Juni - Experimenta.de

Lyrische Archäologie
Die Suche nach Spuren der Lyrik aus der heutigen Zeit gleicht einer lyrischen
Archäologie im 21. Jahrhundert. Bildlich übertragen heißt das, wir müssen
zunächst viel Schutt und Geröllmassen abtragen, um einen Geschmack davon
zu bekommen, wie sich Lyrik aktuell darstellt und wie wir sie auch als solche
erfahren können. Lyrik im Heute ist immer auch die Lyrik des 20. Jahrhunderts:
Da sich in den wenigen Jahren nach dem Jahrtausendwechsel keine bedeutenden
Veränderungen am Lyrikhimmel abgezeichnet haben, konzentrieren wir
uns zunächst auf einige Akzente, die im Laufe der vergangenen 80 Jahre
gesetzt wurden. Dabei beschränken sich diese Ausführungen nicht nur auf die
deutsche Gegenwartsdichtung, sondern es wird auch ein Bogen zu anderen
Kontinenten und Nationen gespannt; denn auf der internationalen Ebene,
besonders zu den angloamerikanischen Ländern, gibt es Korrespondenzen,
die deutsche Gegenwartslyrik positiv beeinflusst haben.
Die Spurensuche scheint zunächst schwierig, denn die moderne Lyrik hat
keine einheitliche literaturwissenschaftliche Bezeichnung. Bei der bildenden
Kunst kennen wir die Kategorien: moderne Kunst, zeitgenössische Kunst usw.
Im Musikalischen gibt es ebenfalls terminologische Unterscheidungen, die
einen Hinweis auf die Epoche und die Musikrichtung eines Stückes geben. In
der Lyrik gibt es, zumindest im 20. Jahrhundert, keine klare Definition. Allenfalls
wird in der Literaturwissenschaft über eine Vor- und Nachkriegsdichtung
gesprochen. Wobei sich diese Zeitrechnung auf den Zweiten Weltkrieg bezieht,
die in der Literaturwissenschaft als Modernismus eingegangen ist. In den
sechziger Jahren sprach man vom Postmodernismus, wenig später von der
Randgruppenliteratur und jetzt befinden wir uns in der Postkolonialen Literatur
(Klarer 1999: 95). Dass es bereits vor und nach dem Ersten Weltkrieg fundamentale
Entwicklungen in der Dichtkunst gegeben hat, beweist die Dada-
Bewegung, die sich nicht nur der bildenden Kunst als Ausdrucksmittel bediente,
sondern auch mit lyrischen Kreationen den Zeitgeist süffisant begleitete.
Melodie der Zeilen
Einer, der sowohl in der Lyrik, als auch in der bildenden Kunst seine Spuren
hinterlassen hat, ist Kurt Schwitters. Er hat mit seinen Gedichten neue Sprachräume
geöffnet, die so vorher nicht begehbar waren. Kurt Schwitters war
Dada-Künstler - und Dada ist Programm.
eXperimenta 06/2008: Die Welt des Kreativen Schreibens Seite 16