Die Fantasie der Lippen - Experimenta.de
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Maya Rin<strong><strong>de</strong>r</strong>er<br />
Romanauszug „Ester“<br />
Kapitel 4<br />
<strong>Die</strong> nächsten Tage blieben unverän<strong><strong>de</strong>r</strong>t, bis auf <strong>de</strong>n Hunger,<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> allmählich unerträglich wur<strong>de</strong>. Schließlich sah sich Rivka<br />
gezwungen, die von ihr versteckten Vorräte für <strong>de</strong>n Ernstfall<br />
hervorzuholen. Dafür, dass sie das nicht früher getan hatte,<br />
erntete sie die Empörung <strong><strong>de</strong>r</strong> Kin<strong><strong>de</strong>r</strong>, doch sie meinte, nun hätten<br />
sie wenigstens länger etwas, als wenn sie bereits vor Tagen<br />
damit begonnen hätten, die Notration aufzuessen. Esther war<br />
ganz ihrer Meinung und entschied, dass es nur eine Mahlzeit am<br />
Tag geben sollte. Mit heißem Wasser aufgeweicht schmeckte<br />
das Brot fast gut. Esther nahm einen <strong><strong>de</strong>r</strong> harten Laibe und legte<br />
ihn in ihre bereits halb gepackte Tasche, einen zweiten gab sie<br />
ihrer Mutter, die ihn in ihren Koffer legte. Sie wur<strong>de</strong> von ihrer<br />
Tochter nicht gefragt, warum sie packten. Sie packten langsam,<br />
damit es ihnen erschien, als hätten sie viel mitzunehmen. Als<br />
gäbe es etwas, das sie an ihrem jetzigen Aufenthaltsort hielt.<br />
Sie wür<strong>de</strong>n nicht zurück in ihr Haus gehen, obwohl Rivka das<br />
immer wie<strong><strong>de</strong>r</strong> sagte. Es kam noch ein weiterer Brief. Rivka<br />
wur<strong>de</strong> immer unruhiger.<br />
»Sie bringen uns an einen schlechten Ort«, sagte Esther. »Warum<br />
fliehen wir nicht einfach?« <strong>Die</strong> Aussicht auf eine Flucht erschien<br />
ihr sehr verlockend, aber ihre Mutter war nicht son<strong><strong>de</strong>r</strong>lich davon<br />
begeistert.<br />
»Das bringt nichts«, pflegte sie zu sagen. »Wir gehen in unser<br />
Haus zurück. – Nein, wir lassen uns nicht umsie<strong>de</strong>ln. Sei still,<br />
Esther!«<br />
Manche <strong><strong>de</strong>r</strong> Nachbarn packten auch ihre Koffer und gingen.<br />
Sie hatten keine Angst. Sie hatten keine Be<strong>de</strong>nken. Sie sahen<br />
keinen Grund, <strong>de</strong>n Befehl zu verweigern. Sie gingen und kamen<br />
nicht wie<strong><strong>de</strong>r</strong>.<br />
Esther saß auf ihrem Bett und legte ihre wertvollsten Besitztümer<br />
in die Tasche: das Tagebuch <strong><strong>de</strong>r</strong> Großmutter, die Fotos. Sie<br />
legte auch noch drei Decken dazu, weshalb sie die Tasche<br />
kaum zubekam, aber irgen<strong>de</strong>twas sagte ihr, dass die Decken<br />
mitten im Winter nicht falsch sein konnten.<br />
Rachels Blick ruhte auf einem Punkt in weiter Entfernung. Sie<br />
war ruhig und ausnahmsweise schrie sie nicht; es schien ihr an<br />
nichts zu fehlen, sie war nicht unglücklich, sie verstand nichts.<br />
Und das war besser für sie. Ihre großen blauen Augen waren<br />
nun beinahe zugefallen. Für Rivka war es faszinierend, ein<br />
Joachim Ringelnatz<br />
ICH HABE DICH SO LIEB<br />
Ich habe dich so lieb!<br />
Ich wür<strong>de</strong> dir ohne Be<strong>de</strong>nken<br />
Eine Kachel aus meinem Ofen<br />
Schenken.<br />
Ich habe dir nichts getan.<br />
Nun ist mir traurig zu Mut.<br />
An <strong>de</strong>n Hängen <strong><strong>de</strong>r</strong> Eisenbahn<br />
Leuchtet <strong><strong>de</strong>r</strong> Ginster so gut.<br />
Vorbei - verjährt -<br />
Doch nimmer vergessen.<br />
Ich reise.<br />
Alles, was lange währt,<br />
Ist leise.<br />
<strong>Die</strong> Zeit entstellt<br />
Alle Lebewesen.<br />
Ein Hund bellt.<br />
Er kann nicht lesen.<br />
Er kann nicht schreiben.<br />
Wir können nicht bleiben.<br />
Ich lache.<br />
<strong>Die</strong> Löcher sind die Hauptsache<br />
An einem Sieb.<br />
Ich habe dich so lieb.<br />
Juli/August 2012 5<br />
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