitation<br />
Organdysfunktionen und postoperative<br />
allgemeine Komplikationen. Die Autonomie<br />
<strong>der</strong> Patienten wird postoperativ<br />
rasch wie<strong>der</strong>hergestellt, sodass die Entlassung<br />
frühzeitig erfolgen kann, ohne dass<br />
eine ambulante ärztliche Betreuung notwendig<br />
wird o<strong>der</strong> sogar die Rate <strong>der</strong><br />
Wie<strong>der</strong>aufnahmen in die <strong>Klinik</strong> ansteigt.<br />
Literatur<br />
[1] Kehlet H, Beart RW, Billingham RPWR. Care after colonic<br />
operation – is it evidence-based? Results from a multinational<br />
survey in Europe and the United States. J Am Coll<br />
Surg 2006; 202: 45-54.<br />
[2] Marusch F, Koch A, Schmidt U, Zippel R, Geissler S,<br />
Pross M, et al. Prospektive Multizenterstudien „Kolon-<br />
/Rektumkarzinome“ als flächendeckende chirurgische<br />
Qualitätssicherung. Chirurg 2002; 73(2): 138-46.<br />
[3] Marusch F, Gastinger I, Schnei<strong>der</strong> C, Scheidbach H,<br />
Konradt J, Bruch HP, et al. Experience as a factor influencing<br />
the indications for laparoscopic colorectal surgery and<br />
the results. Surgical Endoscopy 2001; 15(2): 116-20.<br />
[4] Schwenk W, Spies C, Müller JM. Fast-track in <strong>der</strong> operativen<br />
Medizin. Perioperative Behandlungspfade <strong>für</strong> Chirurgie,<br />
Anästhesie, Gynäkologie, Urologie und Pflege. Heidelberg:<br />
Springer Medizin Verlag; 2009.<br />
[5] Gouvas N, Tan E, Windsor A, Xynos E, Tekkis PP. Fasttrack<br />
vs standard care in colorectal surgery: a meta-analysis<br />
update. Int J Colorectal Dis 2009 elektronische Publikation<br />
vor Druck DOI 10.1007/s00384-009-0703-5.<br />
[6] Braumann C, Günther N, Wendling P, Engemann R,<br />
Germer CT, Probst W, et al. Multimodal perioperative<br />
rehabilitation in elective conventional resection of colonic<br />
cancer: Results from the german multicenter quality assurance<br />
program 'Fast-Track Colon II'. Dig Surg 2009; 26(2):<br />
123-9.<br />
Abb. 3: Positive Effekte <strong>der</strong> „Fast-track“-Rehabilitation<br />
Kontakt<br />
Prof. Dr. Wolfgang Schwenk<br />
1. Chirurgie –<br />
Allgemein- und Viszeralchirurgie<br />
<strong>Asklepios</strong> <strong>Klinik</strong> Altona<br />
Paul-Ehrlich-Straße 1<br />
D-22763 Hamburg<br />
Tel. (0 40) 18 18-81 1600<br />
Fax. (0 40) 18 18-81 4907<br />
E-Mail: w.schwenk@asklepios.com<br />
Chirurgie<br />
[7] Schwenk W, Günther N, Wendling P, Schmid M, Probst<br />
W, Kipfmüller K, et al. „Fast-track“ rehabilitation for elective<br />
colonic surgery in Germany – prospective observational<br />
data from a multi-centre quality assurance programme.<br />
International journal of colorectal disease 2008; 23(1): 93-9.<br />
[8] Tsilimparis N, Haase O, Wendling P, Kipfmüller K,<br />
Schmid M, Engemann R, et al. Laparoskopische „Fasttrack“-Sigmaresektion<br />
bei Divertikulitis in Deutschland –<br />
Ergebnisse einer prospektiven Qualitätssicherungsmaßnahme.<br />
2009 unveröffentlichte Daten.<br />
681
Medtropole | Ausgabe 18 | Juli 2009<br />
Magnetic Field Imaging<br />
Risikostratifizierung des plötzlichen Herztodes<br />
Dr. Tobias Tönnis<br />
Der plötzliche Herztod (PHT) ist definiert als unerwarteter, natürlicher Tod <strong>aus</strong> kardialer Ursache<br />
(meist ventri kuläre Tachykardien beziehungsweise Kammerflimmern). Nach wie vor ist <strong>der</strong> PHT eine <strong>der</strong><br />
wesentlichen Todes ursachen in den industrialisierten Län<strong>der</strong>n. Pro Jahr versterben daran in Deutschland<br />
ungefähr 100.000, in den USA etwa 300.000 Menschen.<br />
Als therapeutisches Mittel zur Verhin<strong>der</strong>ung<br />
des plötzlichen Herztodes steht <strong>der</strong><br />
implantierbare Cardioverter-Defibrillator<br />
(ICD) zur Verfügung. Durch ihn lässt sich<br />
in Risikogruppen eine signifikante Verringerung<br />
<strong>der</strong> Mortalität erreichen. [1,2,3,4] Bisher<br />
werden die Risikopatienten aufgrund <strong>der</strong><br />
Ergebnisse großer multizentrischer Studien<br />
im Wesentlichen durch die linksventrikuläre<br />
Auswurffraktion (EF) identifiziert.<br />
Diese ist als alleiniges Kriterium jedoch<br />
we<strong>der</strong> son<strong>der</strong>lich sensitiv noch spezifisch.<br />
So zeigt sich zum Beispiel in <strong>der</strong> SCD-HeFT-<br />
Studie nur bei etwa 20 Prozent <strong>der</strong> Patienten,<br />
die prophylaktisch einen Defibrillator<br />
implantiert bekommen, im Beobachtungszeitraum<br />
von 45 Monaten eine adäquate<br />
ICD-Therapie. Im gleichen Zeitraum<br />
kommt es außerdem bei zehn Prozent zu<br />
einer inadäquaten Therapie. [3] Ähnliche<br />
Zahlen finden sich <strong>für</strong> die an<strong>der</strong>en großen<br />
Studien zur primärprophylaktischen ICD-<br />
Versorgung. Es gilt somit eine diagnostische<br />
Methode zu finden, die die Patienten<br />
im Vor<strong>aus</strong> identifizieren kann, die ein<br />
rhythmogenes Ereignis bekommen werden,<br />
das zum PHT führen kann. Damit<br />
682<br />
Abb. 1:<br />
Inzidenz des plötzlichen Herztodes<br />
nach Bevölkerungsgruppen<br />
(nach Huikuri HV, et al., NEJM 345:<br />
1473 - 1482, 2001)<br />
ließe sich <strong>für</strong> viele Patienten eine nicht notwendige<br />
ICD-Therapie/-Implantation vermeiden.<br />
Der größte absolute Teil <strong>der</strong> Patienten, die<br />
am PHT versterben, wird allerdings über<br />
die bisherigen Kriterien gar nicht identifiziert<br />
(Abb. 1). Ein geeigneter Parameter<br />
zur Risikostratifizierung des PHT sollte<br />
folglich auch die Individuen identifizieren<br />
können, die nach den bisherigen Kriterien<br />
nicht mit einem ICD versorgt werden, aber<br />
dennoch ein erhöhtes Risiko <strong>für</strong> den PHT<br />
aufweisen.<br />
Bisherige Risikostratifizierungsmethoden<br />
(Microvolt T-Wave-Alternans, Signal Average-ECG,<br />
Heartrate-Turbulence, Heartrate-Variability)<br />
konnten bislang entwe<strong>der</strong><br />
keine wesentliche Besserung gegenüber<br />
<strong>der</strong> alleinigen Verwendung <strong>der</strong> EF beweisen<br />
o<strong>der</strong> waren in <strong>der</strong> klinischen Routine<br />
nicht anwendbar. Vielversprechende<br />
Ansätze ergeben sich <strong>aus</strong> einer Kombination<br />
dieser Parameter, prospektive und insbeson<strong>der</strong>e<br />
randomisierte Studien liegen<br />
dazu aber noch nicht vor.<br />
Magnetic Field Imaging (MFI)<br />
Die Methode <strong>der</strong> Registrierung magnetischer<br />
Signale des Herzens existiert seit<br />
mehr als 30 Jahren. Bei den bisherigen Systemen<br />
mit einem o<strong>der</strong> wenigen Sensoren<br />
wurde diese Messmethode in <strong>der</strong> Vergangenheit<br />
in <strong>der</strong> Regel als Magnetokardiographie<br />
bezeichnet. Die Signale entstehen<br />
parallel zur elektrischen Zellaktivität. Im<br />
Gegensatz zur Elektrokardiographie (EKG)<br />
werden die magnetischen Signale durch<br />
das umliegende Gewebe weniger beeinflusst<br />
und die Magnetfeldmessung nimmt<br />
kreisende Ströme wahr, die im EKG nicht<br />
gemessen werden können.<br />
Die Magnetfeldmessung mit dem MFI-System,<br />
einer Weiterentwicklung <strong>der</strong> Magnetokardiographie,<br />
geschieht mittels 55 hochempfindlicher<br />
SQUID-Sensoren. Sie sind in<br />
einer hexagonalen Matrix in <strong>der</strong> Sensoreinheit<br />
über dem Patienten lokalisiert und<br />
können Magnetfel<strong>der</strong> von bis zu 10 -15 Tesla<br />
nachweisen. Die Aufnahme dauert nur<br />
fünf Minuten. Während <strong>der</strong> Untersuchung<br />
liegt <strong>der</strong> Patient auf einer Liege unter dem<br />
Sensor (Abb. 3). Die Messung wird durch
die Kleidung des Patienten nicht gestört, er<br />
muss nur alle metallischen Gegenstände<br />
ablegen, da diese die Messung stark beeinträchtigen<br />
würden. Die Untersuchung ist<br />
komplett berührungslos und strahlungsfrei,<br />
es werden keine elektromagnetischen<br />
Signale abgegeben. Um externe Störeinflüsse<br />
so gering wie möglich zu halten, ist das<br />
Aufnahmesystem in einem magnetisch<br />
abgeschirmten Raum untergebracht.<br />
Bei einem MFI zur Risikoeinschätzung des<br />
PHT wird <strong>aus</strong> allen Signalen <strong>der</strong> 55 Sensoren<br />
über den gesamten Aufnahmezeitraum<br />
die QRS-Fragmentation ermittelt (Abb. 4).<br />
In mehreren Studien zeigte sich bereits,<br />
dass sich mithilfe <strong>der</strong> Magnetsignalaufnahme<br />
und dem Parameter <strong>der</strong> QRS-Fragmentation<br />
zusätzlich zur Bestimmung <strong>der</strong> Ejektionsfraktion<br />
mit guter Sensitivität und<br />
Spezifität Patienten identifizieren ließen,<br />
die im weiteren Verlauf arrhythmogene<br />
Ereignisse (VT, VF) bekamen. [5,6] Dabei<br />
zeigte sich, dass bei Patienten mit stark<br />
„fragmentiertem“ magnetischen Signal<br />
das arrhythmogene Risiko erhöht ist.<br />
Zur Validierung dieser Ergebnisse mit dem<br />
MFI-System <strong>der</strong> Firma BMDSys wird<br />
aktuell eine prospektive Studie (MFI-RiSti)<br />
durchgeführt. Im Rahmen dieser Studie<br />
werden Patienten, die ein ICD-Aggregat<br />
implantiert bekommen, vor <strong>der</strong> Implanta-<br />
tion mit dem MFI-System untersucht. Über<br />
einen Beobachtungszeitraum von zwei Jahren<br />
werden dann die Ergebnisse <strong>der</strong> QRS-<br />
Fragmentation mit <strong>der</strong> Ereignishäufigkeit<br />
in den ICD-Abfragen verglichen.<br />
Ein ähnliches Studienkonzept besteht in<br />
<strong>der</strong> multizentrisch durchgeführten MARII<br />
Intra-QRS-Studie <strong>der</strong> Firma Biotronik. Die<br />
Messung <strong>der</strong> QRS-Fragmentation erfolgt<br />
dabei mithilfe eines älteren Magnetokardiographiesystems<br />
an <strong>der</strong> Physikalisch<br />
Technischen Bundesanstalt in Berlin.<br />
Ergebnisse bei<strong>der</strong> Studien sind frühestens<br />
in ein bis zwei Jahren zu erwarten. Bis<br />
dahin kann die Messung <strong>der</strong> QRS-Fragmentation<br />
nur als zusätzlicher Hinweis bei<br />
Anwendung <strong>der</strong> bestehenden Leitlinien<br />
zur Prävention des plötzlichen Herztodes<br />
herangezogen werden.<br />
Kontakt<br />
Dr. Tobias Tönnis<br />
Kardiale Magnetfelddiagnostik<br />
ICD- und Herzschrittmacherambulanz<br />
II. Medizinische Abteilung<br />
<strong>Asklepios</strong> <strong>Klinik</strong> St. Georg<br />
Lohmühlenstraße 5, 20099 Hamburg<br />
Tel. (0 40) 18 18-85 44 67/-85 24 56<br />
Fax (0 40) 18 18-85 44 07<br />
E-Mail: t.toennis@asklepios.com<br />
Literatur<br />
Kardiologie<br />
Abb. 2: Magnetische Signale <strong>der</strong> 55 SQUID-Sensoren Abb. 3: Untersuchungsaufbau mit dem MFI-System Abb. 4: QRS-Fragmentation eines herzgesunden Probanden<br />
(oben) und eines Patienten mit einer ischämischen<br />
Kardiomyopathie vor einer primärprophylaktischen<br />
ICD-Implantation (unten)<br />
[1] An<strong>der</strong>son JL, Hallstrom AP, Epstein AE, et al. Design<br />
and results of the antiarrhythmics vs implantable defibrillators<br />
(AVID) registry. The AVID Investigators. Circulation 99<br />
(13); 1999; 1692-9.<br />
[2] Siebels J, Kuck KH. Implantable cardioverter defibrillator<br />
compared with antiarrhythmic drug treatment in cardiac<br />
arrest survivors (the Cardiac Arrest Study Hamburg).<br />
Am Heart J. 1994; 127(4 Pt 2): 1139-44.<br />
[3] Moss AJ, Zareba W, Hall WJ, et al. Multicenter Automatic<br />
Defibrillator Implantation Trial II Investigators. Prophylactic<br />
implantation of a defibrillator in patients with myocardial<br />
infarction and reduced ejection fraction. N Engl J<br />
Med. 2002; 346(12): 877-83. Epub 2002 Mar 19.<br />
[4] Bardy GH, Lee KL, Mark DB, et al. Sudden Cardiac<br />
Death in Heart Failure Trial (SCD-HeFT) Investigators.<br />
Amiodarone or an implantable cardioverterdefibrillator for<br />
congestive heart failure. N Engl J Med. 2005; 352(3): 225-<br />
37.<br />
[5] Müller H-P, Gödde P, Czerski K, et al. Magnetocardiographic<br />
analysis of the two-dimensional distribution of<br />
intra-QRS fractioned activation. Phys Med Biol 1999: 44:<br />
105-20.<br />
[6] Korhonen P, Husa T, Tierala I, et al. Increased Intra-<br />
QRS Fragmentation in Magnetocardiography as a Predictor<br />
of Arrhythmic Events and Mortality in Patients with Cardiac<br />
Dysfunction After Myocardial Infarction. J Cardiovasc<br />
Electrophysiol 2006: 17: 1-6.<br />
683
Medtropole | Ausgabe 18 | Juli 2009<br />
Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?<br />
Dissoziative Identitätsstörungen<br />
Dr. Dr. Andrea Moldzio<br />
Der vielversprechende Titel eines Buches von Precht, [15] das eine Einführung in die philosophischen<br />
Fragestellungen unserer Menschheitsgeschichte gibt, bringt die zentrale Problematik von Menschen mit<br />
Dissoziativen Identitätsstörungen auf den Punkt: Nicht zu wissen, wer man ist, in wie viele verschiedene<br />
Anteile man überhaupt aufgeteilt ist, und vor allem, wie man wie<strong>der</strong> eine Person wird.<br />
Das Phänomen <strong>der</strong> ursprünglich sogenannten<br />
„Multiplen Persönlichkeit“ wurde<br />
bereits im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t rege von Psychiatern<br />
und Philosophen diskutiert, da diese<br />
wun<strong>der</strong>liche Krankheit doch eng mit unserem<br />
Verständnis von „Persönlichkeit“,<br />
„Bewusstsein“ o<strong>der</strong> unserem „Ich“ verbunden<br />
ist.<br />
Der französische Psychiater Pierre Janet<br />
(1859 – 1947) prägte den Begriff <strong>der</strong> „Dissoziation“,<br />
wobei er diese als einen „komplexen<br />
psychophysischen Prozess, bei dem es<br />
zu einer Desintegration und Fragmentierung<br />
des Bewusstseins kommt“, verstand. [12]<br />
Betroffen seien die normalerweise inte -<br />
grativen psychischen Funktionen des<br />
Bewusstseins wie das Gedächtnis, die<br />
Wahrnehmung von sich selbst und <strong>der</strong><br />
Umwelt sowie das Identitätserleben. Die<br />
Persönlichkeit wurde von ihm als eine<br />
Struktur aufgefasst, die <strong>aus</strong> verschiedenen<br />
Systemen von Ideen und Funktionen<br />
besteht. [13,22,5] Dieses Verständnis von Persönlichkeit<br />
als ein „Bündel von Systemen“<br />
ist heute noch aktuell und findet sich bei-<br />
684<br />
spielsweise in <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Systemtheorie<br />
wie<strong>der</strong>.<br />
Als Dissoziative Störungen werden heute<br />
psychische Erkrankungen bezeichnet, bei<br />
denen die drei wesentlichen integrierenden<br />
Funktionen des Bewusstseins, namentlich<br />
das Gedächtnis, die Wahrnehmung von<br />
sich und <strong>der</strong> Umwelt und das Identitäts -<br />
erleben, nachhaltig gestört sind. Diese integrierenden<br />
Funktionen dienen dazu, die<br />
verschiedensten Erfahrungen mit sich und<br />
<strong>der</strong> Umwelt als einen persönlichen Ge -<br />
samtzusammenhang zu subsumieren und<br />
sich selbst im Verlaufe des Lebens mit sich<br />
selbst identisch zu empfinden.<br />
Gewandelt hat sich jedoch im Laufe <strong>der</strong><br />
Jahrhun<strong>der</strong>te die nosologische Zuordnung<br />
des Phänomens Dissoziation. Bis etwa 1980<br />
wurden fast alle in <strong>der</strong> (Fach-)Literatur<br />
beschriebenen Fälle unter den Diagnosen<br />
„Hysterie“, „traumatische Neurose“ o<strong>der</strong><br />
auch „Schizophrenie“ subsumiert. Der<br />
1895 von Josef Breuer und Sigmund Freud<br />
in den „Studien über Hysterie“ beschriebe-<br />
ne Fall <strong>der</strong> Anna O. (alias Bertha Pappenheim)<br />
stellt unter <strong>der</strong> damals mo<strong>der</strong>nen<br />
Bezeichnung <strong>der</strong> „Hysterie“ eigentlich eine<br />
klassische Patientin mit Dissoziativer Identitätsstörung<br />
dar. [16] So schil<strong>der</strong>t Breuer<br />
einen typischen dissoziativen Zustand seiner<br />
Patientin Anna O. wie folgt: „Es zeigten<br />
sich zwei ganz getrennte Bewusstseins -<br />
zustände, die sehr oft und unvermittelt ab -<br />
wechselten und sich im Laufe <strong>der</strong> Krankheit<br />
immer schärfer schieden. In dem einen<br />
kannte sie ihre Umgebung, war traurig<br />
und ängstlich, aber relativ normal. Im<br />
an<strong>der</strong>en halluzinierte sie, war ungezogen,<br />
d. h. schimpfte, warf Kissen …“. Sie klagte,<br />
„ihr fehle Zeit“ sowie über eine „tiefe Fins -<br />
ternis ihres Kopfes, wie sie nicht denken<br />
könne, blind und taub werde, zwei Ichs<br />
habe, ihr wirkliches und ein schlechtes,<br />
was sie zu Schlimmem zwinge …“. [8]<br />
Damit erfüllt die berühmte „hysterische“<br />
Patientin Anna O. die Kriterien einer Dissoziativen<br />
Identitätsstörung nach DSM-IV: [1]
■ 1. Vorhandensein von zwei o<strong>der</strong> mehr<br />
unterscheidbaren Identitäten o<strong>der</strong> Persönlichkeitszuständen<br />
(jeweils mit<br />
einem eigenen, relativ überdauernden<br />
Muster <strong>der</strong> Wahrnehmung von <strong>der</strong><br />
Beziehung zur und dem Denken über<br />
die Umgebung und das Selbst)<br />
■ 2. Mindestens zwei dieser Identitäten<br />
o<strong>der</strong> Persönlichkeitszustände übernehmen<br />
wie<strong>der</strong>holt die Kontrolle über das<br />
Verhalten <strong>der</strong> Person.<br />
■ 3. Unfähigkeit, sich an wichtige persönliche<br />
Informationen zu erinnern, die zu<br />
umfassend ist, um durch gewöhnliche<br />
Vergesslichkeit erklärt zu werden.<br />
■ 4. Die Störung geht nicht auf direkte<br />
körperliche Wirkung einer Substanz<br />
o<strong>der</strong> eines medizinischen Krankheitsfaktors<br />
zurück.<br />
Dabei steht die dissoziative Identitätsstörung<br />
am Ende eines langen Kontinuums<br />
dissoziativer Phänomene, das mit normalen,<br />
gesunden „Alltagsdissoziationen“<br />
beginnt. Je<strong>der</strong> von uns muss, will er seine<br />
Aufmerksamkeit auf eine bestimmte Sache<br />
lenken, die restliche Umgebung samt allen<br />
Sinneseindrücken <strong>aus</strong>blenden, also „wegdissoziieren“.<br />
Auch kann uns nicht zu<br />
jedem Zeitpunkt unsere gesamte Vergangenheit<br />
präsent sein. Sie muss in den Hin -<br />
tergrund treten, um Patz <strong>für</strong> die Gegenwart<br />
zu schaffen. Zu den weniger gesunden,<br />
aber noch leichteren dissoziativen Phänomenen<br />
gehören die Depersonalisation und<br />
die Derealisation.<br />
Der Zustand <strong>der</strong> Depersonalisation umfasst<br />
das Gefühl, nicht in seinem Körper zu sein<br />
beziehungsweise diesen als fremd o<strong>der</strong><br />
abgespalten von seinem restlichen Erleben<br />
wahrzunehmen. Oft berichten Patienten in<br />
diesen sehr quälenden Zuständen, dass sie<br />
„neben sich stehen“, sich selbst nicht mehr<br />
spüren können, ihren Körper nicht mehr<br />
wahrnehmen o<strong>der</strong> auch einzelne Körperteile<br />
wie abgespalten erleben. [7]<br />
Das Phänomen <strong>der</strong> Derealisation hingegen<br />
bezieht sich auf eine Störung <strong>der</strong> Wahrnehmung<br />
<strong>der</strong> Umwelt, die nur schemenhaft,<br />
völlig verzerrt und fremd o<strong>der</strong> als nicht<br />
Psychiatrie<br />
vorhanden empfunden wird. Bei <strong>der</strong> dissoziativen<br />
Fugue, einem weiteren Schritt auf<br />
dem Kontinuum <strong>der</strong> Dissoziation, finden<br />
sich die Patienten plötzlich an Orten wie<strong>der</strong>,<br />
die sie nicht erinnern können, angesteuert<br />
zu haben. Plötzliches Weglaufen,<br />
oft mit Zeitverlusten verbunden, ist <strong>für</strong><br />
diese Manifestationsart <strong>der</strong> Dissoziation<br />
charakteristisch.<br />
Eine weitere graduelle Steigerung findet<br />
sich in <strong>der</strong> dissoziativen Amnesie, bei <strong>der</strong><br />
bestimmte Erinnerungen dauerhaft nicht<br />
mehr zugänglich sind, sosehr sich die Person<br />
auch bemüht, sich zu erinnern. Dies<br />
kann von kurzen biografischen Zeitspannen<br />
bis hin zum „Vergessen“ <strong>der</strong> gesamten<br />
Identität inklusive <strong>der</strong> eigenen Biografie<br />
gehen. In <strong>der</strong> Literatur gibt es eindrucksvolle<br />
Beispiele von Menschen, die ihre<br />
gesamte Identität nicht mehr erinnern können<br />
und beispielsweise ein neues Leben<br />
unter neuem Namen mit einer an<strong>der</strong>en<br />
Identität beginnen (z. B. <strong>der</strong> Fall „Ansel<br />
Bourne“). [6]<br />
685
Medtropole | Ausgabe 18 | Juli 2009<br />
Am Ende des dissoziativen Kontinuums<br />
steht die schwerste Manifestation, die Dissoziative<br />
Identitätsstörung. Hierbei sind<br />
nicht nur die bereits beschriebenen Ge -<br />
dächtnisfunktionen o<strong>der</strong> die Wahrnehmung<br />
von sich selbst und <strong>der</strong> Umwelt gestört,<br />
son<strong>der</strong>n auch das Identitätserleben selbst:<br />
Die Persönlichkeit wird in verschiedene<br />
Persönlichkeits- o<strong>der</strong> Selbstzustände „aufgespalten“,<br />
die wechselweise die Kontrolle<br />
über das Erleben und Verhalten <strong>der</strong> Betroffenen<br />
übernehmen und oft eigene Namen<br />
haben. Typischerweise ist <strong>der</strong> Wechsel vom<br />
einen Zustand in den nächsten mit einer<br />
Amnesie verbunden, die von den Patienten<br />
als beson<strong>der</strong>s quälend empfunden wird, da<br />
sie mit Gefühlen des Kontrollverlustes und<br />
<strong>der</strong> Ohnmacht einhergeht.<br />
So entdecken die Patienten plötzlich Spuren<br />
von bestimmtem Verhalten (z. B. Selbstverletzungen),<br />
eigene Tagebuchnotizen, Bil<strong>der</strong><br />
o<strong>der</strong> auch Gegenstände in ihrem Besitz, an<br />
die sie sich nicht erinnern können. Oft<br />
wird ihnen auch von an<strong>der</strong>en Menschen<br />
ihr eigenes Verhalten rückgemeldet, das<br />
ihnen völlig fremd und nicht erinnerlich<br />
ist. In diesem Zusammenhang können<br />
ihnen plötzlich auch ganze Eigenschaften<br />
o<strong>der</strong> Fähigkeiten (wie eine be stimmte<br />
Fremdsprache, Klavierspielen) mit Wechsel<br />
<strong>der</strong> Zustände ent- o<strong>der</strong> neu zufallen. Diese<br />
„neuen“ Eigenschaften o<strong>der</strong> Fähigkeiten<br />
sind dann im normalen Alltagsbewusstsein<br />
nicht vorhanden und werden von den<br />
Betroffenen so erlebt, als ob es eine fremde<br />
Person sei. Man kann sich leicht vorstellen,<br />
dass dies mannigfaltige Probleme im sozialen<br />
Bereich und vor allem in nahen Beziehungen<br />
hervorruft, die oft <strong>der</strong> Anlass sind,<br />
dass sich die Betroffenen unter hohem Leidensdruck<br />
in Behandlung begeben.<br />
Durchschnittlich haben die Patienten acht<br />
bis zehn verschiedene Persönlichkeitszu -<br />
stände, unter Umständen sogar auch er -<br />
heblich mehr. [19] Charakteristischerweise<br />
gibt es dabei eine im Alltag gut funktionierende<br />
und sozial angepasste Persönlichkeit,<br />
den sogenannten „anscheinend normalen<br />
Persönlichkeitszustand“ (ANP), und<br />
an<strong>der</strong>e sogenannte „emotionale Persönlichkeits<br />
zustände“ (EPs), die häufig traumatische<br />
Erinnerungen und Gefühle bestimmter<br />
Lebensphasen in sich tragen, die meist<br />
686<br />
jünger sind und sich sehr im Denken, Fühlen<br />
und Wahrnehmen von <strong>der</strong> ANP unterscheiden.<br />
Die Bewusstheit und Kommunikation<br />
<strong>der</strong> verschiedenen Selbstanteile<br />
kann sehr unterschiedlich <strong>aus</strong>geprägt sein<br />
und reicht von wechselseitiger Unkenntnis<br />
(vollständige Amnesie) bis hin zu einem<br />
Co-Bewusstsein mit transparenter Wahrnehmung<br />
und gegebenenfalls auch Steuerung<br />
des jeweils an<strong>der</strong>en Zustandes.<br />
Unabhängig von <strong>der</strong> Anzahl <strong>der</strong> „Innenpersonen“<br />
lassen sich bestimmte Funktionen<br />
unterscheiden, die zu Gruppen zu -<br />
sammengefasst werden können. Neben <strong>der</strong><br />
ANP existiert fast immer eine Gruppe von<br />
„Kin<strong>der</strong>n“, „Beschützern“, „täterloyalen<br />
Anteilen“ und „Beobachtern“, die im<br />
Gesamtsystem <strong>der</strong> Persönlichkeit und in<br />
<strong>der</strong> dysfunktionalen Verarbeitung <strong>der</strong> traumatischen<br />
Erlebnisse in <strong>der</strong> Vergangenheit<br />
ihre jeweilig wichtige Funktion und Bedeutung<br />
hatten, <strong>für</strong> die Funktionalität in <strong>der</strong><br />
Gegenwart aber kontraproduktiv sind.<br />
Die Abspeicherung traumatischer Erlebnisse<br />
in den emotionalen Persönlichkeitsanteilen<br />
deutet bereits auf die Genese <strong>der</strong><br />
Störung hin.<br />
Zahlreiche Studien zeigten inzwischen,<br />
dass in etwa 75 – 94 % aller Fälle sexuelle<br />
und zu 74 – 82 % physische Traumatisierungen<br />
im frühen Kindesalter Hintergrund <strong>für</strong><br />
die Entstehung <strong>der</strong> dissoziativen Identitätsstörung<br />
sind. [2,18,21] Erklärt wird dies<br />
dadurch, dass traumatisierte Kin<strong>der</strong> aufgrund<br />
ihrer mangelnden Persönlichkeitsreife<br />
und ihrer Bewältigungsmechanismen<br />
noch nicht in <strong>der</strong> Lage sind, schwere traumatische<br />
Erfahrungen zu integrieren und<br />
zu verarbeiten. Aufgrund <strong>der</strong> begrenzten<br />
kindlichen Integrationsfähigkeit kommt es<br />
dann zur „Abspaltung“ zu Zuständen kondensierter<br />
Erfahrungen, die nicht kompatibel,<br />
zuordbar und dissonant zu an<strong>der</strong>en<br />
Erfahrungen sind, insofern unintegriert<br />
neben dem eigentlichen Selbstzustand<br />
(ANP) stehen und zunehmend ihr Eigen -<br />
leben führen.<br />
Wenngleich die Diagnose <strong>der</strong> Dissoziativen<br />
Identitätsstörung (vor allem in den USA)<br />
kontrovers gesehen wird, und sie in ihrem<br />
Ausmaß auch als iatrogen o<strong>der</strong> kulturspezifisch<br />
verursacht [3] diskutiert wird, zeigen<br />
neue Forschungsbefunde doch, dass die<br />
Diagnose valide und von an<strong>der</strong>en Krankheitsbil<strong>der</strong>n<br />
abzugrenzen ist. Vor allem ist<br />
sie keineswegs so selten wie früher angenommen.<br />
Aktuelle Studien belegen, dass<br />
0,5 – 1,5 % <strong>der</strong> Allgemeinbevölkerung [9,11,14]<br />
und bis zu 5 % in stationären Stichproben<br />
die Kriterien einer Dissoziativen Identitätsstörung<br />
erfüllen. Dabei findet sich ein<br />
Geschlechterbias von neun Frauen zu<br />
einem Mann. [10]<br />
Typischerweise haben diese Patienten auch<br />
eine hohe Komorbidität mit affektiven Störungen,<br />
vor allem Major Depression (98 %),<br />
schizoaffektiven Störungen (74 %) sowie<br />
Angststörungen, vor allem Panikstörungen<br />
(89 %). [4] Für die hohe Dysfunktionalität<br />
und den massiven Leidensdruck dieser<br />
Patienten sind auch diffuse psychosomatische<br />
Beschwerden, Essstörungen, selbstverletzendes<br />
Verhalten o<strong>der</strong> süchtiges Verhalten<br />
mitverantwortlich. Häufig begeben<br />
sich die Patienten deshalb überhaupt erstmals<br />
in Behandlung. Aufgrund <strong>der</strong> sehr<br />
wechselhaften Dysfunktionalität haben die<br />
Patienten oft eine lange psychiatrische und<br />
psychosomatische Vorgeschichte, meist mit<br />
mehreren Vor- und Fehldiagnosen (wie<br />
Depression, Schizophrenie, Persönlichkeitsstörung,<br />
Angststörung, Anpassungsstörung,<br />
Substanzmissbrauch, Somatisierungsstörung)<br />
und häufigem Versagen<br />
bisheriger Therapien.<br />
Die Behandlung <strong>der</strong> Patienten mit einer<br />
Dissoziativen Identitätsstörung unterscheidet<br />
sich naturgemäß in ihrer Komplexität<br />
von an<strong>der</strong>en psychiatrischen Krankheitsbil<strong>der</strong>n,<br />
wobei eine differenzierte Beschreibung<br />
<strong>der</strong> Behandlung diesen Artikel sprengen<br />
würde. Allgemein lässt sich aber sagen,<br />
dass die Dissoziative Identitätsstörung auf<br />
störungsspezifische Therapieverfahren, wie<br />
sie insbeson<strong>der</strong>e <strong>für</strong> die Behandlung von<br />
Traumafolgestörungen entwickelt worden<br />
sind, gut anspricht. [19,20] Mit dem übergeordneten<br />
Therapieziel <strong>der</strong> Integration <strong>der</strong><br />
abgespaltenen Selbstanteile in das Be -<br />
wusstsein und in die eigene Wahrnehmung<br />
kommen auch hier die gleichfalls bereits<br />
bei Janet postulierten drei Phasen <strong>der</strong> Traumatherapie<br />
mit psychosozialer Stabilisierung,<br />
Traumabearbeitung und Integration<br />
zur Anwendung.
Vor diesem Hintergrund versteht es sich<br />
von selbst, dass die Schwere und Komplexität<br />
<strong>der</strong> Erkrankung eine unter Umständen<br />
langjährige Psychotherapie in Form<br />
stationärer Intervalltherapie und/o<strong>der</strong><br />
ambulanter Psychotherapie erfor<strong>der</strong>t.<br />
Ziel <strong>der</strong> Therapie sollte sein, dass sich <strong>der</strong><br />
Patient so fühlt, wie es <strong>für</strong> uns selbstverständlich<br />
ist: als eine Person, die trotz<br />
unterschiedlicher Erlebnisse, Intentionen,<br />
Rollen, Gefühle und Gedanken „Herr im<br />
eigenen H<strong>aus</strong>“ ist.<br />
Literatur<br />
[1] Saß H. et al. Diagnostisches und Statistisches Manual<br />
Psychischer Störungen – Textrevision – DSM-IV-TR.<br />
Hogrefe, Göttingen 2003.<br />
[2] Boon S, Draijer N. The differentiation of patients with<br />
MPD or DDNOS from patients with a cluster B personality<br />
disor<strong>der</strong>. Dissociation 1993; 6: 126–35.<br />
[3] Dilling H, Mombour W, Schmidt MH. Internationale<br />
Klassifikation psychischer Störungen ICD-10.2. korrigierte<br />
Auflage. Bern: Huber 1993: 182<br />
[4] Ellason JW, Ross CA. Two-year follow-up of in patients<br />
with dissociative identity disor<strong>der</strong>. Am J Psychiat 1997; 154:<br />
832-9.<br />
[5] Ellenberger HF. Die Entdeckung des Unbewussten.<br />
Band I. Bern: Huber 1973: 449 ff.<br />
[6] Ellenberger HF. Die Entdeckung des Unbewussten.<br />
Band I. Bern: Huber 1973: 198 ff.<br />
[7] Fiedler P. Dissoziative Störungen und Konversion.<br />
Weinheim: Beltz. Psychologie Verlagsunion 1999.<br />
[8] Freud S, Breuer J. Studien über Hysterie. Erst<strong>aus</strong>gabe:<br />
Leipzig und Wien: Franz Deuticke 1895. Neudruck: Frankfurt:<br />
Fischer TB 6. Auflage 1991. 22-3.<br />
[9] Gast U, Rodewald F. Prävalenz dissoziativer Störungen.<br />
In: Reddemann L, Hofmann A, Gast U. (Hrsg.). Psychotherapie<br />
<strong>der</strong> dissoziativen Störungen. Krankheitsmodelle und<br />
Therapiepraxis – störungsspezifisch und schulenübergreifend.<br />
Stuttgart: Thieme 2003: 37-46.<br />
[10] Gast U, Rodewald F, Nickel V, Emrich HM. Prevalence<br />
of dissociative disor<strong>der</strong>s among psychiatric inpatients in a<br />
German University Clinic. J Nerv Ment Dis 2001; 189: 249-59.<br />
[11] Hoffmann SO, Eckhardt-Henn A. Dissoziative<br />
Bewusstseinsstörungen. Theorie, Symptomatik, Therapie.<br />
Stuttgart: Schattauer 2004.<br />
[12] Janet P. L’automatisme psychologique. Paris: Félix<br />
Alcan 1889. Reprint: Société Pierre Janet, Paris, 1889/1973.<br />
[13] Janet P. The Major Symptoms Of Hysteria. London:<br />
Macmillan 1907: 332.<br />
[14] Johnson JG, Cohen P, Kasen S, Brook JS. Dissociation<br />
disor<strong>der</strong>s among adults in the community, impaired functioning,<br />
and axis I and II comorbidity: J Psychiat Res 2006;<br />
40: 131-40.<br />
[15] Precht RD. Wer bin ich – und wenn ja wie viele? Eine<br />
philosophische Reise. Goldmann 2007.<br />
[16] Putnam FW. Altered States. The Sciences 1992; 32: 30-7.<br />
[17] Putnam FW. Diagnostik und Behandlung <strong>der</strong> Disso -<br />
ziativen Identitätsstörung. Pa<strong>der</strong>born: Junfermann 2003.<br />
Original: Putnam FW. Diagnosis And Treatment Of Multiple<br />
Personality Disor<strong>der</strong>. New York: Guilford Press 1989.<br />
[18] Putnam FW, Guroff JJ, Silberman EK, Barban L, Post<br />
RM. The clinical phenomenology of multiple personality<br />
disor<strong>der</strong>. A review of 100 recent cases. J Clin Psychiat 1986;<br />
47: 285-93.<br />
[19] Reddemann L, Engl V, Lücke S. Imagination als<br />
heilsame Kraft. Zur Behandlung von Traumafolgen mit<br />
ressourcenorientierten Verfahren. Klett-Cotta 13. Auflage<br />
2007. Leben Lernen: 141.<br />
[20] Richter-Appelt H, Moldzio A. Psychotherapie mit<br />
Patientinnen nach sexueller Traumatisierung. In: Sexueller<br />
Missbrauch. Band 1: Grundlagen und Konzepte. Körner W,<br />
Lenz A. (Hrsg.). Göttingen: Hogrefe 2004: 413-32.<br />
[21] Ross CA, Norton GR, Wozney K. Multiple personality<br />
disor<strong>der</strong>: An analysis of 236 cases. Can J Psychiat 1989; 34:<br />
413-8.<br />
[22] Van <strong>der</strong> Hart O, Nijenhuis ERS, Steele K. Das verfolgte<br />
Selbst. Strukturelle Dissoziation und die Behandlung chronischer<br />
Traumatisierung. Pa<strong>der</strong>born: Junfermann 2008: 17.<br />
Kontakt<br />
Dr. med. Dr. phil. Andrea Moldzio<br />
Ltd. Oberärztin <strong>der</strong> II. Psychiatrischen<br />
Fachabteilung Persönlichkeitsstörung/<br />
Trauma<br />
<strong>Asklepios</strong> <strong>Klinik</strong> Nord - Ochsenzoll<br />
Langenhorner Ch<strong>aus</strong>see 560<br />
22419 Hamburg<br />
Tel. (0 40) 18 18-87 23 38<br />
Fax (0 40) 18 18- 87 29 33<br />
E-Mail: a.moldzio@asklepios.com<br />
Psychiatrie<br />
687
Medtropole | Ausgabe 18 | Juli 2009<br />
Gehirn und Darm –<br />
Neurogastroenterologie<br />
Priv.-Doz. Dr. Stefan U. Christl, Prof. Dr. Rudolf Töpper<br />
Nervensystem und Gastrointestinaltrakt sind in vielfältiger Weise miteinan<strong>der</strong> verbunden. Neurologische<br />
Erkrankungen verursachen deshalb häufig Komplikationen im Bereich des Gastrointestinaltrakts und umgekehrt<br />
(Abb. 1). Beispiele hier<strong>für</strong> sind zerebrale Komplikationen gastroenterologischer Erkrankungen wie M. Crohn<br />
o<strong>der</strong> M. Whipple o<strong>der</strong> die funikuläre Myelose bei Vitamin-B12-Mangel aufgrund einer chronisch-atrophischen<br />
Gastritis. [1] Unter Neurogastroenterologie im engeren Sinne versteht man die Physiologie und Funktionsstörungen<br />
des autochthonen Nervensystems des Magen-Darm-Traktes sowie seiner Verschaltungen mit vegetativem und<br />
zentralem Nervensystem. Im weiteren Sinne gehören auch die Einflüsse neurologischer Systemerkrankungen und<br />
ihrer Therapie auf den Gastrointestinaltrakt dazu.<br />
Physiologie<br />
Das Gehirn des Darms, das enterische Nervensystem<br />
(ENS), besteht <strong>aus</strong> dem innenliegenden<br />
Plexus myentericus (Meißner)<br />
und dem äußeren Auerbachschen Plexus.<br />
Beide reichen vom Oropharynx bis zum<br />
Anus. Sie enthalten etwa 100 Millionen<br />
Nervenzellen mit unterschiedlichen Funktionen.<br />
Das hochintegriert verschaltete System<br />
ist in <strong>der</strong> Lage, autochthon, also ohne<br />
übergeordnete Regulierung durch das<br />
ZNS, die komplexe Motorik sowie die exokrine<br />
und endokrine Sekretion des Magen-<br />
Darm-Traktes zu steuern. Die Funktionen<br />
des ENS werden durch humorale und neurohumorale<br />
Faktoren (Peptidhormone,<br />
Serotonin) sowie durch efferente parasympathische<br />
und sympathische Fasern moduliert.<br />
[2] Afferente Signale <strong>aus</strong> multimodalen<br />
nocizeptiven Rezeptoren werden über<br />
vagale vegetative Bahnen an das ZNS vermittelt<br />
(Abb. 2). Störungen dieses Systems<br />
treten entwe<strong>der</strong> primär auf mit dann im<br />
Vor<strong>der</strong>grund stehen<strong>der</strong> gastrointestinaler<br />
Symptomatik (e.g. Achalasie, Pseudoobstruktion),<br />
o<strong>der</strong> als Manifestation einer<br />
neurologischen Systemerkrankung (M.<br />
Parkinson, Polyneuropathie)<br />
688<br />
Achalasie<br />
Die Achalasie ist charakterisiert durch<br />
einen progredienten Verlust <strong>der</strong> propulsiv<br />
koordinierten Peristaltik des tubulären<br />
Ösophagus, verbunden mit einer nicht<br />
zeitgerechten schluckreflektorischen Relaxation<br />
des unteren Sphinkters. Längerfristig<br />
entsteht eine Ösophagusdilatation mit<br />
Dysphagie, Retention und ernsthaften<br />
Ernährungsproblemen. Zugrunde liegt<br />
eine Degeneration <strong>der</strong> intramuralen Ganglienzellen<br />
bisher unklarer Ursache.<br />
Die Diagnosestellung bereitet im Vollbild<br />
eines Megaösophagus keine Probleme.<br />
Allerdings ist auch bei typischem Bild im<br />
Breischluck (Abb. 3) eine Ösophagogastroskopie<br />
zum Ausschluss eines Cardia -<br />
tumors zwingend erfor<strong>der</strong>lich. Beson<strong>der</strong>s<br />
frühe Stadien bieten sowohl in <strong>der</strong> Endoskopie<br />
als auch im Breischluck mitunter nur<br />
uncharakteristische Verän<strong>der</strong>ungen, weshalb<br />
bei entsprechendem Verdacht immer<br />
eine Ösophagusmanometrie durchgeführt<br />
werden sollte. Da sich die zugrunde liegende<br />
Motilitätsstörung bisher nicht beeinflussen<br />
lässt, besteht die Therapie in <strong>der</strong> Dehnung<br />
bzw. Öffnung <strong>der</strong> spastischen Cardia<br />
durch Pneumodilatation o<strong>der</strong> lokale Injektion<br />
von Botulinumtoxin. Bei <strong>aus</strong>bleibendem<br />
Erfolg bleibt noch die operative Cardiomyotomie.<br />
In frühen Krankheitsstadien<br />
ohne Dilatation des Ösophagus kann eine<br />
medikamentöse Therapie mit einem Kalziumkanalblocker<br />
(z. B. Nifedipin) versucht<br />
werden.<br />
Intestinale Pseudoobstruktion<br />
Unter diesem Begriff werden pathophysiologisch<br />
und klinisch verschiedene Krankheitsbil<strong>der</strong><br />
zusammengefasst, die eine<br />
schwerwiegende intestinale Passagestörung<br />
ohne mechanisches Hin<strong>der</strong>nis verursachen.<br />
Differenziert werden familiäre,<br />
kongenitale (z. B. Aganglionose Hirschsprung)<br />
und erworbene neurodegenerative<br />
Formen. Letztere können sich hypermotil<br />
manifestieren mit unkoordinierten, teilweise<br />
hochamplitudigen und dann auch<br />
schmerzhaften Kontraktionen, o<strong>der</strong> hypomotil<br />
mit zunehmen<strong>der</strong> Dilatation des<br />
Darmlumens. Diagnostisch ist zunächst<br />
eine mechanische Obstruktion <strong>aus</strong>zuschließen,<br />
gegebenenfalls sichert eine Manometrie<br />
die Funktionsstörung. Die Therapie ist<br />
schwierig. In Einzelfällen ist durch die
Abb. 1: Neurologie und Gastroenterologie, Ursachen gastrointestinaler Komplikationen neurologischer Erkrankungen<br />
(links), Ursachen neurologischer Komplikationen gastrointestinaler Erkrankungen (rechts)<br />
Resektion beson<strong>der</strong>s betroffener Darmsegmente<br />
eine deutliche Besserung zu erreichen,<br />
sonst kann eine parenterale Ernährung<br />
notwendig werden.<br />
Von den chronischen Formen ist die auch<br />
als Ogilvie-Syndrom bekannte akute intestinale<br />
Pseudoobstruktion abzugrenzen, die<br />
bei schweren Allgemeinerkrankungen, kritischer<br />
Kreislaufsituation o<strong>der</strong> Polypharmakotherapie<br />
auftreten kann. Sie betrifft<br />
überwiegend das Kolon und kann dort<br />
auch spontane Perforationen verursachen.<br />
Therapeutischer Standard ist hier die<br />
koloskopische Absaugung mit Platzierung<br />
einer Dekompressionssonde, die bis zu<br />
einer klinischen Stabilisierung in situ<br />
bleibt.<br />
Reizdarm, funktionelle Dyspepsie<br />
Diese sehr häufigen und mittlerweile gut<br />
untersuchten Störungen <strong>der</strong> gastrointestinalen<br />
Motorik und Reizwahrnehmung<br />
bestehen zum einen in Alterationen von<br />
Ablauf, Geschwindigkeit und Amplituden<br />
peristaltischer Aktionen. Zum an<strong>der</strong>en ist<br />
die Wahrnehmungsschwelle <strong>für</strong> Schmerzen<br />
und Missempfindungen im Bereich des<br />
Magen-Darm-Traktes herabgesetzt. Häufig<br />
haben diese Patienten zusätzlich psychische<br />
Erkrankungen o<strong>der</strong> Belastungsreaktionen.<br />
Die Diagnose wird auf Basis <strong>der</strong> im Vor -<br />
<strong>der</strong>grund stehenden Symptomatik gestellt.<br />
Hierzu sowie zur Klassifikation dienen die<br />
Rom-III-Kriterien (Tabelle). Die notwendige<br />
Ausschlussdiagnostik wird auf naheliegende<br />
Differentialdiagnosen (Ulkuskrankheit,<br />
chronisch entzündliche Darmerkrankungen,<br />
Sprue, Laktoseintoleranz etc.) und<br />
Alarmsymptome fokussiert. Grundvor<strong>aus</strong>setzung<br />
<strong>für</strong> eine erfolgreiche Therapie ist<br />
eine adäquate Aufklärung. Die Behandlung<br />
ist ansonsten symptomatisch und<br />
orientiert sich am klassifizierten Typ (Diätberatung,<br />
Stuhlregulierung, Spasmolytika,<br />
ggf. PPI). Eine Psychotherapie ist in vielen<br />
Fällen hilfreich. [3]<br />
Polyneuropathie<br />
Polyneuropathien sind die häufigsten neurologischen<br />
Erkrankungen mit gastrointestinalen<br />
Motilitätsstörungen. Alle Polyneuropathien<br />
können zu einer autonomen<br />
Beteiligung und damit zu gastrointestina-<br />
Neurologie / Gastroenterologie<br />
Abb. 2: Verschaltungen des enterischen Nervensystems<br />
len Symptomen führen. Neben chronischen<br />
Polyneuropathieformen begleiten solche<br />
Symptome auch akute entzündliche Er -<br />
krankungen des zentralen Nervensystems<br />
wie das parainfektiöse Guillain-Barré-Syndrom.<br />
Die diabetische autonome Neuropathie<br />
des Gastrointestinaltraktes ist die häufigste<br />
chronische Neuropathie und verursacht<br />
zahlreiche Beschwerden wie Völlegefühl,<br />
abdominelle Schmerzen, Übelkeit und<br />
Erbrechen sowie Obstipation und Diarrhoe.<br />
Etwa 40 Prozent <strong>der</strong> Patienten mit<br />
einem langjährigen Diabetes mellitus<br />
geben diese Symptome an. Eine autonome<br />
Neuropathie ist zu vermuten, wenn eine<br />
eindeutige sensomotorische Neuropathie<br />
vorliegt und eine kardiale autonome Neuropathie<br />
nachzuweisen ist. Die Therapie ist<br />
symptomorientiert, <strong>der</strong> Blutzucker sollte<br />
optimal eingestellt werden. Bei diabetischer<br />
Gastroparese ist niedrig dosiertes<br />
Erythromyzin als Motilinagonist spezifisch<br />
wirksam. Seltene Ursachen <strong>der</strong> Polyneuropathie<br />
sind Porphyrien und Amyloidosen,<br />
bei denen neben <strong>der</strong> autonomen Polyneuropathie<br />
noch viele an<strong>der</strong>e gastroenterologische<br />
Symptome auftreten können.<br />
689
Medtropole | Ausgabe 18 | Juli 2009<br />
Funktionelle Dyspepsie<br />
Mindestens eines <strong>der</strong> folgenden Symptome während<br />
mindestens drei Monaten und vor mindestens<br />
sechs Monaten erstmals aufgetreten:<br />
■ störendes postprandiales Völlegefühl<br />
■ beschleunigtes Sättigungsgefühl<br />
■ epigastrische Schmerzen<br />
■ epigastrisches Brennen<br />
■ keine Anhaltspunkte <strong>für</strong> eine strukturelle<br />
Pathologie (inkl. normale Gastroskopie), welche<br />
die Symptomatik erklären könnte<br />
Reizdarmsyndrom<br />
Abdominale Schmerzen o<strong>der</strong> Unwohlsein an mindestens<br />
drei Tagen pro Monat während <strong>der</strong> vorangegangenen<br />
drei Monate, Beginn vor mindestens<br />
sechs Monaten mit mindestens zwei <strong>der</strong> folgenden<br />
Zeichen:<br />
■ Besserung durch Defäkation<br />
■ Beginn mit Än<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Stuhlfrequenz<br />
■ Beginn mit Än<strong>der</strong>ung von Stuhlkonsistenz und<br />
-<strong>aus</strong>sehen<br />
Tabelle: Funktionelle Dyspepsie und Reizdarm;<br />
definierende Symptomatik (Rom-III-Kriterien)<br />
M. Parkinson<br />
Gastrointestinale Funktionsstörungen sind<br />
bei Patienten mit M. Parkinson häufig. Sie<br />
werden in <strong>der</strong> Regel aber weit weniger<br />
beachtet als die motorischen Symptome,<br />
obwohl sie die Lebensqualität <strong>der</strong> Betroffenen<br />
ebenso einschränken. Pathologischanatomisch<br />
findet sich bei diesen Patienten<br />
neben <strong>der</strong> Degeneration <strong>der</strong> dopaminergen<br />
Neurone in <strong>der</strong> Substantia nigra auch ein<br />
Neuronenverlust im peripheren autonomen<br />
Nervensystem. Neben Blasenentleerungsstörungen<br />
und einer posturalen<br />
Hypotension beklagen Parkinson-Patienten<br />
eine Obstipation, <strong>der</strong> eine verlangsamte<br />
gastrointestinale Passage o<strong>der</strong> ein beeinträchtigter<br />
Defäkationsreflex zugrunde liegen<br />
können. Ursache <strong>der</strong> gastrointestinalen<br />
Beschwerden können neben <strong>der</strong> autonomen<br />
Dysfunktion auch die Nebenwirkungen<br />
<strong>der</strong> dopaminergen und anticholinergen<br />
Medikation sein.<br />
690<br />
Abb. 3: Kontrastmitteldarstellung einer Achalasie.<br />
Geschlossene Pfeile: tertiäre (nicht propulsive) Kontraktionen,<br />
offene Pfeile: enggestelltes Cardiasegment ohne<br />
KM-Passage<br />
Therapeutisch ist Parkinson-Patienten eine<br />
reichliche Flüssigkeitszufuhr zu empfehlen.<br />
Pflanzliche Ballaststoffe (Leinsamen, Weizenkleie)<br />
eignen sich bei mil<strong>der</strong>en Formen<br />
<strong>der</strong> Obstipation. Macrogol als osmotisches<br />
Laxans ist Mittel <strong>der</strong> Wahl bei schwereren<br />
Formen. Zur Verbesserung <strong>der</strong> Motilität im<br />
oberen Gastrointestinaltrakt eignet sich <strong>der</strong><br />
<strong>aus</strong>schließlich peripher wirksame Dopaminantagonist<br />
Domperidon (MotiliumR).<br />
Er lin<strong>der</strong>t Völlegefühl und vorzeitiges<br />
Sättigungsempfinden. Blasenstörungen,<br />
posturale Hypotension und Störungen <strong>der</strong><br />
Schweißsekretion sind an<strong>der</strong>e Symptome<br />
einer Beeinträchtigung des autonomen<br />
Nervensystems. Oft ist es <strong>für</strong> den Arzt<br />
schwierig, Symptome <strong>der</strong> Erkrankung von<br />
Nebenwirkungen <strong>der</strong> Parkinson-Medikation<br />
zu unterscheiden. Die typische Blasenstörung<br />
des Parkinson-Patienten, die Detrusor-<br />
Hyperreflexie, führt zu einem häufigen<br />
und imperativen Harndrang und wird mit<br />
peripher wirksamen, den Blasenmuskel<br />
dämpfenden Anticho linergika behandelt.<br />
Vor<strong>aus</strong>setzung einer solchen Therapie ist<br />
aber die vorherige urologische Untersuchung<br />
und <strong>der</strong> Ausschluss einer signifikanten<br />
Restharnbildung.<br />
Fazit<br />
Die hier exemplarisch dargestellten Er -<br />
krankungen belegen, wie eng Nervensystem<br />
und Gastrointestinaltrakt miteinan<strong>der</strong><br />
verknüpft sind. Aufgrund <strong>der</strong> wechselseitigen<br />
Komplikationen ist <strong>für</strong> eine qualitativ<br />
hochwertige Behandlung eine enge und<br />
vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen<br />
Gastroenterologen und Neurologen von<br />
großer Bedeutung.<br />
Literatur<br />
[1] Berges W, Töpper R. Gastrointestinaltrakt. In: P. Berlit<br />
and P.T. Sawicki (Eds.), Neurologie – Innere Medizin interdisziplinär.<br />
Stuttgart: Georg Thieme Verlag 2004; 97-135.<br />
[2] Goyal RK, Hirano J. The enteric nervous system. New<br />
Engl J Med. 1996; 334: 1106-14.<br />
[3] Mayer EA. Irritable Bowel syndrome. New Engl J Med<br />
2008; 1692-9.<br />
Kontakt<br />
Priv.-Doz. Dr. Stefan U. Christl<br />
2. Medizinische Abteilung –<br />
Gastroenterologie<br />
<strong>Asklepios</strong> <strong>Klinik</strong> Harburg<br />
Eißendorfer Pferdeweg 52<br />
21075 Hamburg<br />
Tel. (0 40) 18 18-86 22 26<br />
Fax (0 40) 18 18-86 30 78<br />
E-Mail: s.christl@asklepios.com<br />
Prof. Dr. Rudolf Töpper<br />
Neurologische Abteilung<br />
<strong>Asklepios</strong> <strong>Klinik</strong> Harburg<br />
Eißendorfer Pferdeweg 52<br />
21075 Hamburg<br />
Tel. (0 40) 18 18-86 25 52<br />
Fax (0 40) 18 18-86 30 92<br />
E-Mail: r.toepper@asklepios.com
Pseudarthrosen:<br />
Pathophysiologie und Therapie<br />
Prof. Dr. Thomas A. Schildhauer<br />
Im medizinisch-wissenschaftlichen Sinne<br />
spricht man erst von einer <strong>aus</strong>gebildeten<br />
Pseudarthrose, wenn eine Fraktur nach<br />
einem Zeitraum von mehr als sechs bis<br />
neun Monaten nicht verheilt ist. Dabei<br />
unterscheidet man die durch Instabilität<br />
begründete hypertrophe Pseudarthrose mit<br />
guten biologischen Heilungsvor<strong>aus</strong>setzungen<br />
von <strong>der</strong> oligo- und atrophen Pseudarthrose<br />
mit schlechter lokaler Vaskulari -<br />
sation, wie sie bei offenen Frakturen,<br />
Weichteildefekten, traumatisierenden offenen<br />
Osteosynthesen und Re-Operationen<br />
auftreten kann. Auch metabolische Erkrankungen<br />
und Medikamente spielen eine<br />
Rolle in <strong>der</strong> Genese <strong>der</strong> atrophen Pseudarthrose<br />
und sollten in therapieresistenten<br />
Fällen abgeklärt werden. Weiter bekannt<br />
sind die Infekt-Pseudarthrose, die eigentlich<br />
auch einer oligo-/atrophen Pseudarthrose<br />
aufgrund septischer Mikrothrombosen<br />
entspricht, und die synoviale Pseudarthrose,<br />
die durch eine echte Falschgelenkbildung<br />
nach lang bestehen<strong>der</strong> Instabilität<br />
charakterisiert ist.<br />
Im Prinzip ist <strong>aus</strong> praktisch-chirurgischer<br />
Sicht unbedingt noch eine weitere Pseudarthrosegruppe<br />
hinzuzufügen: die <strong>der</strong><br />
„drohenden Pseudarthrose“. Im Interesse<br />
<strong>der</strong> Patienten ist es nicht zu verantworten,<br />
zunächst auf eine Frakturheilung zu hoffen,<br />
wenn schon klare Vor<strong>aus</strong>setzungen <strong>für</strong> die<br />
Entwicklung einer Pseudarthrose bestehen.<br />
Dazu gehören unter an<strong>der</strong>em eine instabile<br />
Osteosynthese (zum Beispiel ungebohrter<br />
Marknagel mit unzureichen<strong>der</strong> Verriegelung<br />
bei metaphysären Frakturen), Muskelinterposition<br />
bei konservativer Frakturbehand-<br />
Unfallchirurgie<br />
Noch bis vor etwa zehn Jahren standen Pseudarthrosen nach offenen Osteosynthesen, insbeson<strong>der</strong>e im Unterschenkelbereich<br />
mitsamt ihren Fehlstellungen und Defekten, im Vor<strong>der</strong>grund. Heute findet man sie in großer Zahl<br />
nach „biologischen“ und „minimal-invasiven“ Osteosynthesen, zunehmend auch im Oberarmbereich, etwa nach<br />
ungebohrten Nagelosteosynthesen mit unzureichend stabiler Verriegelung (Abb. 1). Um die verschiedenen Therapiemöglichkeiten<br />
<strong>der</strong> Pseudarthrosen einzuordnen, muss man zunächst <strong>der</strong>en Pathophysiologie verstehen.<br />
Abb. 1: Hypertrophe Pseudarthrose nach Humerusmarknagelung<br />
mit Instabilität bei unzureichen<strong>der</strong> Verriegelung<br />
Abb. 2: Immanente Pseudarthrose bei Instabilität und<br />
Fehlstellung im proximalen Bruchbereich und Distraktion<br />
im distalen Frakturanteil<br />
lung (zum Beispiel proximale Humerus-<br />
Spiralfraktur), Knochendefekte über vier<br />
Millimeter sowie Weichteildefekte und Verletzungen<br />
(Abb. 2). In all diesen Situationen<br />
sollte unverzüglich adäquat operativ interveniert<br />
und nicht erst ein Auftreten einer<br />
Pseudarthrose abgewartet werden.<br />
691
Medtropole | Ausgabe 18 | Juli 2009<br />
Abb. 3: (a) Hypertrophe Diaphysenpseudarthrose mit dünnem Nagel in einem zu weiten Kanal sowie Zustand nach<br />
Dynamisierung mit resultieren<strong>der</strong> Instabilität (b): Eine stabile Osteosynthese mit einem dickeren gebohrten Mark -<br />
nagel und additiver Anti-Rotationsplatte führte zur Ausheilung.<br />
Therapieverfahren sind in Abhängigkeit<br />
von <strong>der</strong> Art <strong>der</strong> Pseudarthrose zu diskutieren.<br />
Eine hypertrophe Pseudarthrose muss<br />
mit einer rigiden Osteosynthese behandelt<br />
werden. Bei <strong>der</strong> typischen hypertrophen<br />
Diaphysenpseudarthrose nach ungebohrter<br />
Nagelung ist ein gebohrter Nagel o<strong>der</strong> eine<br />
kurze additive Plattenosteosynthese ohne<br />
Ausräumung des osteogenetisch aktiven<br />
Pseudarthrosengewebes indiziert (Abb. 3).<br />
In Bezug auf die Tibia ist an eine Fibula -<br />
osteotomie zu denken. Im metaphysären<br />
Bereich sind als stabilisierende Maßnahmen<br />
kurze additive Platten in einer zweiten<br />
Ebene o<strong>der</strong> Umstellungsosteotomien (proximales<br />
Femur) in Erwägung zu ziehen.<br />
692<br />
a<br />
Bei <strong>der</strong> hypotrophen Pseudarthrose muss<br />
die Weichteil- und Perfusionssituation<br />
optimiert werden, bevor ein radikales<br />
Debridement mit angrenzen<strong>der</strong> Dekortikation<br />
des endständig sklerosierten Knochens<br />
vorgenommen wird (Abb. 4). Dem folgt<br />
eine rigide Osteosynthese – typischerweise<br />
mit einer winkelstabilen Platte. Bei bestehen<strong>der</strong><br />
PNP ist allerdings ein Ilizarov-Fixateur<br />
das Verfahren <strong>der</strong> Wahl. Zur Verbesserung<br />
<strong>der</strong> lokalen Osteogenese stehen als<br />
osteoinduktive Verfahren die autologe<br />
Spongiosatransplantation, <strong>der</strong> vaskularisierte<br />
Fibulatransfer sowie neuerdings<br />
auch die mesenchymale Stammzelltherapie,<br />
die Transplantation kultivierter peri-<br />
b c<br />
Abb. 4: Instabile hypotrophe Becken-Pseudarthrose im<br />
vor<strong>der</strong>en und hinteren Beckenring; stabile Ausheilung<br />
nach rigi<strong>der</strong> Osteosynthese und Anlage cortico-spongiöser<br />
Späne; (a) prä-operativ, (b) post-operativ nach Revisionseingriff,<br />
(c) Nachuntersuchung nach acht Monaten<br />
ostaler Zellen und die Implantation von<br />
Wachstumsfaktoren zur Verfügung. Eine<br />
Überlegenheit <strong>der</strong> letztgenannten kosten -<br />
trächtigen Methoden konnte jedoch bis<br />
heute nicht eindeutig aufgezeigt werden.<br />
Synoviale Pseudarthrosen werden reseziert,<br />
<strong>der</strong> Defekt rigide osteosynthetisch<br />
stabilisiert und mit Dekortizierung und<br />
autologer Spongiosaanlagerung therapiert<br />
(Abb. 5). Bei <strong>der</strong> Behandlung <strong>der</strong> Infekt-<br />
Pseudarthrosen spielt die chirurgische<br />
Infektbekämpfung die zentrale Rolle. Eine<br />
antibiotische Therapie ist nur als begleitend<br />
zu verstehen, nicht als sanierend.<br />
Ansonsten gelten die gleichen Behand-<br />
a<br />
b
Abb. 5: Typische synoviale Pseudarthrose im radiologischen und klinischen Bild<br />
lungsschritte wie <strong>für</strong> eine atrophe Pseudarthrose.<br />
Allerdings wird zur Stabilisierung<br />
ein Ilizarov-Fixateur aufgrund seiner Fixations-Vielfältigkeit<br />
und Stabilität favorisiert.<br />
Interne Implantate sind mit einer<br />
erhöhten Gefahr <strong>der</strong> Infektpersistenz vergesellschaftet.<br />
Zu adjuvanten Behandlungsformen zählen<br />
die extrakorporale Stoßwellentherapie, die<br />
Ultraschalltherapie und die elektrische<br />
Stimulation. Allerdings steht die generelle<br />
Etablierung dieser Verfahren <strong>aus</strong> unterschiedlichen<br />
Gründen bis heute <strong>aus</strong>.<br />
Kontakt<br />
Prof. Dr. Thomas Armin Schildhauer<br />
Zentrum <strong>für</strong> Unfall- und<br />
Wie<strong>der</strong>herstellungschirurgie<br />
<strong>Asklepios</strong> <strong>Klinik</strong> St. Georg<br />
Lohmühlenstraße 5, 20099 Hamburg<br />
Tel. (0 40) 18 18-85 22 86<br />
Fax (0 40) 18 18-85 37 70<br />
E-Mail: t.schildhauer@asklepios.com<br />
Unfallchirurgie<br />
693
Priv.-Doz. Dr. Jörg Schwarz Dr. Christoph Külkens<br />
<strong>Asklepios</strong> <strong>Klinik</strong> Nord:<br />
Neuer Chefarzt <strong>der</strong> Gynäkologie<br />
Seit Juli leitet Priv.-Doz. Dr. Jörg Schwarz<br />
die Abteilung <strong>für</strong> Gynäkologie <strong>der</strong> <strong>Asklepios</strong><br />
<strong>Klinik</strong> Nord – Heidberg. Schwarz<br />
wurde 1964 in Jülich geboren, ist verheiratet<br />
und hat zwei Söhne. Sein Medizinstudium<br />
absolvierte er an <strong>der</strong> Universität Brescia<br />
und <strong>der</strong> RWTH Aachen. Die Weiterbildung<br />
zum Facharzt <strong>für</strong> Gynäkologie und Geburtshilfe<br />
absolvierte Schwarz in den Frauenkliniken<br />
<strong>der</strong> TU München und des UKE sowie<br />
in <strong>der</strong> <strong>Klinik</strong> <strong>für</strong> Geburtsmedizin <strong>der</strong> Berliner<br />
Charité. 1999 wurde Schwarz Oberarzt<br />
<strong>der</strong> Frauenklinik im UKE, 2003 habilitierte<br />
er sich mit dem Thema „Untersuchungen<br />
zur Bedeutung <strong>der</strong> Positronen-Emissions-<br />
Tomographie mit F-18 Fluordeoxyglukose<br />
(FDG-PET) in <strong>der</strong> Diagnostik des Mammakarzinoms“<br />
und erhielt die Venia Legendi<br />
<strong>für</strong> das Fach Gynäkologie und Geburtshilfe.<br />
Von 2003 bis 2009 war Schwarz Leiten<strong>der</strong><br />
Oberarzt und Stellvertreter des Direktors<br />
<strong>der</strong> <strong>Klinik</strong> <strong>für</strong> Gynäkologie an <strong>der</strong><br />
Frauenklinik des UKE sowie ab 2007 Leiter<br />
des Schwerpunktes Operative Onkologie<br />
und plastisch-rekonstruktive Chirurgie.<br />
Seine wissenschaftlichen Schwerpunkte sind<br />
FDG-PET in <strong>der</strong> Diagnostik des Mammaund<br />
Ovarialkarzinoms, die Therapie des<br />
Ovarialkarzinoms, klinische Untersuchungen<br />
zu Zervix- und Vulvakarzinom, Lichen<br />
sklerosus sowie die operative Therapie bei<br />
Zervixdysplasie. Zu seinen klinischen<br />
Schwerpunkten zählen alle abdominalen,<br />
vaginalen und minimal-invasiven Operationsverfahren<br />
<strong>der</strong> operativen Gynäkologie,<br />
die radikale Chirurgie des Ovarialkarzinoms<br />
(Debulking), nervenschonende und minimal-invasive<br />
Operationsverfahren bei Zervix-<br />
und Endometriumkarzinom, organerhaltende<br />
und radikale Operationsverfahren<br />
bei Vulva- und Vaginalkazinom mit plastischer<br />
Rekonstruktion von Vulva und Vagi-<br />
694<br />
na, die Sentineltechnik, alle gängigen plastischen<br />
Verfahren an <strong>der</strong> Brust sowie rekonstruktiven<br />
Verfahren im Bereich <strong>der</strong> Brust<br />
und des Genitale mit Ausnahme freier<br />
Lappenplastiken, die operative Therapie<br />
im Rahmen <strong>der</strong> Transformation bei Transsexualität<br />
sowie die Diagnostik und Therapie<br />
von Krebsvorstufen im Genitale (Kolposkopie)<br />
einschließlich Laserchirurgie.<br />
Kontakt<br />
PD Dr. Jörg Schwarz<br />
Abteilung <strong>für</strong> Gynäkologie und Brustzentrum<br />
<strong>Asklepios</strong> <strong>Klinik</strong> Nord – Heidberg<br />
Tangstedter Landstraße 400, 22417 Hamburg<br />
Tel. (0 40) 18 18-87 31 26<br />
Fax (0 40) 18 18-87 31 27<br />
E-Mail: joe.schwarz@asklepios.com<br />
<strong>Asklepios</strong> <strong>Klinik</strong> Nord:<br />
Neuer Chefarzt <strong>für</strong> HNO-Heilkunde,<br />
Kopf- und Halschirurgie<br />
Seit Februar leitet Dr. Christoph Külkens<br />
die HNO-Abteilung <strong>der</strong> <strong>Asklepios</strong> <strong>Klinik</strong><br />
Nord – Heidberg. Er wurde in Osnabrück<br />
geboren, studierte an <strong>der</strong> Julius-Maximilians-Universität<br />
zu Würzburg und <strong>der</strong><br />
Christian-Albrechts-Universität zu Kiel,<br />
absolvierte das PJ unter an<strong>der</strong>em in Zürich<br />
und San Francisco. Seine HNO-fachärztliche<br />
Ausbildung begann Külkens 1995 an <strong>der</strong><br />
<strong>Klinik</strong> <strong>für</strong> Hals-, Nasen-, Ohrenheilkunde,<br />
Kopf- und Halschirurgie <strong>der</strong> Christian-<br />
Albrechts-Universität zu Kiel. 1998 wechselte<br />
Külkens an die Philipps-Universität<br />
zu Marburg, wo er nach <strong>der</strong> Facharzt-<br />
Anerkennung 2000 zum Oberarzt ernannt<br />
wurde. Hier absolvierte er auch ein berufsbegleitendes<br />
Aufb<strong>aus</strong>tudium „Health Care<br />
Management“. 2003 erlangte Külkens die<br />
Zusatzbezeichnung „Plastische Operationen“<br />
sowie die Fakultative Weiterbildung<br />
„Spezielle HNO-Chirurgie“, 2004 die Aner-<br />
Personalia<br />
kennung als DEGUM-Ausbil<strong>der</strong> <strong>der</strong> Sektion<br />
Kopf/Hals. Nach Hospitationen <strong>für</strong><br />
plastische und ästhetische Gesichtschirurgie<br />
in den USA und Norwegen wechselte<br />
er 2005 als Oberarzt an die <strong>Klinik</strong> <strong>für</strong> Hals-,<br />
Nasen-, Ohrenheilkunde, Kopf- und Hals -<br />
chirurgie <strong>der</strong> Johannes-Gutenberg-Universität<br />
zu Mainz. Dr. Külkens ist Mitglied<br />
zahlreicher nationaler und internationaler<br />
Fachgesellschaften. Er verfügt über ein<br />
breites Kompetenzprofil in allen Themen<br />
seines Fachgebietes, insbeson<strong>der</strong>e in <strong>der</strong><br />
mikroskopischen und endoskopischen<br />
Nasennebenhöhlenchirurgie, <strong>der</strong> organerhaltenden<br />
Laserchirurgie bei <strong>der</strong> Behandlung<br />
von Kopf-Hals-Tumoren, <strong>der</strong> sanierenden<br />
und hörverbessernden Ohrchirurgie,<br />
<strong>der</strong> Chirurgie <strong>der</strong> Speicheldrüsen sowie<br />
<strong>der</strong> plastisch-rekonstruktiven und ästhetischen<br />
Gesichtschirurgie. In Heidberg möchte<br />
er vor allem <strong>für</strong> die Patienten im Norden<br />
Hamburgs sowie im Süden Schleswig-Holsteins<br />
das gesamte Spektrum <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen<br />
Hals-Nasen-Ohrenheilkunde, Kopf- und<br />
Halschirurgie anbieten und durchführen.<br />
Ein erfahrenes Team sowie mo<strong>der</strong>nste<br />
technische Ausstattung und Methoden sorgen<br />
<strong>für</strong> ein Höchstmaß an diagnostischer<br />
und operativer Sicherheit. Hierzu werden<br />
ab Oktober 2009 ein neuer OP-Trakt sowie<br />
neue Behandlungs- und Untersuchungsräume<br />
im Kopfzentrum erstellt.<br />
Kontakt<br />
Dr. Christoph Külkens<br />
Abteilung <strong>für</strong> HNO-Heilkunde,<br />
Kopf- und Halschirurgie<br />
<strong>Asklepios</strong> <strong>Klinik</strong> Nord – Heidberg<br />
Tangstedter Landstraße 400, 22417 Hamburg<br />
Tel. (040) 18 18-87 34 64<br />
Fax (040) 18 18-87 33 72<br />
E-Mail: c.kuelkens@asklepios.com
Kopf-Hals-Tumore –<br />
mo<strong>der</strong>ne chirurgische Konzepte<br />
Dr. Christoph Külkens<br />
Die Prognose <strong>der</strong> Plattenepithelkarzinome<br />
<strong>der</strong> oberen Luft- und Speisewege ist nach<br />
wie vor häufig ungünstig und konnte über<br />
die vergangenen Jahrzehnte trotz optimierter<br />
Resektions- und Rekonstruktionstechniken<br />
sowie Weiterentwicklung <strong>der</strong> Radiound<br />
Chemotherapiekonzepte nicht wesentlich<br />
verbessert werden. Dies erklärt sich<br />
vor allem durch die bei Diagnosestellung<br />
bereits vorhandene hohe zervikale lymphogene<br />
Metastasierungsrate, aber auch durch<br />
die vorwiegend im späteren Krankheitsverlauf<br />
auftretenden Fernmetastasen.<br />
Deshalb haben sich in den vergangenen<br />
20 Jahren die Therapiekonzepte verän<strong>der</strong>t.<br />
Die chirurgische Radikalität wurde sowohl<br />
bei <strong>der</strong> Therapie des Primärtumors als auch<br />
<strong>der</strong> lokoregionären Metastasen zunehmend<br />
zugunsten organ- und funktionserhalten<strong>der</strong><br />
Strategien verlassen, um bei gleich bleibenden<br />
onkologischen Ergebnissen die operationsbedingten<br />
Funktionseinschränkungen<br />
zu reduzieren und damit die Lebensquali -<br />
tät <strong>der</strong> Patienten zu verbessern.<br />
Therapie des Primärtumors<br />
Die Behandlung maligner Tumoren <strong>der</strong><br />
oberen Luft- und Speisewege ist aufgrund<br />
<strong>der</strong> komplexen Anatomie und Organfunktionen<br />
(Gesichtsästhetik, Schluckfunktion,<br />
Atmung, Sprache, Stimme) problematisch.<br />
Radikale Blockresektionen führen nicht selten<br />
zu erheblichen Funktionseinschränkungen.<br />
Um funktionelle Einschränkungen zu<br />
reduzieren, wurde seit Mitte <strong>der</strong> 80er-Jahre<br />
die transorale Lasermikrochirurgie mit<br />
dem CO2-Laser entwickelt und zunehmend<br />
zur Behandlung von Karzinomen <strong>der</strong><br />
Mundhöhle, des Oro- und Hypopharynx<br />
sowie des Larynx angewandt. Durch die<br />
transorale Tumorexposition kann auf einen<br />
Zugangsweg von außen verzichtet werden,<br />
<strong>der</strong> vielfach mit einer Durchtrennung muskulärer<br />
und nervaler sowie zum Teil knöcherner<br />
Strukturen verbunden ist.<br />
Wesentlicher Vorteil <strong>der</strong> CO2-Laserchirur gie ist das berührungsfreie und im kapillären<br />
Bereich blutungsarme Schneiden <strong>der</strong><br />
Schleimhaut, was eine sehr gute intraoperative<br />
Übersicht ermöglicht. Die transorale<br />
Laserchirurgie wird standardmäßig unter<br />
mikroskopischer Kontrolle durchgeführt.<br />
Der CO2-Laser wird hier<strong>für</strong> an ein Operationsmikroskop<br />
angekoppelt und <strong>der</strong><br />
Laserstrahl über einen Mikromanipulator<br />
ins Gewebe appliziert. Der Fokus des<br />
Laserstrahls wird durch den Mikromanipulator<br />
auf 0,25 mm reduziert, was ein<br />
leistungsreduziertes Schneiden ermöglicht<br />
und die thermische Schädigung benachbarter<br />
Gewebe minimiert.<br />
Das operative Ziel <strong>der</strong> Lasermikrochirurgie<br />
ist, wie bei den konventionell-chirurgischen<br />
Techniken, die vollständige Entfernung<br />
des Primärtumors. Allerdings werden<br />
die Resektionsgrenzen im Gegensatz<br />
zur konventionellen Chirurgie durch dessen<br />
Lokalisation und Größe bestimmt.<br />
Intraoperativ ermöglicht das Operationsmikroskop<br />
in <strong>der</strong> Regel eine gute Differenzierung<br />
zwischen gesundem und tumorösem<br />
Gewebe und somit die Erkennung <strong>der</strong><br />
Tumorgrenzen. Die thermische Versiegelung<br />
kleinerer Blut- und Lymphgefäße<br />
Hals-Nasen-Ohrenheilkunde<br />
Das Plattenepithelkarzinom ist <strong>der</strong> häufigste maligne Tumor im Bereich <strong>der</strong> Schleimhäute <strong>der</strong> oberen Luft- und<br />
Speisewege. Hauptursache ist <strong>der</strong> synergistische Effekt eines langjährigen Alkohol- und Tabakabusus, <strong>der</strong> zu einer<br />
toxischen Schleimhautschädigung und einer Feldkanzerisierung führen kann. [1]<br />
ermöglicht eine gute intraoperative Übersicht.<br />
So lassen sich die Tumorgrenzen besser<br />
erkennen und <strong>der</strong> Gewebedefekt durch<br />
Anpassung <strong>der</strong> Resektion möglichst klein<br />
halten. Kleinere und überwiegend oberflächliche<br />
Karzinome lassen sich als Ganzes<br />
umschneiden, größere Tumoren müssen<br />
in Teilen reseziert werden, wobei auch<br />
die Tiefeninfiltration beurteilt werden<br />
kann.<br />
Im Gegensatz zur konventionellen En-bloc-<br />
Resektion erfolgt die Schnittführung bei<br />
<strong>der</strong> laserchirurgischen Resektion großer<br />
Tumore teilweise durch den Tumor, wobei<br />
die thermische Versiegelung <strong>der</strong> Lymphgefäße<br />
am Schnittrand eine relevante Tumorzell<strong>aus</strong>saat<br />
verhin<strong>der</strong>t. Somit wird <strong>der</strong><br />
Operateur bei <strong>der</strong> Resektion weitgehend<br />
von <strong>der</strong> Tumor<strong>aus</strong>dehnung geleitet und<br />
kann im Gegensatz zur Blockresektion viel<br />
gesundes Gewebe schonen. Das verbleibende<br />
Gewebe ermöglicht im Kopf-Hals-<br />
Bereich den Organerhalt und damit die<br />
Aufrechterhaltung einer guten Schluckund<br />
Stimmfunktion. Darüber hin<strong>aus</strong> kann<br />
in den meisten Fällen auf einen Luftröhrenschnitt<br />
verzichtet werden. Die Versiegelung<br />
<strong>der</strong> Schnittkanten erübrigt eine<br />
Deckung des Gewebedefektes (Abb. 1).<br />
Literatur und eigene Erfahrungen zeigen,<br />
dass die onkologischen Ergebnisse <strong>der</strong><br />
Laserchirurgie den konventionell-chirurgischen<br />
Techniken o<strong>der</strong> <strong>der</strong> primären Strahlentherapie<br />
gleichwertig und zum Teil<br />
sogar überlegen sind. [2,3] Zugleich lässt sich<br />
mit dieser Technik eine deutlich bessere<br />
Funktionalität und somit Lebensqualität<br />
695
Medtropole | Ausgabe 18 | Juli 2009<br />
Abb. 1: Supraglottisches Larynxkarzinom vor und unmittelbar nach Laserresektion sowie 10 Wochen postoperativ<br />
erzielen. [4] Die transorale, mikroskopischkontrollierte<br />
CO2-Laserchirurgie ist daher<br />
bei <strong>der</strong> Behandlung von begrenzten und<br />
oberflächlich gewachsenen Karzinomen<br />
<strong>der</strong> oberen Luft- und Speisewege die<br />
Methode <strong>der</strong> Wahl. Auch <strong>aus</strong>gedehntere<br />
Karzinome lassen sich komplett resezieren,<br />
dies ist aber beson<strong>der</strong>s an die Erfahrung<br />
und Expertise des Operateurs gebunden.<br />
Therapie <strong>der</strong><br />
Halslymphknotenmetastasierung<br />
Die Prognose von Patienten mit Plattenepithelkarzinomen<br />
im Kopf-Hals-Bereich wird<br />
maßgeblich durch das Vorhandensein von<br />
Halslymphknotenmetastasen bei <strong>der</strong> Diagnosesicherung<br />
bestimmt. So halbieren<br />
sich die Überlebensraten <strong>der</strong> Patienten mit<br />
nachgewiesenen zervikalen Filiae. Eine<br />
weitere Prognoseverschlechterung tritt mit<br />
histopathologischem Nachweis einer Kapselruptur<br />
o<strong>der</strong> einer Lymphangiosis carcinomatosa<br />
ein. [5] Daher kommt Diagnostik<br />
und Therapie <strong>der</strong> zervikalen Metastasierung<br />
eine ganz wesentliche Bedeutung zu.<br />
Der Lymphabfluss von den verschiedenen<br />
Lokalisationen <strong>der</strong> oberen Luft- und Speisewege<br />
erfolgt entlang relativ konstanter und<br />
vorhersehbarer Richtungen in bestimmte<br />
Lymphknotengruppen. Deren Einteilung<br />
erfolgte auf Basis dieser bevorzugten Metas<br />
tasierungsrichtungen. Aktuell werden die<br />
circa 300 Lymphknoten des Halses in sieben<br />
Regionen eingeteilt (Abb. 2). [6,7]<br />
696<br />
Diagnostik Halslymphknoten<br />
Vor dem Hintergrund des sich wandelnden<br />
chirurgischen Managements <strong>der</strong> Halslymphknotenmetastasierung<br />
wird die Diagnostik<br />
zervikaler Lymphknoten seit vielen<br />
Jahren kontrovers diskutiert. Die Erhebung<br />
des Halslymphknotenstatus durch alleinige<br />
Palpation ist zur validen Erfassung von<br />
Metastasen völlig unzureichend. Bildgebende<br />
Verfahren wie CT und MRT ermöglichen<br />
neben einer Beurteilung des Primärtumors<br />
auch eine gute Beurteilung <strong>der</strong> Halslymphknoten.<br />
Zahlreiche vergleichende Untersuchungen<br />
zeigten jedoch, dass die B-Sonografie<br />
diesen Verfahren gleichwertig o<strong>der</strong><br />
überlegen ist. [8]<br />
Die Aussagekraft bei <strong>der</strong> Beurteilung zervikaler<br />
Raumfor<strong>der</strong>ungen lässt sich durch<br />
Kombination mit einer Punktionszytologie<br />
weiter verbessern. Mit <strong>der</strong> sonografischkontrollierten<br />
Feinnadelpunktion (FNP)<br />
lassen sich insbeson<strong>der</strong>e kleinere und in<br />
tieferen Halsschichten lokalisierte Raumfor<strong>der</strong>ungen<br />
sicher unter Sicht punktieren.<br />
Damit lässt sich die Wahrscheinlichkeit<br />
einer Halslymphknotenmetastasierung<br />
prätherapeutisch besser einschätzen. [9]<br />
Therapie Halslymphknoten<br />
Die chirurgische Behandlung des regionären<br />
Lymphabflusses erfolgt in <strong>der</strong> Regel in<br />
Form einer sogenannten Neck dissection.<br />
Die 1906 von Crile erstmals beschriebene<br />
radikale Neck dissection (RND) stellte jahrzehntelang<br />
das Standardverfahren zur<br />
Behandlung von zervikalen Lymphknoten-<br />
metastasen dar. Dabei wurden die Halslymphknotenregionen<br />
I-V mit gleichzeitiger<br />
Entfernung des M. sternocleidomastoideus,<br />
<strong>der</strong> V. jugularis interna und des N. accessorius<br />
<strong>aus</strong>geräumt. Dementsprechend war<br />
dieses radikale Operationsverfahren mit<br />
starken funktionellen Einschränkungen<br />
verbunden.<br />
Analog zur weniger invasiven Chirurgie<br />
des Primärtumors wurde die Radikalität<br />
<strong>der</strong> Neck dissection zur Verbesserung <strong>der</strong><br />
postoperativen Funktionalität schrittweise<br />
durch selektive Formen ersetzt. Abhängig<br />
von den Hauptmetastasierungsrichtungen<br />
des Primärtumors werden bei <strong>der</strong> selektiven<br />
Neck dissection (SDN) nur noch einzelne<br />
Lymphknotenregionen (Abb. 2)<br />
<strong>aus</strong>geräumt und <strong>der</strong> M. sternocleidomastoideus,<br />
<strong>der</strong> N. accessorius und die V. jugularis<br />
interna erhalten. Das minimiert die<br />
funktionellen Einschränkungen bei gleichem<br />
onkologischem Ergebnis deutlich<br />
und verbessert so die Lebensqualität.<br />
Analog zum beispielhaft gezeigten supraglottischen<br />
Larynxkarzinom würden hierbei<br />
lediglich die Regionen II bis IV <strong>aus</strong> -<br />
geräumt. [10]<br />
Die Neck dissection kann grundsätzlich<br />
unter zwei Zielsetzungen erfolgen: Bei klinisch<br />
eindeutigem Vorliegen von Metastasen<br />
(N+ Hals) wird sie mit kurativer Intention<br />
durchgeführt werden. Je nach Ausmaß<br />
<strong>der</strong> Metastasierung erfolgt eine modifiziert<br />
radikale Neck dissection (MRND) o<strong>der</strong><br />
eine SND. [11]
Zum an<strong>der</strong>en kann die Neck dissection mit<br />
dem Ziel eines operativen Staging-Verfahrens<br />
(elektive Neck dissection) erfolgen,<br />
da in bis zu 20 Prozent <strong>der</strong> Fälle okkulte<br />
Metastasen vorliegen, die einer Diagnostik<br />
nicht zu gänglich sind (N0 Hals). Beson<strong>der</strong>s<br />
bei Primärtumoren mit hoher Metastasierungsfrequenz<br />
(Oro- und Hypopharynkarzinome,<br />
supraglottische Karzinome) sollte<br />
eine elektive Neck dissection durchgeführt<br />
werden. Der histopathologischen Beurteilung<br />
des Präparates (N+ o<strong>der</strong> N0) kommt<br />
zudem beson<strong>der</strong>e Bedeutung hinsichtlich<br />
<strong>der</strong> Notwendigkeit einer postoperativen<br />
Strahlentherapie zu. Alternativ zur elektiven<br />
chirurgischen Behandlung des Halses<br />
kann bei kleinen Karzinomen eine „wait<br />
and see policy“ diskutiert werden, was<br />
aber eine regelmäßige sonografische Nachsorge<br />
durch einen erfahrenen Untersucher<br />
vor<strong>aus</strong>setzt.<br />
Fazit<br />
IA<br />
Die Behandlung von Plattenepithelkarzinomen<br />
des oberen Aerodigestivtraktes und des<br />
zervikalen Lymphabflusses hat sich in den<br />
vergangenen Jahren zugunsten weniger<br />
IB<br />
VI<br />
Abb. 2: Schemazeichnung <strong>der</strong> anatomischen Begrenzungen <strong>der</strong> 6 Halslymphknotenregionen<br />
und 3 Unterregionen (in Anlehnung an Robbins et al. 2008)<br />
IV<br />
III<br />
IIA<br />
IIB<br />
VB<br />
VA<br />
radikaler, mehr organ- und funktionserhalten<strong>der</strong><br />
Techniken verän<strong>der</strong>t. Insbeson<strong>der</strong>e<br />
bei Patienten mit weit fortgeschrittenen<br />
Primärtumoren und/o<strong>der</strong> Halslymphknotenmetastasierungen<br />
ist eine radikale chi -<br />
rurgische Sanierung aber weiter erfor<strong>der</strong>lich,<br />
wobei neue Resektionstechniken und<br />
rekonstruktive Maßnahmen vielfach auch<br />
in diesen Fällen die postoperative Funktionalität<br />
verbessern (mikroanastomosierte<br />
Lappentechniken, Stimmprothesen nach<br />
Laryngektomie).<br />
In vielen Fällen ist nach erfolgter chirurgischer<br />
Sanierung des Primärtumors und <strong>der</strong><br />
Lymphabflusswege eine ergänzende Radioo<strong>der</strong><br />
Radiochemotherapie erfor<strong>der</strong>lich. In<br />
Abhängigkeit von Tumorlokalisation und<br />
-größe kann auch prä- o<strong>der</strong> postoperativ<br />
eine Chemo- o<strong>der</strong> Antikörpertherapie sinnvoll<br />
erscheinen. Daher sollte nach Diagnose<br />
und Staging das individuelle Therapiekonzept<br />
im Rahmen einer interdisziplinären<br />
onkologischen Konferenz festgelegt werden.<br />
Literatur<br />
Kontakt<br />
Dr. Christoph Külkens<br />
Hals-Nasen-Ohrenheilkunde<br />
[1] Johnson N, Warnakulasuriy S, Tavassoli M. Hereditary<br />
and environmental risk factors: clinical and laboratory risk<br />
markers for head and neck especially oral, and precancer.<br />
Eur J Cancer Prev 1996; 5: 5-17.<br />
[2] Ambrosch P. Lasers in the upper aerodigestive tract in<br />
malignant diseases. Laryngorhinootologie. 2003 May; 82<br />
(Suppl 1): 114-43.<br />
[3] Steiner W. Endoskopische Laserchirurgie <strong>der</strong> oberen<br />
Luft- und Speisewege. Stuttgart-New York: Thieme Verlag<br />
1997.<br />
[4] Werner JA, Dunne AA, Folz BJ, Lippert BM. Transoral<br />
laser microsurgery in carcinomas of the oral cavity, pharynx,<br />
and larynx. Cancer Control 2002 Sep-Oct; 9(5): 379-<br />
86. Review.<br />
[5] Richard JM, Sancho-Garnier H, Micheau C, Saravane<br />
D, Cachin Y. Prognostic factors in cervical lymph node<br />
metastasis in upper respiratory and digestive tract carcinomas:<br />
study of 1,713 cases during a 15-year period. Laryngoscope<br />
1987; 97: 97-101.<br />
[6] Robbins KT, Clayman G, Levine PA, et al. Neck dissection<br />
classification update: revisions proposed by the American<br />
Head and Neck Society and the American Academy<br />
of Otolaryngology-Head and Neck Surgery. Arch Otolaryngol<br />
Head Neck Surg. 2002 Jul; 128(7): 751-8.<br />
[7] Robbins KT, Shaha AR, Medina JE, et al. Committee for<br />
Neck Dissection Classification, American Head and Neck<br />
Society. Consensus statement on the classification and terminology<br />
of neck dissection. Arch Otolaryngol Head Neck<br />
Surg. 2008 May; 134(5): 536-8.<br />
[8] Lippert BM, Külkens C. Möglichkeiten und Grenzen<br />
<strong>der</strong> sonographischen Lymphknotendiagnostik. In: Lippert<br />
BM, Rathcke IO, Werner JA (Hrsg): Lymphologie gegen<br />
Ende des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts. Aachen; Shaker 1999: 54-9.<br />
[9] Lippert BM, Külkens C. Untersuchungsmethoden. In:<br />
Werner JA (Hrsg): Lymphknotenerkrankungen im Kopf-<br />
Hals-Bereich. Berlin; Springer 2002: 87-159.<br />
[10] Kuntz AL, Weymuller EA Jr. Impact of neck dissection<br />
on quality of life. Laryngoscope 1999; 109: 1334-8.<br />
[11] Werner JA. Aktueller Stand <strong>der</strong> Versorgung des<br />
Lymph abflusses maligner Kopf-Hals-Tumoren. Eur Arch<br />
Otorhinolaryngol 1997; Suppl I: 47-85.<br />
Abteilung <strong>für</strong> Hals-Nasen-Ohrenheilkunde,<br />
Kopf- und Halschirurgie<br />
<strong>Asklepios</strong> <strong>Klinik</strong> Nord – Heidberg<br />
Tangstedter Landstraße 400<br />
22417 Hamburg<br />
Tel. (0 40) 18 18-87 34 64<br />
Fax (0 40) 18 18-87 33 72<br />
E-Mail: c.kuelkens@asklepios.com<br />
697
Medtropole | Ausgabe 18 | Juli 2009<br />
Interdisziplinäre Versorgung<br />
neuroonkologischer Patienten<br />
Dr. Michael Kämper, Dr. Dietrich Braumann, Dr. Jörg Dahle, Prof. Dr. Uwe Kehler<br />
Die Anfor<strong>der</strong>ungen an die Behandlung (hirn-)tumorerkrankter Patienten werden zunehmend schwieriger und<br />
komplexer. Zum einen steigt die Zahl <strong>der</strong> Erkrankten, vor allem aufgrund <strong>der</strong> demografischen Entwicklung,<br />
die flächendeckend verfügbaren Screening-Untersuchungen und die sensitivere Diagnostik bringen zudem viele<br />
Tumoren bereits im Frühstadium zutage. Zum an<strong>der</strong>en verringern die rasanten Fortschritte <strong>der</strong> onkologischen<br />
Therapie die Mortalität. Die gesellschaftlichen For<strong>der</strong>ungen nach einer umfassenden, ganzheitlichen und<br />
kompetenten Versorgung onkologischer Patienten finden ein großes Echo. Es wird ein bestqualifizierter Standard<br />
erwartet. Dessen Umsetzung <strong>für</strong> Hirntumor-Patienten erfolgt in <strong>der</strong> <strong>Asklepios</strong> <strong>Klinik</strong> Altona in <strong>der</strong><br />
„Interdisziplinären neuroonkologischen Konferenz“.<br />
Tumorboards<br />
Interdisziplinäre Tumorboards sind die<br />
Antwort auf die hohen Anfor<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong><br />
mo<strong>der</strong>nen Tumorbehandlung. Sie ermöglichen<br />
die rasche Festlegung eines individualisierten<br />
Therapiekonzepts <strong>für</strong> den<br />
jeweiligen Patienten und gewährleisten<br />
eine kontinuierliche, langfristige Betreuung.<br />
Das Zusammenwirken von Experten<br />
<strong>aus</strong> verschiedenen Disziplinen schafft<br />
kurze Wege, ermöglicht Synergien und<br />
vermin<strong>der</strong>t Redundanzen. Sie erarbeiten<br />
verbindliche evidenzbasierte Konzepte<br />
und können auf geän<strong>der</strong>te Situationen<br />
während des Krankheitsverlaufs rasch reagieren.<br />
Unter dem Dach des im Dezember<br />
2008 von <strong>der</strong> Deutschen Gesellschaft <strong>für</strong><br />
Hämatologie und Onkologie zertifizierten<br />
Onkologischen Zentrums <strong>der</strong> <strong>Asklepios</strong><br />
<strong>Klinik</strong> Altona haben sich zusätzlich die<br />
Neuroonkologische Konferenz, das Mammaund<br />
das Darmzentrum <strong>aus</strong>gebildet.<br />
Neuroonkologie<br />
Insbeson<strong>der</strong>e die ermutigenden Ergebnisse<br />
<strong>der</strong> Stupp-Studie <strong>aus</strong> dem Jahr 2005 [4]<br />
haben in Neurochirurgie und -onkologie<br />
eine Neubewertung <strong>der</strong> Möglichkeiten<br />
adjuvanter Therapien bei malignen hirneigenen<br />
Tumoren bewirkt. In ihrer Folge<br />
wurde eine große Zahl neuer Protokolle<br />
und Verfahren entwickelt, die Hoffnung<br />
698<br />
Sprechstunden<br />
Stationen<br />
nie<strong>der</strong>gelassene<br />
<strong>Ärzte</strong>/Ärztinnen<br />
Abb. 1: Flussdiagramm <strong>der</strong> Anmeldungswege<br />
Anmeldung<br />
zur Konferenz<br />
machen, aber auch kritischer Würdigung<br />
bedürfen. Die raschen Fortschritte auf allen<br />
Gebieten unterstreichen die For<strong>der</strong>ung<br />
nach einer umfassenden interdisziplinären<br />
Betreuung. Diesen Entwicklungen in <strong>der</strong><br />
Gruppe <strong>der</strong> Hirntumorerkrankungen trug<br />
die <strong>Asklepios</strong> <strong>Klinik</strong> Altona vor fünf Jahren<br />
durch Gründung <strong>der</strong> interdisziplinären<br />
neuroonkologischen Tumorkonferenz<br />
(IDNOK) Rechnung. Der Anteil neuroonkologischer<br />
Erkrankungen liegt mit etwa<br />
zwei Prozent aller Tumorerkrankungen<br />
recht niedrig. Da sich die Patienten aber in<br />
hochspezialisierten Zentren sammeln,<br />
rekrutieren diese Einrichtungen entsprechend<br />
hohe Fallzahlen. Der großen Gefahr<br />
seltener Einzelentscheidungen in diesem<br />
immer unübersichtlicher werdenden Feld<br />
begegnen sie durch ein erfahrenes und<br />
interdisziplinäres Team. Die Gruppe <strong>der</strong><br />
Hirntumorerkrankungen ist sehr heterogen<br />
und weist eine Reihe von Beson<strong>der</strong>heiten<br />
Tumorboard<br />
trifft verbindliche<br />
Entscheidungen<br />
1 x pro Woche<br />
individuelle<br />
Therapie<br />
auf, die spezielle diagnostische und therapeutische<br />
Verfahren verlangen. So finden<br />
sich in etwa gleichem Umfang Hirntumore<br />
im eigentlichen Sinne (Gliome, Meningeome,<br />
Hypophysentumore etc.) wie metastatische<br />
Erkrankungen.<br />
Zentrale Einrichtung <strong>für</strong> die Tumorbehandlung<br />
im Neurozentrum ist die interdisziplinäre<br />
neuroonkologische Konferenz<br />
(IDNOK). Sie wird einmal wöchentlich<br />
abgehalten und ist <strong>für</strong> jeden Anmel<strong>der</strong><br />
offen. <strong>Ärzte</strong> <strong>aus</strong> dem nie<strong>der</strong>gelassenen<br />
Bereich o<strong>der</strong> <strong>aus</strong> an<strong>der</strong>en <strong>Klinik</strong>en können<br />
dort Patienten vorstellen (Abb. 1).<br />
Die Anmeldung kann je<strong>der</strong>zeit unkompliziert<br />
über das Sekretariat o<strong>der</strong> die Hirn -<br />
tumorsprechstunde erfolgen. Die jährlich<br />
steigenden Fallzahlen belegen die Akzeptanz<br />
(Abb. 2).
Teilnehmer <strong>der</strong> interdisziplinären<br />
Konferenz<br />
Die Besetzung <strong>der</strong> IDNOK rekrutiert sich<br />
<strong>aus</strong> Experten verschiedener Fachdisziplinen,<br />
die beson<strong>der</strong>e Expertise bei <strong>der</strong> Be -<br />
handlung Hirntumorerkrankter aufweisen.<br />
Neuroradiologie: Die mo<strong>der</strong>ne Bildgebung<br />
entwickelt sich rasch und ist in <strong>der</strong> Interpretation<br />
ihrer Befunde hochkomplex. Insbeson<strong>der</strong>e<br />
die Beurteilung <strong>der</strong> NMR-Bil<strong>der</strong><br />
im Rezidivfall ist oft hoch diffizil.<br />
(Neuro-)Pathologie: Sie präsentiert nach<br />
<strong>der</strong> aktuellen WHO-Klassifikation die <strong>aus</strong><br />
Hirntumoroperationen und stereotaktischen<br />
Probebiopsien gewonnenen histologischen<br />
Befunde, auf <strong>der</strong>en Basis die Therapien<br />
aufbauen. Bei seltenen und unklaren Fällen<br />
besteht ein enger Kontakt zu entsprechenden<br />
Referenzzentren.<br />
Neurochirurgie: Die Neurochirurgische<br />
Abteilung deckt das gesamte Spektrum <strong>der</strong><br />
mikrochirurgischen Tumoroperationen mit<br />
einem großen Volumen ab. Dazu gehören<br />
alle wichtigen OP-Methoden wie Mikrochirurgie,<br />
Neuronavigation, Stereotaxie,<br />
intraoperativer Ultraschall und lokale<br />
Chemotherapie.<br />
Onkologie: Der beson<strong>der</strong>en Biologie <strong>der</strong><br />
hirneigenen Tumoren ist bei <strong>der</strong> systemischen<br />
Therapie ebenso Rechnung zu tragen<br />
wie den metastatischen Erkrankungen.<br />
Hierzu ist eine hochspezialisierte Onkologische<br />
Abteilung nötig, die beide Gebiete<br />
breit abdeckt.<br />
Strahlentherapie: Die dritte therapeutische<br />
Säule besteht <strong>aus</strong> <strong>der</strong> Radiotherapie. Hier<br />
haben sich die Behandlungsoptionen in<br />
den vergangenen Jahren deutlich erweitert<br />
(z. B. stereotaktische Radiatio). Bestrahlungsmethoden<br />
und -arten müssen kritisch<br />
und kompetent in ihren Möglichkeiten und<br />
Grenzen eingeschätzt werden. Die Kolleginnen<br />
und Kollegen <strong>aus</strong> <strong>der</strong> Radiologischen<br />
Allianz Mörkenstraße nehmen an<br />
den Konferenzen regelmäßig teil.<br />
Neurologie: Die neurologischen Kollegen<br />
stehen <strong>der</strong> Konferenz beispielsweise be -<br />
züglich <strong>der</strong> Anfallstherapie bei Tumor -<br />
erkrankungen zur Seite.<br />
300<br />
250<br />
200<br />
150<br />
100<br />
50<br />
0<br />
Abb. 2: Entwicklung <strong>der</strong> Fallzahlen, die in <strong>der</strong> Neuro -<br />
onkologischen Konferenz abgehandelt wurden<br />
Ablauf<br />
2005 2006 2007 2008<br />
Die Protokollerstellung und somit das<br />
Erarbeiten einer individualisierten Behandlungsstrategie<br />
erfolgt im kritischen Dialog.<br />
Jede Expertengruppe stellt sicher, dass die<br />
aktuellsten, evidenzbasierten Verfahrensweisen<br />
<strong>der</strong> jeweiligen Fachdisziplinen Einzug<br />
in die Therapieentscheidung finden.<br />
Es erfolgt eine „Online“-Protokollierung<br />
mit Beteiligung aller Diskutanten (Abb. 3).<br />
Das erstellte Protokoll ist <strong>für</strong> die Konferenzteilnehmer<br />
bindend. Je<strong>der</strong> Patient wird<br />
dem Epidemiologischen Krebsregister <strong>der</strong><br />
Freien und Hansestadt Hamburg gemeldet<br />
und alle Teilnehmer erhalten jeweils zwei<br />
Fortbildungspunkte.<br />
Da die Betreuung <strong>der</strong> Patienten ganzheitlich<br />
erfolgt, ist sie auch nach Ausschöpfen<br />
aller Therapieoptionen nicht beendet.<br />
Die psychologische und seelsorgerische<br />
Begleitung erfolgt während <strong>der</strong> gesamten<br />
Behandlungsphase.<br />
Die Qualität interdisziplinärer Tumorboards<br />
war in letzter Zeit Gegenstand mehrerer<br />
Untersuchungen, die belegen, dass sie einen<br />
klaren Einfluss auf die Therapieentscheidung<br />
haben und nicht lediglich zum „guten Ton“<br />
einer großen <strong>Klinik</strong> gehören. [1,2,3]<br />
Literatur<br />
Neurochirurgie und Onkologie<br />
Abb. 3: Protokoll eines Glioblastompatienten<br />
Kontakt<br />
Prof. Dr. Uwe Kehler<br />
Neurochirurgische Abteilung<br />
<strong>Asklepios</strong> <strong>Klinik</strong> Altona<br />
Paul-Ehrlich-Straße 1, 22763 Hamburg<br />
Tel. (0 40) 18 18-81 16 71<br />
Fax (0 40) 18 18-81 49 11<br />
E-Mail: u.kehler@asklepios.com<br />
Tumorsprechstunde:<br />
Tel. (0 40) 18 18-81 16 75<br />
Fax (0 40) 18 18-81 49 86<br />
[1] Gattcliffe TA, Coleman RL. Tumor board: more than<br />
treatment planning – a 1 year prospective survey. J Cancaer<br />
Educ, 2008; 23(4): 235-7.<br />
[2] Katalinic A, Meyer M. Krebs in Deutschland-Häufig -<br />
keiten und Trends. 28. Deutscher Krebskongress-Berlin,<br />
20 – 23.02.2008.<br />
[3] Perry JK, Vetto JT. Beyond doughnuts: tumor board<br />
recommendations influence patient care. J Cancer Educ.<br />
2002; 17: 97-100.<br />
[4] Stupp R. et al. Radiotherapy plus concomitant and<br />
adjuvant temozlomide for glioblastoma. N Engl J Med 2005<br />
Mar 10; 352(10): 987-96.<br />
699
Medtropole | Ausgabe 18 | Juli 2009<br />
Schlaganfall – ein Notfall<br />
Prof. Dr. Christian Arning<br />
„Time is brain“ – je früher die Behandlung erfolgt, desto besser sind die Ergebnisse. Dabei ist zu beachten,<br />
dass „<strong>der</strong> Schlaganfall“ ja keine Entität, son<strong>der</strong>n ein gleichartiges klinisches Bild bei ganz unterschiedlichen<br />
Erkrankungen darstellt: Ischämie o<strong>der</strong> Blutung, Infarkt bei kranken Hirngefäßen o<strong>der</strong> durch Embolie in völlig<br />
gesunde Arterien, Gefäßproblem in vorgeschalteten Arterien o<strong>der</strong> abführenden Venen. Maßnahmen zur<br />
Akuttherapie o<strong>der</strong> Sekundärprävention können umso gezielter ergriffen werden, je mehr über die Ursache<br />
des Schlaganfalls bekannt ist.<br />
Diagnostische Fragen<br />
und therapeutische Konsequenzen<br />
Bei akutem Schlaganfall sind fünf Fragen<br />
zu klären:<br />
1. Liegt überhaupt ein vaskuläres Ereignis<br />
vor?<br />
In etwa zehn Prozent <strong>der</strong> Fälle handelt es<br />
sich um eine an<strong>der</strong>e Diagnose, zum Beispiel:<br />
■ Todd’sche Parese (funktionelle<br />
Lähmung) nach Krampfanfall<br />
■ Enzephalitis<br />
■ Migräne mit Aura<br />
■ Hirntumor mit Einblutung<br />
■ Akuter MS-Schub<br />
■ Periphere Lähmung<br />
(z. B. N. facialis, N. radialis)<br />
■ Psychogene Lähmung<br />
2. Ist <strong>der</strong> Schlaganfall durch Ischämie<br />
(85 %) o<strong>der</strong> Blutung verursacht (15 %)?<br />
Dazu erfolgt notfallmäßig ein CCT: Eine<br />
Blutung ist im CT sofort erkennbar, bei<br />
Ischämie sind Frühzeichen nachweisbar<br />
o<strong>der</strong> das CT ist unauffällig (Abb. 1).<br />
700<br />
3. Welche Maßnahmen sind notwendig zur Akutbehandlung?<br />
Zum Beispiel bei Ischämie die systemische Thrombolyse o<strong>der</strong> bei Blutung die operative<br />
Entlastung<br />
Indikation zur systemischen Thrombolyse<br />
■ Akuter Hemisphäreninfarkt mit Beginn <strong>der</strong> Symptome < 4,5 Stunden vor Lysebeginn 1)<br />
■ Ausfälle mittelschwer bis schwer (klinische Analyse nach <strong>der</strong> National Institute of Health Stroke Scale NIHSS)<br />
1) Protokoll <strong>der</strong> Hamburger Arbeitsgemeinschaft Schlaganfall: Thrombolyse bis 6 Stunden nach Beginn <strong>der</strong><br />
Symptome, wenn im multimodalen CT o<strong>der</strong> MRT (mit Perfusionssequenzen) ein „Mismatch“ zwischen<br />
funktionell und strukturell geschädigtem Hirngewebe nachgewiesen wird. Im Einzelfall erfolgt alternativ<br />
o<strong>der</strong> ergänzend die lokale Katheter-Thrombolyse. [1]<br />
Kontraindikationen <strong>der</strong> systemischen Thrombolyse<br />
■ Schwangerschaft; Alter > 80 Jahre<br />
■ Koma; initialer Krampfanfall<br />
■ Gerinnungsstörung o<strong>der</strong> laufende Antikoagulation (Heparin/Marcumar)<br />
■ Florides Ulcus ventriculi/duodeni<br />
■ Arterielle Punktion o<strong>der</strong> Lumbalpunktion in den letzten 3 Tagen<br />
■ Große OP/schweres Trauma in den letzten 2 Wochen<br />
■ GI-Blutung/Harnwegsblutung in den letzten 3 Wochen<br />
■ Hirninfarkt in den letzten 4 Wochen<br />
■ Hirnblutung/SHT/ZNS-OP in den letzten 3 Monaten<br />
■ Kolitis/Ösophagusvarizen/Aortenaneurysma<br />
■ Schwere diabetische Retinopathie<br />
■ Klinische Zeichen <strong>der</strong> Endokarditis<br />
Indikation zur frühen operativen Behandlung einer intrazerebralen Blutung<br />
■ Progrediente Bewusstseinsstörung bei raumfor<strong>der</strong>n<strong>der</strong> Hemisphärenblutung<br />
■ Verdacht auf Aneurysmablutung (Klärung mit DSA)<br />
■ Raumfor<strong>der</strong>nde Kleinhirnblutung mit Verschluss-Hydrozephalus<br />
■ Ventrikeleinbruch mit Hydrozephalus
a b c<br />
Abb. 1: CCT bei akuter Hemiparese,<br />
a: intrazerebrale Blutung, b: subakutes Subduralhämatom, c: akute zerebrale Ischämie (im CT noch nicht erkennbar)<br />
4. Sind Blutdruck, Blutzucker o<strong>der</strong><br />
Elektrolyte entgleist o<strong>der</strong> ist gleichzeitig<br />
ein Herzinfarkt aufgetreten?<br />
Internistische Basisdiagnostik<br />
■ Klinische Untersuchung<br />
■ EKG (Vorhofflimmern? Kardiale Ischämie?)<br />
■ Labor: Blutbild, Gerinnung, BZ, Elektrolyte,<br />
Nierenwerte, CRP, CK<br />
■ Im Einzelfall: Thorax-Röntgen<br />
5. Welche Maßnahmen sind notwendig<br />
zur Sekundärprävention?<br />
Die Sekundärprävention eines Schlaganfalls<br />
ist bei geringer und vorübergehen<strong>der</strong><br />
Symptomatik (TIA) beson<strong>der</strong>s wichtig,<br />
deshalb sollte die erfor<strong>der</strong>liche Diagnostik<br />
sofort erfolgen bzw. beginnen. [2]<br />
Blutung (Abb. 2): Zu unterscheiden sind<br />
primäre (hypertensive) Blutungen und<br />
sekundäre Hämorrhagien, zum Beispiel<br />
bei Angiom, Vaskulitis, Tumor o<strong>der</strong> Sinus -<br />
thrombose, denn hier sind unterschiedliche<br />
Therapiemaßnahmen erfor<strong>der</strong>lich. Verdächtig<br />
auf eine symptomatische Form<br />
sind atypisch lokalisierte Blutungen (nicht<br />
im Bereich von Stammganglien, Thalamus<br />
o<strong>der</strong> Pons), insbeson<strong>der</strong>e bei Patienten mit<br />
a<br />
Normotonie. Bei diesem Blutungstyp ist<br />
die ätiologische Klärung mit zerebraler<br />
Bildgebung und Gefäßdiagnostik erfor<strong>der</strong>lich<br />
(Gefäß-Ultraschall und MRA, evtl.<br />
DSA).<br />
Ischämie: Für eine effiziente Sekundärprävention<br />
sollte die Pathogenese bekannt<br />
sein (Mikroangiopathie, hämodynamisch<br />
bedingte Ischämie o<strong>der</strong> Embolie). Die Dif-<br />
Neurologie<br />
Abb.2: intrazerebrale Blutung, a: primäre Blutung bei art. Hypertonie, Lokalisation in den Stammganglien (hier mit<br />
Ventrikeleinbruch), b: sekundäre Blutung in atypischer Lokalisation bei duraler AV-Fistel<br />
b<br />
ferenzierung erfolgt nach <strong>der</strong> Infarktlokalisation<br />
im Diffusions-MRT beziehungsweise<br />
postakut im CCT (Abb. 3) sowie nach klinischen<br />
und sonografischen Kriterien.<br />
Hämodynamisch bedingte Ischämien erfor -<br />
<strong>der</strong>n Blutdruckstabilisierung und sofortige<br />
Ultraschall-Gefäßdiagnostik mit <strong>der</strong> möglichen<br />
Konsequenz einer (bei kleinem<br />
Schlaganfall frühzeitigen) Gefäßinterven-<br />
701
Medtropole | Ausgabe 18 | Juli 2009<br />
Kriterien <strong>für</strong> die Erkennung <strong>der</strong> Ischämie-Pathogenese<br />
tion. Bei Hirnarterienembolie stellt sich die<br />
Frage nach einer fortbestehenden arteriellen<br />
o<strong>der</strong> kardialen Emboliequelle (notwendig<br />
sind EKG-Monitoring sowie Herz- und<br />
Gefäß-Ultraschall). Beson<strong>der</strong>e Pathologien<br />
wie Dissektion, Vaskulitis o<strong>der</strong> Sinusvenenthrombose<br />
sollten nicht übersehen werden,<br />
da sich spezifische Therapiemöglichkeiten<br />
ergeben. [4] Wichtig ist die Erkennung<br />
einer mehrzeitigen Symptomatik, die Hinweis<br />
auf einen beson<strong>der</strong>s ungünstigen<br />
Spontanverlauf sein kann (z. B. Basilaristhrombose).<br />
Die Ergebnisse <strong>der</strong> Notfalldiagnostik führen<br />
unmittelbar zu therapeutischen Entscheidungen.<br />
Sofort nach Blutungs<strong>aus</strong>schluss<br />
werden Thrombozytenaggregationshemmer<br />
eingesetzt, sofern keine Indikation zu<br />
Thrombolyse o<strong>der</strong> Antikoagulation besteht.<br />
Die frühe Marcumarisierung und Über -<br />
brückung mit Heparin im Hemmbereich<br />
erfolgt bei Dissektion und Ischämie durch<br />
Vorhofflimmern ohne (größeren) Infarkt.<br />
Symptomatische Karotisstenosen sollten<br />
frühzeitig operiert o<strong>der</strong> endovaskulär<br />
behandelt werden. Bei symptomatischen<br />
Stenosen intrakranieller Gefäße ist das<br />
Risiko einer Intervention höher. Die Indikation<br />
muss <strong>für</strong> jeden Einzelfall sorgfältig<br />
702<br />
Mikroangiopathie Embolie, kardiogen o<strong>der</strong> arterioarteriell Low flow-Ischämie (hämodynamisch)<br />
Hirninfarktmuster in MRT/CT (Abb. 3) lakunär (meist unter Balkenniveau, nie kortikal) territorial (Kortex oft einbezogen)<br />
Klinisches Syndrom lakunäres Syndrom (z. B. „pure motor stroke“)<br />
Gefäß-Ultraschall dilatative Arteriopathie o<strong>der</strong> unauffällig<br />
geprüft werden, ist bei progredienter <strong>Klinik</strong><br />
insbeson<strong>der</strong>e an <strong>der</strong> A. basilaris aber<br />
sicherlich gegeben. [5]<br />
In <strong>der</strong> postakuten Phase des Schlaganfalls<br />
sind zahlreiche weitere Maßnahmen zur<br />
Sekundärprävention von Bedeutung, insbeson<strong>der</strong>e<br />
die Ausschaltung o<strong>der</strong> Behandlung<br />
vaskulärer Risikofaktoren.<br />
Therapie vor <strong>Klinik</strong>aufnahme<br />
kortikale Symptome<br />
(Aphasie, Apraxie, Alexie, Neglect, ...)<br />
Nachweis Emboliequelle<br />
(bei arterioarterieller Embolie)<br />
Abgesehen von symptomatischen Maßnahmen<br />
(wie Blutdruckeinstellung) ist keine<br />
sinnvolle Therapie möglich, solange die<br />
oben genannten Fragen nicht geklärt sind.<br />
Der Einsatz von Thrombozytenaggregationshemmern<br />
sollte erst nach Ausschluss<br />
einer Blutung erfolgen. Die Gabe von<br />
Heparin kann das Risiko einer Thrombolyse<br />
erhöhen. Der Schlaganfall lässt sich erst<br />
in <strong>der</strong> <strong>Klinik</strong> wirksam behandeln, deshalb<br />
soll die Einweisung schnellstmöglich erfolgen!<br />
Endstrominfarkt<br />
(parietal, oberhalb Balkenniveau)<br />
fluktuierende gleichartige Symptomatik<br />
sehr hochgradige Stenose<br />
und unzureichende Kollateralversorgung<br />
Warnsymptome („red flags“) bei Schlaganfall<br />
■ Bewusstseinsstörung:<br />
Hirndruck?<br />
Raumfor<strong>der</strong>nde Blutung?<br />
Basilaristhrombose?<br />
■ Kopfschmerz:<br />
Intrakranielle Blutung?<br />
Dissektion?<br />
Riesenzellarteriitis?<br />
Sinusvenenthrombose?<br />
Enzephalitis?<br />
■ Drehschwindel – akut einsetzend und anhaltend:<br />
Kleinhirninfarkt?<br />
■ Akute Verwirrtheit:<br />
Posteriorinfarkt?<br />
Enzephalitis?<br />
■ Mehrzeitige Symptomatik (z. B. „crescendo-TIA“):<br />
Emboliequelle?<br />
Hämodynamisches Problem (Makroangiopathie)?<br />
Basilaristhrombose?<br />
■ Laufende Antikoagulation:<br />
Blutung?<br />
■ Schädeltrauma in <strong>der</strong> jüngeren Vorgeschichte:<br />
Subduralhämatom?
a b c<br />
Abb. 3: Infarktmuster im MRT (CT) und Pathogenese des ischämischen Schlaganfalls (modifiziert nach Ringelstein et al. [3] ),<br />
a: lakunäre Infarkte bei Mikroangiopathie: Kleine Läsionen in Stammganglien, Pons o<strong>der</strong> Marklager (meist unterhalb des Balkennive<strong>aus</strong>), niemals im Kortex<br />
b: Endstrominfarkte bei offenem Hirngefäß, aber erheblichem Druckabfall durch vorgeschaltete Gefäßstenose und unzureichende Kollateralversorgung;<br />
Lokalisation oberhalb des Balkennive<strong>aus</strong><br />
c: Territorialinfarkte durch (meist) embolischen Verschluss <strong>der</strong> Hirnbasisarterien o<strong>der</strong> ihrer Äste; typisch ist eine Beteiligung des Kortex;<br />
die Größe des Infarkts hängt ab von <strong>der</strong> Lokalisation des Gefäßverschlusses (Hauptstamm, Arterienast)<br />
Literatur<br />
[1] Rosenkranz M, Arning C, Müller-Jensen A, Zeumer H,<br />
Gerloff C. Evidenzbasierte Akuttherapie des ischämischen<br />
Schlaganfalls – Jede Minute zählt! Hamburger <strong>Ärzte</strong>blatt.<br />
2007; 61: 454-6.<br />
2009 aktualisiert: www.hamburger-ag-schlaganfall.de<br />
[2] Rothwell PM, Giles MF, Chandratheva A et al. Effect of<br />
urgent treatment of transient ischaemic attack and minor<br />
stroke on early recurrent stroke (EXPRESS study): a prospective<br />
population-based sequential comparison. Lancet<br />
2007; 370: 1432-42.<br />
[3] Ringelstein EB, Zeumer H, Schnei<strong>der</strong> R. Fortschr Neurol<br />
Psychiatr 1985; 53: 315-36.<br />
[4] Arning C, Rieper J, Kazarians H. Nicht arteriosklerotische<br />
Erkrankungen <strong>der</strong> Halsarterien. Ultraschall Med 2008;<br />
29: 576-93.<br />
[5] Eckert B, Koch C, Thomalla G et al. Aggressive therapy<br />
with intravenous abciximab and intra-arterial rtPA and<br />
additional PTA/stenting improves clinical outcome in acute<br />
vertebrobasilar occlusion: combined local fibrinolysis and<br />
intravenous abciximab in acute vertebrobasilar stroke treatment<br />
(FAST): results of a multicenter study. Stroke. 2005;<br />
36: 1160-5.<br />
Kontakt<br />
Prof. Dr. Christian Arning<br />
Abteilung Neurologie<br />
<strong>Asklepios</strong> <strong>Klinik</strong> Wandsbek<br />
Alphonsstr. 14, 22043 Hamburg<br />
Tel. (0 40) 18 18-83 14 13<br />
Fax (0 40) 18 18-83 16 31<br />
E-Mail: c.arning@asklepios.com<br />
Neurologie<br />
703
ISSN 1863-8341<br />
Hilfe <strong>für</strong> Schwerkranke –<br />
die Geschichte <strong>der</strong> Intensivmedizin<br />
Jens O. Bonnet<br />
Sie wurde als „Lady mit <strong>der</strong> Lampe“<br />
bekannt, die 1854 beim Schein ihrer Petroleumlampe<br />
unermüdlich die verletzten britischen<br />
Soldaten des Krimkrieges betreute:<br />
Florence Nightingale. Als sie die Schwerstverletzten<br />
in einem Areal zusammenlegen<br />
ließ, um sie in <strong>der</strong> kritischen Phase besser<br />
überwachen zu können, setzte die britische<br />
Krankenschwester einen <strong>der</strong> ersten Meilensteine<br />
zur Entwicklung <strong>der</strong> Intensivmedi-<br />
zin. [1]<br />
Dass Schwer- und Todkranke überhaupt<br />
medizinisch versorgt werden sollten, hatte<br />
erst im Zuge <strong>der</strong> Aufklärung Eingang in<br />
die ärztliche Ethik gefunden. Von <strong>der</strong> Antike<br />
bis ins 18. Jahrhun<strong>der</strong>t lehnten die meisten<br />
<strong>Ärzte</strong> die Behandlung schwer und<br />
unheilbar Erkrankter ab, damit ihnen <strong>der</strong><br />
Tod des Patienten nicht angelastet wurde.<br />
So lautete die Empfehlung des Hippokrates<br />
im ergänzenden Corpus Hippokraticum:<br />
„Aber er wage sich nicht an die heran,<br />
die schon von <strong>der</strong> Krankheit gezeichnet<br />
sind.“ [2] Im Mittelalter kümmerten sich<br />
christliche Einrichtungen mehr um die<br />
Schwer- und Todkranken, allerdings dienten<br />
die Wachen im Krankensaal kaum <strong>der</strong><br />
medizinischen Versorgung: Sie stellten<br />
vielmehr sicher, dass rechtzeitig <strong>der</strong> Priester<br />
<strong>für</strong> die Erteilung <strong>der</strong> Sterbesakramente<br />
geholt wurde. [3] Mit Einführung <strong>der</strong> Anästhesie<br />
im Operationssaal geriet auch die<br />
postoperative Überwachung in den Fokus,<br />
blieb aber zunächst Aufgabe <strong>der</strong> Krankenschwestern.<br />
Anfang <strong>der</strong> 1930er-Jahre richteten<br />
Martin Kirschner in Tübingen und<br />
Ferdinand Sauerbruch an <strong>der</strong> Charité so -<br />
genannte Wachstationen zur zentralisierten<br />
Überwachung Frischoperierter ein. Die<br />
Geschichte <strong>der</strong> internistischen Intensivmedizin<br />
begann mit den großen Polioepidemien<br />
<strong>der</strong> 1940er-Jahre, unter an<strong>der</strong>em im<br />
Allgemeinen Krankenh<strong>aus</strong> Hamburg-Altona:<br />
Zur Behandlung <strong>der</strong> Atemlähmung<br />
waren viele Poliomyelitispatienten auf eine<br />
www.medtropole.de<br />
Poliopatienten im AK Altona<br />
künstliche Dauerbeatmung in <strong>der</strong> Eisernen<br />
Lunge angewiesen. [4] 1947 ließ Axel Dönhardt<br />
im Auftrag seines Chefs Reinhard<br />
Aschenbrenner die erste Eiserne Lunge<br />
Deutschlands auf <strong>der</strong> Deutschen Werft<br />
Hamburg-Finkenwer<strong>der</strong> bauen. Ihr „Bauplan“<br />
war ein Foto des 1928 in Boston entwickelten<br />
Drinker-Respirators. [5] In diesem<br />
Sommer griff die Polioepidemie auf die<br />
Hansestadt über, 450 Hamburgerinnen und<br />
Hamburger erkrankten. Das AK Hamburg-<br />
Altona wurde zum Zentralkrankenh<strong>aus</strong> <strong>für</strong><br />
alle jugendlichen und erwachsenen Patienten<br />
bestimmt. Das bedeutete, dass die Hälfte<br />
des durch Bomben schwer beschädigten<br />
<strong>Klinik</strong>ums allein <strong>für</strong> diese Patienten reserviert<br />
wurde (Foto). Unter den 229 aufgenommenen<br />
Poliopatienten litten 31 an<br />
schwerer Atemlähmung. Dönhardt gelang<br />
es mit den Werftingenieuren und -arbeitern,<br />
innerhalb von drei Tagen eine funktions -<br />
fähige Eiserne Lunge <strong>aus</strong> einem Torpedorohr,<br />
dem Blasebalg einer Feldschmiede,<br />
dem Getriebe eines Fischkutters und einem<br />
alten Elektromotor zu bauen. Mit diesem<br />
Gerät und seinen verbesserten Nachfolgern<br />
gelang es, die Letalität <strong>der</strong> Atemlähmung<br />
bis 1955 auf rund 50 Prozent zu senken.<br />
Auch bei den Instrumenten zur Überwachung<br />
mussten die Altonaer improvisieren:<br />
Für die Blutgasanalyse bauten sie 1948 <strong>aus</strong><br />
selbstgeblasenen Glaskolben, die vom<br />
Motor eines <strong>aus</strong>gedienten Plattenspielers<br />
geschüttelt wurden, eine Analyseeinheit<br />
und <strong>aus</strong> <strong>der</strong> Bildröhre eines Nachtsichtgerätes<br />
entstand 1949 <strong>der</strong> erste Monitor. [6]<br />
Neben <strong>der</strong> Beatmung von Poliopatienten<br />
wurden die Beatmungseinheiten, zunächst<br />
in Skandinavien, zunehmend auch <strong>für</strong> die<br />
Behandlung schwerer Vergiftungen<br />
genutzt. [7] Dass sich auch die Letalität des<br />
akuten Herzinfarktes durch intensive<br />
Überwachung senken ließ, zeigten die<br />
ersten Coronary Care Units, die 1962 in<br />
Kansas City und Toronto eingerichtet wurden.<br />
[8,9] Viele weitere technische, bauliche<br />
und medizinische Meilensteine führten<br />
schließlich zur mo<strong>der</strong>nen Intensivmedizin<br />
mit all ihren Facetten und Möglichkeiten.<br />
Literatur<br />
[1] Nightingale F. Notes on hospitals, edn 3. London:<br />
Longman&Green 1863: p89.<br />
[2] Geroulanos S. Grenzen <strong>der</strong> Medizin. In: Swiss Med 5.<br />
1983: 25-33.<br />
[3] Lawin P. Praxis <strong>der</strong> Intensivbehandlung. 6. Aufl. Stuttgart,<br />
New York 1993.<br />
[4] Aschenbrenner R, Dönhardt A, Foth K. Künstliche<br />
Dauerbeatmung in <strong>der</strong> Eisernen Lunge. MMW 1953; 95:<br />
748-51, 777-80.<br />
[5] medtropole 12: 512.<br />
[6] Dönhardt A. Beatmung in <strong>der</strong> Eisernen Lunge. In:<br />
Lawin P, Peter K, Scherer R (Hrsg.). Maschinelle Beatmung<br />
gestern – heute – morgen. Stuttgart, New York. Thieme<br />
1984: 20.<br />
[7] Clemmesen C, Nilsson E. Therapeutic trends in the<br />
treatment of barbiturate poisoning. The Scandinavian<br />
method. Clin Pharmacol Ther. 1961; 2: 220-9.<br />
[8] Brown KW, MacMillan RL, Forbath N, Melgrano F,<br />
Scott JW. Coronary unit: an intensive-care centre for acute<br />
myocardial infarction. Lancet. 1963 Aug 17; 2(7303): 349-52.<br />
[9] Day HW. History of coronary care units. Am J Cardiol.<br />
1972; 30(4): 405-7.