Minnesang und Hip Hop. Ein Vergleich zweier lyrischer ... - Start
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hermeneutische Probleme aufwirft <strong>und</strong> das diese Gattung so offen<br />
für gegensätzliche Interpretationen erscheinen lässt. In Reinmars<br />
Strophe MF 171, 18 heißt es:<br />
„volende ich eine senede nôt, si getuot mir niemer, mac ichz behüeten,<br />
wol noch wê.“<br />
Mit „si“ ist wahrscheinlich nicht, wie aus grammatischer Sicht zu<br />
vermuten wäre, die Not gemeint, sondern die Dame, die den<br />
Sprecher nicht mehr verletzen kann, wenn er das volle Maß seiner<br />
Liebesfähigkeit erreicht hat 11 . Auffällig ist in diesem<br />
Zusammenhang die Neigung sowohl des <strong>Minnesang</strong>s als auch des<br />
<strong>Hip</strong> <strong>Hop</strong> zu Personalpronomina an Stelle von definierten<br />
Substantiven – „sî“ 12 auf Mittelhochdeutsch, „they“ oder „them“<br />
auf Englisch –, die einer deiktischen oder zumindest referenziellen<br />
Konkretisierung bedürfen <strong>und</strong> somit einen oralen Reflex bilden.<br />
Offen lassen muss ich hier, ob <strong>und</strong> inwieweit <strong>Minnesang</strong><br />
signifikant mehr ‘oral residues’ aufweist als andere<br />
mittelalterliche Textsorten, die zumindest in den Volkssprachen<br />
zum überwiegenden Teil oralen Ursprungs sind. Für <strong>Hip</strong> <strong>Hop</strong><br />
dagegen lässt sich im <strong>Vergleich</strong> mit verschriftlichen Lyrikformen<br />
ein sehr viel höheres Maß an Oralität zweifelsfrei feststellen, eben<br />
wegen der historischen Dichotomie von Oralität <strong>und</strong> Literarizität.<br />
Daher besagt meine Schlussfolgerung aus dieser ersten These<br />
zunächst nur, dass die zeitgenössische Gattung <strong>Hip</strong> <strong>Hop</strong><br />
offensichtlich verloren geglaubte sprachpragmatische<br />
11 Als Beispiel für den Subjektwechsel in <strong>Hip</strong>-<strong>Hop</strong>-Texten – hier zwischen erster <strong>und</strong> zweiter<br />
Person – verweise ich auf das unter Punkt 9 (Konkurrenz) angebene Zitat von Tha Dogg Po<strong>und</strong>: „u<br />
can’t even think about, steppin’ in your motherfucking ass’ (Tha Dogg Po<strong>und</strong>, ‘What would u do’,<br />
1994).<br />
12 Da dieses Phänomen nahezu in allen Minneliedern <strong>und</strong> <strong>Hip</strong>-<strong>Hop</strong>-Stücken vorkommt, greife ich<br />
als Beispiele wahllos zwei heraus: „Swîge ich <strong>und</strong>e singe niet, sô sprechent sî, daz mir mîn singen<br />
zaeme baz“ (Heinrich von Morungen, MF 128, 5) beziehungsweise „If they can’t <strong>und</strong>erstand it how<br />
can they reach me? I guess they can’t, I guess they won’t.“ (Coolio, ‘Gangsta’s paradise’, 1995)<br />
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