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Die Fantasie der Lippen - Experimenta.de

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kam in ihr hoch, aber sie unterdrückte ihn. Sie musste sich eine<br />

an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Taktik überlegen, obwohl ihr Herz nun verräterisch klopfte<br />

und sie sich öfter umsah. Sie konnte nicht rennen. Noch nicht<br />

jetzt. Esthers Blick fiel auf ihre Mutter, die einige Schritte vor ihr<br />

ging. Sie empfand keinerlei Wärme o<strong><strong>de</strong>r</strong> Mitgefühl ihr gegenüber.<br />

Nicht einmal die natürliche Liebe eines Kin<strong>de</strong>s zu seiner Mutter,<br />

wie sie verblüfft feststellte. Sie hasste sie einfach und wollte ihr<br />

weh tun, wollte sich rächen, wollte ihr heimzahlen, dass sie von ihr<br />

hintergangen wor<strong>de</strong>n war.<br />

<strong>Die</strong> Menschen stan<strong>de</strong>n dicht gedrängt am Bahnsteig. Esther hatte<br />

ihren Koffer abgestellt, die Umhängetasche, die ihre wichtigsten<br />

Besitztümer und ein wenig Essen enthielt, behielt sie bei sich.<br />

Rachel hatte die Augen geschlossen und hielt sich am Kragen<br />

von Esthers Mantel fest. Während sie einschlief, entglitt er ihren<br />

kleinen Fingern und Esther zog sie näher zu sich heran. Wenn sie<br />

ihre Schwester so fest umklammert hielt, schlug ihr Herzschlag<br />

ruhiger.<br />

»Ich will nicht –«, flüsterte sie eindringlich ihrer Mutter zu, die sie<br />

allerdings mit einem Zischen unterbrach. »Mama, das ist nicht gut«,<br />

begann Esther von neuem und senkte ihre Stimme noch mehr,<br />

doch die Eindringlichkeit legte sie nicht ab.<br />

»Sei still!« Rivka griff nach Mirjams Hand und machte einige<br />

Schritte nach vorne. »Nimm <strong>de</strong>n Koffer, Esther. Du hast jetzt<br />

mitzukommen.«<br />

Esther schwieg. Sie rührte sich nicht. Ihr Blick wan<strong><strong>de</strong>r</strong>te langsam<br />

über das Gesicht ihrer Mutter. Wie konnte Schönheit nur in so<br />

kurzer Zeit zerstört wer<strong>de</strong>n? <strong>Die</strong> tiefliegen<strong>de</strong>n Augen waren von<br />

Falten umrahmt und die Wangenknochen traten <strong>de</strong>utlich unter <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

farblosen Haut hervor.<br />

»Wir haben keine an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Wahl«, flüsterte Rivka und presste ihre<br />

<strong>Lippen</strong> zusammen. »Es wird alles gut, Esthie. Sie bringen uns an<br />

einen besseren Ort.«<br />

Esther erschau<strong><strong>de</strong>r</strong>te beim Klang <strong>de</strong>s Flehens in <strong>de</strong>n Worten ihrer<br />

Mutter. »Ich will nach Hause«, sagte sie bestimmt. »Ganz nach<br />

Hause. In unser Haus. Ich will in mein eigenes Bett, liegen und<br />

schlafen.«<br />

»Ich will auch nach Hause«, sagte Mirjam <strong>de</strong>utlich und um einiges<br />

lauter als Esther.<br />

Rivka drückte sanft ihre Hand. »Wir gehen jetzt nach Hause.<br />

Irgendwie.«<br />

»Das ist eine Lüge!«, zischte Esther durch ihre zusammengebissenen<br />

Zähne. Rivka überhörte es.<br />

»Wir fahren mit <strong>de</strong>m Zug?« fragte Mirjam begeistert und versuchte,<br />

einen Blick auf die Züge zu erhaschen. Auch ihr gab Rivka keine<br />

Antwort.<br />

»Du weißt genauso gut wie ich, dass sie uns nicht an einen besseren<br />

Juli/August 2012 9<br />

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