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Konferenz „<strong>Familie</strong>n- <strong>und</strong> kinderfre<strong>und</strong>liches Brandenburg“<br />

am 25.10.2005, Altes Rathaus in Potsdam<br />

Veranstalter:<br />

<strong>Ministerium</strong> <strong>für</strong> <strong>Arbeit</strong>, <strong>Soziales</strong>, Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> <strong>Familie</strong> <strong>und</strong> <strong>Ministerium</strong> <strong>für</strong> Bildung,<br />

Jugend <strong>und</strong> Sport des Landes Brandenburg<br />

Dokumentation:<br />

Camino gGmbH<br />

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um die Wiedergabe der aufgezeichneten<br />

Beiträge. Es gilt das gesprochene Wort. Längere Auslassungen wurden entsprechend<br />

gekennzeichnet. Der Text wurde sprachlich leicht überarbeitet, um die Lesbarkeit zu<br />

erhöhen.<br />

Inhaltsverzeichnis:<br />

1. Begrüßung<br />

Judith Grümmer<br />

2. „Die Brandenburger Entscheidung – <strong>Familie</strong>n <strong>und</strong> Kinder haben Vorrang!“<br />

Ministerpräsident Matthias Platzeck<br />

3. „Zukunft mit Kindern – Ein Politikwechsel hat begonnen: <strong>Familie</strong>npolitik ist<br />

Zukunftspolitik“<br />

Staatssekretär Peter Ruhenstroth-Bauer<br />

4. „Innovative Projekte zur <strong>Familie</strong>npolitik“<br />

Talkr<strong>und</strong>e mit Heidrun Wetzk, Michaela Hänsel <strong>und</strong> Uwe Rühling<br />

5. „<strong>Familie</strong>npolitik in Brandenburg“<br />

Talkr<strong>und</strong>e mit Ministerin Dagmar Ziegler, Staatssekretär Martin Gorholt <strong>und</strong> Prof. Dr. Hans<br />

Bertram<br />

6. „Kriminalprävention <strong>und</strong> <strong>Familie</strong>npolitik“<br />

Justizministerin Beate Blechinger<br />

7. Präsentation der Ergebnisse aus den vier Foren <strong>und</strong> Ausblick


Gespräch mit den Moderator/innen der Fachforen, Ministerin Dagmar Ziegler <strong>und</strong><br />

Staatssekretär Martin Gorholt<br />

1. Begrüßung<br />

Moderatorin Judith Grümmer<br />

Ich freue mich, Sie zu dieser Konferenz „<strong>Familie</strong>n- <strong>und</strong> kinderfre<strong>und</strong>liches Brandenburg“<br />

begrüßen zu dürfen. (...) Da ich Sie heute als Moderatorin durch den Tag begleiten darf,<br />

möchte ich mich Ihnen natürlich auch ganz kurz vorstellen. Mein Name ist Judith Grümmer.<br />

Ich bin Hörfunk-Journalistin <strong>und</strong> Moderatorin, unter anderem beim Westdeutschen R<strong>und</strong>funk<br />

<strong>und</strong> beim Deutschlandfunk in Köln. Und ich habe in den vergangenen Jahren von Köln aus<br />

als Journalistin, aber auch als Mutter von drei Kindern immer wieder sehr interessiert <strong>und</strong><br />

aufmerksam nach Brandenburg geschaut <strong>und</strong> darüber auch in den Medien berichtet. Denn<br />

hier tut sich etwas Spannendes: Kinder- <strong>und</strong> <strong>Familie</strong>nfre<strong>und</strong>lichkeit in Ihrem B<strong>und</strong>esland ist<br />

ein Thema, das aktiv angegangen wird <strong>und</strong> wurde, schon als in anderen Gegenden dieses<br />

Landes Deutschlands <strong>Familie</strong>npolitik noch als weiches Thema galt, als „Weiberthema“. (...)<br />

Vom Alltag in der Kindertagesstätte bis zur Unternehmensebene in der Wirtschaft hat es sich<br />

die brandenburgische Regierung zur Aufgabe gemacht, dieses Land zu einem ganz<br />

besonders kinder- <strong>und</strong> familienfre<strong>und</strong>lichen zu entwickeln, <strong>und</strong> im Landtag ist es<br />

beschlossen worden: <strong>Familie</strong>n <strong>und</strong> Kinder haben Vorrang! (...)<br />

Gerade weil ich in punkto <strong>Familie</strong>nfre<strong>und</strong>lichkeit schon immer sehr interessiert nach<br />

Brandenburg geschaut habe, freue ich mich, dass ich diese Tagung nun als Moderatorin<br />

begleiten darf. Ich bin sehr gespannt, welche Maßnahmen <strong>und</strong> Leitlinien <strong>für</strong> ein<br />

familienfre<strong>und</strong>liches, kinderfre<strong>und</strong>liches Brandenburg Sie heute miteinander diskutieren <strong>und</strong><br />

erarbeiten werden, wie Sie <strong>Familie</strong>nfre<strong>und</strong>lichkeit vor Ort in den Regionen bedarfsgerecht<br />

entwickeln <strong>und</strong> gestalten möchten <strong>und</strong> welche Vorschläge Sie in den Landtag mitgeben<br />

möchten, damit <strong>Familie</strong>n in diesem Land Vorrang haben. (...)<br />

Ich freue mich nun, Ministerpräsident Matthias Platzeck ganz herzlich begrüßen zu dürfen.<br />

Willkommen, Herr Ministerpräsident!<br />

Applaus<br />

2. „Die Brandenburger Entscheidung – <strong>Familie</strong>n <strong>und</strong> Kinder haben Vorrang!“<br />

Ministerpräsident Matthias Platzeck<br />

Vielen Dank! Meine verehrten Ministerinnen, meine Herren Staatssekretäre, meine sehr<br />

verehrten Damen <strong>und</strong> Herren, liebe Gäste! Zunächst möchte ich mich sehr herzlich<br />

2


edanken, dass Sie der Einladung gefolgt sind, hierher gekommen sind <strong>und</strong> heute mit uns<br />

hoffentlich einen interessanten, <strong>für</strong> Sie spannenden <strong>und</strong> <strong>für</strong> alle ertragreichen Tag verbringen<br />

werden.<br />

Die Brandenburger Landesregierung ist entschlossen, sie ist fest entschlossen, alles ihr<br />

Mögliche zu tun, um Brandenburg zu einer der kinder- <strong>und</strong> familienfre<strong>und</strong>lichsten Regionen<br />

in Europa zu machen. Das Ziel ist ehrgeizig. Aber es ist eines, das wir nach unserer festen<br />

Überzeugung gemeinsam mit den Menschen unseres Landes unbedingt <strong>und</strong> unbeirrt<br />

verfolgen müssen. Kinder- <strong>und</strong> <strong>Familie</strong>nfre<strong>und</strong>lichkeit ist nicht nur die Voraussetzung da<strong>für</strong>,<br />

dass Brandenburg im 21. Jahrh<strong>und</strong>ert <strong>für</strong> seine Bürgerinnen <strong>und</strong> Bürger ein besonders<br />

lebenswertes Land sein kann. Kinder- <strong>und</strong> <strong>Familie</strong>nfre<strong>und</strong>lichkeit ist auch eine<br />

entscheidende Bedingung <strong>für</strong> den wirtschaftlichen Erfolg unseres Landes in den kommenden<br />

Jahrzehnten. Lebensqualität <strong>und</strong> wirtschaftlicher Erfolg – das eine Ziel ohne oder sogar<br />

gegen das andere werden wir nicht erreichen. Denn die Lebensqualität eines Landes <strong>und</strong><br />

seine wirtschaftliche Dynamik bedingen einander.<br />

Aber weder Lebensqualität noch wirtschaftliche Dynamik werden wir auf Dauer erlangen<br />

oder erhalten können, wenn wir nicht mit aller Kraft <strong>und</strong> viel Beharrlichkeit die Bedingungen<br />

verbessern, unter denen Kinder hier bei uns in Brandenburg geboren werden <strong>und</strong><br />

aufwachsen.<br />

Wenn wir über die Lebensbedingungen von Kindern, wenn wir über die Bedingungen <strong>für</strong><br />

<strong>Familie</strong>n in Brandenburg sprechen, dann sprechen wir in Wirklichkeit über die Zukunft<br />

unseres Landes. In der DDR, manche kennen es noch, gab es ja das schöne Motto: So wie<br />

wir heute arbeiten, werden wir morgen leben. Das war ja nicht völlig falsch. Ich glaube aber,<br />

dass heute angesichts des dramatischen Geburtenrückgangs der vergangenen Jahrzehnte<br />

ein anderes Motto noch mehr Gültigkeit hat. Und dieses Motto könnte lauten: So gut oder so<br />

schlecht wie wir heute <strong>für</strong> die Entwicklung unserer Kinder <strong>und</strong> unserer <strong>Familie</strong>n sorgen, so<br />

gut oder so schlecht wird es morgen unserer Gesellschaft insgesamt ergehen.<br />

Nun wissen wir alle, Monokausalitäten muss man mit Vorsicht genießen. Aber die<br />

Journalistin <strong>und</strong> <strong>Familie</strong>nexpertin Susanne Gaschke hat den Zusammenhang, um den es<br />

eigentlich hierbei geht, sehr nüchtern <strong>und</strong> sehr präzise auf den Punkt gebracht: „Was wir<br />

heute nicht an Zeit, an Geld <strong>und</strong> Liebe in Kinder investieren, das zahlen uns diese<br />

Ungeborenen später nicht als Rente zurück. So einfach ist das.“ Und Susanne Gaschke hat<br />

Recht. So einfach ist es tatsächlich. Und dies in so prägnanten Worten festzuhalten ist aus<br />

meiner Sicht weder kaltherzig noch gefühllos. Denn es ist ja unbestritten, dass Kinder <strong>und</strong><br />

das Leben in der <strong>Familie</strong> hohe Werte an sich bedeuten. Jeder Vater, jede Mutter kennt das<br />

Glück des Lebens mit Kindern. Und dieses Glück kann, wo es hinfällt, so groß <strong>und</strong> auch so<br />

unersetzlich sein, dass es eine zusätzliche gesellschaftspolitische oder gar ökonomische<br />

Begründung <strong>für</strong> das Leben mit Kindern eigentlich gar nicht bräuchte.<br />

3


Doch, meine Damen <strong>und</strong> Herren, die gesellschaftliche Wirklichkeit in Deutschland <strong>und</strong> auch<br />

in Brandenburg hat sich nun einmal in Teilen anders entwickelt. Die Wahrheit ist, wir sind<br />

heute ein ausgesprochen kinderarmes Land. Im nationalen wie im internationalen Vergleich<br />

sind wir eines der kinderärmsten Länder überhaupt. Das ist selbstverständlich die Folge<br />

unzähliger, höchst individueller Entscheidungen von Menschen. Und selbstverständlich<br />

müssen wir diese Entscheidung gegen Kinder, auch gegen <strong>Familie</strong>ngründung in einem<br />

freiheitlichen Land respektieren. Zumal dann, wenn sie aus freiem Entschluss <strong>und</strong> voller<br />

Überzeugung getroffen wird.<br />

Ich glaube aber, wir haben guten Gr<strong>und</strong> anzunehmen, dass genau das längst nicht immer<br />

der Fall ist. Vielmehr sind wir ein Land, in dem viel zu viele tatsächlich existierende<br />

Kinderwünsche junger Menschen am Ende doch unerfüllt bleiben. Viele Menschen<br />

wünschen sich Kinder <strong>und</strong> bleiben dann doch kinderlos. Und deshalb gilt, wer möchte, dass<br />

die Menschen in unserem Lande so leben können wie sie selbst gerne leben wollen, der<br />

muss die Voraussetzung da<strong>für</strong> schaffen <strong>und</strong> verbessern, dass in Brandenburg wieder mehr<br />

<strong>Familie</strong>n gegründet werden <strong>und</strong> mehr Kinderwünsche in Erfüllung gehen. Und genau das,<br />

nicht mehr <strong>und</strong> nicht weniger, hat sich die Brandenburgische Landesregierung<br />

vorgenommen.<br />

Meine Damen <strong>und</strong> Herren, es sollte uns mittlerweile allen klar sein, wenn wir darüber<br />

sprechen, dass wir unser Land zu einer besonders kinder- <strong>und</strong> familienfre<strong>und</strong>lichen Region<br />

machen wollen, dann geht es dabei nicht verkürzt um eine Politik unmittelbar nur <strong>für</strong> Kinder<br />

<strong>und</strong> <strong>Familie</strong>n, verstanden vielleicht als eine gesellschaftliche Interessengruppe, eine Gruppe,<br />

die mit anderen Interessengruppen um knappe öffentliche Mittel wetteifert. Darum geht es<br />

zwar immer auch, keine Frage, denn in der Tat haben Kinder <strong>und</strong> <strong>Familie</strong>n ganz unmittelbare<br />

<strong>und</strong> auch sehr legitime Anliegen.<br />

Doch in Wirklichkeit geht es um mehr. Denn zugleich sind Kinder <strong>und</strong> <strong>Familie</strong>n viel mehr als<br />

eine politische Interessengruppe. Ihr Anliegen besitzt höhere, sogar gesamtgesellschaftliche<br />

Legitimität. Kinder <strong>und</strong> <strong>Familie</strong>n sind in diesem Sinne keine reine Klientelgruppe in<br />

Konkurrenz zu anderen. Vielmehr bilden Kinder <strong>und</strong> <strong>Familie</strong>n die f<strong>und</strong>amentale Gr<strong>und</strong>lage,<br />

die Gr<strong>und</strong>lage der Zukunft sämtlicher Gesellschaftsbereiche zusammen. Menschen altern<br />

<strong>und</strong> Menschen sind sterblich. Daran wird sich auch in Zukunft wohl nichts ändern. Und weil<br />

das so bleibt, wird jede Gesellschaft insgesamt auf – wenn wir es etwas salopp formulieren –<br />

Nachwuchssicherung angewiesen sein. Der renommierte Sozialstaatsforscher Franz-Xaver<br />

Kaufmann hat diesen Zusammenhang in klare Worte gefasst <strong>und</strong> auf den Punkt gebracht:<br />

„Wenn Kinder nicht zur Welt kommen, wenn sie sich ungünstig entwickeln, wenn sie die <strong>für</strong><br />

die gesellschaftliche Teilhabe notwendigen Kompetenzen nicht erwerben, so trifft das den<br />

gesellschaftlichen Zusammenhang als Ganzes.“ Kaufmann hat Recht. Und deshalb müssen<br />

wir jede Politik <strong>für</strong> Kinder <strong>und</strong> <strong>Familie</strong>n tatsächlich in ihrem umfassenden Kontext sehen.<br />

4


Es geht um die Nachwuchssicherung unserer Gesellschaft überhaupt. Diese Politik der<br />

gesellschaftlichen Nachwuchssicherung hat eine quantitative <strong>und</strong> selbstverständlich auch<br />

eine qualitative Dimension. Die quantitative Dimension bedeutet sehr einfach, wir müssen es<br />

anstreben <strong>und</strong> wir müssen es auch erreichen, dass in Brandenburg wieder deutlich mehr<br />

Kinder geboren werden. Wenn wir etwas verharmlosend vom „demografischen Umbruch“<br />

unseres Landes sprechen oder vielleicht realistischer schon von „der demografischen Krise“,<br />

dann geht es im Kern genau um diesen einen zentralen Punkt. Denn nicht das Älterwerden<br />

ist unser eigentliches Problem.<br />

Wenn man sich mal überlegt, dass Jahrh<strong>und</strong>erte lang Mediziner, Sozialwissenschaftler <strong>und</strong><br />

viele andere sich genau darum bemüht haben, dass Menschen möglichst aktiv, möglichst<br />

ges<strong>und</strong> ein höheres Lebensalter erreichen, dann kann man ja heute eigentlich nicht von dem<br />

Problem des Älterwerdens reden, wie wir es schon wieder tun, sondern sollte sich verstärkt<br />

Perspektiven aneignen, wie sie in anderen Gegenden der Welt eingenommen werden, z.B.<br />

in Japan. Die Japaner sprechen bei demselben Phänomen von einem „Land des langen<br />

Lebens“ <strong>und</strong> werben da<strong>für</strong>. Und so sollten wir auch an diesen Punkt herangehen. Denn es ist<br />

eigentlich eine der großartigsten Leistungen unserer gesamten Gesellschaft, dass so viele<br />

Menschen so relativ ges<strong>und</strong> heute älter werden.<br />

Also unser wirkliches Problem ist nicht die vermeintliche Überalterung unseres Landes,<br />

sondern die tatsächliche Unterjüngung unserer Gesellschaft. Dieser Begriff bedeutet, den<br />

vielen, vielen älteren <strong>und</strong> erfreulicherweise immer älter werdenden Menschen in unserem<br />

Land stehen heute zahlenmäßig ganz einfach nicht mehr genügend Jüngere, nicht mehr<br />

genügend Kinder <strong>und</strong> Nachwachsende gegenüber. Mittel <strong>und</strong> Wege zu finden, um dies<br />

wieder zu ändern, ist die wichtigste Aufgabe einer umfassend verstandenen Politik der<br />

Nachwuchssicherung.<br />

Lassen Sie mich, meine Damen <strong>und</strong> Herren, in diesem Zusammenhang der größeren<br />

Klarheit halber eine Bemerkung machen. Wir führen in Brandenburg eine ebenso breite wie<br />

ehrliche Diskussion, eine gesamtgesellschaftliche Diskussion über die demografische<br />

Zukunft unseres Landes. Wie werden wir leben angesichts schrumpfender Städte? Welche<br />

innovativen Lösungen finden wir angesichts rücklaufender Bevölkerungszahlen überhaupt,<br />

wie passen wir uns den aktuellen <strong>und</strong> bevorstehenden demografischen Veränderungen an?<br />

Diese Dimension der Demografiedebatte ist wichtig. Sie dient der Selbstverständigung<br />

unseres Landes über seine Lage, sie dient der Verständigung über die Möglichkeiten. Und<br />

ich glaube, wir haben inzwischen einen sehr vernünftigen Diskussionsstand auch im<br />

Vergleich zu anderen B<strong>und</strong>esländern hier in Brandenburg erreicht.<br />

Aber meine Damen <strong>und</strong> Herren, so wichtig <strong>und</strong> notwendig die Anpassung an veränderte <strong>und</strong><br />

sich weiter verändernde demografische Verhältnisse ist, klar muss uns zugleich immer sein,<br />

einem demografischen Fatalismus, der die laufenden Prozesse der<br />

5


Bevölkerungsentwicklung als ein unabänderliches, nicht beeinflussbares Schicksal begreift,<br />

dem können <strong>und</strong> wollen wir hier in Brandenburg keinen Vorschub leisten. Es stimmt, wir<br />

müssen uns mit der demografischen Wirklichkeit nüchtern auseinander setzen. Aber das<br />

heißt nicht, dass wir diese Wirklichkeit als gr<strong>und</strong>sätzlich unbeeinflussbar hinnehmen <strong>und</strong><br />

einfach nur in die Zukunft hochrechnen wollen. Auch noch so intelligenten Strategien der<br />

Anpassung an den ungünstigen demografischen Wandel entwachsen immer noch keine<br />

attraktiven <strong>und</strong> Mut machenden Zukunftsperspektiven. Und genau das ist der Gr<strong>und</strong>,<br />

weshalb die Entscheidung <strong>für</strong> mehr Kinder- <strong>und</strong> <strong>Familie</strong>nfre<strong>und</strong>lichkeit in Brandenburg umso<br />

wichtiger ist. Und genau diese Frage wollen wir heute mit Ihnen, <strong>und</strong> das soll nur der Beginn<br />

eines Prozesses sein, diskutieren.<br />

Eine umfassende Politik der Nachwuchssicherung setzt zwar einerseits eine intelligente<br />

Anpassung an ungünstiger werdende demografische Rahmenbedingungen voraus, aber<br />

diese Politik muss andererseits zugleich über bloße Anpassungsstrategien hinausgehen <strong>und</strong><br />

darauf abzielen, diese demografischen Rahmenbedingungen selbst in positiver <strong>und</strong><br />

zukunftstauglicher Art <strong>und</strong> Weise zu verändern. Wir wissen sehr wohl, dass das eine<br />

Aufgabe ist, die <strong>Arbeit</strong> <strong>für</strong> Jahre <strong>und</strong> Jahrzehnte enthält.<br />

Meine Damen <strong>und</strong> Herren, das quantitative Ziel einer umfassenden Politik der<br />

Nachwuchssicherung lautet also sehr klar <strong>und</strong> sehr einfach: In unserem Lande sollen wieder<br />

mehr Kinder geboren werden. Da<strong>für</strong> systematisch <strong>und</strong> Schritt <strong>für</strong> Schritt günstigere<br />

Voraussetzungen zu schaffen, das ist daher das erste <strong>und</strong> wichtigste Anliegen<br />

Brandenburger Politik <strong>für</strong> Kinder <strong>und</strong> <strong>Familie</strong>n. Es macht einen Unterschied, schreibt die<br />

Journalistin Elisabeth Niejahr, die sich ja sehr intensiv mit der Thematik in den letzten Jahren<br />

auseinander setzt, ob eine Regierung sich in erster Linie <strong>für</strong> bereits bestehende <strong>Familie</strong>n<br />

zuständig fühlt oder auch Menschen überhaupt zur <strong>Familie</strong>ngründung ermutigen will. Die<br />

Brandenburger Landesregierung jedenfalls bekennt sich klar <strong>und</strong> eindeutig zum Leitziel der<br />

<strong>Familie</strong>ngründung.<br />

Parallel dazu lautet das qualitative Ziel der Nachwuchssicherung: Wir dürfen kein einziges<br />

bereits geborenes Kind zurücklassen. Jedes Kind muss uns gleich wichtig sein. Ganz gleich,<br />

in welcher Region es lebt, ganz gleich, welcher sozialer Herkunft es ist. Kein Kind in<br />

Brandenburg darf vernachlässigt werden. Alle Kinder haben dasselbe Recht auf gute Bildung<br />

– <strong>und</strong> zwar von Anfang an. Von der Qualität der Bildung <strong>und</strong> der Qualität der Ausbildung<br />

unserer Kinder hängen zugleich deren individuelle Lebenschancen <strong>und</strong> die wirtschaftliche<br />

Zukunft unseres Landes ab. Und gerade weil die Zahl der tatsächlich geborenen Kinder in<br />

unserem Lande derzeit noch so niedrig ist, kommt es umso mehr darauf an, dass jedes<br />

einzelne Kind die Chance erhält, alle seine Potentiale von Anfang an auszuschöpfen.<br />

Meine Damen <strong>und</strong> Herren, diese beiden zentralen Ziele wollen <strong>und</strong> werden wir systematisch<br />

<strong>und</strong> nachhaltig verfolgen. Es geht um mehr <strong>Familie</strong>ngründung <strong>und</strong> mehr Geburten einerseits,<br />

6


es geht um beständig bessere Bedingungen <strong>für</strong> bereits gegründete <strong>Familie</strong>n <strong>und</strong> bereits<br />

geborene Kinder andererseits. Dabei wird es der Landesregierung vorrangig um die im<br />

Programm „<strong>Familie</strong>n <strong>und</strong> Kinder haben Vorrang“ benannten Gesichtspunkte gehen. Wir<br />

wollen einen nachhaltigen gesamtgesellschaftlichen Mentalitäts- <strong>und</strong> Wertewandel hin zu<br />

positiven Einstellungen gegenüber Kindern <strong>und</strong> <strong>Familie</strong>n. Wir wollen, dass Mütter <strong>und</strong> Väter<br />

gleiche <strong>und</strong> gute Möglichkeiten haben, <strong>Familie</strong>n- <strong>und</strong> Berufsleben unter einen Hut zu<br />

bekommen. Wir wollen in Brandenburg eine kinder- <strong>und</strong> familiengerechte Infrastruktur<br />

sichern <strong>und</strong> Stück <strong>für</strong> Stück systematisch weiterentwickeln. Und wir wollen die Bildungs- <strong>und</strong><br />

Erziehungskompetenzen von Eltern, von <strong>Familie</strong>n, von Erzieherinnen <strong>und</strong> Erziehern, von<br />

Lehrerinnen <strong>und</strong> Lehrern beständig <strong>und</strong> planmäßig verbessern. Die Herausforderungen auf<br />

dem Weg zur familienfre<strong>und</strong>lichen <strong>und</strong> eben deshalb auch zukunftsträchtigen Gesellschaft<br />

sind also noch beträchtlich. Andererseits haben wir in Brandenburg überhaupt keinen Gr<strong>und</strong><br />

unser Licht über Gebühr unter den Scheffel zu stellen. Brandenburg weist heute in der<br />

Kindertagesbetreuung die zahlenmäßig mittlerweile beste Versorgungslage aller deutschen<br />

B<strong>und</strong>esländer auf. Und wir sind darauf auch stolz. Erst recht muss es uns nun darum gehen,<br />

auch in qualitativer Hinsicht noch deutlich besser zu werden.<br />

Warum ist gerade die hohe <strong>und</strong> steigende pädagogische Qualität unserer Einrichtung<br />

frühkindlicher Betreuung <strong>und</strong> Bildung von so absolut zentraler Bedeutung? Genau da würde<br />

ich diese Frage einordnen: International vergleichende Studien der OECD belegen, dass<br />

sich in allen Ländern das Risiko späterer <strong>Arbeit</strong>slosigkeit bei denjenigen Menschen<br />

verdoppelt, die über keine abgeschlossene Sek<strong>und</strong>arschulbildung verfügen. Und wir wissen<br />

es längst, im 21. Jahrh<strong>und</strong>ert mit seiner immer wissensintensiveren Wirtschaft sind die<br />

Lebenschancen der Menschen eng verknüpft mit den Bildungschancen. Aus Hirnforschung,<br />

Entwicklungsphysiologie <strong>und</strong> Psychologie wiederum ist bekannt, dass die individuellen<br />

kognitiven Fähigkeiten der Menschen Bildungschancen ein Leben lang wahrzunehmen,<br />

bereits in frühester Kindheit angelegt werden oder eben nicht angelegt werden. Der<br />

international hoch angesehene Sozialstaatsexperte Gösta Esping-Andersen schreibt: „Die<br />

allerwichtigste Phase der kognitiven Entwicklung liegt vor dem Schulalter. Kinder mit<br />

geringen kognitiven Ressourcen laufen Gefahr, im Zuge ihrer Bildungskarriere immer weiter<br />

zurückzufallen, weil Schulen schlecht da<strong>für</strong> ausgestattet sind, vorausgehende Versäumnisse<br />

noch wettzumachen.“<br />

Viel, man könnte sogar sagen, fast alles kommt also darauf an, dass in der frühkindlichen<br />

Erziehung die Weichen richtig gestellt werden, um eben die kognitiven Potentiale aller Kinder<br />

auch zu wecken. Nur so lassen sich die unbedingt notwendigen Voraussetzungen <strong>für</strong> die<br />

gleichberechtigte <strong>und</strong> erfolgreiche Teilhabe aller Menschen am gesellschaftlichen Leben<br />

schaffen. Oft ist heute die soziale Herkunft <strong>und</strong> Lage der Eltern in hohem Maße auch da<strong>für</strong><br />

verantwortlich, die Zukunft ihrer Kinder vorauszubestimmen. Jedoch weist uns Prof. Esping-<br />

7


Andersen eindringlich darauf hin, dass solche Vererbung von sozialen Lagen von einer<br />

Generation zur nächsten eben kein unüberwindliches Schicksal sein muss.<br />

In den skandinavischen Ländern lässt sich heute zwischen der sozialen Herkunft von<br />

Kindern <strong>und</strong> deren schulischen Leistungen tatsächlich kein Zusammenhang mehr feststellen.<br />

Wie ist den skandinavischen Ländern diese erstaunliche Leistung gelungen? Die Antwort ist<br />

relativ einfach. Diese Länder, schreibt Esping-Andersen, setzen mittlerweile seit Jahrzehnten<br />

auf die allgemeine Versorgung mit Betreuungsmöglichkeiten <strong>für</strong> Kinder im Vorschulalter.<br />

Deshalb „bringen skandinavische Kinder bei der Einschulung unabhängig von ihrer sozialen<br />

Herkunft weitgehend homogene Voraussetzungen mit.“ Ich glaube, das ist <strong>für</strong> uns ein<br />

durchaus ermutigender Bef<strong>und</strong>. Auch hier gibt es also keinen Gr<strong>und</strong> zu Fatalismus oder<br />

Resignation. Und die Botschaft ist klar: Wir hier im Lande Brandenburg setzen mit unseren<br />

ausgebauten Systemen der frühkindlichen Betreuung auf genau das richtige Pferd.<br />

Gerade als sozial <strong>und</strong> finanziell nicht begünstigtes B<strong>und</strong>esland, <strong>und</strong> das ist vorsichtig<br />

formuliert, tun wir gut daran, uns diese Investition in die Zukunft unserer Kinder viel Geld<br />

kosten zu lassen. Denn es ist tatsächlich sehr viel Geld <strong>für</strong> ein armes Land. Allein im<br />

Haushaltsjahr 2005 wenden wir 123 Millionen Euro <strong>für</strong> die Kindertagesbetreuung auf. Das<br />

war vor ein paar Jahren noch eine viertel Milliarde Mark. Das ist mit weitem Abstand – <strong>und</strong><br />

das völlig zu Recht – der größte familienpolitische Posten in unserem Landeshaushalt. Und<br />

deshalb muss gelten: Gerade weil unsere Kitas so wichtig sind <strong>für</strong> unsere Kinder, gerade<br />

weil wir uns unsere Kitas aus guten Gründen so viel kosten lassen, gerade deshalb, meine<br />

Damen <strong>und</strong> Herren, müssen wir alles, aber auch alles daran setzen, insbesondere die<br />

pädagogische Qualität der Kindertagesbetreuung in unserem Lande systematisch weiter zu<br />

erhöhen.<br />

Wir haben in Brandenburg die enorme Chance zu beweisen, was noch immer längst nicht<br />

alle so richtig verstanden haben: Leistungen <strong>für</strong> Kinder, <strong>für</strong> Eltern <strong>und</strong> <strong>Familie</strong>n sind absolut<br />

erstrangige Investitionen in die Zukunft unserer gesamten Gesellschaft. Allerdings mit<br />

Rahmenbedingungen: Sie müssen klug organisiert werden, sie müssen mit Fantasie,<br />

Engagement <strong>und</strong> Leidenschaft erbracht werden <strong>und</strong> sie müssen getragen werden vom<br />

Willen aller Beteiligten zur Zusammenarbeit. Und das sage ich nicht als Randbemerkung. Ich<br />

kenne viele Beispiele in unserem Land, bei denen alle diese <strong>für</strong> den Erfolg so dringend<br />

benötigten Bestandteile schon heute zusammenkommen. Einige solcher guten oder sogar<br />

herausragenden Beispiele werden wir ja heute im Laufe des Tages noch kennen lernen.<br />

Vor einem Missverständnis allerdings muss ich in diesem Zusammenhang sehr eindringlich<br />

warnen. Das ist die Vorstellung, in unserem Lande könnten nur diejenigen Einrichtungen<br />

oder Verfahren noch besser funktionieren, die mit immer mehr öffentlichen Mitteln<br />

ausgestattet werden. Meine Damen <strong>und</strong> Herren, wir müssen den Realitäten ins Auge<br />

schauen. Der Brandenburger Landeshaushalt wird in den kommenden 15 Jahren aufgr<strong>und</strong><br />

8


zurückgehender Mittel aus dem Solidarpakt II Schritt <strong>für</strong> Schritt von heute 10 Milliarden auf<br />

voraussichtlich 8 Milliarden Euro sinken. 20 % weniger Mittel ohne Wenn <strong>und</strong> Aber stehen<br />

uns in wenigen Jahren nur noch zur Verfügung. Und dass es einen dritten Solidarpakt nicht<br />

geben wird, kann jeder mit Händen greifen, spüren <strong>und</strong> erfahren. Jetzt gerade bei den<br />

Koalitionsverhandlungen wird das überdeutlich.<br />

Meine Damen <strong>und</strong> Herren, wir werden in Brandenburg auch unter diesen Bedingungen<br />

vieles ebenso gut oder sogar noch deutlich besser machen müssen als zuvor. Wir werden<br />

neue Prioritäten setzen müssen, ohne dass das Wort Priorität immer zugleich auch mehr<br />

Geld bedeutet. Das klingt paradox, es klingt auch noch ungewohnt, das klingt <strong>für</strong> manche<br />

vielleicht sogar unmöglich <strong>und</strong> ausgeschlossen. Ich bin überzeugt, es ist nicht unmöglich. Es<br />

darf auch nicht unmöglich sein. Es versteht sich von selbst, dass wir Brandenburg niemals<br />

zu einer besonders kinder- <strong>und</strong> familienfre<strong>und</strong>lichen Region machen werden, indem wir<br />

kinder- <strong>und</strong> familienpolitische Mittel radikal zusammenstreichen. Und es stimmt auch,<br />

intelligente Investitionen in Kinder, in <strong>Familie</strong> <strong>und</strong> Bildung zahlen sich am Ende vielfach aus.<br />

Darum werden wir in Zukunft noch genauer prüfen müssen, welche Aufgaben wirklich<br />

intelligent sind. Und <strong>für</strong> diese Aufgaben muss selbstverständlich Geld vorhanden sein. Aber<br />

ebenso klar muss uns gr<strong>und</strong>sätzlich allen sein, dass das Ausmaß der Kinder- <strong>und</strong><br />

<strong>Familie</strong>nfre<strong>und</strong>lichkeit unserer Gesellschaft nicht davon abhängen kann <strong>und</strong> darf, ob wir Jahr<br />

<strong>für</strong> Jahr mehr Geld <strong>für</strong> diese Aufgaben aufwenden können. Ich glaube, es lohnt sich sehr<br />

wohl, über diesen Zusammenhang neu nachzudenken. Wären wir im Ernst der Auffassung,<br />

wir könnten unsere gesellschaftlichen Ziele nur durch immer höhere Ausgaben erreichen,<br />

dann müssten wir hier <strong>und</strong> heute völlig freimütig eingestehen, dass wir in den kommenden<br />

Jahrzehnten nicht ein einziges unserer gesellschaftlichen Ziele mehr erreichen werden. Ich<br />

bin aber zutiefst überzeugt, diese Auffassung wäre gr<strong>und</strong>falsch. Wir alle werden uns daran<br />

gewöhnen müssen, mit knapper werdenden materiellen Ressourcen gute, sogar qualitativ<br />

bessere Ergebnisse zu erzielen. Und ich bin auch davon überzeugt, genau das wird uns<br />

gelingen, wenn wir die Weichen jetzt in diesen Jahren richtig stellen.<br />

Was gibt mir, was gibt uns diese Zuversicht? Wie manche von Ihnen wissen, waren etliche<br />

von uns, ich auch, im vorigen Jahr <strong>und</strong> in den vergangenen Wochen in Finnland. Ein Land,<br />

was noch vor wenigen Jahrzehnten bitterarm gewesen ist mit über 20 % <strong>Arbeit</strong>slosigkeit <strong>und</strong><br />

einer Staatskrise ohne Ende. Und das Ganze liegt erst zehn, zwölf Jahre zurück. Wir wollten<br />

genau wissen, was eigentlich den eindrucksvollen familien- <strong>und</strong> bildungspolitischen Erfolg<br />

dieses kleinen Landes ausmacht. Wie ist es den Finnen gelungen, durch Investition in<br />

<strong>Familie</strong> <strong>und</strong> Bildung mittlerweile auch wirtschaftliche Spitzenleistungen zu erreichen? Wir<br />

sind zurückgekommen mit einer gr<strong>und</strong>legenden Erkenntnis: Das zentrale Erfolgsrezept der<br />

finnischen Gesellschaft, sehr wohl aus der Not geboren, weil sie vor der Wand standen <strong>und</strong><br />

nicht mehr weiter wussten, ist das Prinzip des Miteinanders. Man arbeitet dort nicht<br />

9


gegeneinander <strong>und</strong> auch nicht nebeneinander her. Vielmehr greifen in Finnland <strong>Familie</strong>n <strong>und</strong><br />

Bildungspolitik eng ineinander. Deshalb gibt es dort ein eng geknüpftes Netz von<br />

<strong>Familie</strong>nberatung <strong>und</strong> <strong>Familie</strong>nbetreuung, das bereits vor der Geburt einsetzt. Alle <strong>Familie</strong>n<br />

erhalten, wenn sie es möchten, <strong>und</strong> das wollen auch fast alle, umfangreiche Hilfen <strong>und</strong><br />

Unterstützung. Was längst nicht immer Geld heißt, sondern auch viel Beratung, viel Führung<br />

in schwierigen Lebensphasen. Pädagogisch hervorragende Kindertagesstätten <strong>und</strong> moderne<br />

Bildungseinrichtungen ergänzen das Angebot. Wo Probleme auftauchen, da wird geredet.<br />

Eltern, Erzieher, Lehrer, Sozialbetreuer, Kinderärzte <strong>und</strong> Kinderschwestern reden<br />

miteinander ausgesprochen auffallend unhierarchisch, unbürokratisch, sehr vertrauensvoll<br />

<strong>und</strong> sehr motiviert <strong>und</strong> engagiert – immer, wie man an den Ergebnissen ablesen kann, zum<br />

Nutzen der Kinder, zum Nutzen der <strong>Familie</strong>n, zum Nutzen der gesamten Gesellschaft. Ganz<br />

einfache Erkenntnisse bilden die Gr<strong>und</strong>lage <strong>für</strong> dieses Konzept.<br />

Wenn man z.B. Sprachschwierigkeiten bei Kindern im zweiten <strong>und</strong> dritten Lebensjahr Stück<br />

<strong>für</strong> Stück entdeckt, ist die logopädische Behandlung nicht nur erfolgreich, sondern auch vom<br />

finanziellen Umfang her beherrschbar. Wenn man dieselben Schwierigkeiten erst bei der<br />

Einschulungsuntersuchung entdeckt, ist die Behandlung kaum noch erfolgreich <strong>und</strong><br />

unheimlich teuer. Allein dieses Beispiel zeigt schon, warum es sinnvoll ist, auf ein solches<br />

System Stück <strong>für</strong> Stück zu bauen.<br />

Genau deshalb liegt dem kinder- <strong>und</strong> familienpolitischen Aufbruch <strong>für</strong> Brandenburg, den wir<br />

heute miteinander diskutieren werden, die Idee der immer besseren Vernetzung, der<br />

Kooperation <strong>und</strong> der Kommunikation zugr<strong>und</strong>e. Unser Ziel ist es, <strong>Familie</strong>n zu unterstützen<br />

<strong>und</strong> Kindern eine bessere Entwicklung zu ermöglichen. Indem wir Kinder <strong>und</strong> <strong>Familie</strong>n stark<br />

machen, werden wir, meine Damen <strong>und</strong> Herren, auch unser Land stark machen. Diesen<br />

Weg wollen wir einschlagen <strong>und</strong> begehen. Und ich habe dabei keinen Zweifel, nur kinder-<br />

<strong>und</strong> familienfre<strong>und</strong>liche Gesellschaften können in diesem Jahrh<strong>und</strong>ert auch erfolgreiche<br />

Gesellschaften sein. Und nur Gesellschaften, in denen eine offene Kultur der Kooperation<br />

<strong>und</strong> des Miteinander herrscht, werden kinder- <strong>und</strong> familienfre<strong>und</strong>liche Gesellschaften sein.<br />

Diese offene Kultur der Kooperation <strong>und</strong> des Miteinander lässt sich aber, auch das haben wir<br />

gelernt, nicht verordnen. Sie kostet übrigens auch kein Geld, diese Kultur, auch das muss<br />

man ganz klar sagen. Sie wird in Brandenburg entstehen, wenn alle gesellschaftlichen <strong>und</strong><br />

staatlichen Akteure entschlossen sind, an einem Strang zu ziehen. Die Brandenburger<br />

Landesregierung wird dabei, da können Sie sich sicher sein, keine Mühen scheuen. Aber sie<br />

ist auf die Mithilfe, sie ist auf das Engagement der Gesellschaft in unserem Lande<br />

angewiesen. Lassen Sie uns gemeinsam genau diese Richtung einschlagen. Unsere Kinder,<br />

die bereits geborenen <strong>und</strong> die vielen noch ungeborenen, werden es uns mit Sicherheit<br />

danken. Ich danke Ihnen <strong>für</strong> Ihr Mittun.<br />

10


Applaus<br />

Moderatorin Judith Grümmer<br />

Herr Ministerpräsident, noch mal herzlichen Dank. Ein ganz wichtiger Gedanke, der<br />

sicherlich auch im Laufe dieser Tagung diskutiert wird, ist natürlich die Frage, wie man<br />

gerade in Zeiten knappen Geldes trotzdem familien- <strong>und</strong> kinderfre<strong>und</strong>liche Maßnahmen<br />

entwickeln <strong>und</strong> in die Tat umsetzen kann. Ich bin sehr gespannt, was wir heute Nachmittag<br />

nach den Foren dazu erfahren werden, welche Maßnahmen Sie vorschlagen, Sie zu diesem<br />

Thema entwickeln werden. (...) Die heutige familienpolitische Tagung hat natürlich ganz<br />

besonders die Situation der <strong>Familie</strong>n in Brandenburg im Blick. Doch wie wird <strong>Familie</strong>npolitik<br />

zukünftig auf der B<strong>und</strong>esebene aussehen? Welche Gr<strong>und</strong>lagen dazu hat das<br />

B<strong>und</strong>esfamilienministerium in den vergangenen Jahren zugunsten der <strong>Familie</strong>n legen<br />

können? Mit welchen familienpolitischen Maßnahmen können wir in einer großen Koalition<br />

rechnen? Ich freue mich nun ganz herzlich Staatssekretär Peter Ruhenstroth-Bauer aus dem<br />

B<strong>und</strong>esfamilienministerium begrüßen zu dürfen. Herzlich willkommen!<br />

Applaus<br />

3. „Zukunft mit Kindern – Ein Politikwechsel hat begonnen: <strong>Familie</strong>npolitik ist<br />

Zukunftspolitik“<br />

Staatssekretär Peter Ruhenstroth-Bauer<br />

Vielen Dank. Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Platzeck, sehr geehrte Frau Ziegler, Frau<br />

Blechinger, sehr geehrte Herren Staatssekretäre, meine Damen <strong>und</strong> Herren! Ich möchte Sie<br />

an erster Stelle sehr herzlich grüßen von Renate Schmidt. Sie wäre sehr gerne heute bei<br />

Ihnen gewesen. Sie wissen, dass das, was ich jetzt hier in ihrem Namen auszuführen habe,<br />

natürlich auch nur dann Sinn <strong>und</strong> Zweck hat, wenn solche Initiativen wie von Ihnen, Herr<br />

Ministerpräsident, in einem Land tatsächlich heruntergetragen <strong>und</strong> bis in die Kommune<br />

hinein verwirklicht werden.<br />

Renate Schmidt sitzt zurzeit mit der Verhandlungsgruppe der CDU zusammen, um genau<br />

über die wichtigen Themen <strong>für</strong> den Koalitionsvertrag zum Thema <strong>Familie</strong>, Senioren, <strong>Frauen</strong><br />

<strong>und</strong> Jugend zu beraten.<br />

Meine Damen <strong>und</strong> Herren, Brandenburg hat die richtige Entscheidung getroffen. <strong>Familie</strong>n<br />

<strong>und</strong> Kinder müssen Vorrang haben! In den vergangenen Jahren ist es uns gelungen, in der<br />

<strong>Familie</strong>npolitik einen Politikwechsel einzuleiten: <strong>Familie</strong>npolitik hat einen neuen Stellenwert<br />

erhalten <strong>und</strong> die <strong>Familie</strong>npolitik in der B<strong>und</strong>esrepublik hat ein neues Profil. Wer mittel- <strong>und</strong><br />

langfristig Innovationsfähigkeit <strong>und</strong> Wachstum sichern will, der muss da<strong>für</strong> Sorge tragen,<br />

11


dass es viele stabile <strong>Familie</strong>n mit Kindern gibt. B<strong>und</strong> <strong>und</strong> Länder müssen gemeinsam weiter<br />

daran arbeiten.<br />

Deutschland hat zu wenig Kinder. Wir verzeichnen eine hohe Kinderlosigkeit, vor allem der<br />

besser gebildeten <strong>Frauen</strong> <strong>und</strong> Männer. Und wir stellen auch einen weiteren negativen<br />

Rekord auf, was Mehrkinderfamilien angeht. Das ist bei uns fast eine aussterbende Form der<br />

<strong>Familie</strong> geworden. Unsere Gesellschaft <strong>und</strong> eine wachsende Zahl junger <strong>Frauen</strong> <strong>und</strong><br />

Männer halten Kinder nicht mehr <strong>für</strong> einen unverzichtbaren Bestandteil des Lebens. Unser<br />

Land ist nicht explizit kinderfeindlich, aber es ist kinderentwöhnt. Das darf nicht so bleiben.<br />

Denn <strong>Familie</strong> ist <strong>für</strong> die deutliche Mehrheit der Menschen der wichtigste Bereich im Leben,<br />

dem sie am meisten Vertrauen entgegenbringen: Sie finden dort Rückhalt, Zuversicht <strong>und</strong><br />

Unterstützung <strong>und</strong> sie verlassen sich auf ihre <strong>Familie</strong>n, auch wenn sie an die Zukunft<br />

denken.<br />

Zahlreiche Studien belegen: Junge Menschen vertrauen auf das Erfolgsmodell <strong>Familie</strong>. Sie<br />

wünschen sich nach wie vor Kinder, im Durchschnitt mehr als zwei. Und im letzten Jahr lag<br />

der Durchschnitt bei der Hälfte; 1,29 ist der genaue statistische Wert. Und wir kennen die<br />

Ursachen da<strong>für</strong> ziemlich genau. Befragungen geben Auskunft. Junge <strong>Frauen</strong> <strong>und</strong> Männer<br />

wollen heute beides: Erfolg im Beruf <strong>und</strong> ein <strong>Familie</strong>nleben mit Kindern. Und sie wollen auch<br />

Zeit haben <strong>für</strong> ihre Kinder, sie wollen Beruf <strong>und</strong> <strong>Familie</strong> in eine gute Balance bringen. Im<br />

Warten auf den richtigen Zeitpunkt schieben sie die Realisierung des Kinderwunsches immer<br />

weiter auf, bis es irgendwann zu spät ist <strong>und</strong> die Kinderlosigkeit das Ergebnis ist.<br />

Sehr geehrte Damen <strong>und</strong> Herren, mehr Kinder bedeuten nicht nur mehr Lebensqualität <strong>und</strong><br />

soziale Sicherheit <strong>für</strong> alle, sie bedeuten in einer entwickelten Gesellschaft wie der unseren<br />

auch mehr Wohlstand <strong>und</strong> mehr Wachstum. <strong>Familie</strong> ist ein Gewinnerthema. Denn <strong>Familie</strong><br />

bringt Gewinn: <strong>für</strong> die Menschen, <strong>für</strong> die Wirtschaft <strong>und</strong> <strong>für</strong> den Staat.<br />

In Deutschland, meine Damen <strong>und</strong> Herren, reduziert sich die familienpolitische Diskussion<br />

häufig immer noch auf den materiellen Aspekt. Ganz aktuell in den Koalitionsverhandlungen<br />

taucht dieser Reflex wieder auf, etwa in der Forderung nach einem Steuerfreibetrag pro Kind<br />

von 8.000 Euro. Abgesehen davon, dass bei einer solchen Maßnahme die gut verdienenden<br />

Eltern am meisten gewinnen, haben wir in Deutschland bei den materiellen Leistungen <strong>für</strong><br />

<strong>Familie</strong>n nicht die größten Defizite. Im europäischen Vergleich liegen wir im oberen Drittel.<br />

Doch diese Leistungen sind eher wirkungsschwach, das hat auch der 7. <strong>Familie</strong>nbericht<br />

nachdrücklich belegt. Falsche Prioritätensetzung <strong>und</strong> eine jahrzehntelange ideologisierte<br />

Debatte über den angeblichen Niedergang der <strong>Familie</strong> zeigen ihre Wirkung.<br />

Wir brauchen eine <strong>Familie</strong>npolitik, die die modernen Lebensentwürfe der Menschen aufgreift,<br />

die Elternschaft zur attraktiven Wahl macht <strong>und</strong> Berufstätigkeit als Lebensperspektive<br />

unterstützt. Eine <strong>Familie</strong>npolitik, die Eltern <strong>und</strong> Kinder in jeder Lebensphase nachhaltig<br />

stützt. Fünf Kriterien möchte ich Ihnen nennen, an denen sich diese <strong>Familie</strong>npolitik messen<br />

12


lassen sollte: die Vereinbarkeit von <strong>Familie</strong>n- <strong>und</strong> Erwerbsleben <strong>für</strong> Väter <strong>und</strong> Mütter, die<br />

Geburtenrate, die Verminderung von Armutsrisiken <strong>für</strong> <strong>Familie</strong>n, die Förderung unserer<br />

Kinder <strong>und</strong> die Erziehungskompetenz der Eltern.<br />

Wir steuern mittlerweile um: hin zu einem Mix von ineinander greifenden <strong>und</strong> abgestimmten<br />

Maßnahmen, einem Dreiklang aus Infrastrukturpolitik, Zeitpolitik <strong>und</strong> finanzieller Förderung.<br />

Wir orientieren uns dabei an Konzepten, die sich, so zeigt auch der <strong>Familie</strong>nbericht, in<br />

anderen Ländern als erfolgreich erwiesen haben. Also auch der Blick nach Skandinavien ist<br />

ganz sicherlich ein richtiger <strong>und</strong> wichtiger Weg.<br />

Sehr geehrte Damen <strong>und</strong> Herren, Sie kennen die Diskussion um die Betreuungssituation in<br />

Deutschland. Und wenn die kritische Situation beleuchtet wird, dann ist Westdeutschland<br />

gemeint. Der Ausbau der Kinderbetreuung – bedarfsgerecht <strong>und</strong> qualitätsorientiert – muss<br />

höchste Priorität haben, auch <strong>und</strong> gerade <strong>für</strong> Kinder unter drei Jahren. Westdeutschland hat<br />

bei der Betreuung, alle B<strong>und</strong>esländer haben aber bei der frühen Förderung von Kleinkindern<br />

Nachholbedarf. Das Tagesbetreuungsausbaugesetz (TAG) ist Anfang diesen Jahres in Kraft<br />

getreten. Bis zum Jahre 2010 werden wir 230.000 Kinder mehr als heute in<br />

Kindertageseinrichtungen <strong>und</strong> von Tagesmüttern <strong>und</strong> -vätern betreuen lassen können.<br />

Der Ausbau der Kinderbetreuung ist Sache der Länder <strong>und</strong> Kommunen. Wir haben mit dem<br />

TAG einiges in Bewegung gesetzt <strong>und</strong> haben positive Rückmeldungen aus den Kommunen<br />

erhalten, die sich mehren; diese halten sich aber auch die Waage mit Hinweisen auf die<br />

schlechte Finanzlage. Es ist unser Ziel, in den Koalitionsverhandlungen in Berlin ein klares<br />

Bekenntnis zum Ausbau der Kinderbetreuung zu verankern. Der B<strong>und</strong> hat über die<br />

Rahmengesetze eine wichtige Funktion <strong>und</strong> muss sie behalten. Aus unserer Sicht müssen<br />

die nächsten Schritte ein Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung ab zwei Jahren sowie eine<br />

schrittweise Einführung der Gebührenfreiheit sein. Darüber wird aktuell diskutiert.<br />

Sehr geehrte Damen <strong>und</strong> Herren, die Stärkung der Erziehungsverantwortung <strong>und</strong><br />

Erziehungskompetenz der Eltern sind wichtige Elemente einer nachhaltigen <strong>Familie</strong>npolitik.<br />

Kinder zu eigenverantwortlichen <strong>und</strong> gemeinschaftsfähigen Persönlichkeiten zu erziehen,<br />

verlangt von Eltern <strong>und</strong> Institutionen nicht nur Kenntnisse über Entwicklungs- <strong>und</strong><br />

Erziehungsfragen. Sie brauchen nicht selten Unterstützung, wenn sie Werte, Regeln,<br />

Tugenden an die Kinder weitervermitteln wollen.<br />

In diesem Jahr hat Renate Schmidt deshalb mit den beiden großen Kirchen den Dialog<br />

„Verantwortung Erziehung“ gestartet. Ziel ist es, einen „Erziehungskontrakt“ aufzusetzen, an<br />

dem sich Eltern, Erzieherinnen <strong>und</strong> Erzieher im Alltag <strong>und</strong> der Praxis orientieren können.<br />

Notwendig ist ein neues Verhältnis von <strong>Familie</strong>, Förderung, Bildung <strong>und</strong> Beratung. Wir<br />

brauchen ein breites Netz von niedrigschwelligen Einrichtungen, die frühe Förderungen von<br />

Kindern mit der Beratung von Eltern kombinieren. Dabei geht es um Sprach- <strong>und</strong><br />

13


Haushaltskurse, es geht um gute Kinderbetreuung, um Erziehungs- <strong>und</strong><br />

Ges<strong>und</strong>heitsberatung <strong>und</strong> praktische Lebenshilfe <strong>für</strong> die unterschiedlichsten Situationen.<br />

Ein breites Angebot qualitativ neuer Einrichtungen ist notwendig. Die bisherigen Initiativen<br />

aus Ländern <strong>und</strong> Kommunen haben wir dazu ausgewertet <strong>und</strong> in unsere Überlegungen<br />

einbezogen. Und der Ansatz Brandenburgs, das finnische Modell „Neuvola“ als Orientierung<br />

zu nutzen, trifft auf großes Interesse. Auch die Union sieht die Dringlichkeit dieser<br />

Aufgabenstellung; eine b<strong>und</strong>esweite Initiative gehört in diesen Tagen zu den Punkten der<br />

gemeinsamen Verhandlungen.<br />

Sehr geehrte Damen <strong>und</strong> Herren, wenn wir die Entscheidung <strong>für</strong> Kinder <strong>und</strong> <strong>Familie</strong>n<br />

erleichtern wollen, dann geht es auch um Geld. Die B<strong>und</strong>esregierung hat seit 1998<br />

erhebliche Schritte zur finanziellen Entlastung der <strong>Familie</strong>n unternommen. Das Kindergeld<br />

wurde in drei Schritten auf 154 Euro <strong>für</strong> das erste bis dritte Kind erhöht. Die Höhe des<br />

Kindergeldes liegt damit im EU-Vergleich an zweiter Stelle. Im Steuerrecht wurde der<br />

<strong>Familie</strong>nleistungsausgleich verfassungskonform ausgebaut. Alle Steuermaßnahmen seit<br />

1998 zusammengenommen führten zu einer Entlastung der privaten Haushalte um über 47<br />

Milliarden Euro pro Jahr. Eine <strong>Familie</strong> mit durchschnittlichem Einkommen zahlt heute r<strong>und</strong><br />

ein Drittel weniger Steuern als noch 1998. Diese Verbesserungen dürfen <strong>und</strong> werden wir<br />

nicht klein reden.<br />

Wir sind jedoch davon überzeugt, dass eine Förderung von <strong>Familie</strong>n nach dem<br />

Gießkannenprinzip ebenso wie der Akzent auf die steuerliche Entlastung wenig bringt,<br />

gemessen an den vorhin von mir genannten Kriterien. Wichtiger als eine allgemeine<br />

Erhöhung finanzieller Leistungen sind <strong>für</strong> die Eindämmung von Armutsrisiken <strong>Arbeit</strong> <strong>und</strong><br />

Betreuungsplätze, frühe Förderung der Kinder, Lebensberatung <strong>für</strong> Eltern <strong>und</strong> Erweiterung<br />

ihrer Alltagskompetenzen. Dabei geht es darum, die familienpolitischen Leistungen neu<br />

auszurichten <strong>und</strong> ihre Zielgenauigkeit zu erhöhen, um die Entscheidung <strong>für</strong> Kinder zu<br />

erleichtern <strong>und</strong> die wirtschaftliche Stabilität von <strong>Familie</strong>n zu stärken. Deshalb der neu<br />

eingeführte Kinderzuschlag <strong>für</strong> gering verdienende Eltern <strong>und</strong> deshalb brauchen wir ein<br />

Elterngeld mit Lohnersatzfunktion. Beide Projekte erhalten mittlerweile breite Unterstützung<br />

aus Wirtschaft, Gewerkschaften, Kirchen <strong>und</strong> auch von der Union. Wir werden die Chance<br />

nutzen, über Eckpunkte zu sprechen <strong>und</strong> Zielsetzungen in dieser Hinsicht zu vereinbaren.<br />

Sehr geehrte Damen <strong>und</strong> Herren, wenn wir wollen, dass Deutschland in Zukunft wieder mit<br />

Kindern eine Zukunft hat, dann brauchen wir auch mehr <strong>Familie</strong>nfre<strong>und</strong>lichkeit in<br />

Unternehmen. Kinder <strong>und</strong> Eltern brauchen Zeit <strong>für</strong>einander. 70 % der Mütter, die zu Hause<br />

sind, wären lieber erwerbstätig. Sie wünschen sich eine andere Zeiteinteilung in ihrem<br />

Leben, <strong>und</strong> jeder dritte Vater wünscht sich mehr Zeit <strong>für</strong> seine <strong>Familie</strong> <strong>und</strong> seine Kinder.<br />

Väter <strong>und</strong> Mütter suchen nach einer neuen Balance von <strong>Familie</strong> <strong>und</strong> <strong>Arbeit</strong>swelt.<br />

14


Und immer mehr Unternehmen erkennen, dass familienfre<strong>und</strong>liche Unternehmenskultur ein<br />

besonderer Wert ist. Es geht also nicht um zusätzliche Gesetze, sondern vielmehr um einen<br />

Mentalitätswechsel, um neue Akzente in der Unternehmenspolitik <strong>und</strong> um<br />

innovationsfördernde Kooperationen. Diese <strong>Arbeit</strong> muss fortgesetzt werden. Wirtschaft,<br />

Politik, Stiftung, Wissenschaft sind dabei auf einem guten Weg. Viele Unternehmen lassen<br />

sich auf <strong>Familie</strong>nfre<strong>und</strong>lichkeit auditieren. Sie wissen, <strong>Familie</strong>nfre<strong>und</strong>lichkeit erhöht die<br />

Attraktivität der Region, verschafft Standortvorteile, bindet auch <strong>Arbeit</strong>nehmerinnen <strong>und</strong><br />

<strong>Arbeit</strong>nehmer <strong>und</strong> erhöht damit die Produktivität <strong>und</strong> die <strong>Arbeit</strong>szufriedenheit der<br />

Beschäftigten.<br />

Im kommenden Jahr wird unser <strong>Ministerium</strong> deshalb ein großes Programm gemeinsam mit<br />

der Unternehmensberatung Roland Berger <strong>und</strong> weiteren Partnern durchführen.<br />

Schwerpunkte sind die betrieblichen unterstützenden Kinderbetreuungen, bessere<br />

Bedingungen zum Wiedereinstieg nach der Elternzeit, aber auch die Begleitung des<br />

Betriebes während der Elternzeit <strong>und</strong> Vorschläge <strong>für</strong> die Vereinbarung zur<br />

<strong>Familie</strong>nfre<strong>und</strong>lichkeit.<br />

Sehr geehrte Damen <strong>und</strong> Herren, nachhaltige <strong>Familie</strong>npolitik braucht gemeinsames<br />

Handeln, möglichst starke Partner aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen, die<br />

sich <strong>für</strong> <strong>Familie</strong>n in Deutschland stark machen. Die von Renate Schmidt 2003 initiierte<br />

„Allianz <strong>für</strong> die <strong>Familie</strong>“ aus Persönlichkeiten der Wirtschaft, der Gewerkschaften, der Medien<br />

<strong>und</strong> der Wissenschaft haben als strategisches Bündnis jeweils ihren Bereich <strong>für</strong> das Thema<br />

<strong>und</strong> <strong>für</strong> Veränderungen genutzt <strong>und</strong> da<strong>für</strong> geworben <strong>und</strong> gearbeitet. Sie haben geholfen, das<br />

Projekt „<strong>Familie</strong>nfre<strong>und</strong>liches Deutschland“ voranzubringen.<br />

Das trifft auch <strong>für</strong> viele Kommunen zu. Die Bereitschaft, sich <strong>für</strong> mehr <strong>Familie</strong>nfre<strong>und</strong>lichkeit<br />

zu engagieren, ist erfreulich hoch. Und das zeigt auch die Erfolgsgeschichte der Initiative<br />

„Lokale Bündnisse <strong>für</strong> <strong>Familie</strong>“. Anfang 2003 ins Leben gerufen, sind heute weit über 200<br />

Bündnisse aktiv <strong>und</strong> an weiteren 400 Standorten findet die Beratung zur Gründung dieser<br />

Bündnisse statt. Das sind 24 Millionen Menschen, die in diesen Bündnisstandorten leben; <strong>für</strong><br />

24 Millionen Menschen wird ganz konkret <strong>für</strong> die Verbesserung der <strong>Familie</strong>nsituation vor Ort<br />

gearbeitet. 1.200 Unternehmen sind Partner dieser großen Initiative <strong>und</strong> unser Ziel ist es,<br />

dieses Projekt fortzuführen, weiterzuentwickeln <strong>und</strong> auf eigene Beine zu stellen, also<br />

Nachhaltigkeit zu sichern. Die Perspektiven sind gut, denn auch der zukünftige<br />

Koalitionspartner erkennt die Qualität einer Politik, die in Allianzen denkt <strong>und</strong> handelt.<br />

Meine Damen <strong>und</strong> Herren, die Weichen sind gestellt, Perspektiven aufgezeigt; B<strong>und</strong>, Länder<br />

<strong>und</strong> Kommunen <strong>und</strong> wichtige gesellschaftliche Kräfte haben sich auf den Weg gemacht. Ich<br />

bin überzeugt, dass wir erfolgreich sein können, unser Land familienfre<strong>und</strong>lich <strong>und</strong> damit<br />

zukunfts- <strong>und</strong> wachstumsfähig zu machen. Ihre Initiative <strong>für</strong> neue Wege <strong>und</strong> mehr Bewegung<br />

sind richtungsweisend. Die <strong>Familie</strong>npolitik in Deutschland hat in Brandenburg einen<br />

15


wichtigen Verbündeten <strong>und</strong> das soll auch so bleiben. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg <strong>für</strong> Ihre<br />

heutige Tagung. Vielen Dank <strong>für</strong> Ihre Aufmerksamkeit.<br />

Applaus<br />

4. „Innovative Projekte zur <strong>Familie</strong>npolitik“<br />

Talkr<strong>und</strong>e mit Heidrun Wetzk, Michaela Hänsel <strong>und</strong> Uwe Rühling<br />

Moderatorin Judith Grümmer<br />

Ja, herzlichen Dank noch einmal an den Staatssekretär Peter Ruhenstroth-Bauer. Machen<br />

wir jetzt, meine Damen <strong>und</strong> Herren, einen Sprung von der Politik in den ganz realen Alltag<br />

von <strong>Familie</strong>n. Machen wir einen Sprung in die Praxis. Drei Projekte möchte ich Ihnen jetzt<br />

vorstellen <strong>und</strong> die füllen schon heute ganz wichtige Leitlinien von dem, was das<br />

brandenburgische Programm <strong>für</strong> <strong>Familie</strong>n- <strong>und</strong> Kinderfre<strong>und</strong>lichkeit formuliert hat. Ich darf<br />

herzlich begrüßen Heidrun Wetzk, Michaela Hänsel <strong>und</strong> Uwe Rühling, die ich jetzt zu mir<br />

bitten möchte.<br />

Applaus<br />

Ich werde jetzt erst einmal im Gespräch mit den drei Gesprächspartnerinnen <strong>und</strong> -partnern<br />

die Projekte kurz vorstellen <strong>und</strong> dann eine kleine Talkr<strong>und</strong>e anschließen. Beginnen <strong>und</strong> noch<br />

einmal persönlich begrüßen möchte ich Heidrun Wetzk, die Leiterin der Kindertagesstätte<br />

Rappelkiste in Vetschau. Hier ist die Vereinbarkeit von <strong>Familie</strong> <strong>und</strong> Beruf ja Konzept der<br />

Einrichtung. Sie machen ja beides, zum einen sind Sie <strong>Arbeit</strong>geber, auf der anderen Seite<br />

bieten Sie eben schon sehr frühzeitig Betreuungsangebote <strong>für</strong> Kinder an, sehr frühzeitig im<br />

wahrsten Sinne des Wortes, nämlich schon ganz früh morgens, Frau Wetzk.<br />

Heidrun Wetzk<br />

Ja, ich bin Kita-Leiterin einer der Landeskonsultationskitas im Land Brandenburg. Auch<br />

daran sehen Sie, dass das Land wirklich sehr viel tut <strong>für</strong> innovative Modelle, die wir vor<br />

vielen Jahren begonnen haben. Vor 10 Jahren haben wir begonnen, ein eigenes Raum- <strong>und</strong><br />

Strukturkonzept genau unter der Maßgabe zu entwickeln, wie wir nicht nur kinderfre<strong>und</strong>lich<br />

sein können – als Kindertagesstätte, denke ich, ist das eine Gr<strong>und</strong>voraussetzung –, sondern<br />

wie wir es auch unter den veränderten gesellschaftlichen Bedingungen schaffen können,<br />

unsere <strong>Familie</strong>n mit ins Boot zu holen, familienfre<strong>und</strong>lich pädagogisch tätig zu werden, um<br />

die Vereinbarkeit von <strong>Familie</strong> <strong>und</strong> Beruf auch wirklich abzusichern. Dabei dürfen wir nicht<br />

aus den Augen verlieren, dass sich die <strong>Familie</strong>nverhältnisse gr<strong>und</strong>legend verändert haben.<br />

16


Auf der einen Seite gibt es <strong>Familie</strong>n, die sehr flexible <strong>Arbeit</strong>szeiten <strong>und</strong> lange Anfahrtswege<br />

haben, auf der anderen Seite <strong>Familie</strong>n, die von <strong>Arbeit</strong>slosigkeit betroffen sind <strong>und</strong> die<br />

aufgr<strong>und</strong> des Rechtsanspruchs im Land Brandenburg ihre Kinder zeitlich begrenzt in die<br />

Einrichtung bringen dürfen. Die Kindertagesstätten müssen durch flexible Öffnungszeiten auf<br />

diese gesellschaftlichen Veränderungen reagieren. (...)<br />

Wir gehören zu den fünf Kerneinrichtungen, die auf der Gr<strong>und</strong>lage, auch das wird vom Land<br />

Brandenburg unterstützt, der elementaren Bildung <strong>und</strong> dem Handlungskonzept des 10-<br />

Stufenprojektes Bildung arbeiten. Auf dieser Gr<strong>und</strong>lage haben wir versucht, unsere<br />

Bildungsarbeit täglich zu organisieren <strong>und</strong> umzusetzen.<br />

Judith Grümmer<br />

Wie sieht das denn ganz konkret aus?<br />

Heidrun Wetzk<br />

Die Strukturen in unserer Kindertagesstätte haben sich völlig verändert. Jeder kennt das<br />

klassische Modell Erzieher-Kind-Gruppe, das werden Sie in unserer Einrichtung so nicht<br />

mehr vorfinden. Wir haben große Abteilungen gebildet; Erzieher arbeiten so, wie sie das ein<br />

Stück weit, wenn sie Pädagoge sind, aus der Reggio-Pädagogik kennen. Eltern <strong>und</strong> auch<br />

Kinder können sich auf Vielfältigkeit einstellen. Wir haben Bildungsinseln geschaffen, wir<br />

haben uns mit den Bildungsbereichen der Kinder auseinander gesetzt. (...)<br />

Wir sind z. B. eine Einrichtung, die von 5.30 Uhr bis 19.00 Uhr öffnet – <strong>und</strong> nicht deshalb,<br />

weil die Eltern ihre Kinder irgendwo hinbringen wollen, weil sie sie „abgeben“, wie das ja<br />

immer so salopp gesagt wird, sondern weil wir uns flexibel auf ihre Bedürfnisse einstellen<br />

können <strong>und</strong> auch müssen. Denn wie gesagt, <strong>Arbeit</strong>sprozesse <strong>und</strong> <strong>Arbeit</strong>swege haben sich<br />

verändert. Eltern müssen weit zur <strong>Arbeit</strong> fahren usw. usf. <strong>und</strong> sie sind unendlich dankbar<br />

da<strong>für</strong>, wenn sie wissen, mein Kind wird nicht nur in der Zeit von 9.00 bis 9.30 Uhr in der so<br />

genannten Beschäftigung gebildet, sondern es wird auch, wenn es schon frühzeitig oder am<br />

Abend länger in der Einrichtung ist, wirklich auf einem hohen Niveau gebildet <strong>und</strong> betreut.<br />

Moderatorin Judith Grümmer<br />

Wie sieht denn der Alltag so eines Kindes aus? Also, stellen wir uns mal vor, ein Kind, was<br />

wirklich morgens sehr früh von den Eltern gebracht wird, auch noch müde <strong>und</strong> ein bisschen<br />

quengelig ist, vielleicht weil es eigentlich noch ein bisschen länger schlafen wollte, kommt zu<br />

Ihnen. Wie erlebt dieses Kind den Tag?<br />

Heidrun Wetzk<br />

17


Ja, dieses Kind muss erst mal nicht bis um 12.00 Uhr warten, weil da der Mittagschlaf<br />

angekündigt ist, weil das ja immer so war, sondern wenn es diese sehr zeitigen Kinder gibt,<br />

dürfen sie sich natürlich in der Kuschelecke noch mal niederlegen, sie dürfen auch noch<br />

einmal mit der Erzieherin kuscheln. Das Highlight <strong>für</strong> diese Kinder, die sehr zeitig in die<br />

Einrichtung kommen, ist unser gleitendes Frühstücksbuffet. Sie dürfen mit der Erzieherin<br />

oder mit der technischen Kraft ihr Frühstück vorbereiten. (...) Ich sage immer, alles was<br />

unsere Kinder selber tun können, das sollen sie auch selber tun dürfen. (...)<br />

Wir sind ja eine der fünf Kerneinrichtungen, die auf der Gr<strong>und</strong>lage des 10-Stufenprojektes<br />

Bildung arbeiten. Das ist ein pädagogisches Handlungskonzept, das immer auf die<br />

Entwicklungsprozesse des Kindes ausgerichtet ist. Da geht es in erster Linie darum, dass die<br />

Erzieherinnen ihre neue Rolle insofern verstehen müssen, als dass sie Abschied davon<br />

nehmen, dass sie die „gute Basteltante“ sind. Sie haben hier pädagogische Prozesse zu<br />

begleiten, sie zu beobachten <strong>und</strong> die Kinder daraufhin herauszufordern. Das heißt, sie haben<br />

den ganzen Tag die unterschiedlichsten Bildungsbereiche, Bildungsinseln zur Verfügung, die<br />

Bildungsbereiche Logik <strong>und</strong> Mathematik zum Beispiel. (...)<br />

Wir sind der Elementarbereich <strong>und</strong> wir haben eine eigenständige Bildungsaufgabe, die wir<br />

erfüllen wollen. Und wenn unsere politischen Vorredner dies auch in den Landtag <strong>und</strong> in den<br />

B<strong>und</strong>estag mitnehmen, wenn wir dieses hochwertige Ziel, was sich das Land Brandenburg<br />

heute gestellt hat <strong>und</strong> gemeinsam mit der B<strong>und</strong>esregierung erreichen will, vor Augen haben,<br />

möchte ich Sie bitten, einen Wunsch mitzunehmen: Bildung muss zum Nulltarif sein. Denn<br />

wenn ich mir Bildung kaufen muss, dann werde ich dieses hohe Ziel nicht erreichen können.<br />

Das wäre mein Wunsch.<br />

Moderatorin Judith Grümmer<br />

Zunächst, Frau Wetzk, vielen Dank. Michaela Hänsel ist die Gleichstellungsbeauftragte der<br />

Stadt Eisenhüttenstadt. Vielleicht stellen Sie ganz kurz Ihr Projekt vor, denn ich weiß, Sie<br />

sind in Eisenhüttenstadt seit Juli aktiv in einem lokalen Bündnis <strong>für</strong> <strong>Familie</strong>. Herzlich<br />

willkommen, Frau Hänsel!<br />

Michaela Hänsel<br />

Danke schön <strong>für</strong> die Begrüßung. Ich darf heute hier unser lokales Bündnis <strong>für</strong> <strong>Familie</strong>, das<br />

„Forum <strong>Familie</strong> Eisenhüttenstadt“, vertreten. Ich will gleich vorweg schicken, dass wir uns<br />

dieser Initiative nicht angeschlossen haben, weil sie denn gerade so schick ist oder gerade in<br />

aller M<strong>und</strong>e ist. Das wird nicht funktionieren, sondern dieses <strong>und</strong> auch jedes andere lokale<br />

Bündnis, das ist bisher unsere Erfahrung, wird nur funktionieren, wenn es aus der Region<br />

wächst, wenn es Dinge aufgreift, die in der Region unter den Nägeln brennen, <strong>und</strong> wo auch<br />

Menschen, Bürgerinnen <strong>und</strong> Bürger, <strong>und</strong> daneben freie Träger <strong>und</strong> Vereine, bereit sind hier<br />

18


miteinander ins Gespräch zu kommen <strong>und</strong> zu überlegen, wie können wir gemeinsam etwas<br />

machen.<br />

Und das ist unser Ansatz gewesen, unser Projekt ist so ein Stück weit entstanden aus<br />

diesem Prozess „Eisenhüttenstadt 2030“. Das war ja ein b<strong>und</strong>esweites Projekt, wo man<br />

überlegt, wie die Stadt 2030 aussehen soll. Es war teilweise sehr umstritten <strong>und</strong> wurde auch<br />

kontrovers diskutiert, denn uns bewegen momentan Probleme wie <strong>Arbeit</strong>slosigkeit <strong>und</strong><br />

Abwanderung. Wie können wir Perspektiven schaffen hier in der Stadt? Stadtumbau ist<br />

natürlich ein großes Thema gerade bei uns in der Region, weil diese Umwälzungsprozesse<br />

sich ganz konkret auch im Stadtbild ausdrücken. Wir haben Gebiete bei uns in der Stadt, die<br />

abgerissen werden. Das kennen wir aus anderen Regionen <strong>und</strong> Städten wie Schwedt usw.<br />

auch.<br />

Es muss aber nichts Negatives sein, denn es bietet ja auch Chancen zu neuer Entwicklung<br />

<strong>und</strong> neuen Ansätzen. Und so wollten wir eigentlich damit umgehen <strong>und</strong> deswegen haben wir<br />

gesagt, wir möchten hier die Initiative ergreifen <strong>und</strong> es geht darum, diese unabdingbaren<br />

Prozesse, die auf uns zukommen, zu gestalten. Mit diesen Prozessen leben wir ja jetzt<br />

schon. Wie gehen wir damit um? Entweder wir sagen, ja gut, das überkommt uns halt, wir<br />

können das nicht ändern. Oder man überlegt, wie man diese Prozesse positiv begleiten kann<br />

<strong>und</strong> wirklich auch gemeinsam gestalten kann. Ich möchte den Schwerpunkt wirklich dann<br />

auch auf dieses Gestalten legen.<br />

Moderatorin Judith Grümmer<br />

Frau Hänsel, wenn ich da mal nachfragen darf: Das Spannende an den lokalen Bündnissen<br />

ist ja, dass dort Menschen aus ganz verschiedenen Bereichen zusammen an einem Tisch<br />

sitzen. Zunächst einmal etwas, wo auch nicht sehr viel Geld investiert werden muss, weil<br />

man schon vorhanden Ressourcen bündeln kann. Wer sitzt bei Ihnen am Tisch <strong>und</strong> wie läuft<br />

das lokale Bündnis ganz konkret ab?<br />

Michaela Hänsel<br />

Uns kommt es darauf an, ein breites Bündnis herzustellen, an dem viele beteiligt sind.<br />

Natürlich hat hier die Kommune die Initiative übernommen, dieses lokale Bündnis ist auf<br />

Initiative von Herrn Reiner Werner, dem Bürgermeister der Stadt, <strong>und</strong> dem <strong>Arbeit</strong>sdirektor<br />

der EKO Stahl GmbH, des größten regionalen <strong>Arbeit</strong>gebers, entstanden. Die haben dazu<br />

aufgerufen, ganz einfach aus dem Gesichtspunkt heraus, (...) dass die Kommune es alleine<br />

unter den Rahmenbedingungen nicht schaffen kann. Hier müssen viele mit anpacken <strong>und</strong><br />

unser Ansinnen ist es eigentlich, neben denen, die schon immer in diesen sozialen<br />

Bereichen tätig gewesen sind <strong>und</strong> wo es auch schon viele gute Ansätze gegeben hat,<br />

andere, die das bisher nicht so betrachtet haben, da<strong>für</strong> zu interessieren, sich im Sinne von<br />

19


Kinder- <strong>und</strong> <strong>Familie</strong>nfre<strong>und</strong>lichkeit einzusetzen. Insbesondere haben wir da natürlich die<br />

Unternehmen im Visier. Unternehmen haben natürlich auch ein Interesse daran, sie möchten<br />

engagierte Mitarbeiterinnen <strong>und</strong> Mitarbeiter haben. Da gibt es sicherlich unter den<br />

wirtschaftlichen Zwängen, unter denen die Unternehmen stehen, die ja miteinander<br />

konkurrieren, starke Eigeninteressen, <strong>und</strong> da muss man gucken, wie kommt man<br />

gemeinsam in ein Boot. Und das gelingt teilweise schon ganz gut.<br />

EKO hat hier viele Initiativen gestartet, auch in den vergangenen Jahren schon. Bei uns gibt<br />

es z. B. ein AWO-Kinderhotel, das nennen wir so, wo es insbesondere Angebote gibt, die<br />

über den normalen Kita-Regelbetrieb hinausgehen. Es richtet sich an Eltern <strong>und</strong><br />

insbesondere an Alleinerziehende, die z. B. im Schichtbetrieb tätig sind, die ja auch am<br />

Wochenende Betreuung benötigen. Dieses Projekt wird schon länger von EKO <strong>und</strong><br />

regionalen <strong>Arbeit</strong>gebern mit finanziert, darüber hinaus sowohl von der Kommune als auch<br />

von den Eltern, die das in Anspruch nehmen. (...)<br />

In erster Linie geht es uns auch darum, diesen Gedanken der Kinder- <strong>und</strong><br />

<strong>Familie</strong>nfre<strong>und</strong>lichkeit auch innerhalb unseres Betriebes erst mal zu verankern. Dass also<br />

auch <strong>Familie</strong>n- <strong>und</strong> Kinderfre<strong>und</strong>lichkeit eine Rolle spielt, wenn ich den Haushaltsplan<br />

aufstelle, wenn ich im Stadtumbau Projekte mache, wenn ich Stadtplanung betreibe, wenn<br />

ich Wirtschaftsförderung betreibe; überall geht es uns darum, diesen Gedanken ein<br />

Stückchen weit mitzudenken. Das kostet erst mal gar kein Geld. (...)<br />

Moderatorin Judith Grümmer<br />

Vielen Dank, Michaela Hänsel. Dritter in der Gesprächsr<strong>und</strong>e ist Uwe Rühling, Mitarbeiter<br />

des AWO B<strong>und</strong>esprojektes „Mobile <strong>Familie</strong>nbildung“. Auch Ihnen herzlich willkommen.<br />

Vielleicht erklären Sie einmal ganz kurz, was ist mobile <strong>Familie</strong>nbildung?<br />

Uwe Rühling<br />

Wir verstehen uns als ein Büro, ein Beratungsanbieter <strong>für</strong> Akteure, die vor Ort aktiv sind im<br />

Bereich <strong>Familie</strong>nbildung, um sie zu unterstützen bei ihren Vorhaben, bei ihren Initiativen.<br />

Das können eben ganz verschiedene Zielgruppen sein. Also das geht zum einen klassisch in<br />

den Bereich Jugendhilfe, aber eben auch über den Bereich Jugendhilfe hinaus in<br />

Ges<strong>und</strong>heitseinrichtungen, in Bildungseinrichtungen, aber eben auch in Zusammenarbeit mit<br />

Verbänden. Und wir haben auch den Anspruch über die klassischen sozialen Tätigkeitsfelder<br />

hinaus in Wirtschaftsorganisationen zu wirken, um sie <strong>für</strong> lokale Vorhaben einzubeziehen.<br />

Moderatorin Judith Grümmer<br />

20


Wir hatten ja eben schon gehört, dass natürlich Bildung auch in den Kindergärten vermittelt<br />

wird. Sie hatten vor allen Dingen jetzt <strong>für</strong> die Kinder gesprochen, aber es geht ja auch um<br />

Bildung <strong>für</strong> Eltern.<br />

Uwe Rühling<br />

Genau. Also das ist genau unsere Zielgruppe. Wir möchten gerne die Angebote stärken, die<br />

insbesondere Eltern dabei unterstützen, ihre Erziehungsverantwortung wahrzunehmen <strong>und</strong><br />

ihre – wie das auch in dem Papier der Landesregierung formuliert ist – Erziehungskraft zu<br />

stärken.<br />

Wenn eine Mutter Probleme hat oder ein Vater Probleme hat, ist die Frage, wohin er sich<br />

wenden kann, wohin er gehen kann. Da haben wir es bisher in Brandenburg erlebt, dass die<br />

Wege in den Regionen sehr unterschiedlich sind. Also die Ansprechpartner sind sehr<br />

unterschiedlich. Ich habe so ein schönes Beispiel von dieser Woche, da habe ich mit fast<br />

allen Jugendämtern in Brandenburg telefoniert <strong>und</strong> ganz häufig auf den ersten Blick eben<br />

keine Ansprechpartner <strong>für</strong> <strong>Familie</strong>nthemen gef<strong>und</strong>en. Das ging dann über drei, vier<br />

Verbindungen, bis man dann denjenigen hatte, der sich <strong>für</strong> <strong>Familie</strong> im Jugendamt zuständig<br />

fühlt. Und das ist, denke ich, ein Problem.<br />

Die Zugänge <strong>für</strong> <strong>Familie</strong>n, <strong>für</strong> Eltern zu Unterstützungsangeboten müssen niedrigschwelliger<br />

<strong>und</strong> einfacher werden. Und da ist es ein Weg, <strong>Familie</strong>nbildungsangebote beispielsweise in<br />

Kitas zu integrieren, aber eben nicht ausschließlich. Ich denke, es gibt nach wie vor auch<br />

Bedarfe von <strong>Familie</strong>n nach Unterstützung, die über die Kita-Zeit hinausgehen. Es gibt<br />

biografische Lebensphasen, wie Pubertät <strong>und</strong> Berufsfindung, wo <strong>Familie</strong>n <strong>und</strong> dann wieder<br />

die Kinder als junge Erwachsene Unterstützung brauchen. Wie kann ich beispielsweise mit<br />

Schwangerschaft umgehen, also mit erwartbarer Elternschaft? Also da denke ich, da<br />

müssen Angebote zur <strong>Familie</strong>nbildung gestärkt werden <strong>und</strong> zwar in der Form gestärkt<br />

werden, dass sie <strong>für</strong> große Teile der Bevölkerung auch zugänglich sind. (...)<br />

Heidrun Wetzk<br />

Herr Rühling hat ja noch einmal gesagt, gerade mit der Zielstellung <strong>Familie</strong>nkompetenzen zu<br />

erhöhen, kann die Kindertagesstätte natürlich einen ganz, ganz wichtigen Part übernehmen.<br />

Seit vielen Jahren gibt es in unserer Einrichtung, das ist ja üblich so, eine<br />

Elternversammlung, wo man allgemeine organisatorische Dinge bespricht. Aber wir haben<br />

dann <strong>für</strong> uns entschieden, das passt eigentlich nicht mehr in unsere heutige Zeit, das reicht<br />

nicht aus.<br />

Eltern, die zu uns kommen, die auch Probleme haben, die sie bewegen, die brauchen etwas<br />

anderes. Und wir bieten nun seit einigen Jahren Interaktionstrainings <strong>für</strong> Eltern an. So<br />

können Eltern sich selber in den Handlungen mit ihren Kindern auf der Gr<strong>und</strong>lage von<br />

21


Videoaufnahmen beobachten. Wir bieten Elternforen an, wo Eltern sich in Interessengruppen<br />

zusammenfinden, wo sie sich ihre Themen selbst aussuchen können. Da ist natürlich die<br />

Kindertagesstätte auch ein guter Partner da<strong>für</strong>, weil so etwas ja auch nur dann funktioniert,<br />

wenn eine solide Vertrauensbasis vorhanden ist. Denn ich gehe ja mit meinem Problem zu<br />

einer Person, zu der ich Vertrauen habe, ich trage ja meine Probleme nun nicht unbedingt in<br />

alle Welt hinaus. Und das, denke ich, kann eine gute Möglichkeit sein, bei Eltern<br />

<strong>Familie</strong>nkompetenzen zu erhöhen <strong>und</strong> sie gemeinsam mit Pädagogen <strong>und</strong> im Austausch mit<br />

anderen Eltern ein Stück weit fit zu machen.<br />

Moderatorin Judith Grümmer<br />

Und was bieten Sie konkret Eltern an, deren Kinder dem Kindergartenalter schon<br />

entwachsen sind, die werden ja dann nicht mehr <strong>für</strong> Bildungsangebote in den Kindergarten<br />

gehen?<br />

Uwe Rühling<br />

(...) Wir haben mit unserem Projekt gemeinsam mit dem <strong>Arbeit</strong>skreis Neue Erziehung<br />

konkret vor – vielleicht kennt den <strong>Arbeit</strong>skreis der eine oder andere hier im Publikum durch<br />

die Elternbriefe, deren Versand durch das Land Brandenburg unterstützt wird –, in<br />

Kooperation mit der Landesarbeitsgemeinschaft <strong>für</strong> <strong>Familie</strong>nbildung eine Internetdatenbank<br />

zusammenzustellen, die <strong>für</strong> Berlin schon existiert. Diese Datenbank wollen wir auf<br />

Brandenburg ausweiten, wo nach Landkreisen <strong>und</strong> Kommunen sortiert <strong>Familie</strong>n<br />

unterstützende Angebote <strong>für</strong> Eltern abrufbar sind, auch mit Verweisen auf die<br />

entsprechenden Homepages. Das soll, eben um das Prinzip Niedrigschwelligkeit zu<br />

gewährleisten, durch eine telefonische Beratung begleitet werden. Und das ist aus meiner<br />

Sicht ein Vorhaben, von dem viele Eltern profitieren können, was relativ kostengünstig ist,<br />

weil die gesamte technische Infrastruktur vorhanden ist, <strong>und</strong> wo man aber eben trotzdem die<br />

eine oder andere Unterstützung vom Land da<strong>für</strong> braucht.<br />

Michaela Hänsel<br />

Ja, die Eltern gehen vielleicht nicht mehr in die Kita, aber vielleicht in das Kitagebäude, weil<br />

es nämlich dort in dem Wohngebiet eine gemeinwesenorientierte Einrichtung gibt, die<br />

nämlich nicht nur im Kita-Bereich tätig ist, sondern wirklich auch in Kooperation mit anderen<br />

Trägern arbeitet. Das kann z. B. ein Förderverein sein, der sich auf Initiative von Eltern, von<br />

Bürgern gegründet hat, wie bei uns an einer Einrichtung, <strong>und</strong> solche zusätzlichen Angebote<br />

macht, nämlich z. B. im Freizeitbereich. Das können auch Angebote <strong>für</strong> Eltern sein, die ihre<br />

Kinder noch nicht in der Kita haben, aber schon den Bezug zur Kita haben. Denn wir haben<br />

die Erfahrung bei uns in der Stadt gemacht, die auch eine Befragung von Eltern oder von<br />

22


Bürgern bei uns bestätigt hat, dass die Institution Kita sehr positiv wahrgenommen wird.<br />

Diese Hemmschwelle, vielleicht zu einer Erziehungsberatungsstelle zu gehen, ist in diesem<br />

Bereich nicht da. Und deswegen wollen wir diese Projekte stärken <strong>und</strong> darauf weiter<br />

aufbauen. Das sind so unsere Gedanken in der Stadt.<br />

Uwe Rühling<br />

Ja, zumal in ländlichen Regionen Kitas häufig auch noch die einzigen Orte sind, die<br />

vorhanden sind. Wenn es keine Schulen mehr gibt, wenn andere soziale Infrastruktur fehlt,<br />

klar, dann muss man die Gegebenheiten nutzen, die vorhanden sind. Und Kita ist da<br />

eindeutig ein wichtiger Ort. Das sehe ich auch so.<br />

Heidrun Wetzk<br />

Vielleicht sollte man dabei auch nicht den generationsübergreifenden Aspekt vergessen. Es<br />

geht ja hier um generationsübergreifende <strong>Familie</strong>nfre<strong>und</strong>lichkeit. Da gehören nun mal auch,<br />

wenn wir über Kita-Kinder <strong>und</strong> <strong>Familie</strong>n reden, die sich Kinder anschaffen wollen, Oma <strong>und</strong><br />

Opa dazu. Wenn ich das sehe, wie Eltern heute gerade auf die Großeltern angewiesen sind,<br />

dann zeigt sich schon, dass der eine gar nicht mehr ohne den anderen kann. Und das zu<br />

unterstützen ist ganz wichtig, um die Generation, die vielleicht früher aus dem<br />

<strong>Arbeit</strong>sprozess ausgeschieden ist als sie eigentlich gewollt hat, durch neue Aufgaben ein<br />

Stück weit zu stärken. Die Großelterngeneration gehört zur <strong>Familie</strong>nfre<strong>und</strong>lichkeit einfach<br />

dazu.<br />

Moderatorin Judith Grümmer<br />

Ja, vielen Dank an dieser Stelle. So viel zu diesen innovativen Projekten. Sie werden<br />

natürlich im Laufe des Tages noch Gelegenheit haben, miteinander ins Gespräch zu<br />

kommen. Ich darf jetzt schon einmal darauf hinweisen, dass es im Obergeschoss die<br />

Möglichkeit gibt, sich über weitere Projekte zu informieren. Vielen Dank, sage ich erst mal<br />

Ihnen.<br />

Applaus<br />

5. „<strong>Familie</strong>npolitik in Brandenburg“<br />

Talkr<strong>und</strong>e mit Ministerin Dagmar Ziegler, Staatssekretär Martin Gorholt <strong>und</strong> Prof. Dr. Hans<br />

Bertram<br />

Moderatorin Judith Grümmer<br />

23


Ja, <strong>und</strong> nun begrüßen möchte ich Frau Ziegler, Ministerin <strong>für</strong> <strong>Arbeit</strong>, <strong>Soziales</strong>, Ges<strong>und</strong>heit<br />

<strong>und</strong> <strong>Familie</strong> hier im Land Brandenburg. Wir haben eine kleine Talkr<strong>und</strong>e mit beginnenden<br />

Statements geplant. Dazu ins Gespräch werden Martin Gorholt, Staatssekretär im<br />

<strong>Ministerium</strong> <strong>für</strong> Bildung, Jugend <strong>und</strong> Sport im Land Brandenburg <strong>und</strong> Herr Professor<br />

Bertram, <strong>Familie</strong>nsoziologe der Humboldt-Universität zu Berlin, kommen. Wir beginnen, Frau<br />

Ministerin, mit Ihnen. Herzlich willkommen noch einmal!<br />

Applaus<br />

Ministerin Dagmar Ziegler<br />

Ich nehme wahr, meine sehr verehrten Damen <strong>und</strong> Herren, dass <strong>Familie</strong>nfre<strong>und</strong>lichkeit ein<br />

ganz spannendes Thema ist. Viele Menschen sind hergekommen, wo<strong>für</strong> ich sehr, sehr<br />

dankbar bin als zuständige Ministerin (...).<br />

Ich bin sehr froh, dass das Kabinett die Leitlinien der <strong>Familie</strong>npolitik beschlossen hat. Wir<br />

sind ein großes Stück weiter in dem Bestreben, <strong>Familie</strong>nfre<strong>und</strong>lichkeit im Land Brandenburg<br />

erlebbar zu machen.<br />

Aber wir wissen auch, es gibt keinen politischen Beschluss, der das Leben in unserem<br />

Lande regeln könnte. Wir können uns im Kabinett hinsetzen <strong>und</strong> mit den Fraktionen im<br />

Landtag irgendetwas beschließen – umgesetzt werden muss es im Land. Es wurde schon<br />

mehrfach gesagt: Es bedarf vieler, vieler Akteure. Wir haben ja schon gute Beispiele gehört<br />

<strong>und</strong> ich wünsche mir, dass heute aus dieser Konferenz als Signal hervorgeht, dass wir uns<br />

zuerst alle, so wie wir hier sitzen, überlegen, welchen Beitrag kann ich denn leisten, welche<br />

Anstrengungen kann ich denn unternehmen, um familienfre<strong>und</strong>liche Gemeinde zu werden,<br />

um familienfre<strong>und</strong>liches Unternehmen zu werden. Nur dann wird es gelingen, dass wir diese<br />

Puzzlesteine zusammentragen <strong>und</strong> am Ende sagen können: Jawohl, wir sind alle auf<br />

demselben Weg gewesen, haben alle an dem einen Ziel gearbeitet <strong>und</strong> es auch gemeinsam<br />

erreicht. Es bringt uns nichts, wenn wir am Ende der Legislatur sagen: Wir haben das Ziel<br />

gewollt, aber irgendwie haben wir unsere Partner auf dem Weg verloren. Wir haben gar nicht<br />

miteinander geredet <strong>und</strong> eigentlich können wir das auch gar nicht alles alleine<br />

bewerkstelligen.<br />

Wir haben heute den Auftakt, uns dessen bewusst zu werden, dass wir gemeinsame<br />

Verantwortung tragen. Und wir werden uns in einigen Jahren fragen lassen müssen – <strong>und</strong><br />

zwar gemeinsam fragen lassen müssen –, ob wir unsere Verantwortung tatsächlich auch<br />

wahrgenommen haben. Das sollten wir im Hinterkopf behalten.<br />

Nun aber zu den einzelnen Themen. Mein Haus bewegt selbstverständlich insbesondere die<br />

vorgeburtliche <strong>Familie</strong>nsituation <strong>und</strong> die Frage der Entscheidung <strong>für</strong> eine <strong>Familie</strong>. Ist es in<br />

24


unserem Land möglich, Kinder großzuziehen, ges<strong>und</strong> großzuziehen, haben sie die gleichen<br />

Chancen wie in anderen B<strong>und</strong>esländern? Das wollen wir verstärkt unter die Lupe nehmen.<br />

Ges<strong>und</strong> <strong>und</strong> gewaltfrei Aufwachsen ist dabei ein ganz wichtiges Thema, Fürsorge <strong>für</strong> die<br />

Mütter, die Väter <strong>und</strong> die Kinder so früh wie möglich.<br />

Wir möchten, dass unsere Kinder so früh wie möglich Unterstützungs- <strong>und</strong><br />

Beratungsangebote bekommen. Das wird in Finnland mit einem schönen Starter-Paket, etwa<br />

im Wert von 200 Euro, unterstützt, so dass eben die <strong>Familie</strong>n das sehr wohl freiwillig<br />

annehmen. 98 % der <strong>Familie</strong>n gehen in die so genannte Beratungsstelle Neuvola <strong>und</strong> lassen<br />

sich da fortwährend informieren <strong>und</strong> beraten. Aber die Beratungsstelle hat noch eine weitere<br />

Funktion. Sie hat nämlich die Möglichkeit, auch die <strong>Familie</strong> kennen zu lernen. Die Männer,<br />

die Väter sind nicht nur erwünscht, sondern sie gehen sogar fast immer mit. Und dann ist die<br />

<strong>Familie</strong> in der Obhut der Beratungsstelle. Nicht nur Mutter <strong>und</strong> Kind oder Vater <strong>und</strong> Kind,<br />

sondern die <strong>Familie</strong> insgesamt. Dabei lernen die Kinderärzte <strong>und</strong> die Schwestern die ganze<br />

<strong>Familie</strong> kennen, sie lernen ihre Problemlagen kennen. Sie stellen fest, wenn möglicherweise<br />

ein Vater – ich sage das jetzt nur als Beispiel, das ist nicht diskriminierend gemeint – , wenn<br />

er ein Alkoholproblem hat, dann wird das ohne große datenschutzrechtliche Hindernisse<br />

weitergetragen mit dem Einverständnis auch des Mannes. Die Unterstützungsangebote<br />

setzen dort eben schon sehr früh ein, wenn die <strong>Familie</strong>n diese Probleme mitbringen.<br />

Das wollen wir gerne – soweit es geht – auch in unserem Land voranbringen. Und es darf<br />

nicht mehr möglich sein, dass man innerhalb von Kreisverwaltungen auf den Datenschutz<br />

verweist – <strong>und</strong> deswegen sagt man sich nicht innerhalb einer Verwaltung, was man weiß.<br />

Und wir haben dankenswerter Weise mit der Datenschutzbeauftragten ein erstes Gespräch<br />

dazu führen können; sie wohnt heute auch dieser Tagung hier bei <strong>und</strong> hört sich das alles an.<br />

Wir werden sehr eng im Kontakt miteinander bleiben, weil wir möchten, dass Datenschutz<br />

uns hilft <strong>und</strong> nicht behindert. Datenschutz ist kein Selbstzweck, sondern er soll dazu dienen,<br />

Menschenrechte zu schützen. Aber die Abgrenzung zwischen Kindeswohl <strong>und</strong> Datenschutz<br />

muss sehr wohl gesellschaftlich anerkannt diskutiert werden <strong>und</strong> dann auch akzeptiert<br />

werden. Und daran werden wir ein Stück weit arbeiten. Ich habe auch schon lernen müssen,<br />

dass der Verweis auf den Datenschutz manchmal nur eine Ausrede ist. Und oftmals ist das<br />

gar nicht der wirkliche Gr<strong>und</strong>, warum man sich mit einem Sachverhalt nicht eingehend<br />

beschäftigen kann. Das ist etwas, die Ges<strong>und</strong>heit von Neugeborenen <strong>und</strong> die Betreuung der<br />

<strong>Familie</strong>n von Anfang an, was wir vorantreiben wollen.<br />

Es geht aber weiter, darüber werden wir nachher noch diskutieren: Erwerbsarbeit <strong>und</strong><br />

<strong>Familie</strong> unter einen Hut zu bringen, ist ein zweiter wichtiger Punkt. Dazu haben wir schon<br />

einiges gehört.<br />

Und einen dritten Schwerpunkt will ich noch ansprechen. Wir haben heute sehr viel über<br />

Mutter, Vater, Kind diskutiert, aber zur <strong>Familie</strong> gehört auch die ältere Generation. Und ich<br />

25


lege großen Wert darauf, dass wir die Potentiale unserer älteren Mitmenschen nutzen. Denn<br />

wir definieren oftmals unsere Seniorinnen <strong>und</strong> Senioren sehr stark nur nach<br />

Pflegebedürftigkeit <strong>und</strong> hohen Kosten im Ges<strong>und</strong>heitswesen, aber wir vernachlässigen, dass<br />

in diesem Alter zwischen 60 <strong>und</strong> 80 ein Spektrum an Wissen, an Lebenserfahrung <strong>und</strong> an<br />

Potentialen vorhanden ist, die es einfach gilt zu nutzen. Wir sind auf diese Potentiale<br />

angewiesen, weil uns oftmals die Zeit als Eltern fehlt, auch die Kita nicht alles lösen kann<br />

<strong>und</strong> dann in der Schule die Angebote verstärkt werden könnten durch Patenschaften mit der<br />

älteren Generation, die sehr viel einzubringen hat. Der Seniorenbeirat hat bei mir schon<br />

mehrfach auf der Matte gestanden <strong>und</strong> gesagt: „Mensch, wir bieten uns wie Sauerbier an<br />

den Schulen an, aber die nehmen uns einfach nicht wahr oder wollen unsere Angebote nicht<br />

wahrnehmen.“ Dann sind wir sozusagen die Multiplikatoren im Lande, um zu sagen: Was ist<br />

eigentlich in unserer Schule los? Gehen wir doch mal hin, das können wir doch mal unter die<br />

Lupe nehmen! Warum können auch nicht fitte Omas <strong>und</strong> Opas Hausaufgaben mit unseren<br />

Kindern machen <strong>und</strong> aus ihrem Leben erzählen?<br />

Das nützt uns allen <strong>und</strong> schadet niemanden. Und die Älteren fühlen sich gebraucht <strong>und</strong> sie<br />

werden auch gebraucht. Und dieses Potential noch mal verstärkt in die Diskussion mit<br />

aufzunehmen, wünsche ich mir, <strong>und</strong> ich hoffe, dass Sie das ähnlich sehen. Und dass wir alle<br />

Potentiale, die wir selbst haben, ausnutzen, das kostet alles kein Geld. Das muss man<br />

deutlich sagen. Das ist alles, was wir umsonst haben können, was uns aber unheimlich viel<br />

bringen wird. Danke schön.<br />

Moderatorin Frau Judith Grümmer<br />

Vielen Dank, Frau Ministerin. Martin Gorholt, Staatssekretär im <strong>Ministerium</strong> <strong>für</strong> Bildung,<br />

Jugend <strong>und</strong> Sport hier im Lande Brandenburg. Auch Ihnen ein Willkommen! Auch Sie<br />

möchten zunächst ein kurzes Statement abgeben <strong>und</strong> dann kommen Sie zu uns in die<br />

R<strong>und</strong>e.<br />

Staatssekretär Martin Gorholt<br />

Sehr geehrte Damen <strong>und</strong> Herren. Ich will kurz in drei Punkten die Schwerpunkte benennen,<br />

die wir versucht haben in den <strong>Familie</strong>nbericht der Landesregierung einzubringen. Das sind<br />

dann auch zumindest z. T. die kontroversen Punkte gewesen. Der Ministerpräsident hat ja<br />

von Unterjüngung gesprochen, d. h. das demografische Problem bedeutet vor allen Dingen,<br />

wir haben zu wenig junge Menschen im Land. Wir haben zwar auch das Problem zu viele<br />

alte Menschen zu haben, wenn wir die Rente bezahlen müssen. Aber das ist nicht das<br />

eigentliche gesellschaftspolitische Problem. Sondern das gesellschaftspolitische, vielleicht<br />

auch wirtschaftpolitische Problem ist, dass wir zu wenig junge Leute haben, gemessen<br />

26


daran, was wir <strong>für</strong> einen Stand an Qualifikation <strong>und</strong> an Fachkräften haben müssen, damit<br />

eine kreative Wirtschaft in unserem Land existiert.<br />

Deshalb müssen wir versuchen, diese jungen Menschen auf einen höheren Bildungsstand<br />

zu bringen als wir bisher die jungen Menschen gebracht haben. Wenn wir sozusagen nur<br />

halb so viele Kinder haben, aber in Zukunft genauso kreativ sein wollen wie bisher, müssen<br />

wir im Gr<strong>und</strong>e genommen da<strong>für</strong> sorgen, dass die Kinder doppelt so kreativ sind wie bisher.<br />

Das ist zwar eine Vision <strong>und</strong> Utopie, die wir nicht erreichen werden. Aber wir müssen<br />

trotzdem versuchen, niemanden zurückzulassen <strong>und</strong> möglichst niemanden mehr zu haben,<br />

der ohne Schulabschluss bleibt, <strong>und</strong> dabei möglichst viele zu einem hohen Schulabschluss<br />

zu bringen.<br />

Da besteht nun die Frage, wie schaffen wir das? Das schaffen wir nicht allein durch den<br />

Bereich Kindertagesstätte <strong>und</strong> nicht allein durch den Bereich Schule. Bildung <strong>und</strong> Erziehung<br />

finden natürlich noch in ganz anderen Bereichen statt: vor allen Dingen im Bereich <strong>Familie</strong>.<br />

Dies geschieht in besonderem Maße, bevor die Kindertagesstätte besucht wird, aber<br />

natürlich findet Bildung dann bis zum 16., 17., 18. Lebensjahr weiterhin in der <strong>Familie</strong> statt,<br />

wenn auch dann abnehmend. Genauso wichtig sind Peergroups, d.h. Jugendliche in<br />

gleichaltrigen Gruppen, die dort eine ganze Menge von ihren Fre<strong>und</strong>en lernen. Und dann<br />

leider auch die Medien, die einen sehr hohen Einfluss schon bei Kindern in ganz jungem<br />

Alter haben. Darauf muss man sich einstellen, das muss man wissen. Insofern spielt dann,<br />

wenn man über Bildung redet <strong>und</strong> möglichst alle zu einem möglichst hohen Abschluss führen<br />

will, auch eine Rolle, wie wir das organisieren <strong>und</strong> wie wir da die <strong>Familie</strong>n unterstützen<br />

können. Wie können wir Einfluss nehmen auf Peergroups? Beispielsweise durch<br />

außerschulische Jugendarbeit, indem wir Jugendorganisationen unterstützen, z.B. die<br />

Sportjugend oder die Feuerwehrjugend. Natürlich besteht auch die Frage, wie wir<br />

Medienerziehung, Medienbildung, Medienberatung organisieren. Das ist der erste wichtige<br />

Themenkomplex aus unserer Sicht.<br />

Zu unserem zweiten Punkt muss ich nicht viel sagen, denn das ist ja gerade durch das<br />

Beispiel aus Vetschau hervorragend dargestellt worden. Die Frage ist, wie organisieren wir<br />

solche Angebote <strong>für</strong> <strong>Familie</strong>n wirklich niedrigschwellig, wie kriegen wir tatsächlich die Eltern<br />

dorthin, die wir wirklich da haben wollen: die <strong>Familie</strong>n, bei denen es<br />

Erziehungsschwierigkeiten gibt, die sich in sozial schwierigen Situationen befinden. Und da<br />

ist aus unserer Sicht zumindest die Kita ein hervorragender Ort. Sicherlich nicht der einzige,<br />

aber ein besonders geeigneter Ort, weil wir ja gerade bei den 3- bis 6-jährigen Kindern eine<br />

Betreuungsquote von 95 % haben, d.h. die Väter oder Mütter gehen in die Kita, bringen dort<br />

ihr Kind hin <strong>und</strong> holen es auch wieder ab. Insofern ist es ein Ort, an dem die Eltern sich<br />

sowieso schon teilweise aufhalten. Wenn man dann versucht, dort Angebote in Bezug auf<br />

Erziehungsunterstützung, <strong>Familie</strong>nbildungsangebote zu organisieren, ist das hervorragend.<br />

27


Nur ist es leider so, dass noch nicht überall so gut <strong>und</strong> so hervorragend gearbeitet wird wie<br />

in Vetschau. Das würden wir gerne ausbauen <strong>und</strong> auch gerne in einem Modellversuch <strong>für</strong><br />

einen gesamten Landkreis einmal ausprobieren, wie dies tatsächlich funktionieren kann.<br />

Der dritte Punkt ist die Frage der Frühförderung. Wir haben den hervorragend ausgebauten<br />

Bereich Kindertagesstätten in Brandenburg: 95 % betreute Kinder von 3 bis 6 Jahren,<br />

zwischen 40 <strong>und</strong> 50 % betreute Kinder von 0 bis 3 Jahren. Dann haben wir darüber hinaus<br />

den Hort <strong>für</strong> die 6- bis 12-jährigen. Wir investieren nicht nur als Land 123 Millionen Euro in<br />

die Kitabetreuung. Dazu kommt ja auch das, was die Kommunen, die Landkreise <strong>und</strong> auch<br />

die Eltern durch den Elternbeitrag dazu mit einbringen. Und das ist dann fast eine halbe<br />

Milliarde Euro, die insgesamt im Kita-System steckt. (...)<br />

Und wenn wir auch schon sehr viele Dinge anbieten – auch die Kitas haben sich auf den<br />

Weg gemacht. Wir haben vorhin von dem 10-Stufen-Plan gehört, auch bei dem<br />

Bildungsplan, den wir als Land mit veröffentlicht haben, haben wir mit den freien Trägern die<br />

Umsetzung verabredet. Aber es gibt einfach noch die Möglichkeit, mehr zu tun.<br />

Und deshalb sind wir als Bildungsministerium der Meinung – das wird auch noch in der<br />

Landesregierung <strong>und</strong> vor allen Dingen mit den Städten <strong>und</strong> Gemeinden kontrovers diskutiert<br />

– wir brauchen ein Instrument im Land, was wir wirklich einmal flächendeckend in allen Kitas<br />

anwenden. Und es deshalb auch dann rechtlich verbindlich machen. Und das ist nach<br />

unserer Einschätzung eine Sprachstandsfeststellung, eine Sprachförderung, die auch<br />

international üblich ist. Auch andere B<strong>und</strong>esländer benutzen dieses Instrument. Wir wissen,<br />

Deutsch zu können ist im Gr<strong>und</strong>e genommen das Wichtigste, um im Leben zurecht zu<br />

kommen. Aber auch um den Einstieg in die Gr<strong>und</strong>schule zu schaffen, sollten wir dieses<br />

Instrument nutzen. Wir haben dazu auch schon etwas entwickelt, das heißt „Kiste“, <strong>und</strong> wir<br />

wollen dazu sehr viele Erzieherinnen im Land fortbilden <strong>und</strong> durch Praxisunterstützung<br />

beraten. Da sollten wir uns auf den Weg machen. Und ich finde es aus Sicht des<br />

Bildungsministeriums zwingend erforderlich, dass wir zumindest einmal ein Instrument<br />

tatsächlich flächendeckend durchführen <strong>und</strong> einsetzen. Vielen Dank.<br />

Applaus<br />

Moderatorin Judith Grümmer<br />

Ja, vielen Dank, Herr Gorholt. Jetzt möchte ich Ihnen Prof. Dr. Hans Bertram vorstellen. Er<br />

ist Vorsitzender des Landesbeirats <strong>für</strong> <strong>Familie</strong>npolitik hier im Land Brandenburg <strong>und</strong><br />

<strong>Familie</strong>nsoziologe. Auch Ihnen herzlich willkommen! Eröffnen wir die Gesprächsr<strong>und</strong>e.<br />

Zunächst an Sie, was halten Sie denn als Wissenschaftler eigentlich wirklich <strong>für</strong> notwendig,<br />

was sind die nächsten Schritte auch in Zeiten leerer Kassen? Da ist ja Fantasie <strong>und</strong> noch<br />

viel mehr gefordert als einfach nur zu sagen, wir brauchen mehr Geld.<br />

28


Prof. Dr. Hans Bertram<br />

Es sind ja verschiedene Probleme, die auch in dem familienpolitischen Programm<br />

angesprochen worden sind. Zunächst kann man schon sagen, dass überhaupt dadurch,<br />

dass das Thema auf die politische Agenda kommt, über <strong>Familie</strong> gesprochen wird <strong>und</strong><br />

deutlich gemacht wird, dass es vielleicht spannend <strong>und</strong> interessant ist, in <strong>Familie</strong>n zu leben,<br />

ein relativ wichtiger Anstoß gegeben wird. Man sollte so etwas auch aus dieser Perspektive<br />

nicht unterschätzen.<br />

Dann muss man aber, glaube ich, etwas unterscheiden. Die Politik kann natürlich in der<br />

Regel erst dann wirklich einsetzen, wenn die Entscheidung zum Kind gefallen ist, die<br />

Menschen sich <strong>für</strong> Kinder entschieden haben. Und das Problem von Brandenburg ist ja in<br />

Bezug auf die demografische Entwicklung ein zweifaches. Einerseits haben wir eine sehr<br />

hohe Abwanderung der jungen <strong>Frauen</strong>. Und das bedeutet einfach, dass die Entscheidung <strong>für</strong><br />

Partnerschaft in Brandenburg zumindest <strong>für</strong> die zurückbleibenden jungen Männer schwierig<br />

wird. Und das muss man einfach zur Kenntnis nehmen. Wir wissen aus einer Studie aus<br />

Sachsen, dass immerhin die Hälfte der jungen <strong>Frauen</strong>, die abwandern, nicht aus<br />

<strong>Arbeit</strong>smarktgründen abwandern, sondern aus familiären oder partnerschaftlichen Gründen.<br />

Die suchen sich offensichtlich die Partner auch in den anderen B<strong>und</strong>esländern. Man muss<br />

das einfach ganz kühl zur Kenntnis nehmen. Wir lachen darüber. Aber wir müssen ganz klar<br />

sehen, wenn wir das ein bisschen in die Zukunft spielen, bedeutet das, dass in Bayern im<br />

Jahre 2030 in dem Alter, in dem <strong>Familie</strong>n gegründet <strong>und</strong> Kinder großgezogen werden,<br />

bezogen auf das Jahr 2002 etwa 80 bis 85 % der Population noch vorhanden sein werden.<br />

Das heißt, wenn Sie die 30- bis 44-jährigen nehmen, werden Sie im Freistaat Bayern oder in<br />

Baden-Württemberg noch 80 % der heutigen Zahlen haben. In Brandenburg werden Sie<br />

noch 40 % der heutigen Zahlen haben. Das heißt, wir lachen zunächst über diese Frage der<br />

<strong>Familie</strong>nbildung. Aber das hat natürlich langfristig ganz extreme Auswirkungen <strong>und</strong> wir<br />

können uns gar nicht vorstellen, was das wohl heißen mag, wenn sich das sozusagen mal so<br />

dreht.<br />

Und ich denke, dass man von da aus vielleicht doch auch noch mal ganz kurz darüber<br />

nachdenkt, warum das denn mit der Partnerschaft so schwierig hier ist. Und das ist nicht nur<br />

die Frage des <strong>Arbeit</strong>smarktes, sondern wir müssen ja doch ganz klar sehen, dass nach der<br />

Wende praktisch in Bezug auf die <strong>Familie</strong>npolitik ein Schalter umgelegt worden ist. Das<br />

heißt, das westdeutsche <strong>Familie</strong>nmodell mit der Ernährerkomponente durch den Mann ist<br />

sozusagen auf die ganze B<strong>und</strong>esrepublik übertragen worden, während es im Gr<strong>und</strong>e<br />

genommen seit etwa Mitte der 60er Jahre hier ein anderes <strong>Familie</strong>nmodell gab wie etwa in<br />

Nordeuropa. Und jetzt komme ich doch auf das Geld. Das DDR-<strong>Familie</strong>nmodell sah vor,<br />

dass Mann <strong>und</strong> Frau ökonomisch selbständig sind. Und wenn sich die <strong>Familie</strong> dann <strong>für</strong> ein<br />

29


Kind entscheidet, wurde ein Jahr lang 90 % der Lohnfortzahlung – jetzt mal auf Westdeutsch<br />

übersetzt – gewährt, um die Möglichkeit zu geben, die ökonomische Selbständigkeit aufrecht<br />

zu erhalten. Wir haben kurz nach der Wende genau das Gegenteil gemacht. Wir haben<br />

gesagt, wir machen es jetzt wie die Westdeutschen. Und was passiert ist, kann man nun<br />

genau sehen. Die Geburtenraten haben sich praktisch innerhalb eines Jahres halbiert, weil<br />

natürlich die jungen Erwachsenen plötzlich vor einer ganz neuen Situation standen. Und wir<br />

sind dann hinterher froh, wenn wir sozusagen auf das westdeutsche Geburtenniveau von 1,4<br />

bis 1,5 kommen. Und ich denke, dass – deswegen rede ich als erstes doch vom Geld –<br />

sozusagen die Wiedereinführung des einkommensabhängigen Erziehungs- oder<br />

Elterngeldes, was ja im Gr<strong>und</strong>e genommen eine Wiederaufnahme jener Tradition ist, in<br />

Nordeuropa eine wichtige Voraussetzung <strong>für</strong> die Entscheidung zur <strong>Familie</strong>ngründung ist.<br />

Dies macht die Frage der Entscheidung <strong>für</strong> ein Kind nicht davon abhängig, ob man ein<br />

<strong>Familie</strong>nmodell übernimmt, das sich in Westdeutschland bewährt hat, was aber in<br />

Ostdeutschland nie gelebt worden ist. Und das, denke ich mir, scheint schon ein relativ<br />

wichtiger Punkt zu sein.<br />

Und ein zweiter Punkt, den ich auch noch mal erwähnen möchte, ist natürlich die hohe<br />

Qualifikation der jungen <strong>Frauen</strong>, die dazu führt, dass die jungen <strong>Frauen</strong>, dann wenn sie<br />

<strong>Arbeit</strong> suchen, auch abwandern. In Sachsen, von Brandenburg weiß ich es nicht so genau,<br />

sind 8 % aller <strong>Frauen</strong> Akademikerinnen. Bei den Abwandernden sind es aber 40 %. Das<br />

heißt, im Gr<strong>und</strong>e genommen stellen die neuen B<strong>und</strong>esländer den alten B<strong>und</strong>esländern<br />

qualifizierte Akademikerinnen zur Verfügung. Wenn man es in Geld ausdrückt, kosten die<br />

28.000 jungen <strong>Frauen</strong>, die abwandern, die Eltern ungefähr 100.000 Euro pro Kind. Der Staat<br />

legt noch mal 50.000 Euro drauf. Das heißt, jedes Jahr ist jede junge Frau <strong>und</strong> jeder junge<br />

Mann, der abwandert, ein Verlust von ungefähr 150.000 Euro an die alten B<strong>und</strong>esländer.<br />

Und ich denke, wir müssen auch darüber diskutieren, wie man solche Prozesse anders<br />

steuern kann als das bisher der Fall ist.<br />

Applaus<br />

Moderatorin Judith Grümmer<br />

Ja, vielen Dank. Ich hatte zwischenzeitlich kurz gedacht, ob ich jetzt einfach mal danach<br />

fragen sollte, ob wir also eine andere Männerförderung brauchen, aber die Frage verkneife<br />

ich mir jetzt. Das einkommensabhängige Elterngeld wird diskutiert, es ist diskutiert worden.<br />

Das ist natürlich eine Frage auf B<strong>und</strong>esebene. Dennoch, wie stehen Sie dazu, Frau Ziegler?<br />

Ministerin Dagmar Ziegler<br />

30


Also ganz eindeutig: Ich bin auch froh, dass das jetzt parteiübergreifend so gesehen wird, es<br />

ist höchste Zeit, dass wir dazu kommen, diese Existenzsicherung wenigstens in dem ersten<br />

Jahr einzuführen. Das ist elementar wichtig. Es ist <strong>für</strong> Deutschland wieder mal fast zu spät,<br />

aber man sagt ja, es ist nie zu spät! Das hätten wir schon viele Jahre früher haben können.<br />

Die demografische Entwicklung wäre möglicherweise eine andere geworden.<br />

Das Problem wie in Sachsen haben wir natürlich in Brandenburg auch: Die jungen <strong>Frauen</strong><br />

ziehen uns davon. Wir überlegen uns alle möglichen Klebemittel zurzeit, die wir Absolventen<br />

von Hochschulen anbieten können, um eben hier zu bleiben. Da gibt es eine ganze Reihe,<br />

die kosten aber auch wieder alle Geld. Aber eine junge <strong>Familie</strong>, die muss sich orientieren<br />

können, wo es ihr gut geht. Und das wird oftmals, <strong>und</strong> da reden wir nicht drumherum, über<br />

das Materielle definiert. Die Sicherheit ist das eine, das andere ist aber die Frage, wie ich<br />

meiner <strong>Familie</strong> auch etwas bieten kann. Und die Ansprüche sind andere als vor 20, 30<br />

Jahren. Und deswegen orientiert man sich logischerweise auch an den materiellen<br />

Gr<strong>und</strong>lagen, <strong>und</strong> da hat eben ein Verdienst in Bayern oder Baden-Württemberg vielleicht ein<br />

höheres Gewicht als ein Verdienst hier in den ostdeutschen Ländern. Das ist eine große<br />

Entscheidung, die viele junge Menschen treffen: Sozusagen <strong>für</strong> das Gleiche, <strong>für</strong> die gleiche<br />

Qualifikation, <strong>für</strong> die gleiche <strong>Arbeit</strong>, gehe ich doch lieber nach Bayern <strong>und</strong> such mir dann dort<br />

einen Mann. (...)<br />

Moderatorin Judith Grümmer<br />

Aber es geht ja auch darum, tatsächlich junge Leute hier in diesem Land so zu verorten <strong>und</strong><br />

ihnen Chancen zu geben, dass sie sich wohl fühlen <strong>und</strong> dass sie auch hier bleiben, Herr<br />

Gorholt.<br />

Staatssekretär Martin Gorholt<br />

Ja, wenn ich vorab noch mal etwas zu Jungen <strong>und</strong> Mädchen sagen darf, auch wenn Sie<br />

diese Frage nicht stellen wollten. Es ist natürlich in der Tat so, dass im Gr<strong>und</strong>e genommen,<br />

einfach formuliert, die Jungen die Benachteiligten im Bildungssystem sind. Auch bei der<br />

Abitur-Quote: So sind in Brandenburg 60 % der Abiturienten <strong>Frauen</strong> <strong>und</strong> 40 % Männer. Die<br />

Schulabbrecher sind in überwiegender Zahl auch Männer. Männer kommen eher auf die<br />

Förderschule als junge <strong>Frauen</strong> oder Mädchen. Insofern haben wir dort im Bildungsbereich<br />

eine Benachteiligung oder eine schwierige Entwicklung <strong>für</strong> die Jungen. Das schlägt dann<br />

nach dem Bildungsabschluss um. Dann, wenn sich Männer doch klar auf den Beruf<br />

orientieren <strong>und</strong> <strong>Frauen</strong> möglicherweise nicht so stark, sondern auch schon daran denken,<br />

wie es hinterher mit der <strong>Familie</strong>ngründung aussieht. Und wenn die <strong>Familie</strong> dann gegründet<br />

wird, gibt es die <strong>Arbeit</strong>steilung zu Lasten der <strong>Frauen</strong>. Das heißt, dann haben wir den<br />

Umschlag, aber im Bildungssystem ist es bisher so, dass in der Tat die Jungen die<br />

31


Benachteiligten sind. Insofern muss man sich schon in jeder Beziehung über eine, wenn man<br />

so will, geschlechtersensible Erziehung <strong>und</strong> Bildung Gedanken machen.<br />

Die Frage ist: Wie hält man die Abwanderung auf? Das sind im Gr<strong>und</strong>e genommen Ziele, die<br />

man allein durch Bildungs- <strong>und</strong> Jugendpolitik nicht schaffen kann. Man muss natürlich<br />

versuchen, zumindest möglichst viele gute qualifizierte Ausbildungsplätze zu schaffen. Und<br />

natürlich auch im Hochschulbereich möglichst viel anzubieten, so dass zumindest bis zu<br />

dieser Schwelle in Brandenburg geblieben wird. Und dann möglichst natürlich auch in<br />

Brandenburg hochqualifizierte <strong>Arbeit</strong>splätze schaffen. Das ist dann aber nicht mehr<br />

ausschließlich eine Frage der <strong>Familie</strong>npolitik, sondern in erster Linie auch schon der<br />

Wirtschaftspolitik.<br />

Moderatorin Judith Grümmer<br />

Und natürlich eine Frage an den Wissenschaftler, Herr Prof. Bertram, Stichwort<br />

Benachteiligung der Jungen. Die Jungen machen mehr Schwierigkeiten, haben auch<br />

schlechtere Bildungsergebnisse. Woran liegt das?<br />

Prof. Dr. Hans Bertram<br />

Ganz kurz. Die einen sagen, das hängt damit zusammen, dass die Schule inzwischen völlig<br />

„verweiblicht“ ist, das heißt, die Mehrheit der Lehrer sind weiblichen Geschlechts <strong>und</strong> stellen<br />

sozusagen ihre Standards zugr<strong>und</strong>e. [Lachen] Ja, es gibt Untersuchungen, die das sehr<br />

schön zeigen. Ich will das eigentlich auch jetzt gar nicht vertiefen, sondern ich will doch noch<br />

mal auf dieses Abwanderungsthema kommen.<br />

Was kann Brandenburg tun? Ich denke, der Staat hat schon einige Möglichkeiten. Also<br />

betrachten wir zunächst mal die Hochschulbildung: die Frage der Vereinbarkeit von Studium<br />

<strong>und</strong> <strong>Familie</strong>ngründung, die Frage, wie ich eigentlich akademische Karrieren organisiere. Das<br />

sind ja Dinge, die b<strong>und</strong>esweit in einer bestimmten Weise organisiert sind, aber die<br />

Bildungsautonomie gibt im Gr<strong>und</strong>e genommen den Ländern gewisse Möglichkeiten.<br />

Ich gebe Ihnen einfach mal ein Beispiel, was jetzt noch nicht möglich ist, aber was wir im<br />

<strong>Familie</strong>nbericht beschrieben haben, was eigentlich möglich sein sollte. Ein junges Mädchen<br />

sagt, Mensch, ich will was mit Kindern zu tun haben, <strong>und</strong> wird Erzieherin. Sie weiß aber<br />

natürlich, mit dem Job kann sie in Brandenburg vielleicht drei bis fünf Jahre etwas machen,<br />

dann gibt es möglicherweise keine Kinder mehr. Würde sie sagen, o.k., mir macht das<br />

<strong>Arbeit</strong>en mit Menschen Spaß <strong>und</strong> ich will jetzt Altenpflegerin werden, dann müsste sie ganz<br />

neu von vorne anfangen, sozusagen einen neuen Beruf lernen. Warum können die<br />

B<strong>und</strong>esländer, die ja in diesen Bereichen durchaus autonom sind, nicht sagen, wir<br />

versuchen jetzt die Bildungsbereiche so zu organisieren, dass die junge Frau weiß, sie<br />

macht das fünf Jahre, aber dann hat sie anschließend die Möglichkeit, modular etwas dazu<br />

32


zu lernen. Das geht bis hin zu solchen Überlegungen, warum der Erzieherinnenbereich <strong>und</strong><br />

der Lehrerbereich in unterschiedlichen Einrichtungen völlig voneinander abgeschottet<br />

organisiert werden muss. Das ist eine Möglichkeit, wo ich mir schon vorstellen kann, dass<br />

die Länder mehr machen könnten als bisher, wenn sie sich ein bisschen von dem<br />

b<strong>und</strong>eseinheitlichen Trend abkoppeln, weil sonst einfach die Tendenz so weitergeht wie<br />

bisher.<br />

Ich will vielleicht noch ein zweites Beispiel bringen, weil ich das auch spannend finde, wie<br />

man eigentlich die ältere Generation mit einbeziehen kann. Ich habe irgendwo gehört, dass<br />

zum Beispiel der Hessische R<strong>und</strong>funk seinen Pensionisten ein kleines Training gibt, <strong>und</strong><br />

dann stehen die sozusagen als Feuerwehr zur Verfügung, wenn die Mitarbeiter Interviews<br />

oder ähnliches machen müssen, <strong>und</strong> das nicht zu einer normalen <strong>Arbeit</strong>szeit. Warum kann<br />

man sich nicht zum Beispiel auch vorstellen, dass etwa in diesem Bereich durch ein relativ<br />

dichtes Angebot in den Betrieben junge <strong>Frauen</strong> <strong>und</strong> junge Männer das Gefühl haben,<br />

Vereinbarkeit von <strong>Familie</strong> <strong>und</strong> Beruf ist bei uns so etwas Wichtiges, dass wir uns hier wohl<br />

fühlen? Denn die Standortentscheidung, ob ich nach München gehe oder in Potsdam bleibe,<br />

hängt, da will ich jetzt der Ministerin ungern widersprechen, ich tue es aber trotzdem,<br />

vielleicht nicht nur vom Geld ab. Wenn ich nach München gehe, weiß ich, ich habe eine<br />

doppelt so hohe Miete zu zahlen. Es sind sicher viele Faktoren; <strong>und</strong> viele Kinder haben ja<br />

auch ein gutes Verhältnis zu den Eltern. Also ich denke, es hängt ein bisschen auch von der<br />

Einschätzung der Zukunftschancen ab. Vielleicht müsste Brandenburg widerborstiger<br />

gegenüber den B<strong>und</strong>estrends sein <strong>und</strong> sagen, wir müssen uns in bestimmten Punkten, wie<br />

beispielsweise der Vereinbarkeit von Bildung, akademischer Qualifikation <strong>und</strong><br />

<strong>Familie</strong>ngründung, aber auch in Bezug auf die Bildungswege im sozialen Bereich von dem<br />

B<strong>und</strong>estrend etwas abkoppeln, weil sich dann möglicherweise, jedenfalls <strong>für</strong> ein Teil der<br />

jungen <strong>Frauen</strong>, hier auch neue Perspektiven ergeben.<br />

Moderatorin Judith Grümmer<br />

Ich lasse Sie jetzt aber aus dieser „Männerfrage“ nicht raus, weil wir jetzt wieder bei den<br />

jungen <strong>Frauen</strong> sind. Ich möchte das trotzdem noch mal ganz konkret wissen. Das ist ja nicht<br />

nur in Brandenburg ein Problem. Aber hier wird es im Moment thematisiert, dass Jungen<br />

zum Beispiel die schlechteren schulischen Abschlüsse machen. Dann ist das doch ein<br />

Thema, wo auch noch mal ganz konkret im Sinne dieses Landes daran gearbeitet werden<br />

muss.<br />

Prof. Dr. Hans Bertram<br />

Zunächst muss ich mal etwas ganz Ketzerisches sagen. Ich habe auch kein gutes Abitur<br />

gemacht, ich habe mich sozusagen erst danach entwickelt. Jungen sind also manchmal<br />

33


auch Spätentwickler. Gut, das muss man vielleicht auch zunächst akzeptieren, wenn man<br />

immer nur auf die Schulnoten guckt. Das zweite aber ist, dass wir uns natürlich fragen<br />

müssen, ob die Bildungsangebote, die <strong>für</strong> Jungen etwa in ländlichen Regionen gemacht<br />

werden, die natürlich sehr stark an bestimmten Standards orientiert sind, Angebote sind, die<br />

<strong>für</strong> Jungen wirklich passen.<br />

Es könnte ja sein, dass es Jungen auf Gr<strong>und</strong> ihrer Sozialisation viel mehr Spaß macht, auch<br />

im höheren Maße handwerklich zu arbeiten. So hat zum Beispiel Baden-Württemberg<br />

angefangen, die Lehre in Einzelelemente zu zerlegen. Damit Schüler, die die Schule nicht<br />

schaffen <strong>und</strong> nicht in die Lehre kommen, bereits Teilelemente von einzelnen Lehrabschnitten<br />

machen können <strong>und</strong> auf diese Weise plötzlich merken: Mensch, das Lernen macht ja doch<br />

Spaß. Das heißt, man muss auch gucken, ob man auch das so ausdifferenziert, dass die<br />

unterschiedlichen Motivlagen stärker gefördert werden <strong>und</strong> sich dann möglicherweise auch<br />

andere Perspektiven ergeben.<br />

Ministerin Dagmar Ziegler<br />

Ich teile diese Auffassung vollkommen, dass man natürlich der Abwanderung, die nur auf<br />

materieller Gr<strong>und</strong>lage basiert, etwas entgegensetzen muss. Deswegen sitzen wir auch<br />

zusammen <strong>und</strong> fragen uns, was wir in unserem Land dagegen tun können. Aber ich will noch<br />

mal sagen: Wir haben es in den letzten Jahren versäumt – <strong>und</strong> zwar gemeinschaftlich<br />

versäumt, auch die Unternehmen, auch die Wirtschaft –, unseren jungen Menschen die<br />

Chancen aufzuzeigen, die wir in unserem Land haben. Wenn Jugendliche heute noch nicht<br />

wissen, welche Unternehmen in ihrer Region sind <strong>und</strong> welche Anforderungen an sie gestellt<br />

werden, wenn sie dort eine Lehre beginnen wollen, dann kann man das nicht den<br />

Jugendlichen vorwerfen, sondern da muss man das uns vorwerfen. Wir haben es versäumt!<br />

Und ich schließe daraus, dass die Demotivation <strong>und</strong> das verminderte Leistungsvermögen<br />

auch darauf zurückzuführen sind. Weil die Jungen, vor allen Dingen die Jungen, eben nicht<br />

wissen, wie ihre Zukunftsperspektiven aussehen, <strong>und</strong> ihnen lange Jahre auch über unsere<br />

Medien vermittelt wurde: Ja, es hat sich sowieso nicht gelohnt, wenn wir ausgelernt haben,<br />

kriegt man keinen Job hier <strong>und</strong> alle wandern ja sowieso nur ab. Dann haben diese Kinder<br />

oftmals Eltern, die langzeitarbeitslos zu Hause sitzen. Die genauso schimpfen <strong>und</strong> sagen, es<br />

ist doch alles Mist hier. Und mit diesem Gedankengut haben unsere jungen Menschen viele<br />

Jahre umgehen müssen. Und wir haben sie da ein Stück weit alleine gelassen. Und deshalb<br />

bin ich ja auch so glücklich über diese lokalen Bündnisse <strong>für</strong> <strong>Familie</strong>n, die sich gegründet<br />

haben, weil da gemeinschaftlich die Akteure vor Ort sagen: Nee, wir machen aus unserer<br />

Region etwas, wir stellen unsere Region dar. Wir sagen, junge Leute, es lohnt sich; <strong>Familie</strong>n,<br />

es lohnt sich! Es lohnt sich <strong>für</strong> junge Menschen hier zu bleiben!<br />

34


Das ist verstärkt eine Aufgabe, der wir uns in den kommenden Jahren stellen müssen. Und<br />

Jugendliche vermitteln es uns ja auch. Wenn ich mit denen diskutiere, sagen sie mir das ja<br />

auch: Ja, was ist denn hier in der Prignitz? Und dann hat ein Gymnasium in Wittenberge<br />

einmal aufgelistet, welche regionalen Unternehmen es gibt, aber was eben noch gefehlt hat,<br />

war der zweite Schritt. Nämlich dass die Unternehmen gesagt haben, was man in Mathe <strong>und</strong><br />

Physik auf dem Zeugnis braucht, um überhaupt genommen zu werden. Und damit nicht<br />

immer nur die Abiturienten eine Chance haben, sondern die ganz normalen Schulabgänger<br />

der Klasse 10, müssen sie ab Klasse 7 schon wissen, welche Chancen sie geboten<br />

bekommen. Und das muss in den kommenden Jahren verstärkt gemacht werden.<br />

Moderatorin Judith Grümmer<br />

Kommunikation ist ein wichtiger Punkt. Aber, Herr Gorholt, die Frage auch an Sie jetzt als<br />

Vertreter des Bildungs- <strong>und</strong> Jugendministeriums, wenn wir uns noch mal den Jugendlichen<br />

zuwenden, welche ganz konkreten Maßnahmen können Sie sich vorstellen, um denen<br />

sozusagen auf das richtige Pferd zu helfen? (...)<br />

Staatssekretär Martin Gorholt<br />

(...) Wir haben in Brandenburg vor einigen Jahren das „Netzwerk Zukunft: Schule <strong>und</strong><br />

Wirtschaft <strong>für</strong> Brandenburg“ gegründet, wo Schule <strong>und</strong> Wirtschaft ganz eng miteinander<br />

verflochten werden sollen. Sowohl um in der Schule zu gucken, was Anschlussfähigkeit<br />

heißt, welche Qualifikation ich nach dem Schulabschluss der 10. Klasse erreicht haben<br />

muss, um tatsächlich einen bestimmten Ausbildungsplatz zu bekommen. Aber auch um zu<br />

schauen, welche Betriebe es bei mir gibt, die eine Ausbildung anbieten, <strong>und</strong> welche<br />

Berufsbilder mich interessieren könnten. Und da kann man nicht nur auch schon in der<br />

Sek<strong>und</strong>arstufe I anfangen, wo wir im Lehrplan verankert haben, dass es möglich ist, eine<br />

St<strong>und</strong>e, einen Tag in der Woche in der Praxis zu lernen. Das heißt, Praxislernen ist an allen<br />

Schulen, auch im Gymnasium oder in der Oberschule möglich.<br />

Solche Verbindungen kann es aber auch schon in der Kita geben. Die Kita-Gruppe kann<br />

einen Tag in der Woche in einen Betrieb gehen, vielleicht in den Betrieb eines Vaters, <strong>und</strong><br />

sich dort angucken, wie dort die Abläufe sind. Das ist ja heute zum Teil auch schon so<br />

Praxis. Insofern ist es wichtig, diese Dinge von Anfang an miteinander zu vernetzen, um sich<br />

da gegenseitig zu befruchten. Schule <strong>und</strong> Schüler lernen so rechtzeitig, was ich können<br />

muss <strong>und</strong> wie ich mich motivieren kann, um einen solchen <strong>Arbeit</strong>splatz hinterher auch zu<br />

bekommen.<br />

Moderatorin Judith Grümmer<br />

35


Machen wir noch mal einen Sprung von den Jugendlichen zu den jungen Erwachsenen, die<br />

irgendwann daran denken, hier in diesem Lande Kinder in die Welt zu setzen. Da<strong>für</strong><br />

brauchen wir einen Mentalitätswandel, das ist schon angesprochen worden, in der<br />

Gesellschaft. Kinder dürfen nicht als Belastung oder als Armutsrisiko empf<strong>und</strong>en <strong>und</strong> erlebt<br />

werden. Wie schaffen wir diesen Mentalitätswandel, Prof. Bertram?<br />

Prof. Dr. Hans Bertram<br />

Ja, das denke ich, hängt einfach auch damit zusammen, wie die Medien über <strong>Familie</strong>n<br />

berichten <strong>und</strong> wie wir in der Öffentlichkeit über <strong>Familie</strong>n reden. Und so lange wir diesen<br />

dominanten ökonomistischen Blick auf unsere Gesellschaft haben, sind Kinder natürlich<br />

ökonomisch gesehen immer eine Belastung. Das ist ganz klar. Aber ich denke, das ist auch<br />

eine Frage des Mentalitätswandels, wie sowohl Politik als auch die Medien über die Frage<br />

diskutieren, was eigentlich das Leben mit Kindern reicher macht als das Leben ohne Kinder.<br />

Und zweitens muss man einfach auch mal sehen: Es ist völlig selbstverständlich, wenn etwa<br />

in Frankreich, aber auch in Nordeuropa jemand aus dem Bereich der Politik oder auch<br />

andere Prominenz Kinder hat, dass die Kinder wahrgenommen werden. Nicht die<br />

Lebensform ist wichtig, sondern die Beziehung zu den Kindern. Während wir ja in<br />

Deutschland dies relativ stark als eine reine Privatsache betrachten, so dass die Menschen,<br />

<strong>und</strong> das sind ja im Wesentlichen Männer, alle in den Medien auftauchen, ohne dass sie<br />

Kinder haben. Und ich denke, dass auch da viel gemacht werden kann. Ich denke, da<br />

können alle Ebenen der Politik, also vom B<strong>und</strong>espräsidenten über den B<strong>und</strong>eskanzler oder<br />

der B<strong>und</strong>eskanzlerin bis hin zu den Ministerpräsidenten, deutlich machen, dass sie ein<br />

Leben mit Kindern, so sie Kinder haben, gut finden <strong>und</strong> dieses auch entsprechend<br />

konstruktiv gestalten. Denn man sollte nicht unterschätzen, dass natürlich auch Medienbilder<br />

in erheblichem Umfang einen Einfluss auf die Entscheidung haben, wie ich mein zukünftiges<br />

Leben gestalte.<br />

Ich will das mit einem Beispiel dokumentieren. Da wird ja auch in dem Bericht sehr deutlich<br />

gemacht, dass die Kinderwünsche in Brandenburg bei den jungen Männern <strong>und</strong> den jungen<br />

<strong>Frauen</strong> nicht sonderlich ausgeprägt sind. Und das gilt jetzt nicht nur <strong>für</strong> Brandenburg, das gilt<br />

<strong>für</strong> Deutschland. Aber das Spannende ist, dass die europäischen Länder wie Schweden oder<br />

Finnland, die sowieso schon viele Kinder haben, auch die Länder sind, wo sich die Leute<br />

vorstellen, noch mehr Kinder zu haben. Das heißt, es gibt offensichtlich einen<br />

Interaktionseffekt, wenn es viele Kinder gibt <strong>und</strong> Kinder in der Öffentlichkeit präsent sind,<br />

dass dann offensichtlich der Wunsch nach Kindern sehr viel stärker ist als in Ländern, wo es<br />

ganz wenig Kinder gibt <strong>und</strong> diese wenigen Kinder auch noch versteckt werden.<br />

Applaus<br />

36


Moderatorin Judith Grümmer<br />

Mein Eindruck ist ja, dass der Mentalitätswandel hier schon ein ganzes Stück weiter ist als<br />

beispielsweise im Rheinland, wo ich herkomme. Auch die Tatsache, dass hier eine Tagung<br />

stattfindet, eben mit Politikern <strong>und</strong> Fachleuten zusammen, bestärkt mich in dieser Meinung.<br />

Und deswegen an Sie beide die Frage, dieser hier vielleicht schon begonnene<br />

Mentalitätswandel, dieser Weg hin zu einer ganz aktiven <strong>und</strong> selbstbewussten<br />

<strong>Familie</strong>npolitik, wie können Sie den auch auf die B<strong>und</strong>esebene tragen, vom Land in den<br />

B<strong>und</strong>? Werden Sie hier eine Vorreiterrolle einnehmen? Haben Sie das Gefühl, Sie<br />

signalisieren ein Stück mehr Aufbruchstimmung?<br />

Ministerin Dagmar Ziegler<br />

Also davon gehe ich ganz fest aus, dass Brandenburg da ein Stück weit auch Vorreiter wird.<br />

Aber die Koalitionsverhandlungen versprechen ja einiges. Es gibt eine designierte<br />

<strong>Familie</strong>nministerin mit sieben Kindern, die aus ihren Erfahrungen sicherlich <strong>und</strong> hoffentlich<br />

etwas in ihre <strong>Arbeit</strong> mit einbringen wird. Und daran wird sie natürlich auch gemessen werden<br />

– vor allen Dingen auch im Osten Deutschlands sehr streng gemessen werden. Denn es ist<br />

ja vielleicht einfacher, unter materiell ganz gesicherten Verhältnissen sieben Kinder mit z.B.<br />

Putzfrau, Haushaltshilfe <strong>und</strong> Kindermädchen großzuziehen als unter der Vereinbarkeit von<br />

<strong>Familie</strong> <strong>und</strong> Beruf. Aber ich will das nicht diskriminieren. Jeder soll das <strong>für</strong> sich selber auch<br />

organisieren <strong>und</strong> regeln. Nur wird sie daran gemessen werden. Und da werden wir uns sehr<br />

stark machen, um das, was wir in unseren Leitlinien verabschiedet haben, auch auf<br />

B<strong>und</strong>esebene zu tragen. Und das läuft ja auch gerade. Wir haben auch gehört, dass ja das<br />

B<strong>und</strong>esfamilienministerium unabhängig jetzt von der Spitze schon die Vorarbeit da<strong>für</strong><br />

geleistet hat, dass das Elterngeld kommen soll etc. Ich glaube, da sind wir auf gutem Wege.<br />

Und wenn es in einer großen Koalition ein bisschen schneller geht, weil man sich nicht<br />

gegenseitig im B<strong>und</strong>esrat blockiert, umso besser.<br />

Applaus<br />

Staatssekretär Martin Gorholt<br />

Eine Vorreiterrolle hat auch wiederum zwei Seiten. Jetzt nur mal am Beispiel der<br />

Kindertagesstätten: Zum einen haben wir hier in Brandenburg einen Spitzenstandard, der ist<br />

etwa so wie in Sachsen-Anhalt, kaum entfernt von anderen ostdeutschen Ländern. Aber es<br />

gibt natürlich die Diskussion auch in Brandenburg, ob wir uns das eigentlich leisten können,<br />

wo wir in hohem Maße von den westdeutschen Ländern mit finanziert werden über den<br />

Länderfinanzausgleich <strong>und</strong> die Sonderzuweisung. Und auf der anderen Seite gibt es<br />

37


natürlich auch den Vorwurf aus Westdeutschland: Ihr leistet euch da so einen „Luxus“ im<br />

Vergleich zu uns. Insofern ist es eine schwierige Diskussion. Von daher muss natürlich die<br />

Diskussion dahin gehen, dass wir sagen, diese Quantität müssen wir uns im Gr<strong>und</strong>e<br />

genommen b<strong>und</strong>esweit leisten! Und nur dann, wenn es tatsächlich b<strong>und</strong>esweit Schritte in<br />

diese Richtung gibt, in Richtung Brandenburg, glaube ich auch, dass wir es letztlich<br />

legitimieren können, dass wir uns einen solchen Kita-Standard tatsächlich halten <strong>und</strong> leisten.<br />

Und über die Qualität der Kinderbetreuung müssen wir gemeinsam reden <strong>und</strong> sie<br />

gemeinsam verbessern.<br />

Herr Prof. Dr. Hans Bertram<br />

Also dazu sollte man wirklich eines sagen, das müssen die Brandenburger <strong>und</strong> die Sachsen<br />

ganz offensiv aus einem ganz einfachen Gr<strong>und</strong> vertreten: Wenn man sich die Geschichte der<br />

Schule in Preußen anschaut, dann haben die preußischen Gemeinden, nicht der preußische<br />

Staat, Anfang des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts gesagt, wir müssen in unsere Kinder investieren. Und<br />

das vorbildliche preußische Schulsystem, was sich dann entwickelt hat, ist zunächst aus den<br />

armen märkischen Gemeinden <strong>und</strong> anderen Gemeinden entstanden. Und die waren<br />

sozusagen damals auch Vorreiter. Wenn man sich die Entwicklung zumindest Preußens,<br />

was das Bildungssystem angeht, anguckt, war es lange Zeit Vorbild <strong>für</strong> andere. Und von da<br />

aus gesehen muss man ganz offensiv den alten B<strong>und</strong>esländern sagen, dass sie in diesem<br />

Punkte vielleicht doch von den neuen B<strong>und</strong>esländern etwas lernen sollten.<br />

Applaus<br />

Moderatorin Judith Grümmer<br />

(...) Vielen Dank zunächst einmal an Sie <strong>und</strong> ich möchte nun die brandenburgische<br />

Justizministerin Beate Blechinger begrüßen. Warum werden Jugendliche zu Straftätern?<br />

Liegen die Ursachen womöglich auch in der <strong>Familie</strong> dieser Heranwachsenden? Hat<br />

Kriminalprävention, also Vorsorge, etwas mit den <strong>Familie</strong>n zu tun? Antworten auf diese<br />

Fragen hören Sie nun von der Justizministerin. Herzlich willkommen!<br />

Applaus<br />

6. „Kriminalprävention <strong>und</strong> <strong>Familie</strong>npolitik“<br />

Justizministerin Beate Blechinger<br />

Meine Damen <strong>und</strong> Herren Abgeordneten des Brandenburger Landtages, ich freue mich,<br />

dass Sie sich so sehr <strong>für</strong> dieses Thema interessieren, <strong>und</strong> natürlich begrüße ich auch alle<br />

anderen Anwesenden. Aber Sie wissen ja, der Landtag ist der Haushaltsgesetzgeber <strong>und</strong><br />

38


insofern sind Sie besonders wichtig auch <strong>für</strong> diese Fragen, die wir heute besprechen. Der<br />

Ministerpräsident hat heute früh in seinem Eingangsstatement einen hohen Anspruch<br />

formuliert. Er hat gesagt, kein Kind im Land darf vernachlässigt werden. Ich unterstreiche<br />

diesen Anspruch. Aber wir müssen uns den Realitäten stellen <strong>und</strong> die Realität <strong>für</strong> diejenigen<br />

Kinder <strong>und</strong> Jugendlichen, mit denen ich konfrontiert bin, sieht anders aus, da ist dieser<br />

Anspruch sehr weit entfernt von der Realität. Und wenn man die Biografien von Straftätern,<br />

die Strafakten von Jugendrichtern liest, dann ist es mindestens genauso erschütternd<br />

festzustellen, welchen Weg diese Jugendlichen gegangen sind, welche Erlebnisse sie hatten<br />

auf dem Weg zu dieser Straftat oder diesen Straftaten, wie die Darstellung der begangenen<br />

Straftaten selber.<br />

Ich denke, Sie kennen den verbreiteten Vorwurf an die Justiz, sie kümmere sich mehr um die<br />

Täter als um die Opfer. Auch wenn dieser Vorwurf falsch ist, so müssen wir uns natürlich<br />

auch um die jugendlichen Täter kümmern. Wir müssen erfahren, welche Umstände <strong>und</strong><br />

Bedingungen dazu führten, dass junge Menschen zu Straftätern wurden. Denn nur so<br />

können wir gezielt <strong>und</strong> wirkungsvoll die Ursachen von Kriminalität bekämpfen. Unsere<br />

Jugendgerichte werden oft als Reparaturwerkstätten <strong>für</strong> verbogene Biografien angesehen.<br />

Das können sie allein nicht leisten. Sie nehmen aber die Straftat eines jungen Menschen<br />

zum Anlass, um zu sehen, wo etwas im Umfeld nicht stimmt. Und meistens stimmt in den<br />

<strong>Familie</strong>n etwas nicht. Hier zu reparieren, liegt nicht in der Macht unserer Jugendgerichte.<br />

Aber auf die Missstände nicht hinzuweisen, würde bedeuten, nur an den Symptomen<br />

herumzudoktern, nicht aber an den Wurzeln.<br />

Wir können uns all die Mühe <strong>und</strong> Kosten <strong>für</strong> soziale Trainingskurse, Bewährungshelfer,<br />

Sozialarbeit oder auch <strong>für</strong> den Jugendstrafvollzug schenken, wenn wir gefährdete labile<br />

junge Menschen wieder in einen Alltag schicken, in dem sie vorher schon straffällig<br />

geworden sind <strong>und</strong> der ihre Delinquenz nicht zu verhindern wusste. Viele jugendliche<br />

Straftäter stammen nicht nur aus zerrütteten <strong>Familie</strong>nverhältnissen, sondern sind selbst in<br />

der einen oder anderen Form Opfer von Gewalt <strong>und</strong> Vernachlässigung gewesen, <strong>und</strong> in<br />

einem wesentlich höheren Prozentsatz Jungen als Mädchen. Vielleicht eine Antwort neben<br />

dem Stichwort Medienverwahrlosung als Ursache von Schulversagen, das auch ziemlich<br />

stark die Jungen betrifft, weniger als Mädchen. Wir haben ja auch kaum weibliche Insassen<br />

im Strafvollzug, fast nur Männer. Dass Gewalttäter häufig selbst Opfer von Gewalttaten<br />

waren, belegt zum Beispiel eine Studie des kriminologischen Forschungsinstitutes<br />

Niedersachsen, in der 2.500 jugendliche Strafgefangene befragt wurden. Zu ähnlichen<br />

Ergebnissen bei einer Untersuchung der Lebensläufe jugendlicher Straftäter, insbesondere<br />

Gewalttäter, gelangte Stefan Schanzenbecher in seinem Buch: „Gewalt ohne Ende“. Danach<br />

haben 75 % der Straftäter Gewalt in der <strong>Familie</strong> erlebt <strong>und</strong> die Hälfte von ihnen wurde<br />

Zeuge, wie die eigene Mutter vom Vater, Stiefvater, Lebensgefährten geschlagen wurde.<br />

39


Der Psychiater Andreas Marneros, der seit 25 Jahren rechtsradikale Gewalttäter<br />

begutachtet, kommt in seinem Buch „Blinde Gewalt“ zu einem klaren Fazit. Ich zitiere: „Ich<br />

habe viele rechtsextremistische Gewalttäter kennen gelernt. Aber ich habe noch keinen<br />

Starken unter ihnen gesehen. Keinen Gewinner. Keinen Hochintelligenten. Keinen Siegertyp.<br />

Ich habe nur Feiglinge gesehen. Ich habe nur schwache, eingeschränkte, gepeinigte<br />

Verlierer gesehen. Ich habe nur einen Haufen Elend gesehen. Menschen, die keinen Stolz<br />

<strong>und</strong> keinen Ehrbegriff kennen.“<br />

Hier wird deutlich, dass sich rechtsextremistische Gewalttaten nicht allein durch<br />

Überzeugungsarbeit bekämpfen lassen, da die Täter oft tief greifende<br />

Persönlichkeitsstörungen aufweisen, die nur langfristig <strong>und</strong> mit viel Aufwand therapiert<br />

werden können. Deshalb ist Kriminalprävention auch eine Frage der Kostenreduzierung.<br />

Denn Vorbeugen ist besser als Heilen. Wir werden aber kriminellem Verhalten von<br />

Jugendlichen, teilweise schon von Kindern, nur wirksam vorbeugen können, wenn es uns<br />

gelingt, familiäre Gewalt bzw. Vernachlässigung zu verhindern oder wenigstens zu<br />

verringern.<br />

Laut Statistik des Landeskriminalamtes sind jährlich, das schwankt von Jahr zu Jahr, etwa<br />

400 Kinder Opfer von Gewalttaten. Täter sind in mehr als 70 % der Fälle die Eltern. Da die<br />

wesentlichen Prägungen eines Menschen in den ersten sechs Lebensjahren erfolgen, sind<br />

auch die Schäden, die durch belastende familiäre Bedingungen, durch Gewalt <strong>und</strong><br />

Vernachlässigung in den ersten Lebensjahren entstehen, besonders schwerwiegend <strong>und</strong><br />

manchmal sogar irreparabel. Deshalb kann erfolgreiche Kriminalprävention nicht erst dann<br />

ansetzen, wenn die Jugendlichen den Baseballschläger nehmen <strong>und</strong> andere<br />

zusammenschlagen, sondern sie muss darauf zielen, die Bedingungen <strong>für</strong> das Aufwachsen<br />

von Kindern gerade in sozial gefährdeten <strong>Familie</strong>n zu verbessern. Und genau das ist unser<br />

Thema heute <strong>und</strong> deshalb bin ich sehr froh, dass es soviel Interesse an diesem Thema gibt.<br />

Es gibt verschiedene Ansätze der Prävention, die bei gefährdeten <strong>Familie</strong>n bereits in der<br />

Schwangerschaft ansetzen sollte. Dabei sind datenschutzrechtliche Vorgaben abzuwägen<br />

gegen das Recht von Kindern auf gewaltfreie Erziehung <strong>und</strong> ich freue mich sehr, dass da<br />

eine hohe Übereinstimmung mit Frau Ziegler besteht – <strong>und</strong> das wusste ich auch vorher<br />

schon aus vielen Gesprächen zu diesem Thema. Insbesondere die Kooperation mit allen<br />

Beteiligten – von Kindergarten-Erzieherinnen über Ärzte, Kinder- <strong>und</strong> Jugendpsychologen,<br />

Mitarbeitern des Jugendamtes <strong>und</strong> bei Anzeichen von delinquentem Verhalten auch<br />

Vertretern von Polizei <strong>und</strong> Justiz – wird in Zukunft an Bedeutung gewinnen.<br />

Auch zu diesem Punkt, zur Kooperation, zur Netzwerkbildung hat der Ministerpräsident<br />

vieles heute früh gesagt. Gerade in Zeiten knapper Ressourcen können sachgerechte<br />

Lösungen <strong>für</strong> komplexe Problemstellungen nur frühzeitig <strong>und</strong> gemeinsam erarbeitet werden.<br />

Da gibt es auch schon Modellprojekte aus Schleswig-Holstein, die wir uns näher ansehen<br />

40


wollen <strong>und</strong> von denen wir sicherlich die eine oder andere Erfahrung auch übernehmen<br />

können. Durch engere Verknüpfung von Kinderbetreuung mit Beratungsangeboten können<br />

auch <strong>Familie</strong>n erreicht werden, die sonst selbst keine Hilfe bei Problemen einfordern oder die<br />

sie gar nicht erkennen. Dabei haben besondere Verantwortung auch die Schulen, die zu den<br />

Kindern <strong>und</strong> ihren Eltern einen unmittelbaren Zugang erlangen <strong>und</strong> negative Entwicklungen<br />

frühzeitig erkennen sollten. Sie können nicht alle Probleme lösen, aber sie haben die Pflicht,<br />

dazu beizutragen, dass Fehlentwicklungen rechtzeitig erkannt <strong>und</strong> Strategien entwickelt<br />

werden, um diese zu korrigieren. Und auch hier verweise ich wieder auf Biografien von<br />

Straftätern.<br />

Die Landeszentrale <strong>für</strong> politische Bildung hat dankenswerter Weise vor längerer Zeit mal ein<br />

Buch herausgebracht – „Prügelkinder“ –, das sehr aufschlussreich ist. Es ist wirklich<br />

erschreckend, wie lange manche Kinder <strong>und</strong> Jugendliche der Schule fernbleiben können,<br />

ohne dass wirksame Maßnahmen gegen Schulverweigerung eingeleitet werden. Dabei ist<br />

das dauerhafte Fernbleiben von der Schule häufig das erste Alarmzeichen <strong>für</strong> unbewältigte<br />

Konflikte in der Persönlichkeitsentwicklung. Zumindest sollte es aber allgemeiner Konsens<br />

sein, dass eine nicht nur kurzzeitige Schulabstinenz ein Zeichen von Kindeswohlgefährdung<br />

darstellt. Denn die Bildungs- <strong>und</strong> Zukunftschancen eines Kindes werden dadurch erheblich<br />

eingeschränkt. Dabei sind auch die <strong>Familie</strong>ngerichte stärker einzubinden. Das Eingreifen des<br />

<strong>Familie</strong>ngerichtes richtet sich allein danach, ob eine Gefährdung des Kindeswohls vorliegt.<br />

Und leider ist es eben bis jetzt noch nicht Standard, dass Schulabstinenz als Anzeichen <strong>für</strong><br />

eine Kindeswohlgefährdung interpretiert wird. Die missbräuchliche Ausübung der elterlichen<br />

Sorge, die Vernachlässigung des Kindes oder die Erziehungsunfähigkeit der Eltern können<br />

eine Gefahr <strong>für</strong> das körperliche, geistige oder seelische Wohl eines Kindes begründen. Ein<br />

Indiz <strong>für</strong> eine Kindeswohlgefährdung ist eine Entwicklung des Kindes in Richtung einer<br />

kriminellen Karriere, insbesondere im Fall wiederholter Delikte, die über einen<br />

Bagatellcharakter hinausgehen; die so genannten Intensivtäter sind <strong>für</strong> mehr als die Hälfte<br />

der Straftaten in dem Bereich der Kinder- <strong>und</strong> Jugendkriminalität verantwortlich. Hier muss<br />

so früh wie möglich auch vom <strong>Familie</strong>nrichter entgegengewirkt werden, um die Entwicklung<br />

des Kindes nicht weiter zu gefährden.<br />

Art <strong>und</strong> Weise des staatlichen Eingriffs bestimmen sich nach dem Ausmaß des elterlichen<br />

Versagens <strong>und</strong> danach, was im Interesse des Kindes geboten ist. In Ausübung seines<br />

Wächteramtes muss der Staat stets das mildeste zur Verfügung stehende Mittel einsetzen.<br />

Im Vordergr<strong>und</strong> stehen dabei helfende, unterstützende, auf Herstellung <strong>und</strong><br />

Wiederherstellung eines verantwortungsgerechten Verhaltens der Eltern gerichtete<br />

Maßnahmen. In manchen Fällen ist jedoch auch die Trennung von den Eltern nötig. Unser<br />

Bestreben muss es sein, durch frühzeitige Hilfe- <strong>und</strong> Beratungsangebote solche Trennungen<br />

zu vermeiden. Das setzt aber die Bereitschaft der Eltern voraus, Hilfsangebote anzunehmen.<br />

41


Eine erfolgreiche Prävention erfordert deshalb eine gute Zusammenarbeit zwischen<br />

Jugendämtern <strong>und</strong> den <strong>Familie</strong>ngerichten.<br />

Ich werde morgen beispielsweise ein Gespräch mit <strong>Familie</strong>nrichtern führen, wozu auch<br />

Vertreter von Jugendämtern eingeladen sind. Eine vorherige Befragung von <strong>Familie</strong>nrichtern<br />

ergab, dass sich die Zusammenarbeit regional sehr unterschiedlich gestaltet, obwohl die<br />

Kreise eigentlich fast alle unter den gleichen Finanzproblemen leiden. Ich hoffe, dass wir<br />

durch den gemeinsamen Austausch Hemmnisse in der Zusammenarbeit aufdecken <strong>und</strong> aus<br />

dem Weg schaffen können.<br />

Probleme könnten sich durch das am 1. Oktober in Kraft getretene Gesetz zur<br />

Weiterentwicklung der Kinder- <strong>und</strong> Jugendhilfe, abgekürzt KICK, ergeben. Hier ist geregelt<br />

worden, dass der Träger der öffentlichen Jugendhilfe selbst darüber entscheidet, welche<br />

Kosten übernommen werden <strong>und</strong> zwar auch in den Fällen, in denen Eltern durch das<br />

<strong>Familie</strong>ngericht oder Jugendliche <strong>und</strong> Volljährige durch den Jugendrichter zur<br />

Inanspruchnahme bestimmter Hilfen verpflichtet worden. Hier kann sich im Einzelfall ein<br />

Streit über die Kostenübernahme entwickeln <strong>und</strong> im Ergebnis Entscheidungen der Gerichte<br />

unterlaufen werden. Mögliches Konfliktpotential werden wir nur dann aus dem Weg räumen<br />

können, wenn wir uns gemeinsam an den Tisch setzen. Hier sehe ich eine große Chance <strong>für</strong><br />

eine verbesserte Zusammenarbeit zwischen <strong>Familie</strong>n- <strong>und</strong> Jugendgerichten <strong>und</strong><br />

Jugendämtern. Wenn sich die Beteiligten gemeinsam auf geeignete Hilfsmaßnahmen<br />

einigen, wird dem Wohl des Kindes <strong>und</strong> Jugendlichen am besten Rechnung getragen<br />

werden können. Und das allein sollte das Ziel aller Beteiligten sein.<br />

Meine Damen <strong>und</strong> Herren, ich hoffe, ich konnte Sie mit meinen Ausführungen ein wenig <strong>für</strong><br />

den Bereich der Kriminalprävention im Zusammenhang mit <strong>Familie</strong>npolitik sensibilisieren <strong>und</strong><br />

verdeutlichen, wie eng die Verflechtungen zwischen Kindern, <strong>Familie</strong> <strong>und</strong> Justiz sind. Es liegt<br />

im Interesse von uns allen, dass wir gemeinsam zum Wohle unserer Kinder ein familien- <strong>und</strong><br />

kinderfre<strong>und</strong>liches Klima in unserem Land schaffen. Ich wünsche allen einen erfolgreichen<br />

Tagungsverlauf <strong>und</strong> freue mich auf die weitere ressortübergreifende <strong>und</strong><br />

institutsübergreifende Zusammenarbeit. Vielen Dank.<br />

Applaus<br />

Moderatorin Judith Grümmer<br />

Frau Ministerin, da wir jetzt sehr gut in der Zeit sind, gestatten Sie mir an einer Stelle noch<br />

eine Nachfrage. Ministerin Ziegler hatte das Problem der datenschutzrechtlichen Hindernisse<br />

angesprochen, gerade wenn es um das Kindeswohl geht. Mich würde jetzt an dieser Stelle<br />

interessieren, inwieweit Sie als Justizministerin dieses Thema auch mit aufgreifen werden.<br />

42


Frau Justizministerin Beate Blechinger<br />

Auch ich sehe hier Probleme. Ich sehe es auch so, dass es manchmal ein Vorwand ist, aber<br />

ich erinnere an den Fall Dennis in Cottbus, der nur deshalb lange Jahre nicht entdeckt<br />

wurde, weil es eben keinen Austausch zwischen dem Sozialamt <strong>und</strong> dem Jugendamt gab,<br />

denn im Jugendamt hatte ja die Mutter immer wieder erklärt, der Junge ist im Krankenhaus,<br />

ist zuckerkrank. Aber das Sozialamt hätte es gewusst, dass der Junge nicht im Krankenhaus<br />

ist, denn sonst hätten sie Kostenübernahmebescheinigungen bekommen. Also hier hätte<br />

zum Beispiel ein Datenabgleich relativ schnell die Lügen aufdecken können.<br />

Als ich noch in einer anderen Funktion tätig war, habe ich einen <strong>Arbeit</strong>skreis zum Schutz<br />

gegen Kindesmisshandlung gegründet, zu dem auch <strong>Familie</strong>nrichter, Kinderärzte,<br />

Jugendamtsleiter gehörten, so dass wir schon in diesem Bereich ressortübergreifend oder<br />

aus verschiedenen Blickwinkeln dieses Thema untersucht haben. Und da sagte mir der<br />

Leiter einer Kinderklinik: „Wenn ich die jungen Mütter auf den Entbindungsstationen sehe,<br />

kann ich Ihnen sagen, mit welchem Kind wir mal Probleme bekommen werden.“ Und da<br />

würde ich mir schon wünschen, dass man hier rechtzeitig Hilfen anbietet. Nicht als<br />

Stigmatisierung. Wir können aber nicht flächendeckend in alle Haushalte gehen, wo Kinder<br />

geboren werden. Aber dass man eben wirklich dort, wo Problemlagen erkennbar sind,<br />

prognostizierbar sind, rechtzeitig umfassende Hilfe anbietet. Und das hat <strong>für</strong> mich etwas mit<br />

dem Recht des Kindes auf ein ges<strong>und</strong>es Aufwachsen zu tun. Und ich glaube, da sind wir uns<br />

einig, werden wir auch mit unserer Datenschutzbeauftragten ins Gespräch kommen, dass<br />

man hier mögliche Hemmnisse beseitigt.<br />

Applaus<br />

Moderatorin Judith Grümmer<br />

Vielen Dank, Frau Blechinger. Kinder müssen ges<strong>und</strong> <strong>und</strong> gewaltfrei aufwachsen. Das ist ja<br />

eines der wichtigen Leitziele. Ich bedanke mich zunächst einmal <strong>für</strong> Ihre Aufmerksamkeit<br />

dieser ersten Vormittagsr<strong>und</strong>e. (...) Während der Mittagspause gibt es auch<br />

Projektpräsentationen, hier werden sich ausgewählte Projekte aus Brandenburg vorstellen.<br />

Es besteht die Möglichkeit mit den Vertreterinnen <strong>und</strong> Vertretern dieser Projekte ins<br />

Gespräch zu kommen, Kontakte zu knüpfen, Anregungen <strong>für</strong> die eigene <strong>Arbeit</strong> zu erhalten<br />

<strong>und</strong> mitzunehmen. (...) Sie sind also herzlich eingeladen.<br />

Applaus<br />

7. Präsentation der Ergebnisse aus den vier Foren <strong>und</strong> Ausblick<br />

43


Gespräch mit den Moderator/innen der Fachforen, Ministerin Dagmar Ziegler <strong>und</strong><br />

Staatssekretär Martin Gorholt<br />

Moderatorin Judith Grümmer<br />

Wir freuen uns, Ihnen die Ergebnisse aus den vier Fachforen vorstellen zu dürfen <strong>und</strong> wir<br />

werden natürlich auch einen Ausblick in die Zukunft machen. (...) Und beginnen wird damit<br />

Frau Barbara Schrul, die das erste Forum zum Thema „Unternehmensstrategien zur<br />

Vereinbarkeit von <strong>Familie</strong> <strong>und</strong> Beruf“ moderiert hat. Sie ist stellvertretende<br />

Gleichstellungsbeauftragte an der Universität Potsdam <strong>und</strong> ich würde Sie bitten, dass Sie die<br />

Thesen <strong>und</strong> die Maßnahmen, die Sie vorschlagen, vortragen.<br />

Barbara Schrul<br />

Ja, meine Damen <strong>und</strong> Herren. Wir hatten die Möglichkeit, in unserem Forum zum einen das<br />

Zertifizierungsverfahren „Audit <strong>Familie</strong> <strong>und</strong> Beruf“ kennen zu lernen, Träger ist die Hertie-<br />

Stiftung. Und zum anderen an einem ganz praktischen Beispiel aus dem Land Brandenburg<br />

zu erleben, wie ein Unternehmen diesen Prozess der Auditierung erfolgreich durchlaufen<br />

hat. Und vor ganz kurzer Zeit dieses Zertifikat als Auditierung erhalten hat. Dazu noch mal<br />

herzlichen Glückwunsch an die Reha-Klinik in Lübben. Und wir hatten die Möglichkeit in<br />

unserem Forum gemeinsam darüber nachzudenken, welche Wege <strong>für</strong> das Land<br />

Brandenburg hier in den Unternehmen geeignet sind, gewachsen aus der Struktur, die sich<br />

im Land Brandenburg ergibt, geeignete Maßnahmen zur Förderung der <strong>Familie</strong> <strong>und</strong> zur<br />

Stärkung der Vereinbarkeit von <strong>Familie</strong> <strong>und</strong> Beruf zu entwickeln. Und ich glaube im Konsens<br />

aller Teilnehmer dieses Forums, das kann ich hier jetzt noch einmal deutlich als Ergebnis<br />

herausstellen, sagen zu können, wir sehen das Audit-Verfahren als ein geeignetes<br />

Instrument an, die Vereinbarkeit von Beruf <strong>und</strong> <strong>Familie</strong> zu fördern, denn – <strong>und</strong> das hat Frau<br />

Frech uns sehr eindeutig nachgewiesen – dieses Instrument sichert vor allen Dingen<br />

Nachhaltigkeit in den Bemühungen der Unternehmen, wenn es um diese<br />

Vereinbarkeitsproblematik geht. Es ist oft viel Geld, viel Fleiß, viel Zeit in Einzelmaßnahmen<br />

bei der Ausgestaltung dieses Prozesses investiert worden. Und unser Standpunkt ist es,<br />

dass wir über diesen Schritt hinausgehen müssen <strong>und</strong> Unternehmensstrategien befördern,<br />

die diesen Prozess der Vereinbarkeit von <strong>Familie</strong> <strong>und</strong> Beruf ermöglichen. Und aus diesem<br />

Gr<strong>und</strong>e möchten wir die Überlegungen unterstützen, dass vor allen Dingen innovative<br />

Projekte gefördert werden, damit sie die Chance haben, dass solche Bemühungen um<br />

Vereinbarkeit auch realisiert werden, dass sie bekannt gemacht, ausgewertet <strong>und</strong> öffentlich<br />

gemacht werden.<br />

Und aufgr<strong>und</strong> der Tatsache, dass im Land Brandenburg über 90 % der Unternehmen<br />

Kleinstunternehmen sind, das heißt also mit bis zu zehn Angestellten, erscheint es uns<br />

44


sinnvoll darüber nachzudenken, dass diese Kleinstunternehmen beispielsweise im Verb<strong>und</strong><br />

zertifiziert werden. Dass sie sich gemeinsam in einer Region zusammenfinden, um diesen<br />

Weg zu gehen. Denn vieles wird durch diesen Verb<strong>und</strong> einfach effizienter <strong>und</strong> man kommt<br />

auch in vielen Einzelfragen dann zu optimaleren Lösungen, als wenn jeder seinen Weg<br />

einzeln sucht <strong>und</strong> auch findet.<br />

Und wir glauben, dass mit dieser Zertifizierung im Verb<strong>und</strong> in der gesamten B<strong>und</strong>esrepublik<br />

das Land Brandenburg damit wiederum eine Vorreiterrolle einnehmen würde; Brandenburg<br />

wäre nämlich das erste B<strong>und</strong>esland, das diesen Weg dann durch solche Verb<strong>und</strong>netze<br />

gehen würde. Das war ein großer Schwerpunkt, der sich in unserem Forum<br />

herauskristallisiert hat.<br />

Und einen zweiten Handlungsbedarf sehen wir vor allen Dingen darin, dass es uns gelingt,<br />

junge Menschen im Land Brandenburg zu halten, indem wir ihnen nicht nur gute<br />

Ausbildungs- <strong>und</strong> Qualifizierungsmöglichkeiten <strong>und</strong> Berufschancen geben, sondern indem<br />

wir auch da<strong>für</strong> mögliche Rahmenbedingungen schaffen, dass beispielsweise sich viele junge<br />

<strong>Frauen</strong> entschließen, wieder früher Kinder zu bekommen. Beispielsweise sollten an<br />

Universitäten solche Rahmenbedingungen geschaffen werden, dass es auch schon möglich<br />

ist, während des Studiums Kinder zu bekommen <strong>und</strong> dadurch die Frage der Elternschaft<br />

nicht auf die Zeit nach dem 30. Lebensjahr verschoben wird. Denn wir haben ja heute<br />

Morgen gehört, wie viele Akademikerinnen sich dann von dem Kinderwunsch in der Realität<br />

tatsächlich verabschieden.<br />

Und nicht zuletzt, aber als eine der wichtigsten Aussagen unseres Forums, möchte ich hier<br />

noch einmal sagen, dass sich hier in unserem Forum auch vor allen Dingen Unternehmen<br />

positioniert haben, dass es wichtig ist, dass die Unternehmen ihre Verantwortung in der<br />

Vereinbarkeit von Beruf <strong>und</strong> <strong>Familie</strong> erkennen, wahrnehmen <strong>und</strong> mitgestalten. Und da gab<br />

es sehr eindeutige Positionen von Forumsgästen <strong>und</strong> ich würde gerade der Landesregierung<br />

empfehlen, hier diese Ressourcen, die sich anbieten im Land, zu bündeln <strong>und</strong> zu nutzen,<br />

damit Brandenburg noch familienfre<strong>und</strong>licher wird.<br />

Applaus<br />

Moderatorin Judith Grümmer<br />

Ja, vielen Dank, Frau Schrul. Gehen wir direkt zum zweiten Forum „Erziehung will gelernt<br />

sein“. Prof. Sturzbecher, Direktor des Instituts <strong>für</strong> angewandte <strong>Familie</strong>n-, Kindheits- <strong>und</strong><br />

Jugendforschung an der Universität Potsdam, Sie haben das Forum moderiert. Was waren<br />

die Ergebnisse?<br />

Prof. Dr. Dietmar Sturzbecher<br />

45


Sehr verehrte Damen <strong>und</strong> Herren, vier Thesen darf ich Ihnen anbieten. Ich habe jede mit<br />

einem Motto versehen. Die erste könnte heißen: Strategie ist mehr als ein Ziel <strong>und</strong> viele gute<br />

Beispiele. Wie kommen wir zu diesem Motto? Egal, ob Sie <strong>Familie</strong>nerziehung in Ihrer <strong>Familie</strong><br />

leisten oder ob Sie in einem Land die <strong>Familie</strong>nbildung voranbringen wollen, auf jeden Fall gilt<br />

es, gut nachzudenken über die Gr<strong>und</strong>prinzipien, die man hier anwenden muss. Auch<br />

darüber, ob es nicht vielleicht bei den Inhalten der <strong>Familie</strong>nbildung Veränderungen geben<br />

müsste. Hier kam als erstes Petitum in unserer Gruppe, dass <strong>Familie</strong>nbildung normaler<br />

werden müsste. Das hat auch mit der Niedrigschwelligkeit zu tun. Also, es soll nicht mehr ein<br />

zweifelhaftes Privileg der so genannten Bildungsfernen sein, dass man sich der Angebote<br />

der <strong>Familie</strong>nbildung bedienen kann, sondern jeder soll möglichst ohne große Probleme<br />

darauf zugreifen dürfen <strong>und</strong> natürlich auch wollen. Und dazu gilt es vielleicht neue Akzente<br />

zu setzen. Natürlich muss <strong>Familie</strong>nbildung darauf zentriert sein, bei der Problembewältigung<br />

in <strong>Familie</strong>n auch zu helfen. Aber warum soll sie nicht auch Spaß machen? Wir haben in der<br />

politischen Bildung den Begriff des „edutanement“, also einer Verbindung von Bildung <strong>und</strong><br />

Unterhaltung. Und vielleicht sollten wir diese Aspekte stärken. Aber wenn wir die Inhalte<br />

ausdehnen, werden die knappen Ressourcen natürlich noch weiter aufzuteilen sein. Und<br />

deswegen kann man in Verbindung mit einer solchen Ausweitung nur darüber nachdenken,<br />

wie man die Schultern verbreitert, vervielfacht, die diese Art <strong>Familie</strong>nbildung dann tragen<br />

wollen. Dabei ist uns aufgefallen, dass es viele gibt, die durchaus bereit sind, sich in<br />

<strong>Familie</strong>nbildung zu engagieren, wenn sie dann vielleicht besser wüssten, wie sie es denn<br />

machen sollen. Damit meine ich nicht nur die Senioren, die Herr Prof. Bertram heute schon<br />

ins Spiel gebracht hat, sondern auch durchaus professionelle Kräfte, bei denen dies ein<br />

Bestand einzig ihres Jobs ist. Also Erzieherinnen, Lehrer etc.<br />

Ein großer Entwicklungspsychologe, Sir Michael Rutter, hat einmal gesagt, der Klassenlehrer<br />

ist der erste <strong>Familie</strong>n- <strong>und</strong> Sozialpädagoge. Vielleicht muss man also die Bereitschaft vieler<br />

aufgreifen. Man muss einigen vielleicht auch durchaus sagen, dass man die Erwartung hat,<br />

dass sie sich hier engagieren sollten. Vor allen Dingen aber muss man die persönlichen<br />

Voraussetzungen verbessern. Das heißt, auch Qualifizierungsangebote in dieser Richtung<br />

zu etablieren.<br />

Die zweite These, vielleicht nicht so überraschend, <strong>Familie</strong>nbildung kostet Geld. Und ich<br />

muss sagen, das bleibt wohl leider auch so. In unserer <strong>Arbeit</strong>sgruppe aber haben wir<br />

herausgearbeitet – <strong>und</strong> damit befinden wir uns eigentlich durchaus im Einklang mit den<br />

Zielorientierungen, die Herr Ministerpräsident Platzeck vorgegeben hat –, dass man dieses<br />

Geld pointiert einsetzen muss, aber dass es uns dann nicht zu schade sein sollte, weil es<br />

großen Gewinn verspricht. Insofern ist eine Revision der Ressourcen <strong>für</strong> <strong>Familie</strong>nbildung aus<br />

unserer Sicht ein guter Auftakt. Also, wir müssen im Lande schauen, wer beispielsweise als<br />

Multiplikator tätig werden kann <strong>und</strong> welche finanziellen Ressourcen wir haben. Und dann<br />

46


müssen wir uns vor allen Dingen überlegen, wie wir das Sinnvolle stabilisieren <strong>und</strong> dabei<br />

auch Platz schaffen, um das Aussichtsreiche neu zu installieren. Wir brauchen eine Balance.<br />

Das war Konsens bei uns. Es geht nicht weiter darum, <strong>für</strong> alle möglichen Projekte <strong>für</strong> eine<br />

befristete Zeit vielleicht gar Geld bereit zu stellen, sondern das gehört auch zu dieser<br />

Strategie, dass wir hier Schwerpunkte setzen.<br />

Die dritte These könnte man überschreiben mit „Vorrang <strong>für</strong> Hilfebedürftige“. Natürlich muss<br />

man, <strong>und</strong> das ist der übergreifende Prozess, die Zielgruppen von Angeboten bestimmen <strong>und</strong><br />

dabei in Rechnung stellen, wie Herr Prof. Bertram heute sagte, dass sich <strong>Familie</strong>n viel weiter<br />

ausdifferenzieren, <strong>Familie</strong>nformen pluralisieren. Und das bedeutet ganz einfach, dass die<br />

Zielgruppen zunehmen. Wir müssen also unsere Angebote zuschneiden, von vornherein <strong>und</strong><br />

nicht blindlings darauf vertrauen, dass irgendjemand sie schon nutzen wird. Auf der anderen<br />

Seite zwingen uns auch die knappen Ressourcen <strong>und</strong> die sozialen Notwendigkeiten, diese<br />

<strong>Familie</strong>nbildung immer auch auf die extrem Bedürftigen zu kaprizieren. Es war darüber<br />

gesprochen worden, ob man materielle Anreizsysteme da<strong>für</strong> etablieren muss oder nicht. Wir<br />

sind zu keiner Antwort gekommen. Aber man muss wohl weiterhin darüber nachdenken.<br />

Die letzte These bezieht sich sehr stark auf die Rolle der Kindertageseinrichtungen in diesem<br />

Prozess der Förderung von <strong>Familie</strong>nbildung. Wir haben sie überschrieben mit „Qualität plus<br />

Quantität“. Ich will nicht verhehlen, dass irgendjemand auch vorgeschlagen hat, Qualität statt<br />

Quantität, aber darauf konnten wir uns nicht verständigen. Wir glauben, dass es gut ist, dass<br />

dieses breite Angebot hier im Land Brandenburg <strong>für</strong> die Kindertagesbetreuung existiert. Wir<br />

haben noch gewisse Zweifel, ob man nicht hier oder da hinsichtlich der pädagogischen<br />

Qualität etwas optimieren kann. Hier haben wir Beispiele gehört von Early Excellence-<br />

Zentren. Und davon, dass diese Zentren in neuer Art <strong>und</strong> Weise Betreuung, Bildung <strong>und</strong><br />

<strong>Familie</strong>nbildung vereinen. Wir haben auch gehört, dass es nicht ganz einfach ist, diese<br />

Zentren zu etablieren, weil es bedeutet, dass man Personalressourcen, Zeitressourcen neu<br />

einsetzen muss, neu organisieren muss. Aber wir halten das <strong>für</strong> einen wichtigen Vorgang<br />

<strong>und</strong> glauben – schon allein auch der Not geschuldet –, dass die Kindertageseinrichtungen<br />

vielfach die sozialen Ressourcen vor Ort sind. Wir glauben, dass Kindertageseinrichtungen<br />

auf diesem Weg eine substanzielle Hilfe sein können <strong>und</strong> dass man dort anknüpfen muss in<br />

einem Flächenland wie Brandenburg. Ich möchte noch mal betonen, dass das überhaupt gar<br />

nicht die erste These beeinträchtigt. <strong>Familie</strong>nbildung muss, auch wenn sie Strategien folgt, in<br />

gewisser Weise bunt bleiben, weil die <strong>Familie</strong>n natürlich immer bunter werden. Vielen Dank.<br />

Applaus<br />

Moderatorin Judith Grümmer<br />

47


Ja, danke, Dietmar Sturzbecher. Die Referentin des Landesjugendring Brandenburg ist nun<br />

an der Reihe. Melanie Benke, Forum 3 „Mitmischen <strong>und</strong> Einmischen“.<br />

Melanie Benke<br />

Ja, vielen Dank. Ich durfte dieses interessante Forum moderieren. Dabei unterstützt wurde<br />

ich von Andreas Kaczynski, der ausgehend von der Initiative „MUT – Mehr Zukunft <strong>für</strong> Kinder<br />

<strong>und</strong> Jugendliche in Brandenburg“, noch einmal ganz deutlich die Situation der Kinder,<br />

Jugendlichen <strong>und</strong> <strong>Familie</strong>n im Land veranschaulicht hat <strong>und</strong> auch Handlungsoptionen bot.<br />

Und zum zweiten durch Herrn Prof. Dr. Leo Penta, der ganz konkret an einem Beispiel der<br />

Bürgerplattform gezeigt hat, wie Einmischen, wie Mitmischen im kommunalen<br />

Zusammenhang funktionieren kann. Ich glaube, ich kann einmütig feststellen, also von der<br />

<strong>Arbeit</strong>sgruppe ausgehend, dass richtungsweisend der Aufbau einer starken<br />

Bürgergesellschaft als einer der möglichen wichtigen Zukunftsfaktoren Brandenburgs<br />

dargestellt wurde. Klar ist auch, dass dabei Politik, Verwaltung <strong>und</strong> Wirtschaft<br />

Rahmenbedingungen <strong>und</strong> Unterstützung bereitstellen müssen. Eine organisierte<br />

Gemeinwesenarbeit heißt auch, einen Organisator zu haben. Das heißt, dass personelle<br />

Bedingungen da sein müssen, die über einen längerfristigeren Zeitraum diesen Prozess<br />

begleiten <strong>und</strong> das zivilgesellschaftliche Engagement bestärken. Partizipation, Einmischen<br />

<strong>und</strong> Mitmischen braucht des Weiteren Wertevermittlung <strong>und</strong> das Training sozialer<br />

Kompetenzen. Diese müssen verstärkt von Schule <strong>und</strong> Jugendhilfe gemeinsam im Sinne<br />

von ganzheitlichen Konzepten in den Blick genommen werden.<br />

Ausgehend von dieser These gelangten wir auch zu einer Diskussion über die<br />

Ganztagsschulen in Brandenburg, über die Problematik, die sich derzeit aus diesen zwei<br />

unterschiedlichen Systemen, die zusammengeworfen werden sollen, ergibt <strong>und</strong> mussten<br />

feststellen, dass eine gewisse Müdigkeit im Land herrscht. Schön wäre es, wenn diese<br />

Müdigkeit zumindest von Seiten der Landesregierung aufgehoben wird, um ein deutliches<br />

politisches Signal zu senden, was vor einigen Jahren noch geschah, mittlerweile aber stark<br />

abgenommen hat, um diese beiden Akteure auch einfach sich vereinen lassen zu können.<br />

Dabei müssen sicherlich noch weitere Unebenheiten, wie zum Beispiel die unterschiedliche<br />

Kommunikation der einzelnen Institutionen, ausgeräumt werden. Nicht zuletzt brauchen<br />

zivilgesellschaftliche Akteure, sprich die <strong>Familie</strong>n <strong>und</strong> ihre intermediären Organisationen wie<br />

Vereine, Kirchengemeinden, Jugendgruppen <strong>und</strong> lokale Bündnisse, einen organisatorischen<br />

Ort, um von innen <strong>und</strong> unten statt von außen <strong>und</strong> oben öffentlich <strong>und</strong> hartnäckig agieren zu<br />

können.<br />

Applaus<br />

48


Moderatorin Judith Grümmer<br />

Vielen Dank, Frau Benke. Carsten Wachholz, vom Servicebüro “Lokale Bündnisse <strong>für</strong><br />

<strong>Familie</strong>“, Forum 4.<br />

Carsten Wachholz<br />

Ich darf berichten, was wir im Forum 4 diskutiert haben. Und zwar ging es dort weniger um<br />

einzelne Modellprojekte oder bestimmte Handlungspfähle, wo etwas <strong>für</strong> <strong>Familie</strong>n getan<br />

werden soll, sondern stärker darum, welche Chancen <strong>und</strong> Probleme in dieser viel<br />

geforderten Vernetzung der Akteure vor Ort liegen <strong>und</strong> welche Rolle dabei die<br />

B<strong>und</strong>esinitiative „Lokale Bündnisse <strong>für</strong> <strong>Familie</strong>“ spielen kann. Der Initiative haben sich in<br />

Brandenburg bisher fünf Bündnisse angeschlossen. Da gibt es in Cottbus gleich zwei, ein<br />

stadtweites <strong>und</strong> ein stadtteilbezogenes Bündnis, <strong>und</strong> in Eisenhüttenstadt ein Bündnis, das<br />

Sie heute Morgen im Plenum bereits kennen gelernt haben. Außerdem haben sich<br />

Ludwigsfelde <strong>und</strong> Wiesenburg der Initiative angeschlossen. An sieben weiteren Standorten<br />

sind Bündnisse in Vorbereitung.<br />

Da stellt sich natürlich die Frage, woran sich eigentlich diese Bündnisse orientieren. Ist das<br />

sozusagen eine neue Mode, sich so einer Initiative anzuschließen, was bringt es eigentlich<br />

den <strong>Familie</strong>n vor Ort, was kommt bei denen, <strong>für</strong> die die Maßnahmen gedacht sind, an <strong>und</strong><br />

was haben die Leute, die sich in solchen Bündnissen engagieren, davon? Da konnten wir<br />

neben den Erfahrungen aus Eisenhüttenstadt eben auch von anderen Aktivitäten profitieren.<br />

Wir haben gelernt, dass es an ganz vielen Orten in Brandenburg, so zum Beispiel in<br />

Fürstenwalde <strong>und</strong> in Guben, Aktivitäten gibt, die auch schon länger im Aufbau sind, wo es<br />

Netzwerke gibt, die man bereits nutzen kann. Man kann sozusagen an Strukturen ansetzen,<br />

um die großen Herausforderungen, die heute Morgen im Plenumsteil diskutiert worden sind,<br />

herunterzubrechen <strong>und</strong> zu fragen, wie wir eigentlich vom Wollen zum Tun kommen.<br />

Das, was immer wieder die Diskussion geprägt hat, war natürlich die Frage, ob hier eine<br />

Aufgabenverlagerung stattfindet. Das Land setzt große Leitziele <strong>und</strong> die Kommunen sollen<br />

sie umsetzen. Hier haben wir eigentlich ganz schön diskutiert, wie stark der Blick sich<br />

verändert, wenn unterschiedliche Akteure ins Spiel kommen. Wenn in so einem Bündnis<br />

nicht nur eine Kommune aktiv ist, sondern eben auch der örtliche <strong>Arbeit</strong>geber. Wir haben<br />

diskutiert, welche Ressourcen unterschiedliche Akteure mit einbringen. Auf die direkte Frage<br />

danach, was eine Bündnisgründung kostet, haben wir dann keinen Preis in die Welt gesetzt,<br />

sondern haben festgestellt, dass dieser erste Schritt <strong>für</strong> eine Gründung eigentlich fast noch<br />

der einfachere ist, weil der eine Partner die Räume bereitstellen kann, der andere kann die<br />

Einladung mit organisieren, der dritte stellt sein Know-How <strong>und</strong> sein Input mit zur Verfügung.<br />

Viel stärker ging eigentlich die Diskussion in die Richtung, wie man es dann schafft,<br />

erfolgreich eine solche <strong>Arbeit</strong> auch am Laufen zu halten <strong>und</strong> die <strong>Arbeit</strong> <strong>und</strong> die<br />

49


Verantwortung auf mehrere Schultern zu verteilen. Hier hat sich die Diskussion in zwei<br />

Strängen entwickelt. Das eine, die großen Zielstellungen, die ja da sind, die häufig auch in<br />

Richtung eines Mentalitätswandels wirken sollen, sind eher mittel- bis langfristig angelegt.<br />

Für die konkrete <strong>Arbeit</strong> vor Ort ist es aber wichtig, ganz kleine, erste Schritte in Angriff<br />

nehmen zu können, wo die Hürde zum Mitmachen nicht so groß ist <strong>und</strong> wo man aber ganz<br />

praktisch erleben kann, dass Zusammenarbeit sehr wohl möglich ist <strong>und</strong> dass man mit einer<br />

besseren Ausnutzung der vorhandenen Ressourcen durchaus etwas bewegen kann. Und im<br />

nächsten Schritt, wenn man sich darüber einig ist, was wollen wir eigentlich darüber hinaus<br />

noch erreichen, geht es darum, neue Möglichkeiten aufzutun in Sachen Finanzierung <strong>und</strong><br />

Ressourceneinsatz <strong>und</strong> die Ziele, die man erreichen will, passgenauer auf die Bedürfnisse<br />

der <strong>Familie</strong> vor Ort auszurichten.<br />

Es war sehr schön, dass es viele Beispiele in der direkten Zusammenarbeit gab, wo Leute<br />

festgestellt haben, o.k., es gibt eine ganze Reihe an Aktivitäten, an Beratungsstellen, an<br />

<strong>Familie</strong>nbildungszentren. Die Frage ist bloß, wie die Informationen verteilt sind. Und das<br />

einfachste am Start der Bündnisarbeit war die Erfahrung, wenn wir Informationen besser<br />

verfügbar machen <strong>und</strong> vor allen Dingen auch persönlich verfügbar machen, dass ein<br />

<strong>Arbeit</strong>nehmer zum Beispiel direkt bei seinem <strong>Arbeit</strong>geber sich erk<strong>und</strong>igen kann, wo er bei<br />

<strong>Familie</strong>nschwierigkeiten Beratung in Anspruch nehmen kann, der direkte Nutzen liegt dann<br />

sozusagen auf der persönlichen Hand. Ja, <strong>und</strong> was wir, glaube ich, erleben werden, ist, dass<br />

es im Nachgang zu solchen Veranstaltungen immer einen sehr intensiven Austausch gibt,<br />

wie man gemeinsam diese Wege <strong>und</strong> Kooperationen auf der örtlichen Ebene weiter stärken<br />

kann. (...)<br />

Wir haben heute deutlich gemacht, dass es ganz viele verschiedene Anlaufstellen gibt, um<br />

sich Unterstützung <strong>für</strong> die <strong>Arbeit</strong> vor Ort zu holen. Unser Ansatz vom Servicebüro ist es<br />

wirklich, Ihnen eine Hilfe zur Selbsthilfe zu geben. Das heißt, wir horchen zuerst sehr stark,<br />

wo stehen Sie an ihrem Standort, welche Akteure wollen eine Art Motorenfunktion<br />

übernehmen, um so ein Bündnis aufzubauen. Und in welcher Form brauchen Sie da eine<br />

Unterstützung, wie Sie diese Prozesse gestalten.<br />

Wir haben das anhand von Eisenhüttenstadt sehr schön nachvollziehen können, wie dort<br />

über einen längeren Zeitraum nicht nur eine inhaltliche Klärung, sondern auch eine<br />

Strukturklärung stattgef<strong>und</strong>en hat. Und wir sind dann punktuell in der Lage, z.B. bei<br />

öffentlichen Veranstaltungen, bei der Inszenierung einer solchen Bündnisgründung natürlich<br />

auch einen F<strong>und</strong>us an Erfahrungen aus anderen Bündnisstandorten weitergeben zu können.<br />

Das Land bietet ebenfalls Möglichkeiten an, sicherlich stärker auch auf der fachlich-<br />

inhaltlichen Ebene. Aber auch hier findet eine Vernetzung der brandenburgischen Akteure<br />

statt. Und da haben wir die Erfahrung gemacht, so lange das stärker regionalspezifisch ist,<br />

gibt es da auch eine stärkere Identität <strong>und</strong> stärkere Austauschmöglichkeiten, so dass man<br />

50


auch von den Fehlern, aber natürlich auch von den Erfolgen der anderen lernen kann, solche<br />

Bündnisarbeit zu organisieren.<br />

Applaus<br />

Moderatorin Judith Grümmer<br />

Vielen Dank, Herr Wachholz. Ja, das sind die Ergebnisse aus den vier Fachforen.<br />

Interessante Anregungen, Frau Ziegler. Was werden Sie mit nach Hause nehmen?<br />

Ministerin Dagmar Ziegler<br />

Also erst einmal ein ganz herzliches Dankeschön an die Moderatoren <strong>und</strong> eben auch an Sie,<br />

meine Damen <strong>und</strong> Herren, die Sie so aktiv mitgearbeitet haben in den Foren. Wir werden<br />

eine ganze Menge mitnehmen können. Aus meinem Haus haben ja Spione in allen Foren<br />

gesessen <strong>und</strong> sehr intensiv aufgeschrieben, was wir dann auch später im Haus noch mal<br />

gründlich auswerten werden <strong>und</strong> was wir in dem Maßnahmepaket, das Ende des Jahres auf<br />

dem Tisch liegen wird, mit aufnehmen <strong>und</strong> berücksichtigen werden. Aber wir werden auch<br />

mögliche Streitfragen noch mal intensiv behandeln. Denn nicht alles ist ja gesellschaftlicher<br />

Konsens <strong>und</strong> da gibt es das eine oder andere, was man auch noch mal tiefgründig erörtern<br />

sollte.<br />

Ich wollte ganz kurz noch mal sagen, es gibt derzeit fünf lokale Bündnisse in Brandenburg.<br />

Dazu gehört auch Cottbus Madlow als erstes Stadtteilbündnis. Ich bin sehr glücklich, dass<br />

wir mittlerweile fünf Bündnisse haben <strong>und</strong> die weiteren werden hoffentlich noch folgen. Das<br />

wird nicht alles ganz ohne Geld gehen. Es wird vieles ohne Geld gehen, das ist völlig richtig.<br />

Aber es wurde ja auch in einem Forum gesagt, es geht nicht alles nur ausschließlich mit<br />

Ehrenamtlichkeit. Es müssen Strukturen vorhanden sein <strong>und</strong> wenigstens ein paar<br />

Sachkosten müssen finanziert werden. Darum werden wir auch ringen, dass eine ganz<br />

geringfügige Starthilfe zur Gründung von lokalen Bündnissen bereit gestellt wird, denn nicht<br />

überall steckt eine schlagkräftige Kommune oder ein schlagkräftiges Unternehmen dahinter.<br />

Sondern es gibt eben auch noch Akteure in den Regionen, die Bündnisse gründen wollen,<br />

aber denen es einfach an den finanziellen Gr<strong>und</strong>lagen fehlt. Und da wir flächendeckend<br />

lokale Bündnisse haben wollen im Land, sollten wir da auch etwas Unterstützung geben.<br />

Wir haben einen Landesbeirat, der sehr aktiv ist in der Beratung meines <strong>Ministerium</strong>s, <strong>und</strong><br />

wo die <strong>Familie</strong>nverbände ihre ehrenamtliche <strong>Arbeit</strong> <strong>und</strong> ihre Erfahrungen vor Ort mit<br />

einfließen lassen. Das heißt, wir machen nichts vom grünen Tisch aus, das kann man<br />

wirklich mit Fug <strong>und</strong> Recht sagen, sondern bei der Erarbeitung der Leitlinien <strong>und</strong> des<br />

Maßnahmepaketes hat der <strong>Familie</strong>nbeirat mitgearbeitet, hat sein Votum abgegeben, seine<br />

51


Stellungnahme. Auch da ein herzliches Dankeschön. Also da werden die Politiker tatsächlich<br />

nicht alleine gelassen, das ist auch gut so.<br />

Die Elternbriefe, die es seit 2003 in unserem Land gibt, die bisher ja sechs Monate <strong>für</strong> die<br />

Kinder kostenfrei zur Verfügung gestellt werden, sollen möglicherweise auch danach noch<br />

bis zum achten Lebensjahr kostenfrei <strong>für</strong> die Eltern zur Verfügung gestellt werden – das<br />

streben wir an. Damit es also keine Kostenfrage ist, Beratung über diesen Weg <strong>für</strong> die<br />

Kinderbetreuung oder Kindererziehung, ges<strong>und</strong>heitliche Versorgung etc. in Anspruch zu<br />

nehmen.<br />

Wir finanzieren <strong>Familie</strong>nferien mit jährlich mindestens 300.000 Euro. Damit können wir<br />

jährlich ca. 1000 <strong>Familie</strong>n pro Jahr fördern. Auch das ist eine sehr wirksame Maßnahme, um<br />

es auch sozial schwachen <strong>Familie</strong>n zu ermöglichen, sich mal ein, zwei Wochen mit ihren<br />

Kindern zu erholen.<br />

Wir haben seit zehn Jahren schon einen Ratgeber <strong>für</strong> <strong>Familie</strong>n, der ist regelmäßig vergriffen.<br />

Jetzt auch wieder. Wir werden noch eine Neuauflage bis Ende dieses Jahres hinbekommen,<br />

so dass auch dieser <strong>Familie</strong>nratgeber wieder allen zugänglich wird.<br />

Und ich will unsere Stiftung „Hilfe <strong>für</strong> <strong>Familie</strong>n in Not“ nicht unerwähnt lassen. Damit haben<br />

wir bisher 1.801 <strong>Familie</strong>n helfen können, die sich in Not befinden. Wir unterstützen diese<br />

<strong>Familie</strong>n mit geringfügigen finanziellen Hilfen, um das Nötigste zu überbrücken. Das sind<br />

bisher 1,8 Millionen gewesen. Auch da wird eine sehr engagierte <strong>Arbeit</strong> gemacht.<br />

Ich will noch darauf zurückkommen, was ich jetzt speziell mitnehmen werde. Wir müssen auf<br />

alle Fälle unsere Öffentlichkeitsarbeit erhöhen, das, glaube ich, ist ganz wesentlich.<br />

Die Auditierung von Unternehmen unterstütze ich sehr. Ich habe vorhin draußen mit der<br />

Hertie-Stiftung das Gespräch aufgenommen. Wir müssen die guten Beispiele vorantragen.<br />

Wir müssen auch kleineren Unternehmen diese Chance geben; da bin ich sehr froh darüber,<br />

dass diese Idee, sich zusammenzuschließen, auch eine Möglichkeit ist, sich auditieren zu<br />

lassen, Geld zu sparen <strong>und</strong> den gleichen Effekt zu haben. Das werden wir genau verfolgen<br />

<strong>und</strong> ich werde im nächsten Jahr sozusagen kampagnenartig durch das Land fahren <strong>und</strong><br />

Unternehmen dazu auffordern, sich auditieren zu lassen. Denn vieles fängt im Kopf an. Und<br />

manches ist wirklich nicht teuer <strong>und</strong> kostet nur strukturiertes Denken. Und das sollten wir<br />

auch von den Unternehmen verlangen. Und ich glaube, da kriegen wir auch nächstes Jahr<br />

etwas hin. Auch die Landesregierung – man darf ja nicht immer nur über andere reden – ,<br />

werde ich anregen, dass sie sich auditieren lässt. Das MASGF ist gerade dabei, sich<br />

auditieren zu lassen, so dass man, wenn man es selber getan hat, das auch von anderen<br />

fordern kann.<br />

Über die Entwicklung niedrigschwelliger Angebote der <strong>Familie</strong>nbildung wurde ja bereits im<br />

Forum 2 intensiv diskutiert, das finde ich sehr, sehr wichtig, um genau an diese Menschen<br />

<strong>und</strong> <strong>Familie</strong>n heranzukommen, die eben nicht so leicht Angebote in Anspruch nehmen. Und<br />

52


das können wir nur erreichen, indem wir Angebote machen, die nicht mit dem erhobenen<br />

Zeigefinger daher kommen, sondern dass es eben dann auch wirklich Spaß macht, sich<br />

bilden zu lassen.<br />

Der Aufbau einer starken Bürgergesellschaft, ein ganz wesentlicher Punkt, hängt mit vielen<br />

personellen Bedingungen, Rahmenbedingungen zusammen. Das wird ein Prozess sein. Das<br />

sage ich ganz klar. Es wird lange dauern, um einen starken gesellschaftlichen<br />

Mentalitätswandel überhaupt hinzubekommen. Und es bedarf dazu Strukturen <strong>und</strong><br />

möglicherweise auch ein bisschen Geld.<br />

Zu den lokalen Bündnissen habe ich schon etwas gesagt. Und ich wünsche mir, dass unsere<br />

<strong>Familie</strong>n am Ende des Prozesses sagen können, wir fühlen uns gut aufgehoben – <strong>und</strong> zwar<br />

nicht nur im Land Brandenburg, sondern in dem Wohnumfeld, in dem sich die <strong>Familie</strong><br />

befindet, in ihrer Gemeinde. Und die <strong>Familie</strong>n fühlen auch, dass sie gesellschaftlich<br />

anerkannt werden. Ich wünsche mir, dass man nicht mehr sagt: Oh, die haben eins, zwei,<br />

drei Kinder. Sondern es muss auch wirklich dieser Wertewandel in den Köpfen vollzogen<br />

werden. Und ich würde mir wünschen, dass die <strong>Familie</strong>n dann auch die<br />

Rahmenbedingungen, die die Gesellschaft zur Verfügung gestellt hat, schätzen <strong>und</strong> sagen:<br />

Jawohl, hier im Land Brandenburg kriege ich <strong>für</strong> meine <strong>Familie</strong>nperspektive wirklich das<br />

geboten, was ich mir vorstelle. Ich wandere nicht mehr ab. Ich bleibe hier <strong>und</strong> ich fühle mich<br />

in meiner Umgebung wohl.<br />

Aber das fängt im Kiez an <strong>und</strong> nicht in der Landespolitik, das muss man immer wieder<br />

sagen. Und deswegen müssen wir zusammenhalten. Das bedeutet nicht, dass das Land die<br />

Verantwortung, wie es immer so schön heißt, nach unten delegieren will, sondern „da unten“<br />

findet das Leben eben tatsächlich statt. Und deshalb müssen wir zusammenhalten <strong>und</strong><br />

gemeinsam an einem Strang ziehen <strong>und</strong> das auch noch auf einer Seite! Und ich gehe davon<br />

aus, dass diese Konferenz heute ein Stück weit auch der Beginn oder die Fortsetzung dieser<br />

gemeinsamen <strong>Arbeit</strong> ist <strong>und</strong> jedenfalls noch mal die Eigenmotivation erhöht hat. Ich bedanke<br />

mich auch ganz herzlich bei allen Akteuren.<br />

Wir werden darüber nachdenken müssen, ob wir eine Konferenz nachfolgen lassen um<br />

Bilanz zu ziehen <strong>und</strong> zu sehen, welche Taten unseren schönen Worten gefolgt sind. Wir<br />

werden uns ein bisschen Zeit dazwischen lassen müssen, damit man dann auch wirklich die<br />

<strong>Arbeit</strong> nachvollziehen kann. Und ich wünsche mir, dass wir uns in vielleicht ein, zwei Jahren<br />

wieder sehen <strong>und</strong> sagen: Mensch, wir haben so <strong>und</strong> so viele Bündnisse, wir haben ein<br />

flächendeckendes Netz. Wir haben natürlich auch noch ein paar Probleme, völlig klar.<br />

Aber Probleme wird es geben, solange es Sie <strong>und</strong> uns gibt, <strong>und</strong> deshalb sollten wir diese<br />

nicht immer an oberster Stelle thematisieren, sondern die Chancen <strong>und</strong> die Erfolge, die wir<br />

erzielt haben. Vielen Dank.<br />

53


Applaus<br />

Moderatorin Judith Grümmer<br />

Vielen Dank, Frau Ministerin. Ja, Herr Gorholt.<br />

Staatssekretär Martin Gorholt<br />

Ja, wir hatten auch in jeder <strong>Arbeit</strong>sgruppe einen Spion sitzen. Insofern werden wir auch in<br />

den nächsten Tagen <strong>und</strong> Wochen ausführlich auswerten, was in den <strong>Arbeit</strong>sgruppen<br />

diskutiert worden ist, <strong>und</strong> auch sehen, was da noch mal eingearbeitet werden kann in das<br />

Maßnahmenpaket, was wir Ende des Jahres in der Landesregierung verabschieden wollen.<br />

Ich habe mir noch mal fünf Punkte notiert. Zum einen zu der letzten Bemerkung von Herrn<br />

Wachholz: Die Frage, entwickelt das Land Vorstellungen <strong>und</strong> die Kommunen sollen diese<br />

Vorstellungen umsetzen. Es ist ja in der Tat die Frage, wie gehen die Akteure miteinander<br />

um. Und ich würde mir generell wünschen, dass die Akteure kooperativer miteinander<br />

umgehen würden als es zum Teil der Fall ist. Ich finde, diese Tagung hier heute ist auch ein<br />

gutes Beispiel da<strong>für</strong>, wie man kooperativ diskutieren kann ohne Vorwürfe <strong>und</strong> tatsächlich<br />

auch gemeinsam Konzepte entwickeln kann. Aber das Verhältnis zwischen B<strong>und</strong>, Ländern<br />

<strong>und</strong> Kommunen ist schon oft so, dass da einfach reflexhaft auf bestimmte Vorstellungen<br />

einer Ebene reagiert wird <strong>und</strong> man nicht in eine konstruktive Diskussion, eine konstruktive<br />

Kooperation hineinkommt. Das wünsche ich mir sehr, <strong>und</strong> das ist insbesondere natürlich <strong>für</strong><br />

den Bereich <strong>Familie</strong>npolitik, denken wir zum Beispiel an den Bereich Kindertagesstätten, ein<br />

ganz zentraler Punkt, wo ja die unterschiedlichen Ebenen Land, Landkreis <strong>und</strong> Kommunen<br />

direkt miteinander kooperieren müssen, um eben tatsächlich etwas voran zu bringen.<br />

Der zweite Punkt ist die Frage der <strong>Familie</strong>nbildung. Möglicherweise, Herr Sturzbecher, das<br />

kann aber auch ein gepflegtes Vorurteil von mir sein, ist es so, dass wir enorm viele<br />

didaktische, pädagogische Innovationen im Bereich von Schule, aber auch im Bereich von<br />

Jugendverbandsarbeit haben, <strong>und</strong> in der gesamten Erwachsenenbildung ein Stückchen weit<br />

hinterher hängen. Nun will ich sozusagen nicht alles über einen Kamm scheren, aber zum<br />

Teil ist dies möglicherweise zutreffend. Ich will auch hier jetzt keine Namen nennen. Aber da<br />

kann ich mir durchaus vorstellen, dass man da innovativer sein könnte <strong>und</strong> man sich da<br />

sozusagen auch nicht mehr w<strong>und</strong>ern muss, dass die Lobby <strong>für</strong> solche Bereiche der<br />

Erwachsenenbildung oft zu gering ist, weil man nicht selber innovativ genug ist <strong>und</strong> dadurch<br />

auch neue Zielgruppen findet. Insofern glaube ich, dass da der Bereich <strong>Familie</strong>nbildung<br />

möglicherweise ein sehr offener Bereich ist im Vergleich zu verschiedenen anderen<br />

Bereichen.<br />

Zu Frau Benke: Zum ersten finde ich es auch zentral wichtig, Demokratie zu lernen, soziale<br />

Kompetenzen zu lernen sowohl in der Jugendverbandsarbeit als auch in der Schule. Wir<br />

54


haben ja in der Schule eine ganze Reihe von Projekten, „Demokratie lernen & leben“.<br />

Nächste Woche haben wir im Bildungsausschuss dazu eine Anhörung zu den<br />

unterschiedlichen Projekten, die wir in der Schule haben, insofern besteht da volle<br />

Übereinstimmung.<br />

Zum Punkt Ganztag herrscht keine Übereinstimmung. Das mag aber an den<br />

unterschiedlichen Sichtweisen liegen. Ich betrachte es nun – vielleicht leider, könnten Sie<br />

sagen – mehr aus der Sicht der Bildung <strong>und</strong> der Schule. Und Sie betrachten es sozusagen<br />

mehr aus der außerschulischen Perspektive. Und Ganztag soll ja gerade dazu dienen, dass<br />

außerschulische Kooperationspartner <strong>und</strong> Schule zusammen kommen. Damit die Schule<br />

sich nach außen öffnet, auf der anderen Seite aber auch außerschulische Gruppen die<br />

Möglichkeit haben, dort an der Schule ihre Angebote zu machen, wo wir heute wissen, dass<br />

wegen der demografischen Entwicklung Jugendverbandsarbeit im ländlichen Raum<br />

schwierig geworden ist. Und man deshalb auch die Schule sozusagen als Stützpunkt gut<br />

nutzen kann. Und ich sage mal, von Seiten der Schule gibt es da keine Müdigkeit. Da geht<br />

eher immer noch die Post ab, würde ich sagen. Also erneut viele Anträge, die am 15.<br />

Dezember bei uns auf dem Tisch liegen werden. Trotzdem, das haben wir ja auch bei uns im<br />

Haus schon mal ausgewertet, hatten wir auch bei uns vom entsprechenden Referat eine<br />

Bilanz, dass man nämlich aus Sicht der außerschulischen Kooperationspartner gerade im<br />

Jugendbereich, im Bereich der Verbände Landesjugendring eher skeptisch ist. Und wir<br />

haben da auch bisher noch keine Lösung gef<strong>und</strong>en, wie wir da tatsächlich rangehen können.<br />

Insofern müssen wir da im Dialog bleiben <strong>und</strong> überlegen, wie wir dann möglicherweise auch<br />

starren Strukturen in der Schule oder auf Schulamtsebene ein bisschen Druck machen<br />

können, Dampf machen, damit sie sich dann tatsächlich mehr öffnen, damit wir da zu<br />

besseren Kooperationsbeispielen kommen.<br />

Mein vierter Punkt: Ich will zum Schluss noch einmal zu den beiden zentralen Bereichen in<br />

unserem <strong>Arbeit</strong>sfeld oder auch im gemeinsamen <strong>Arbeit</strong>sfeld <strong>Familie</strong> <strong>und</strong> Politik etwas sagen.<br />

Zum einen zu der Frage der Eltern-Kind-Zentren. Ich denke, da müssen wir noch sehr<br />

intensiv darüber nachdenken, sowohl über die Strukturen als auch über die Finanzierung.<br />

Und wir haben natürlich im Vergleich zu dem Early-Excellent-Center in Großbritannien oder<br />

Neuvola in Finnland sowohl einfach von den Strukturen als auch von den<br />

Finanzierungsträgern her sehr viel schlechtere Karten. Da muss man die Krankenkassen, die<br />

niedergelassenen Ärzte, die Krankenhäuser, das Jugendamt, das Sozialamt miteinbeziehen;<br />

das heißt, da gibt es so viele Kooperationspartner, die man tatsächlich vernetzen muss, das<br />

ist ein enorm schwieriger, aber wahrscheinlich auch langwieriger Prozess, wenn wir das<br />

tatsächlich angehen wollen, <strong>und</strong> das haben wir eigentlich fest vor. Frau Ziegler favorisiert da<br />

ein bisschen mehr die Kliniken als sozusagen das Zentrum. Wir setzen ein bisschen mehr<br />

auf die Kitas. Aber das ist ja zwischen uns bisher auch überhaupt gar kein Streit gewesen.<br />

55


Aber trotz alledem glaube ich, dass die Umsetzung noch mit enorm viel <strong>Arbeit</strong> verb<strong>und</strong>en<br />

sein wird. Ich kann mir die Kitas auch gut vorstellen, Herr Sturzbecher hat das ja auch noch<br />

mal erwähnt. Die Kita ist ein wichtiger Bereich der <strong>Familie</strong>nbildung. Man muss natürlich<br />

gleichzeitig auch aufpassen, dass man die Kitas nicht mit ihren Aufgaben, mit ihrer <strong>Arbeit</strong><br />

überfordert.<br />

Deshalb möchte ich als letzten <strong>und</strong> fünften Punkt kurz etwas gr<strong>und</strong>sätzlich zu den<br />

Kindertagesstätten sagen, weil sie natürlich ein ganz zentraler Punkt von <strong>Familie</strong>npolitik sind.<br />

Ich glaube zum einen, das hat ja auch der Ministerpräsident heute noch mal klar gestellt <strong>und</strong><br />

das ist auch vereinbart worden innerhalb der Koalition in Brandenburg: Wir wollen die Kita-<br />

Standards, so wie sie sind, <strong>und</strong> die Kita-Finanzierung, so wie sie ist, auf jeden Fall erhalten.<br />

Das heißt, dazu soll es keinerlei Abstriche geben in den nächsten Jahren. Das ist sozusagen<br />

die eine klare Prämisse, die es gibt. Die ist ja schon mal gut im Vergleich zu dem, was in den<br />

letzten fünf Jahren passiert ist. Zum anderen ist mir sozusagen von einem Spion oder von<br />

beiden Spionen berichtet worden, dass in einer <strong>Arbeit</strong>sgruppe die Frage der Verlagerung<br />

wieder unter Leistungsverpflichtung diskutiert worden ist. Und das ist auch etwas, was wir<br />

uns sehr gut vorstellen können. Wir haben ja schon einmal als Landesregierung ein Gesetz<br />

auf den Weg gebracht, wo wir die Leistungsverpflichtung von den Landkreisen auf die<br />

Kommunen verlagert haben. Und das hat aus unserer Sicht eindeutig zu einer Stärkung der<br />

Kommunen geführt, zu mehr Handlungsfähigkeit <strong>und</strong> auch zur Entbürokratisierung. Weil<br />

heute zum Beispiel die Berechnung der Personalkosten über den Landkreis an die<br />

Kommunen sehr viel Ärger produziert. Deshalb finde ich, es lohnt sich, darüber noch einmal<br />

neu zu diskutieren – sowohl innerhalb der Landesregierung als auch möglicherweise im<br />

Ausschuss Norm <strong>und</strong> Standards. Das ist damals ja im Land Brandenburg durch das<br />

Verfassungsgericht rückgängig gemacht worden. Inzwischen gibt es ein<br />

Verfassungsgerichtsurteil von Sachsen-Anhalt, was auf Gr<strong>und</strong>lage des B<strong>und</strong>esrechts zur<br />

genau gegenteiligen Meinung gekommen ist wie das Verfassungsgericht hier in<br />

Brandenburg. Insofern sind wir eigentlich gewillt, diese Diskussion zumindest noch mal zu<br />

führen <strong>und</strong> zu gucken, ob wir das noch mal angehen. Das sollten wir im Laufe des nächsten<br />

Jahres dann auf jeden Fall entscheiden.<br />

Die neuen Aufgaben, die Kindertagesstätten bekommen, sind sicherlich zum einen auch die<br />

flexiblen Öffnungszeiten, damit <strong>Familie</strong> <strong>und</strong> Beruf besser vereinbart werden können, damit<br />

die Öffnungszeiten der Kindertagesstätten sich auch den flexiblen Berufsnotwendigkeiten<br />

anpassen können. Ich habe auch oben bei den Projektpräsentationen ein, zwei Beispiele<br />

gesehen, bei denen ich mir auch gerne einmal näher angucken würde, wie das tatsächlich<br />

funktionieren kann. Da besteht doch zum Beispiel die Frage, wie man das organisieren kann.<br />

Wie organisiert man das ohne Selbstausbeutung der Erzieherinnen, wie kriegt man diese<br />

längeren Öffnungszeiten von 5.30 bis 19.00 Uhr tatsächlich hin? Wie ist das dann eigentlich<br />

56


mit dem Personalschlüssel, also wie kann man das wirklich effizient <strong>und</strong> effektiv<br />

organisieren? Das ist auch ein ganz wichtiger Punkt in dem Baustein des <strong>Familie</strong>nberichts<br />

gewesen. Zum anderen natürlich die Öffnung hin zu der <strong>Arbeit</strong> mit den Eltern, zu intensiverer<br />

<strong>Arbeit</strong> mit den Eltern bis hin zu Eltern-Kind-Zentren, die man in den Kindertagesstätten<br />

verankert.<br />

Der letzter Punkt, den ich heute Morgen schon angesprochen habe, ist die Frage der<br />

Sprachförderung. Da sind wir wirklich sehr gewillt, das gesetzlich verpflichtend einzuführen.<br />

Und auch da muss man dann die Frage Konnexität, die Frage der Zuständigkeit, die muss<br />

man dann intensiv diskutieren, auch innerhalb der Landesregierung. Und muss dann<br />

hoffentlich auch zu einer kooperativ vernünftigen Lösung mit dem Städte- <strong>und</strong><br />

Gemeindeb<strong>und</strong> <strong>und</strong> dem Landkreistag kommen. Ich glaube, das ist ein Schritt, den wir auch<br />

hier in Brandenburg unter diesen schwierigen Bedingungen vom strikten Konnexitätsprinzip<br />

trotzdem aus pädagogischen Gründen zwingend gehen müssen.<br />

Ich danke auch ganz herzlich <strong>für</strong> das intensive Engagement hier auf dieser Tagung <strong>und</strong> ich<br />

glaube, wir brauchen sehr viel mehr Lobby <strong>für</strong> <strong>Familie</strong>n.<br />

Und da nenne ich noch einen letzten Punkt, der aus dem <strong>Familie</strong>nbericht ja leider<br />

herausgestrichen worden ist: Ich halte die Diskussion über ein <strong>Familie</strong>nwahlrecht nicht <strong>für</strong><br />

Spinnerei. Sondern ich bin wirklich der Meinung, dass man das intensiv diskutieren sollte.<br />

Auch wenn es vielleicht nur eine symbolische Diskussion ist. Darüber zu diskutieren, dass<br />

Eltern, Väter, Mütter soviel Stimmen haben wie sie Kinder haben, finde ich durchaus eine<br />

sinnvolle Diskussion, weil wir zu der Situation kommen werden, wo dann 85, 90 % der<br />

Stimmen wirklich bei den Älteren, 30 Jahre <strong>und</strong> älter, liegen. Und die jungen Menschen, die<br />

Kinder, die <strong>Familie</strong>n keine Lobby mehr im Land haben. Und Politiker richten sich nun mal<br />

auch danach, wer Wahlrecht hat <strong>und</strong> wer wie wählt. Deshalb finde ich diese Diskussion<br />

sinnvoll. Und es gibt ja nicht nur Spinner, die sich bisher dieser Diskussion über ein<br />

<strong>Familie</strong>nwahlrecht angeschlossen haben. Wolfgang Thierse oder der Ministerpräsident<br />

Müller im Saarland sind zum Beispiel zwei, die sich dahinter gestellt haben <strong>und</strong> gesagt<br />

haben, wir sollten das in der B<strong>und</strong>esrepublik ernsthaft diskutieren <strong>und</strong> ernsthaft juristisch<br />

prüfen in Bezug auf die Machbarkeit. Und da<strong>für</strong> bin ich auch, weil ich glaube, <strong>Familie</strong> braucht<br />

eine Lobby. Und ohne solche neuen innovativen Instrumente wird die <strong>Familie</strong> diese Lobby<br />

nicht bekommen. Vielen Dank.<br />

Applaus<br />

Moderatorin Judith Grümmer<br />

Ja, vielen Dank <strong>für</strong> die ausführlichen <strong>und</strong> ergiebigen Antworten auf die Impulse, die eben aus<br />

den Foren gekommen sind. Allerdings möchte ich bei einem Punkt noch mal nachhaken. Der<br />

57


ist jetzt gar nicht mehr angesprochen worden, nämlich dass in Forum 1 ja auch die<br />

Forderung nach einer Ausgestaltung familiengerechter Hochschulen formuliert worden ist,<br />

um dieses Zeitfenster <strong>für</strong> junge <strong>Frauen</strong> zu vergrößern, was die <strong>Familie</strong>nphase angeht. Gibt<br />

es da Überlegungen, darauf eingehen zu können?<br />

Frau Ministerin Dagmar Ziegler<br />

Es gibt derartige Überlegungen schon, ich nehme das gerne mit. Wir haben ja vor dieses<br />

Maßnahmepaket aufzulegen. Und es ist schon erkannt, dass wir dort ein riesengroßes<br />

Problem haben. Ich hatte heute Morgen schon gesagt, wir brauchen solche Klebeeffekte, die<br />

wir erzielen können. Und die Fachhochschulen <strong>und</strong> Hochschulen in unserem Land kennen<br />

dieses Problem auch. Die Fachhochschule in Brandenburg hat sich diesem auch schon<br />

geöffnet, sie tut etwas <strong>für</strong> Studentinnen, die einen Kita-Platz brauchen. Es ist also im Werden<br />

<strong>und</strong> ich nehme das heute gerne noch mal mit, um das zu verstärken <strong>und</strong> im Maßnahmepaket<br />

mit zu verankern. Das ist versprochen.<br />

Moderatorin Judith Grümmer<br />

Ja, vielen Dank. Meine Damen <strong>und</strong> Herren, Frau Ministerin Ziegler, Herr Staatssekretär<br />

Gorholt, die Brandenburger Entscheidung, <strong>Familie</strong>n <strong>und</strong> Kinder haben Vorrang – dazu haben<br />

wir heute eine Menge Impulse, Maßnahmenvorschläge <strong>und</strong> Anregungen gehört. Das<br />

Programm <strong>für</strong> <strong>Familie</strong>n <strong>und</strong> Kinderfre<strong>und</strong>lichkeit wird in Zukunft mit Leben gefüllt werden.<br />

Das hoffen wir ja. Da bin ich sicher. Ganz sicher hat diese Tagung heute nicht nur Ihrem<br />

Gedanken- <strong>und</strong> Informationsaustausch gedient, sondern das eine oder andere Ergebnis aus<br />

den Foren wird sich in Zukunft sicherlich in tatsächlichen Maßnahmen zeigen. Und wenn sie<br />

mir als Rheinländerin hier in Brandenburg abschließend noch eine ganz persönliche<br />

Bemerkung gestatten: Ich finde, Sie haben wirklich allen Gr<strong>und</strong>, stolz zu sein. Darauf, dass<br />

in Ihrem Land <strong>Familie</strong>npolitik einen so hohen Stellenwert hat <strong>und</strong> dass sie auf einem guten<br />

Weg sind, sich von einem kinder- <strong>und</strong> familienfre<strong>und</strong>lichen B<strong>und</strong>esland weiter zu entwickeln<br />

zu einem B<strong>und</strong>esland, das sich vielleicht auch bald schon im europäischen Vergleich als<br />

besonders familienfre<strong>und</strong>lich auszeichnen wird.<br />

Meine Hoffnung darf ich vielleicht so formulieren: Tragen Sie dazu bei, dass in ganz<br />

Deutschland ein Mentalitätswandel stattfindet, damit das Leben mit Kindern wieder<br />

selbstverständlicher wird, damit Kinder kriegen <strong>für</strong> junge <strong>Frauen</strong>, <strong>für</strong> junge Menschen keine<br />

Sackgasse ist, damit <strong>Familie</strong>n nicht länger wirtschaftlich benachteiligt werden, damit Kinder<br />

kein Armutsrisiko bedeuten <strong>und</strong> damit unsere Kinder liebevoll erzogen, optimal betreut,<br />

ges<strong>und</strong> aufwachsen <strong>und</strong> gut ausgebildet in eine gute <strong>und</strong> optimistische Zukunft schauen. Ich<br />

bedanke mich bei Ihnen.<br />

58


Applaus<br />

Ende<br />

59


Konferenz<br />

<strong>Familie</strong>n- <strong>und</strong> kinderfre<strong>und</strong>liches Brandenburg am 25.10.05 im Alten Rathaus, Potsdam<br />

Forum 1: „Unternehmensstrategien zur Vereinbarkeit von <strong>Familie</strong> <strong>und</strong> Beruf“<br />

Schriftliche Fassung der Impulsreferate<br />

Impulsreferat I: „<strong>Familie</strong>nbewusste Personalpolitik: Möglichkeiten <strong>und</strong> Chancen einer<br />

Auditierung“<br />

Gertrud Frech, Leiterin Auditorenbetreuung, Beruf <strong>und</strong> <strong>Familie</strong> gGmbH – eine Initiative der<br />

Hertie-Stiftung<br />

Die Gemeinnützige Hertie-Stiftung zählt zu den großen Stiftungen Deutschlands. Sie vereint<br />

drei Förderbereiche: die Neurowissenschaften, die Europäische Integration <strong>und</strong> die Erziehung<br />

zu Demokratie. Zur Führung der Geschäfte im Themenfeld „<strong>Familie</strong>ngerechte <strong>Arbeit</strong>swelt“ hat<br />

die Stiftung die Beruf & <strong>Familie</strong> gGmbH gegründet 1 . Von der Beruf & <strong>Familie</strong> gGmbH wurden<br />

das Audit Beruf & <strong>Familie</strong>® <strong>und</strong> das Audit <strong>Familie</strong>ngerechte Hochschule entwickelt.<br />

Das Audit Beruf & <strong>Familie</strong>®<br />

Das Audit Beruf & <strong>Familie</strong>® ist ein Managementinstrument zur kontinuierlichen Verbesserung<br />

einer familienbewussten Personalpolitik. Es wird in Unternehmen aller Größen <strong>und</strong> Branchen<br />

eingesetzt. Ein umfassender Katalog praktizierter Maßnahmen, gegliedert nach acht<br />

Handlungsfeldern (<strong>Arbeit</strong>szeit, <strong>Arbeit</strong>sort, <strong>Arbeit</strong>sorganisation, Informations- <strong>und</strong><br />

Kommunikationspolitik, Personalentwicklung, Führungskompetenz, Service <strong>für</strong> <strong>Familie</strong>n,<br />

Entgeltbestandteile <strong>und</strong> geldwerte Leistungen), dient zur Erfassung des Ist-Zustandes im<br />

Unternehmen <strong>und</strong> zur Formulierung weiterführender Ziele <strong>und</strong> Maßnahmen, die in den<br />

kommenden drei Jahren nach der Auditierung umgesetzt werden.<br />

Auf diese Weise wird ein Prozess zur Verbesserung der familienbewussten Personalpolitik in<br />

Gang gesetzt. Die Nachhaltigkeit der Maßnahmen ist gewährleistet durch jährliche<br />

Berichterstattung der Unternehmen, Institutionen <strong>und</strong> Hochschulen an die Beruf & <strong>Familie</strong><br />

gGmbH.<br />

Die Art der Durchführung stellt sicher, dass im gesamten Prozess der Auditierung <strong>und</strong> der<br />

späteren Umsetzung eine tragfähige Balance zwischen Unternehmensinteressen <strong>und</strong><br />

Mitarbeiterbelangen bzw. Studierendenbelangen hergestellt wird.<br />

1 Sie finden uns im Internet unter http://www.beruf-<strong>und</strong>-familie.de


Das Audit <strong>Familie</strong>ngerechte Hochschule unterscheidet sich in einem Handlungsfeld von dem<br />

Audit Beruf & <strong>Familie</strong>® <strong>und</strong> bezieht zusätzlich den wissenschaftlichen Bereich <strong>und</strong> die<br />

Studierenden als Zielgruppe mit ein.<br />

Auditierung als nachhaltiger Prozess<br />

Der Blick auf die familienbewusste Personalpolitik während des Auditierungsprozesses ist<br />

individuell gesteuert <strong>und</strong> sorgt <strong>für</strong> passgenaue Angebote; die Nachhaltigkeit ist gewährleistet<br />

<strong>und</strong> der betriebswirtschaftliche Nutzen erwiesen. Das Audit bietet zudem die große Chance<br />

der Vernetzung <strong>und</strong> unterstützt die Bildung von lokalen <strong>und</strong> regionalen Bündnissen. Mit der<br />

Auditierung <strong>und</strong> der damit verb<strong>und</strong>enen Umsetzung der Ziele <strong>und</strong> Maßnahmen wird langfristig<br />

eine Kulturveränderung initiiert.<br />

Im Ablauf einer Auditierung durch eine von der Stiftung geschulte Auditor/in erfolgt der Start<br />

mit einem halbtägigen Strategieworkshop der Entscheiderebene mit Geschäftsführer/in oder<br />

Inhaber/in, Personal- oder Betriebsrat, Gleichstellungs- oder <strong>Frauen</strong>beauftragte/r,<br />

Abteilungsleiter/in <strong>und</strong> Projektleitung. Es geht im Strategieworkshop um die Zielbestimmung,<br />

was mit der Auditierung bewirkt werden soll. Hier wird zudem definiert, was „<strong>Familie</strong>“ im<br />

Unternehmen, der Institution oder Hochschule bedeutet <strong>und</strong> welchen konkreten<br />

Personenkreis sie umfasst. Und es erfolgt die Schwerpunktsetzung in der Behandlung der<br />

Handlungsfelder (Top-3-Handlungsfelder). Schließlich wird die Zusammensetzung der großen<br />

Projektgruppe <strong>für</strong> den Auditierungsworkshop festgelegt. Im Auditierungsworkshop werden mit<br />

einer Projektgruppe, die das Unternehmen, die Institution oder Hochschule repräsentativ<br />

abbildet, Ziele <strong>und</strong> Maßnahmen in allen <strong>für</strong> das Unternehmen, die Institution oder Hochschule<br />

relevanten Handlungsfeldern erarbeitet. Besonders ausführlich werden die Handlungsfelder<br />

bearbeitet, die als Top-3-Handlungsfelder im Strategieworkshop benannt wurden.<br />

Die im Auditierungsworkshop erarbeiteten Ziele <strong>und</strong> Maßnahmen werden in einem<br />

Zieldokument der Geschäftsleitung zur Unterschrift vorgelegt, damit der Veränderungsprozess<br />

der folgenden drei Jahre von höchster Ebene bewilligt <strong>und</strong> unterstützt wird. Nach der<br />

Einreichung der Dokumente bei der Beruf <strong>und</strong> <strong>Familie</strong> gGmbH erfolgt die Entscheidung über<br />

die Vergabe des Gr<strong>und</strong>zertifikats. Eine offizielle Gr<strong>und</strong>zertifikatsverleihung schließt den<br />

Auditierungsprozess ab <strong>und</strong> leitet über zur Umsetzungsphase – jedes Jahr ist ein Bericht<br />

einzureichen, der den Stand der Umsetzung dokumentiert. Nach drei Jahren stellen sich die<br />

Unternehmen, Institutionen <strong>und</strong> Hochschulen der Re-Auditierung, die den zurückliegenden<br />

Prozess bewertet <strong>und</strong> in der weiterführende Ziele <strong>und</strong> Maßnahmen <strong>für</strong> die nächsten drei Jahre


erarbeitet werden. Hier muss ein Tag vor Ort eingeplant werden. Am Ende dieses Prozesses<br />

steht nach der Begutachtung durch die Beruf & <strong>Familie</strong> gGmbH die Vergabe des Zertifikats<br />

an.<br />

Betriebswirtschaftliche Effekte <strong>und</strong> Auditierungen im Verb<strong>und</strong><br />

Die Untersuchungen von Prognos <strong>und</strong> Emnid belegen in einer Kosten-Nutzen-Analyse die<br />

betriebswirtschaftlichen Effekte einer familienbewussten Personalpolitik. Einzelfallanalysen<br />

auditierter Unternehmen untermauern die Erkenntnisse; zukünftig gibt es eine Datenbank, zu<br />

der auditierte Unternehmen einen Zugang haben. Die Datenbank gibt genauen Aufschluss<br />

darüber, welche konkreten Maßnahmen zu welchen Wirkungen führen, die sich in Zahlen<br />

messen lassen.<br />

Synergieeffekte lassen sich erzielen durch Auditierungen mehrerer Unternehmen,<br />

Institutionen <strong>und</strong> Hochschulen im Verb<strong>und</strong>. Neben der Kostenersparnis erfolgt eine<br />

Vernetzung an Schnittstellen des individuellen Bedarfs. Auditierungen im Verb<strong>und</strong><br />

unterstützen Aktivitäten im Rahmen der „Lokalen Bündnisse <strong>für</strong> <strong>Familie</strong>“. Der b<strong>und</strong>esweite<br />

Unternehmenswettbewerb „Erfolgsfaktor <strong>Familie</strong>“ des B<strong>und</strong>esfamilienministeriums hat<br />

gezeigt, dass es Impulse familienbewussten Wirtschaftens in Unternehmen gibt <strong>und</strong> erste<br />

innovative Lösungen gef<strong>und</strong>en wurden.<br />

Impulsreferat II: „Eine familienbewusste <strong>und</strong> ges<strong>und</strong>heitsfördernde <strong>Arbeit</strong>swelt bringt<br />

<strong>für</strong> alle Beteiligten Gewinn“<br />

Jan Christian Bücher, stellvertretender Geschäftsführer des Reha-Zentrums Lübben<br />

Das Reha-Zentrum Lübben 2 ist eine Einrichtung des Ges<strong>und</strong>heitswesens. Es hat den Auftrag<br />

der Rehabilitation onkologischer <strong>und</strong> hämatologischer sowie orthopädischer <strong>und</strong><br />

unfallverletzter Patienten. Diese werden hier entweder direkt im Anschluss an eine<br />

akutmedizinische Betreuung oder zu einem späteren Zeitpunkt in der Klinik stationär,<br />

teilstationär oder ambulant behandelt. Die derzeit 115 Mitarbeiterinnen <strong>und</strong> Mitarbeiter<br />

betreuen jährlich ca. 4400 Patienten.<br />

Zielsetzungen <strong>und</strong> organisatorische Umsetzung des Auditierungsprozesses<br />

2 Sie finden das Rehazentrum Lübben im Internet unter http://www.rehazentrum.com


Seit dem Jahr 2001 beschäftigt sich das Reha-Zentrum Lübben mit der Umgestaltung seiner<br />

alltäglichen <strong>Arbeit</strong>sorganisation <strong>und</strong> der Ausrichtung seiner personalpolitischen<br />

Entscheidungen auf die Erfordernisse zur Vereinbarkeit von Beruf <strong>und</strong> <strong>Familie</strong>. Triebfeder <strong>für</strong><br />

das Engagement zur Beteiligung am Audit Beruf & <strong>Familie</strong>® der Gemeinnützigen Hertie-<br />

Stiftung ist die Abstimmung der Bedürfnisse der Mitarbeiterinnen <strong>und</strong> Mitarbeiter unserer<br />

Klinik hinsichtlich ihrer familiären <strong>und</strong> beruflichen Identität mit den Erfordernissen der Klinik.<br />

Diesem Prozess ging die Erkenntnis voraus, dass zufriedene Mitarbeiter/innen einen<br />

entscheidend höheren Beitrag zum Unternehmenserfolg leisten können. Von Seiten der<br />

Mitarbeiter/innen ist mit einer Verbesserung der Leistungsfähigkeit, der Motivation sowie des<br />

sozialen Klimas untereinander zu rechnen. Eine lebensphasenorientierte <strong>und</strong> chancengleiche<br />

Personal- <strong>und</strong> Organisationsentwicklung ist <strong>für</strong> eine attraktive Positionierung qualifizierter<br />

Fachkräfte sowie die Bindung langjähriger Mitarbeiterinnen <strong>und</strong> Mitarbeiter von zentraler<br />

Bedeutung <strong>für</strong> die Wettbewerbsfähigkeit unserer Klinik. Mit diesen Zielsetzungen begaben wir<br />

uns 2001 in einen Auditierungsprozess, der bis heute noch nicht abgeschlossen ist.<br />

Hauptverantwortlich <strong>für</strong> die Umsetzung der gesetzten Ziele waren die Projektgruppe<br />

„Qualitätszirkel“, der Betriebsrat <strong>und</strong> das Klinikmanagement. Beteiligt waren insgesamt 15<br />

Mitarbeiter <strong>und</strong> Mitarbeiterinnen der Klinik. Die Projektgruppe fand sich im ersten Jahr des<br />

Audit-Prozesses einmal im Monat zusammen. Später wurden gezielt nur die <strong>für</strong> den jeweiligen<br />

Projektabschnitt relevanten Projektmitglieder einberufen. Bei Zielerreichung fand vor der<br />

gesamten Projektgruppe <strong>und</strong> in der Mitarbeiterzeitung eine Ergebnispräsentation statt.<br />

Innerhalb des Auditierungsprozesses waren Vernetzungen mit verschiedenen Gremien der<br />

Klink notwendig: Leitungskonferenz, Abteilungsleitertreffen, <strong>Arbeit</strong>sschutzausschuss,<br />

<strong>Arbeit</strong>skreis Ges<strong>und</strong>heit (betriebliches Ges<strong>und</strong>heitsmanagement).<br />

<strong>Familie</strong>nunterstützende Maßnahmen<br />

In der Klinik sind seitdem arbeitsstrukturelle Verbesserungen <strong>und</strong> arbeitszeitliche Flexibilitäten<br />

fest installiert. Durch die Teilnahme am Audit Beruf & <strong>Familie</strong>® mit dem Ziel der Zertifizierung<br />

des Unternehmens zu einem familienfre<strong>und</strong>lichen Betrieb erfolgen hier kontinuierliche<br />

Bemühungen in acht Handlungsfeldern:<br />

1. <strong>Arbeit</strong>szeit<br />

2. <strong>Arbeit</strong>sabläufe <strong>und</strong> <strong>Arbeit</strong>sinhalte<br />

3. <strong>Arbeit</strong>sort<br />

4. Informations- <strong>und</strong> Kommunikationspolitik<br />

5. Führungskompetenz


6. Personalentwicklung<br />

7. Entgeldbestandteile <strong>und</strong> geldwerte Leistungen<br />

8. Service <strong>für</strong> <strong>Familie</strong>n<br />

Zu den bisher durchgesetzten familienunterstützenden Maßnahmen gehören die Ausweitung<br />

der Teilzeitarbeit <strong>und</strong> die Schaffung von Telearbeitsplätzen, um von zu Hause aus arbeiten zu<br />

können. Eine Flexibilisierung der <strong>Arbeit</strong>szeiten macht es den Müttern <strong>und</strong> Vätern, aber auch<br />

pflegenden Angehörigen möglich, ihren beruflichen Alltag mit den Erfordernissen in der<br />

<strong>Familie</strong> in Einklang zu bringen. So erhalten z.B. Beschäftigte mit pflegebedürftigen<br />

Angehörigen bezahlte Freistellungen zur Erledigung von Behördengängen.<br />

Mit der Einführung von zusätzlichen Urlaubstagen <strong>für</strong> sowohl ältere <strong>Arbeit</strong>nehmer/innen als<br />

auch langjährige Mitarbeiter/innen werden neben den ges<strong>und</strong>heitlichen Aspekten auch<br />

leistungsfördernde <strong>und</strong> personalbindende Elemente geschaffen. Zudem wurden auch <strong>für</strong><br />

Mitarbeiter <strong>und</strong> Mitarbeiterinnen in Wechselschicht zusätzliche Urlaubstage sowie eine<br />

Vergütungszulage eingeführt.<br />

Seit November 2004 finden regelmäßige <strong>Familie</strong>nnachmittage in der Klinik statt; hier werden<br />

sich in Elternzeit befindende Mitarbeiter <strong>und</strong> Mitarbeiterinnen eingeladen, um sich in<br />

gemütlicher Atmosphäre auszutauschen <strong>und</strong> sich über die neuesten Entwicklungen in der<br />

Klinik zu informieren. Darüber hinaus erhalten sie die monatlich erscheinende<br />

Mitarbeiterzeitung per Post. So bleiben jene Mitarbeiter <strong>und</strong> Mitarbeiterinnen über die<br />

Geschehnisse der Klinik informiert <strong>und</strong> können sich bei Interesse entsprechend einbringen.<br />

Um auch regionale familienfre<strong>und</strong>liche Entwicklungen zu unterstützen, beteiligen wir uns an<br />

einem regionalen Erfahrungsaustausch 3 zum Thema Vereinbarkeit von Beruf <strong>und</strong> <strong>Familie</strong>.<br />

Außerdem nehmen wir an gezielten Spendenaktionen zugunsten von Schulen <strong>und</strong><br />

Kindervereinigungen aus Lübben teil.<br />

Weitere Maßnahmen im <strong>Arbeit</strong>sfeld „Service <strong>für</strong> <strong>Familie</strong>n“ sind die Zahlung einer<br />

Geburtenbeihilfe sowie eine Bezuschussung des Kindergartenplatzes von 25 € monatlich je<br />

Kind. In Planung befindet sich die Reduzierung der Wochenarbeitszeit bei vollem<br />

Lohnausgleich <strong>für</strong> Eltern mit Kindern unter 12 Jahren. Zudem sollen zukünftig pflegende<br />

3 Der Erfahrungsaustausch findet gemeinsam mit DAK, DRK, AWO, der Stadt Lübben, der<br />

Kreisvolkshochschule, der Landesklinik Lübben, dem Evangelischen Krankenhaus Luckau, der<br />

Wirtschaftskanzlei Dietrich, der Diakonie Pflege gGmBH, der Ernährungsberatung S. Fuchsmann <strong>und</strong><br />

dem Network-Marketing C. Schletze statt.


Mitarbeiter/innen während ihrer Urlaubszeit innerhalb ihrer häuslichen Pflegetätigkeit durch<br />

das Krankenpflegepersonal der Klinik entlastet werden.<br />

Abschließend möchte ich noch ein paar Zahlen <strong>und</strong> Fakten <strong>für</strong> sich sprechen lassen: In den<br />

letzten zwei Jahren haben unsere Mitarbeiter <strong>und</strong> Mitarbeiterinnen zwölf Mal <strong>für</strong> Nachwuchs<br />

gesorgt – dabei haben zwei Väter die Elternzeit in Anspruch genommen. Bis zum<br />

Weihnachtsfest 2005 erwarten wir noch fünf weitere Babys. Wichtig dabei ist, dass unsere<br />

Beschäftigten wissen, dass wir uns über jeden weiteren Nachwuchs freuen!<br />

Die Schaffung einer tragfähigen Balance zwischen Unternehmenszielen, Patienten- <strong>und</strong><br />

Mitarbeiterbedürfnissen verstehen wir als oberste Managementaufgabe <strong>und</strong> ist fest in<br />

unserem Unternehmensleitbild verankert.<br />

Sie sehen – um wieder auf den Titel dieses Impulsreferates zurückzukommen – eine<br />

familiengerechtere <strong>Arbeit</strong>swelt bringt nicht nur den Mitarbeiter/innen, sondern auch dem<br />

Unternehmen <strong>und</strong> letztendlich der Gesellschaft einen enormen Gewinn, denn mehr Kinder<br />

bedeuten mehr Wachstum, mehr wirtschaftlichen Wohlstand <strong>und</strong> mehr soziale Stabilität.<br />

Anhang: Chronologie familienfre<strong>und</strong>licher Maßnahmen des Reha-Zentrums Lübben (Auswahl)<br />

01/2001 erstes Orientierungsgespräch <strong>und</strong> Basisworkshop (Bildung Qualitätszirkel)<br />

03/2001 Präsentationsworkshop (Erarbeitung von Zielen <strong>und</strong> Festlegung von<br />

familienfre<strong>und</strong>lichen Maßnahmen)<br />

05/2001 Verleihung des Gr<strong>und</strong>zertifikats Beruf & <strong>Familie</strong>®<br />

05/2001 Aktionstag im Reha-Zentrum Lübben „Mehr Spielraum <strong>für</strong> Väter“ mit Frau Dr.<br />

Christine Bergmann, B<strong>und</strong>esministerin <strong>für</strong> <strong>Familie</strong>, Senioren, <strong>Frauen</strong> <strong>und</strong> Jugend, sowie dem<br />

Fernsehsender ORB<br />

06/2001 Errichtung von Telearbeitsplätzen zur Nutzung von Müttern <strong>und</strong> Vätern in<br />

Elternzeit<br />

06/2001 Ausweitung der Teilzeitarbeit<br />

02/2002 Belegrechte in städtischer Kindereinrichtung<br />

02/2002 Gewährung unbezahlter Freistellung bei familiärer Notwendigkeit<br />

03/2002 Teilnahme am Projekt „Moderne <strong>Arbeit</strong>szeiten <strong>für</strong> Brandenburg“ (Pilotprojekt:<br />

<strong>Arbeit</strong>szeitanalyse im Bereich Krankenpflege, danach folgten die Bereiche Küche, Rezeption<br />

<strong>und</strong> Ärzte)<br />

05/2002 Klinik als Austragungsort der 2. Veranstaltung „Moderne <strong>Arbeit</strong>szeiten <strong>für</strong><br />

Brandenburg“ mit 11 teilnehmenden Firmen


01/2004 Kooperationsvertrag mit der Realschule „Ehm Welk“ Lübbenau zur<br />

Berufsorientierung von Schülern<br />

09/2004 Klinik als Austragungsort <strong>und</strong> Sponsor der Abschlussveranstaltung des ersten<br />

brandenburgischen Wettbewerbs „Job <strong>und</strong> <strong>Familie</strong>: Das geht doch!“ vom <strong>Ministerium</strong> <strong>für</strong><br />

<strong>Arbeit</strong>, <strong>Soziales</strong>, Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> <strong>Frauen</strong> des Landes Brandenburg<br />

09/2004 Re-Auditierungsworkshop<br />

11/2004 Teilnahme am Wettbewerb „Erfolgsfaktor <strong>Familie</strong> 2005“<br />

11/2004 Einführung eines regelmäßig stattfindenden <strong>Familie</strong>nnachmittags in der Klinik<br />

mit Eltern <strong>und</strong> Nachwuchs während der Elternzeit<br />

01/2005 Einführung der Zahlung einer Geburtenbeihilfe<br />

04-09/2005 Erarbeitung eines Unternehmensleitbildes<br />

07/2005 Einführung der Zahlung eines Kindergartenzuschusses<br />

09/2005 offizielle Auszeichnung mit dem Zertifikat zum Audit Beruf & <strong>Familie</strong>®<br />

09/2005 Besuch von Frau Dagmar Ziegler, Ministerin <strong>für</strong> <strong>Arbeit</strong>, <strong>Soziales</strong>, Ges<strong>und</strong>heit<br />

<strong>und</strong> <strong>Familie</strong> des Landes Brandenburg, zum Erfahrungsaustausch „B&F®“


Konferenz<br />

<strong>Familie</strong>n- <strong>und</strong> kinderfre<strong>und</strong>liches Brandenburg am 25.10.05 im Alten Rathaus,<br />

Potsdam<br />

Forum 2: „Erziehung will gelernt sein“<br />

Schriftliche Fassung der Impulsreferate<br />

Impulsreferat I: „<strong>Familie</strong>nkompetenzen fördern – Erfahrungen <strong>und</strong> Perspektiven der<br />

<strong>Familie</strong>nbildung im Land Brandenburg“<br />

Gabriele Koch, Fachbereich Sozialwesen, Fachhochschule Potsdam<br />

Mit Kindern zu leben, gehört weder zu den selbstverständlichsten noch zu den leichtesten<br />

Aufgaben. <strong>Familie</strong>nleben <strong>und</strong> Erziehung will tatsächlich gelernt sein. Manches weiß man<br />

längst, auf einiges kann man sich vorbereiten, vieles erschließt sich ganz von selbst,<br />

anderes trifft einen unerwartet <strong>und</strong> oft hart. Wie, wo <strong>und</strong> wann greifen Eltern Angebote der<br />

<strong>Familie</strong>nbildung auf – oder was hindert sie daran, dies zu tun? Wodurch <strong>und</strong> in welchem<br />

Rahmen können wir als Fachkräfte mit Eltern in jenen Dialog treten, der sich an einem<br />

„Miteinander“ orientiert, <strong>und</strong> der vielleicht andernorts nicht stattfindet oder bislang nicht<br />

stattgef<strong>und</strong>en hat. <strong>Familie</strong>nbildung ist ein Querschnittsthema <strong>und</strong> führt uns quer durch alle<br />

familiären Lebenslagen <strong>und</strong> -phasen, in denen <strong>Familie</strong>nbildung hilfreich ist; quer durch alle<br />

Institutionen, an die <strong>Familie</strong>nbildung geknüpft sein kann; quer durch jene Ressorts, in denen<br />

die Zuständigkeiten <strong>für</strong> <strong>Familie</strong>nbildung liegen. Hier nur einige einführende Gedanken aus<br />

der „<strong>Familie</strong>nbildungslandschaft“ des Landes Brandenburg, soweit ich diese durch<br />

verschiedene Projekte 1 der letzten Jahre, durch die <strong>Arbeit</strong>s- <strong>und</strong> Forschungsschwerpunkte<br />

an der Fachhochschule Potsdam 2 <strong>und</strong> durch meine Mitarbeit in der<br />

Landesarbeitsgemeinschaft <strong>Familie</strong>nbildung 3 kennen gelernt habe <strong>und</strong> beurteilen kann.<br />

Erfahrungen <strong>und</strong> Perspektiven der <strong>Familie</strong>nbildung<br />

Mit der heutigen Konferenz stehen wir wieder einmal an einem Punkt, an dem wir unseren<br />

Blick darauf richten, was <strong>für</strong> <strong>Familie</strong>n im Land Brandenburg bereits angeboten wird <strong>und</strong> was<br />

sinnvoller Weise noch auf den Weg gebracht werden kann. Wir können inzwischen auf einen<br />

1 z.B. Modellprojekt „Primäre Prävention durch <strong>Familie</strong>nbildung, -förderung <strong>und</strong> -beratung im Land<br />

Brandenburg“ gefördert durch das Landesjugendamt Brandenburg (Träger: IFFE e.V. an der<br />

Fachhochschule Potsdam), Modellprojekt im Auftrag des MASGF „Möglichkeiten der Vernetzung von<br />

<strong>Familie</strong>nbildung“ (Träger: Kita-Museum), „Mobile Elternschule der AWO im Landkreis Potsdam-<br />

Mittelmark“, „MOFA – Mobile <strong>Familie</strong>nbildung“ (Träger: pädal e.V.) u.a.<br />

2 „Vom Säugling zum Kleinkind“ - Elternberatung, Bildung <strong>und</strong> Prävention; Primäre Prävention <strong>und</strong><br />

Intervention im Bereich der frühen Eltern-Kind-Beziehung; <strong>Familie</strong>nbildung; Früherkennung von<br />

sozialen <strong>und</strong> emotionalen Störungen; Frühe Hilfen <strong>für</strong> Kinder <strong>und</strong> ihre <strong>Familie</strong>n u.a.<br />

3 LAG <strong>Familie</strong>nbildung, c/o pädal – pädagogik aktuell e.V., e-mail: info@kita-museum.de


eichen Erfahrungsschatz aus der Region, aber auch aus anderen B<strong>und</strong>esländern <strong>und</strong><br />

anderen Staaten zurückgreifen. Welche Perspektiven eröffnen sich dadurch <strong>und</strong> wie können<br />

wir sie aufgreifen? Folgende Fragen stehen dabei heute zur Diskussion:<br />

● Gibt es auf der Landkarte der <strong>Familie</strong>nbildung neue, innovative Konzepte, kann<br />

Bewährtes fortgesetzt werden? Welche Konzepte erreichen <strong>Familie</strong>n unmittelbar in ihrem<br />

Alltag <strong>und</strong> wirken sich positiv auf Erziehungs- <strong>und</strong> Beziehungsqualität aus?<br />

● Wie <strong>und</strong> wo können Zugänge zu Elternarbeit <strong>und</strong> <strong>Familie</strong>nbildung <strong>für</strong> alle <strong>Familie</strong>n<br />

geschaffen werden? Wie kann eine geeignete Methodik, das Kennen <strong>und</strong> Verstehen<br />

familiärer Gegebenheiten <strong>und</strong> Bildungsgewohnheiten sowie Offenheit, Wertschätzung <strong>und</strong><br />

Partnerschaftlichkeit „Türöffner“ zur <strong>Familie</strong>nbildung sein?<br />

● Kann eine gelungene <strong>Arbeit</strong> in Netzwerken die Förderung der Erziehung in der<br />

<strong>Familie</strong> auch in psychosozial belasteten <strong>Familie</strong>n gewährleisten?<br />

● Welche Angebote sind bedarfsgerecht, finanzierbar <strong>und</strong> in die bestehenden<br />

Strukturen integrierbar?<br />

Elternschaft <strong>und</strong> Erziehung kann gelingen, wenn die materiellen <strong>und</strong> existenziellen<br />

Verhältnisse weitgehend gesichert sind, gemeinsame Zeit verfügbar ist, wenn Eltern<br />

Erziehungskompetenzen erschließen <strong>und</strong> ein partnerschaftliches Zusammenwirken mit jenen<br />

Institutionen möglich wird, die einen Teil der Erziehungsverantwortung mittragen.<br />

Entwicklung vollzieht sich in Beziehungen. <strong>Familie</strong>n, deren Alltag, Erziehung <strong>und</strong> Beziehung<br />

„glückt“, entwickeln sich gesünder, leistungsfähiger <strong>und</strong> sozial kompetenter.<br />

In diesem Sinne möchte ich das Thema <strong>Familie</strong>nbildung heute auch unter dem<br />

Gesichtspunkt von Ges<strong>und</strong>heitsförderung <strong>und</strong> Prävention betrachten. Wir können davon<br />

ausgehen, dass der Großteil jener Menschen, die Erziehungsverantwortung tragen, auf<br />

unterschiedlichen Wegen ihrem diesbezüglichen Bildungsinteresse nachkommen. Sie nutzen<br />

Medien 4 , Ratgeberliteratur, Gelegenheiten zum Austausch mit anderen <strong>Familie</strong>n <strong>und</strong> gehen<br />

aktiv auf Unterstützungssysteme zu. Wir müssen allerdings auch davon ausgehen, dass<br />

zwar ein kleinerer, aber nicht unbedeutender Teil der Erziehungsverantwortlichen entweder<br />

ihren Bildungsbedarf nicht erkennen bzw. erfüllen können oder aber aus verschiedenen<br />

Gründen in ihren Erziehungskompetenzen eingeschränkt sind, sodass es in diesen <strong>Familie</strong>n<br />

zu dysfunktionaler Erziehung <strong>und</strong> Beeinträchtigungen der Eltern-Kind-Beziehung <strong>und</strong> der<br />

kindlichen Entwicklungschancen kommt. In diesen <strong>Familie</strong>n kommt es punktuell immer<br />

wieder zu Krisen <strong>und</strong> Entgleisungen, die die vorhandenen kommunikativen<br />

Lösungsstrategien überfordern. In diesen Fällen ist es indiziert, die Erziehungskompetenz im<br />

4 z.B. <strong>Familie</strong>nhandbuch des Staatsinstituts <strong>für</strong> Frühpädagogik unter www.familienhandbuch.de oder<br />

die Informationen des BMFSFJ unter www.familien-wegweiser.de etc.


Rahmen von beraterischen bzw. fallweise auch therapeutischen Prozessen zu fördern <strong>und</strong><br />

diese durch Maßnahmen der <strong>Familie</strong>nbildung flankierend zu ergänzen bzw. fortzusetzen. Es<br />

hat sich gezeigt, dass z.B. durch die Anbindung von <strong>Familie</strong>nbildungsangeboten an<br />

Erziehungs- <strong>und</strong> <strong>Familie</strong>nberatungsstellen diese Verknüpfung von Maßnahmen gut möglich<br />

wird. Auch die Integration von sozialpädagogischer <strong>Familie</strong>nhilfe <strong>und</strong> Ansätzen der<br />

<strong>Familie</strong>nbildung sind sinnvoll <strong>und</strong> effektiv, z.B. die Integration von „Video-Home-Training“,<br />

durch das die Eltern dabei unterstützt werden, die eigenen kommunikativen Kompetenzen<br />

wahrzunehmen <strong>und</strong> im Umgang mit dem Kind bestmöglich einzusetzen. <strong>Familie</strong>nbildung wird<br />

zunehmend mehr zum integralen Bestandteil oder aber zur sinnvollen Ergänzung<br />

verschiedenster familienunterstützender Maßnahmen. <strong>Familie</strong>nbildung entfaltet dadurch<br />

sowohl als universelles Angebot <strong>für</strong> alle <strong>Familie</strong>n (primäre Prävention) als auch bei<br />

ausgewählten Risikokonstellationen (sek<strong>und</strong>äre Prävention) <strong>und</strong> bei Vorliegen spezieller<br />

Problemlagen (tertiäre Prävention) präventive Wirksamkeit.<br />

<strong>Familie</strong>nbildung in Brandenburg – einige Beispiele<br />

Im Land Brandenburg wird neuerdings der Versand der Elternbriefe des <strong>Arbeit</strong>skreises Neue<br />

Erziehung <strong>für</strong> eine bestimmte Zeitspanne mitfinanziert. Es sind hervorragend ausgearbeitete<br />

Materialien, die entwicklungsbegleitend regelmäßig von der Geburt bis zum achten<br />

Lebensjahr per Post ins Haus kommen <strong>und</strong> lesende Eltern über die kommenden Freuden<br />

<strong>und</strong> Sorgen mit ihrem Kind informieren. Für leseungewohnte Eltern ist dieser Zugang nicht<br />

viel versprechend. Wichtige Informationen könnten diese Eltern in viel geeigneterer Form<br />

beispielsweise bei Kaffee <strong>und</strong> Kuchen im Kreise anderer Eltern erreichen. Manche Kitas<br />

bieten diese Form von Elterncafés mittlerweile an <strong>und</strong> machen gute Erfahrungen damit, da<br />

die Treffen sich auch positiv auf das Klima innerhalb der Einrichtung auswirken. In<br />

<strong>Familie</strong>nveranstaltungen werden Eltern an ausgewählte Kinderliteratur, pädagogisch<br />

wertvolle Spielideen oder Ratgeberliteratur herangeführt, wie z.B. durch die<br />

Wanderausstellung des Kita-Museums. Der Deutsche Kinderschutzb<strong>und</strong> hat eine Reihe von<br />

Elternkursleiterinnen im Elternkurskonzept „Starke Eltern – Starke Kinder“® geschult <strong>und</strong><br />

begleitet den Prozess der Implementierung dieser Elterntrainingskurse, die einen<br />

anleitenden Erziehungsstil <strong>und</strong> gewaltfreie Konfliktlösungsstrategien vermitteln. Obwohl die<br />

geschulten Fachkräfte von diesem Konzept inhaltlich sehr überzeugt sind, entschließen sich<br />

Eltern nur sehr zögerlich zur Teilnahme. Es ist zu vermuten, dass neben organisatorischen<br />

Hemmnissen (10 - 12 Kursabende) auch Vorbehalte bestehen, sich im Rahmen einer<br />

Gruppe mit den eigenen Erziehungserfahrungen einzubringen <strong>und</strong> auseinander zu setzen.<br />

An manchen Orten setzt <strong>Familie</strong>nbildung bei Jugendlichen an, die sich z.B. in Babysitter-<br />

Kursen Kenntnisse über die Organisation von <strong>Familie</strong>nleben <strong>und</strong> kindlicher Entwicklung


aneignen. Sie tragen ihre Kompetenzen im Umgang mit Kindern in <strong>Familie</strong>n hinein <strong>und</strong><br />

entlasten Eltern durch die Schaffung zeitlicher Freiräume. Für viele interessierte Jugendliche<br />

ist das nicht nur eine Bildungs- <strong>und</strong> Einkommensmöglichkeit, sondern bietet einen<br />

Erfahrungshintergr<strong>und</strong> <strong>für</strong> die eigene spätere Lebensplanung. Mancherorts werden in<br />

Schulprojekten (z.B. „Ein Baby auf Probe“) Kenntnisse über das Leben mit einem eigenen<br />

Kind an Jugendliche vermittelt. Um diese <strong>und</strong> natürlich noch viele andere Angebote <strong>für</strong><br />

<strong>Familie</strong>n <strong>für</strong> Eltern überschaubar zu machen, bemüht sich die LAG <strong>Familie</strong>nbildung derzeit<br />

darum, über eine Kooperation zwischen Brandenburger Trägern <strong>und</strong> dem Projekt BEN<br />

(B<strong>und</strong>esweites Eltern Netz) des <strong>Arbeit</strong>skreises Neue Erziehung eine Internetplattform als<br />

Wegweiser durch die Angebotsstruktur in den einzelnen Brandenburger Landkreisen zu<br />

initiieren.<br />

„Frühe Hilfen <strong>für</strong> Kinder <strong>und</strong> ihre <strong>Familie</strong>n“ – das STEEP-Projekt<br />

In Hinblick auf sozial benachteiligte <strong>und</strong> psychosozial belastete <strong>Familie</strong>n machen wir derzeit<br />

mit dem STEEP-Projekt 5 wichtige Erfahrungen, wie es gelingen kann, sehr junge,<br />

einkommensschwache, bildungsferne <strong>und</strong> / oder psychisch belastete <strong>Frauen</strong> <strong>und</strong> Paare im<br />

Übergang zur Elternschaft zu erreichen, langfristig in aufsuchende bindungszentrierte<br />

Einzelarbeit in der <strong>Familie</strong> <strong>und</strong> Mutter-Kind-Gruppenarbeit einzubinden <strong>und</strong> in der<br />

Entwicklung ihrer Identität als Mutter <strong>und</strong> Vater <strong>und</strong> in ihren elterlichen Kompetenzen zu<br />

stärken. In einem zweijährigen Prozess entwickelt jede <strong>Familie</strong> auf der Basis von<br />

Wissensvermittlung, interaktionszentrierter Beratung <strong>und</strong> sozialer Integration die<br />

bestmögliche Form im Umgang mit ihrem Kind / ihren Kindern <strong>und</strong> im familiären Miteinander.<br />

Durch die Auseinandersetzung mit eigenen Erziehungs- <strong>und</strong> Bindungserfahrungen <strong>und</strong> die<br />

modellhaften Beziehungserfahrungen mit der STEEP-Beraterin wird die Basis geschaffen,<br />

die Lerninhalte in den <strong>Familie</strong>nalltag zu integrieren <strong>und</strong> die Beziehung mit dem eigenen Kind<br />

bestmöglich zu gestalten. Die Methodik ist belebend, alltagsnah <strong>und</strong> knüpft an die Interessen<br />

<strong>und</strong> Kapazitäten der Mütter <strong>und</strong> Väter an. Auf der Ebene eines angeleiteten<br />

Selbstbeobachtungsprozesses werden Gr<strong>und</strong>lagen zur Entwicklung von<br />

Erziehungskompetenzen gelegt, die langfristig <strong>und</strong> nachhaltig im <strong>Familie</strong>nalltag wirksam<br />

werden.<br />

In der <strong>Arbeit</strong> mit dieser Zielgruppe wird besonders deutlich, wie bedeutsam stabile<br />

Rahmenbedingungen <strong>und</strong> gut qualifizierte Mitarbeiter/innen <strong>für</strong> die <strong>Arbeit</strong> mit „Risikofamilien“<br />

sind. In beiden Bereichen besteht im Land Brandenburg weiterhin Entwicklungsbedarf.<br />

5 „Frühe Hilfen <strong>für</strong> Kinder <strong>und</strong> ihre <strong>Familie</strong>n“ – Anwendungsorientiertes Forschungsprojekt an der<br />

Fachhochschule Potsdam <strong>und</strong> der Hochschule <strong>für</strong> angewandte Wissenschaften Hamburg, gefördert<br />

vom B<strong>und</strong>esministerium <strong>für</strong> Bildung <strong>und</strong> Forschung (BMBF), 2004 – 2007. STEEP = Steps towards<br />

effective and enjoyable parenting = bindungstheoretisch f<strong>und</strong>iertes Frühinterventionskonzept nach M.<br />

Erickson <strong>und</strong> B. Egeland, Universität Minnesota.


Wo lassen sich Angebote zur Entwicklung elterlicher Kompetenzen strukturell an- oder<br />

einbinden? Dazu einige Beispiele: Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen öffnen ihre<br />

Türen <strong>für</strong> oft sehr junge <strong>und</strong> verunsicherte (werdende) Eltern <strong>und</strong> lassen sie auch über den<br />

Zeitraum von Schwangerschaft <strong>und</strong> Geburt hinaus offen stehen – ein wichtiger Beitrag zu<br />

einem gelingenden Übergang in die Elternschaft mit ihren Anforderungen <strong>und</strong><br />

Verantwortlichkeiten. Erziehungs- <strong>und</strong> <strong>Familie</strong>nberatungsstellen arbeiten vermehrt<br />

aufsuchend <strong>und</strong> integrieren ihre Angebote auch in Kindertagesstätten, wodurch sie <strong>für</strong> viele<br />

Eltern niedrigschwellig erreichbar werden. Häuser der <strong>Familie</strong> sind Anlaufstellen <strong>und</strong><br />

Begegnungsstätten, die von <strong>Familie</strong>nmitgliedern aller Altersgruppen <strong>und</strong> aller Interessen<br />

rege frequentiert werden. Kindertagesstätten gehen zeitgemäße Wege der Elternarbeit <strong>und</strong><br />

entwickeln sich zu <strong>Familie</strong>nzentren. In Schulen öffnen sich Eltern <strong>und</strong> Lehrer einem<br />

gemeinsamen Dialog über Erziehung <strong>und</strong> Bildung. Jugendhilfe <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heitswesen<br />

setzen verstärkt auf Früherkennung <strong>und</strong> Frühprävention von Entwicklungs- <strong>und</strong><br />

Verhaltensauffälligkeiten. <strong>Familie</strong>nbildner/innen qualifizieren sich 6 , um in diesen vielfältigen<br />

Strukturen tätig zu werden. Zu guter Letzt ist die öffentliche Meinung von Bedeutung <strong>für</strong> die<br />

Stärkung von <strong>Familie</strong>n: Eltern, Kinder, <strong>Familie</strong>n <strong>und</strong> Erziehung an sich könnten eine positive<br />

„Imagekampagne“ gut gebrauchen. Vielleicht ist es an der Zeit, den Blick von der<br />

Erziehungskatastrophe auf die tatsächlichen Stärken von Eltern, Kindern <strong>und</strong> <strong>Familie</strong>n zu<br />

lenken <strong>und</strong> auch der Frage „Warum gelingt´s, wenn´s gelingt?“ nachzugehen. Auch davon<br />

können wir viel lernen. Vielen Dank <strong>für</strong> Ihre Aufmerksamkeit.<br />

Impulsreferat II: „Integrative <strong>Familie</strong>narbeit in Kitas – das Modell ‚Early Excellence<br />

Centre’ <strong>und</strong> seine Umsetzung in Berlin“<br />

Dr. Sabine Hebenstreit-Müller, Direktorin des Pestalozzi-Fröbel-Hauses Berlin<br />

Kitas zu Bildungseinrichtungen zu entwickeln kann nur gelingen, wenn dabei die Eltern aktiv<br />

einbezogen werden. Niemand kennt die Kinder so gut wie die eigenen Eltern. Eine<br />

individuelle Förderung der Kinder muss anknüpfen an das Wissen, die Kenntnisse <strong>und</strong><br />

Erfahrungen der Eltern. Zu einer guten Erziehungspartnerschaft von Eltern <strong>und</strong><br />

Erzieher/innen gehört deshalb eine wechselseitige Anerkennung der Kompetenzen <strong>und</strong><br />

Stärken, die beide Seiten einbringen können – das Wissen um das eigene Kind auf der einen<br />

<strong>und</strong> das Wissen um kindliche Entwicklungsprozesse <strong>und</strong> ihre Anregung <strong>und</strong> Unterstützung<br />

auf der anderen Seite.<br />

6 z.B. „Methodik <strong>und</strong> Praxis der <strong>Familie</strong>nbildung“, Sozialpädagogisches Fortbildungswerk<br />

Brandenburg.


Wie ein solcher Anspruch tatsächlich umgesetzt werden kann, zeigen uns die englischen<br />

„Early Excellence Centres“, deren Konzept wir <strong>für</strong> die Kitas des Pestalozzi-Fröbel-Hauses<br />

adaptiert <strong>und</strong> weiter entwickelt haben. 7<br />

Das „Early Excellence Centre (EEC)“-Programm<br />

1997 wurde von der englischen Regierung das „Early Excellence Centre“-Programm ins<br />

Leben gerufen. Im Dezember 1999 nahmen 29 ausgewählte Zentren ihre <strong>Arbeit</strong> auf.<br />

Mittlerweile bestehen etwa 107 Einrichtungen. Die „Early Excellence Centres“ verknüpfen<br />

neue Formen der Zusammenarbeit mit Eltern sowie Angebote der Unterstützung <strong>und</strong><br />

Entlastung von <strong>Familie</strong>n mit einer gezielten Förderung der Kinder. Ein Gr<strong>und</strong>gedanke dabei<br />

ist, dass die Kindertagesstätte ein Ort ist, der <strong>für</strong> alle Eltern mit kleinen Kindern offen ist <strong>und</strong><br />

der deshalb besonders geeignet ist <strong>für</strong> familienunterstützende Angebote. Zugleich wird<br />

davon ausgegangen, dass die Eltern die ersten <strong>und</strong> wichtigsten Bezugspersonen der Kinder<br />

sind <strong>und</strong> damit auch die wichtigsten Partner bei der Bildung <strong>und</strong> Erziehung in der<br />

Kindertagesstätte. Je enger die Bezüge von Eltern <strong>und</strong> Erzieher/innen sind, umso effektiver<br />

kann das Lernen der Kinder sein. Dementsprechend gilt es, die Zusammenarbeit mit Eltern<br />

<strong>und</strong> die Bildung <strong>und</strong> Erziehung von Kindern miteinander zu verbinden <strong>und</strong> „unter einem<br />

Dach“ zu vereinen.<br />

Die Early Excellence Centres in England sind eingebettet in die flächendeckenden<br />

Aktionsprogramme der Regierung zum Ausbau des Systems frühkindlicher Bildung (u. a.<br />

„Sure Start“). Unter dem Namen „Children´s Centres“ wird das Programm derzeit in<br />

größerem Maßstab weitergeführt. Übergreifendes Anliegen der britischen Regierung ist der<br />

Aufbau eines Netzwerkes von Zentren, die gleichsam als Katalysatoren <strong>für</strong> eine<br />

Weiterentwicklung <strong>und</strong> Innovation in diesem Bereich wirken <strong>und</strong> dabei auf ihre Region <strong>und</strong><br />

ihr Umfeld ausstrahlen. Sie sollen deshalb auch Fort- <strong>und</strong> Weiterbildung anbieten, um auf<br />

diese Weise zur Weiterverbreitung der Idee <strong>und</strong> ihrer Erfahrungen beitragen zu können.<br />

Das erste Early Excellence Centre in Deutschland im Pestalozzi-Fröbel-Haus, Berlin<br />

Nach dem Vorbild des Pen Green Centres in Corby, das sich als eines der ersten Early<br />

Excellence Centres in England entwickelt hat, ist in Berlin aus einer bestehenden<br />

Kindertagesstätte heraus ein Zentrum <strong>für</strong> Kinder <strong>und</strong> <strong>Familie</strong>n im Stadtteil Charlottenburg<br />

7 vgl. dazu Hebenstreit-Müller, Sabine / Kühnel, Barbara (Hg.): Kinderbeobachtung in Kitas.<br />

Erfahrungen <strong>und</strong> Methoden im ersten Early Excellence Centre in Berlin. Berlin 2004; Hebenstreit-<br />

Müller, Sabine / Kühnel, Barbara (Hg.): Integrative <strong>Familie</strong>narbeit in Kitas. Individuelle Förderung von<br />

Kindern <strong>und</strong> Zusammenarbeit mit Eltern. Berlin 2005.


entstanden. 8 Gr<strong>und</strong>gedanke ist die integrative <strong>Familie</strong>narbeit in Kindertagesstätten. Eltern<br />

werden in die Bildungs- <strong>und</strong> Erziehungsprozesse ihrer Kinder intensiv einbezogen <strong>und</strong><br />

lernen gemeinsam mit Kindern <strong>und</strong> Erzieher/innen. Dieser Gr<strong>und</strong>gedanke ist inzwischen zur<br />

<strong>Arbeit</strong>sgr<strong>und</strong>lage in allen Kitas des Pestalozzi-Fröbel-Hauses geworden.<br />

Es sind drei Prinzipien, die den Ausgangspunkt <strong>für</strong> die Aktivitäten <strong>und</strong> die Inhalte eines<br />

solchen Zentrums bilden:<br />

1. Das Kind wird in seinen Kompetenzen <strong>und</strong> Stärken wahrgenommen. Diese zu entdecken,<br />

zu beobachten <strong>und</strong> gezielt zu fördern, ist wesentliches Anliegen der <strong>Arbeit</strong>.<br />

2. Eltern werden in die Förderung der Kinder direkt einbezogen; ebenso stehen die<br />

Unterstützung der Eltern <strong>und</strong> die Stärkung ihres Selbstbewusstseins im Vordergr<strong>und</strong>. Eltern<br />

werden aber nicht nur unterstützt, sondern zugleich als Experten der Förderung ihrer Kinder<br />

ernst genommen <strong>und</strong> tragen damit wesentlich zur Qualität der Kita bei.<br />

3. Die Kita öffnet sich damit zugleich <strong>für</strong> den Stadtteil <strong>und</strong> wird gemeinsam mit den Eltern<br />

zum vielfältigen Aktivitätszentrum.<br />

Mit der Entwicklung des „Kinder- <strong>und</strong> <strong>Familie</strong>nzentrums Schillerstraße“ zu einem ersten Early<br />

Excellence Centre in Deutschland haben wir bereits vor der PISA-Debatte begonnen. Wir<br />

sind bei der englischen Begrifflichkeit geblieben, auch wenn es in Deutschland Termini gibt<br />

wie „Orte <strong>für</strong> Kinder“, „Kinderhäuser“ oder „Häuser der <strong>Familie</strong>“, die der Idee eines Early<br />

Excellence Centre durchaus nahe kommen, sie aber nicht wirklich treffen.<br />

So zeigt auch der Recherchebericht des DJI „Häuser <strong>für</strong> Kinder <strong>und</strong> <strong>Familie</strong>n“ (2004), dass<br />

es auch in Deutschland vielfältige Traditionen hin zu integrierten Angeboten gibt, die<br />

Kinderbetreuung mit weiteren Angeboten <strong>für</strong> <strong>Familie</strong>n <strong>und</strong> Kinder kombinieren, z.B. das<br />

Modell „Orte <strong>für</strong> Kinder“, Mütter- <strong>und</strong> <strong>Familie</strong>nzentren. Und auch die Kernideen der<br />

pädagogischen <strong>Arbeit</strong> mit Kindern <strong>und</strong> ihren <strong>Familie</strong>n im Pen Green Centre in Corby sind<br />

nicht neu erf<strong>und</strong>en, sondern beruhen auf einer Auseinandersetzung mit den pädagogischen<br />

„Klassikern“ wie Fröbel <strong>und</strong> Montessori sowie der Reggio-Pädagogik.<br />

Das Besondere an einem Early Excellence Centre ist aber, dass es ein konsequentes Modell<br />

ist, das Bildung <strong>für</strong> Kinder, Kooperation mit Eltern <strong>und</strong> Öffnung der Kita in den Stadtteil<br />

miteinander kombiniert. Alle Merkmale sind aufeinander bezogen <strong>und</strong> korrespondieren<br />

miteinander. Anders als der Name Early Excellence suggerieren könnte, handelt es sich<br />

deshalb in keiner Weise um elitäre Leistungszentren <strong>für</strong> hoch begabte Kinder. Early<br />

Excellence Zentren verstehen sich vielmehr als Gemeinschaft forschend Lernender, zu der<br />

die Kinder <strong>und</strong> ihre <strong>Familie</strong>n ebenso gehören wie das pädagogische Fachpersonal. Die<br />

8 Gefördert wird das Projekt „Kinder- <strong>und</strong> <strong>Familie</strong>nzentrum Schillerstraße“ des Pestalozzi-Fröbel-<br />

Hauses durch die Heinz <strong>und</strong>-Heide Dürr-Stiftung. Das Pestalozzi-Fröbel-Haus finden Sie im Internet<br />

unter http://www.pfh-berlin.de/deutsch/index.html


Erwartung, exzellent zu sein, richtet sich nicht an die Kinder, sondern formuliert einen<br />

Anspruch an die Qualität ihrer Förderung. So lange wir noch keinen besseren Begriff haben,<br />

der das Gleiche ausdrückt, bleiben wir insofern bei „Early Excellence“.<br />

In den mehr als vier Jahren Projektarbeit haben wir festgestellt, dass die drei Kernelemente<br />

eines Early Excellence Centres, die wir als wesentlich herauskristallisiert haben – nämlich<br />

die individuelle Förderung, die Einbeziehung der Eltern in die Bildungsprozesse ihrer Kinder<br />

<strong>und</strong> die Öffnung der Kita <strong>für</strong> junge <strong>Familie</strong>n im Stadtteil – nicht ohne eine gr<strong>und</strong>legende<br />

Veränderung der gesamten pädagogischen <strong>Arbeit</strong> realisierbar sind. Dabei geht es jedoch<br />

nicht einfach nur um „technische“ Neuerungen. Entscheidend ist vielmehr die andere<br />

Haltung, mit der Erzieher/innen Kinder <strong>und</strong> Eltern wahrnehmen <strong>und</strong> wert schätzen.<br />

Haltungen, das wissen wir, lassen sich jedoch nicht einfach vermitteln. Eine von außen<br />

kommende Forderung, die eigene Haltung zu ändern, kann eher das Gegenteil bewirken.<br />

Unsere Erfahrung ist, dass es die Art <strong>und</strong> Weise einer auf Stärken <strong>und</strong> Ressourcen<br />

orientierten Beobachtung ist, die eine Abkehr bedeutet von einer Sichtweise, in der vor allem<br />

Defizite <strong>und</strong> Probleme in den Blick geraten. Pädagog/innen, die gelernt haben, die<br />

Kompetenzen von Kindern <strong>und</strong> Eltern genauer wahrzunehmen haben auch selbst mehr<br />

„Power“.<br />

Erziehungsarbeit im Dialog<br />

Diese andere Haltung ist auch Gr<strong>und</strong>lage <strong>für</strong> die Zusammenarbeit mit Eltern. Die Abkehr von<br />

der Bezeichnung „Elternarbeit“ ist <strong>für</strong> uns dabei nicht nur eine Floskel. Eltern sind <strong>für</strong> uns<br />

Partner, mit denen wir das gemeinsame Interesse an einer intensiven Förderung ihrer Kinder<br />

teilen <strong>und</strong> mit denen wir in diesem Sinne kooperieren. Wenn wir davon sprechen, dass Eltern<br />

Experten ihrer Kinder sind, so hat dies <strong>für</strong> uns vor allem programmatische Bedeutung. Darin<br />

kommt eine Haltung zum Ausdruck, die die Eltern in ihrer <strong>für</strong> ihr Kind existentiellen <strong>und</strong><br />

wesentlichen Funktion <strong>und</strong> Bedeutung wahrnimmt – was naturgemäß nicht ausschließt, dass<br />

Eltern auch erheblichen Beratungs- <strong>und</strong> Unterstützungsbedarf haben können.<br />

Wie arbeiten wir dabei konkret? Unsere Erfahrung ist: Alle Eltern interessieren sich <strong>für</strong> die<br />

Entwicklung <strong>und</strong> die Lernfortschritte ihrer Kinder. Diese lassen sich aber nicht einfach nur<br />

sprachlich vermitteln. Eine ganz andere Gr<strong>und</strong>lage <strong>für</strong> den Dialog mit Eltern ergibt sich durch<br />

unterschiedliche Medien <strong>und</strong> Materialien wie Fotos, Beobachtungsbögen,<br />

Entwicklungsbücher oder Videos, die Lern- <strong>und</strong> Entwicklungsfortschritte visualisieren <strong>und</strong><br />

anschaulich machen. Eltern können ihrerseits angehalten werden, ihr Kind zu Hause zu<br />

beobachten <strong>und</strong> diese Beobachtungen der Erzieher/in mitzuteilen.


Hier schließt sich der Kreis, der von unseren Kooperationspartnern im englischen Pen Green<br />

Centre in Corby „Pen Green Loop“ genannt wird, nämlich die kontinuierlich hergestellte<br />

Rückkoppelungsschleife zwischen Eltern <strong>und</strong> Erzieher/innen. Dabei hat sich gezeigt, dass<br />

solche Visualisierungsformen von großer Bedeutung sind, wenn es darum geht, Eltern<br />

einzubeziehen in die Bildungsprozesse ihrer Kinder. Dies gilt insbesondere im Hinblick<br />

darauf, dass sie eine Gr<strong>und</strong>lage schaffen, auch mit nicht deutschsprachigen Eltern in einen<br />

unmittelbaren Kontakt <strong>und</strong> Austausch zu kommen.<br />

Wie sehr Eltern bereit sind, sich in die Kita einzubringen <strong>und</strong> ein Vertrauensverhältnis zu den<br />

Erzieher/innen aufzubauen, hängt auch davon ab, ob sie sich dort wohl <strong>und</strong> willkommen<br />

fühlen. Dazu trägt die Entwicklung eines <strong>für</strong> alle Eltern offenen <strong>Familie</strong>nzentrumsbereiches<br />

wesentlich bei, der von den Eltern nicht nur genutzt, sondern mit gestaltet werden kann.<br />

Beim Aufbau einer unterstützenden Infrastruktur <strong>für</strong> <strong>Familie</strong>n kooperiert das Zentrum mit<br />

einer Vielzahl anderer Einrichtungen <strong>und</strong> Träger, deren Angebote teilweise im Zentrum<br />

selbst stattfinden. Gr<strong>und</strong>gedanke dabei ist, dass es nur in enger Kooperation <strong>und</strong><br />

Abstimmung – <strong>und</strong> nicht in Konkurrenz miteinander – gelingen kann, ein <strong>für</strong> <strong>Familie</strong>n<br />

hilfreiches Netzwerk aufzubauen.<br />

Wie schon gesagt: Die Erfahrungen aus dem Modellprojekt werden derzeit übertragen auf<br />

alle Einrichtungen des Pestalozzi-Fröbel-Hauses <strong>und</strong> fließen damit zugleich in die<br />

Ausbildung von Erzieher/innen im Hause ein. Jedes neue Zentrum im Aufbau muss dabei<br />

unter Bezug auf seine eigenen Besonderheiten <strong>und</strong> Möglichkeiten sein eigenes Profil<br />

entwickeln. Denn Early Excellence entsteht nicht durch Übernahme eines fertigen Modells,<br />

sondern nur als gemeinsamer Lernprozess aller Beteiligten, der sich an den genannten<br />

Kriterien einer integrativen <strong>Arbeit</strong> orientiert.


Konferenz<br />

<strong>Familie</strong>n- <strong>und</strong> kinderfre<strong>und</strong>liches Brandenburg am 25.10.05 im Alten Rathaus,<br />

Potsdam<br />

Forum 3: „Mitmischen <strong>und</strong> Einmischen“<br />

Schriftliche Fassung der Impulsreferate<br />

Impulsreferat I: „Mehr Zukunft <strong>für</strong> Kinder – Was Kinder <strong>und</strong> Jugendliche in<br />

Brandenburg brauchen“<br />

Andreas Kaczynski, Initiative „MUT – Mehr Zukunft <strong>für</strong> unsere Kinder“<br />

Bericht 1<br />

Stefan hängt, wie jeden Morgen, mit Klaus <strong>und</strong> Daniel am Bahnhof rum. Sie quatschen <strong>und</strong><br />

trinken Bier. Manchmal provozieren sie auch einen der vorbei eilenden Passanten, um<br />

dessen Reaktion zu testen. Seit Monaten geht das schon so. Damals schmiss Stefan die<br />

Lehre bei einem KFZ-Betrieb. Nach einigen Wochen hatte er die Nase voll von der<br />

„Drecksarbeit“ – wie er es nennt – von der harten <strong>Arbeit</strong>, vom Rumkommandiert-Werden,<br />

von den Überst<strong>und</strong>en, selbst am Wochenende.<br />

Stefan ist 18 Jahre alt. Die Werkstatt war bereits sein zweiter Versuch. Nur mit Mühe war es<br />

seinem Vater gelungen, ihn nach dem Abbruch der Ausbildung zum Industriekaufmann noch<br />

einmal unterzubringen. „Das is’ nix <strong>für</strong> mich. Ich muss was Handfestes machen“, hatte<br />

Stefan erklärt.<br />

Seit zwei Wochen läuft ein Jugendgerichtsverfahren gegen die drei am Bahnhof. Sie wurden<br />

bei einer Verkehrskontrolle in Berlin mit einem gestohlenen Auto erwischt.<br />

Bericht 2<br />

Die Gruppe ist entsetzt. Luisa fängt sich als erste <strong>und</strong> legt los : „Das können die nicht<br />

machen! Hier is’ ja sonst nix. Das is’ doch unser Zuhause!“ Jetzt bricht allgemeiner Tumult<br />

los. Alle reden auf Hanna <strong>und</strong> Frank ein, die beiden Betreuer. Soeben mussten sie den<br />

Jugendlichen in der Ostprignitz mitteilen, dass das Jugendzentrum Ende des Jahres<br />

geschlossen wird. Der Landkreis will die Zuschüsse erheblich reduzieren; der Träger –<br />

Sackstich e.V. – kann die Kürzung nicht ausgleichen.<br />

Lukas <strong>und</strong> Joachim, die beiden Brüder aus dem Nachbardorf, verstehen die Welt nicht mehr.<br />

Nachdem sie so viel <strong>Arbeit</strong> in die Renovierung der alten Werkstatt im Hinterhof gesteckt<br />

haben <strong>und</strong> ein Super-Partyraum entstanden ist, soll einfach Schluss sein?


An diesem Nachmittag wird noch viel getrauert, getröstet <strong>und</strong> diskutiert. Man will die<br />

Schließung nicht einfach hinnehmen. Zur nächsten Sitzung des Jugendhilfeausschusses<br />

wollen alle kommen <strong>und</strong> ihrer Empörung mit Plakaten <strong>und</strong> Pfeifen Luft machen. Sie wollen<br />

„denen da oben“ richtig Druck machen <strong>und</strong> auch die Presse informieren. Vielleicht gibt es ja<br />

doch noch einen Weg?<br />

Einleitung<br />

Ich darf mich Ihnen kurz vorstellen: Mein Name ist Andreas Kaczynski. Ich bin Landesge-<br />

schäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes in Brandenburg <strong>und</strong> Sprecher der<br />

Initiative „MUT – Mehr Zukunft <strong>für</strong> Kinder <strong>und</strong> Jugendliche in Brandenburg“. Diese Initiative<br />

ist ein Kind des Landesjugendrings sowie der LIGA der Spitzenverbände der Freien<br />

Wohlfahrtspflege in Brandenburg. Sie entstand im Vorfeld der Landtagswahl des<br />

vergangenen Jahres <strong>und</strong> diente dazu, den Parteien familienpolitisch auf den Zahn zu fühlen.<br />

Mit fast allen Parteispitzen sowie den Minister/innen <strong>für</strong> Inneres, Jugend <strong>und</strong> <strong>Soziales</strong> bzw.<br />

<strong>Familie</strong> wurden Gespräche geführt. Im Austausch mit Ministerpräsident Platzeck entstand<br />

die Idee <strong>für</strong> diese Tagung sowie ein landesweites Aktionsprogramm, um die <strong>Familie</strong> in den<br />

Fokus des politischen <strong>und</strong> gesellschaftlichen Lebens zu stellen. Wir freuen uns, dass diese<br />

Idee mit dem heutigen Tag Gestalt annimmt – ein Erlebnis, das man nicht oft hat im<br />

politischen Geschäft.<br />

Ich habe Situationen von Jugendlichen an den Anfang meines Referates gestellt, die einen<br />

kleinen Ausschnitt der vielfältigen Lebensgeschichten von Kindern, Jugendlichen <strong>und</strong><br />

<strong>Familie</strong>n in Brandenburg zeigen. Es sind Geschichten des Scheiterns, wie in meinen<br />

Beispielen, aber auch des Erfolges <strong>und</strong> der Freude. Wir haben heute viel gehört über<br />

Programme <strong>und</strong> Konzepte, um Kindern mehr Zukunftschancen zu geben <strong>und</strong> Brandenburg<br />

attraktiv <strong>für</strong> <strong>Familie</strong>n zu machen. Programme <strong>und</strong> Konzepte können aber jeweils nur<br />

Rahmen setzen <strong>und</strong> Spielräume eröffnen, die es gilt lokal auszugestalten. Wie dies gehen<br />

kann, darüber werden wir nachher im zweiten Referat von Prof. Penta mehr erfahren. Meine<br />

Aufgabe ist jedoch eine andere: Die aktuelle Situation von <strong>Familie</strong>n, Kindern <strong>und</strong><br />

Jugendlichen aus Sicht der Freien Wohlfahrtspflege <strong>und</strong> des Landesjugendrings<br />

darzustellen.<br />

„<strong>Familie</strong>n <strong>und</strong> Kinder haben Vorrang“, so überschreibt die Landesregierung ihr<br />

familienpolitisches Programm. Man möchte applaudieren <strong>und</strong> nicht zuletzt angesichts der<br />

demografischen Entwicklung sagen: „Endlich, es wurde höchste Zeit, packen wir es an“,<br />

wenn da nicht die Erfahrungen der letzten Jahre wären, dass die meisten schönen Ideen in<br />

den Kämpfen der nächsten Haushaltsverhandlungen zerbröselt sind. Aber die Hoffnung stirbt


ekanntlich zuletzt <strong>und</strong> es macht durchaus Mut, dass sich das gesamte Kabinett der Idee<br />

eines „kinderfre<strong>und</strong>lichen Landes“ verschrieben hat.<br />

Bevor ich jetzt in die Details einsteige, möchte ich einige Schlaglichter auf die aktuelle<br />

Situation von Kindern, Jugendlichen <strong>und</strong> <strong>Familie</strong>n werfen. Danach wage ich einige<br />

Prognosen <strong>und</strong> Thesen, die sich <strong>für</strong> mich aus verschiedenen Beobachtungen der jugend-<br />

<strong>und</strong> familienpolitischen Landschaft ergeben. Und schließlich nenne ich, auch in Bewertung<br />

des Programms der Landesregierung, Handlungsoptionen, welche <strong>für</strong> die Zukunft von<br />

<strong>Familie</strong>n <strong>und</strong> Kindern von entscheidender Bedeutung sind.<br />

Kinder, Jugendliche <strong>und</strong> <strong>Familie</strong>n in Brandenburg: Aktuelle Daten <strong>und</strong> Fakten<br />

• 28% der ca. 2,6 Millionen Einwohner in Brandenburg sind Kinder, Jugendliche <strong>und</strong><br />

junge Erwachsene. 1<br />

• 36% der Sozialhilfeempfänger sind Kinder <strong>und</strong> Jugendliche bis 18 Jahren. 2<br />

• Die Jugendarbeitslosigkeit liegt im ländlichen Bereich bei über 20%. 3<br />

• Das System „<strong>Familie</strong>“ ist den wachsenden Anforderungen an Geborgenheit,<br />

Emotionalität, Unterstützung <strong>und</strong> Anerkennung immer weniger gewachsen. 4<br />

• Ehescheidungen nahmen um 28,7% in den vergangenen 10 Jahren zu. 5<br />

• Die Jugendkriminalität stagniert auf einem vergleichsweise hohen Niveau, wobei<br />

die Anzahl rechtsmotivierter Straftaten mit schwerer Körperverletzung deutlich<br />

zunimmt. Die Täter werden außerdem immer jünger. 6 Dagegen hat das<br />

Justizministerium die Mittel <strong>für</strong> Straffälligenhilfe in den vergangenen Jahren<br />

kontinuierlich gekürzt!<br />

1 Im Land Brandenburg leben in den 14 Landkreisen <strong>und</strong> vier kreisfreien Städten knapp 276.000<br />

Kinder unter 14 Jahren (das sind ca. 10,7 % der Gesamtbevölkerung von r<strong>und</strong> 2,582 Mio.), etwa<br />

152.000 Jugendliche im Alter von 14 Jahren bis unter 18 Jahre (das entspricht r<strong>und</strong> 5,9 % der<br />

Gesamtbevölkerung) <strong>und</strong> etwa 294.000 junge Volljährige im Alter von 18 Jahren bis unter 27 Jahre<br />

(das sind r<strong>und</strong> 11,4 % der Gesamtbevölkerung). Quelle: MBJS 2005<br />

2 Quelle: Landesbetrieb <strong>für</strong> Datenverarbeitung <strong>und</strong> Statistik 2003<br />

3 Statistik B<strong>und</strong>esagentur <strong>für</strong> <strong>Arbeit</strong>, Mai 2005<br />

4 Die steigende Zahl von Kindesherausnahmen aus der <strong>Familie</strong> (Gefährdung des Kindeswohls) bei<br />

Verwahrlosung <strong>und</strong> Misshandlung ist genauso ein Beleg da<strong>für</strong> wie die aktuelle Debatte in Berlin um<br />

das mangelnde Interesse von Eltern an Schulessen. In manchen Ganztagsschulen nehmen über<br />

50% der Kinder kein Mittagessen ein, da weder Essen mitgegeben noch Essensgeld gezahlt wird.<br />

5 Quelle: Statisches B<strong>und</strong>esamt 2003<br />

6 2003 betrug die Straftatenhäufigkeit 9,5% auf 100 Einwohner. Brandenburg lag damit nach den<br />

Stadtstaaten <strong>und</strong> Mecklenburg-Vorpommern auf Rang fünf. Quelle: Landesbetrieb <strong>für</strong><br />

Datenverarbeitung <strong>und</strong> Statistik 2003


• Illegale Drogen werden heute auf fast jedem Brandenburger Schulhof konsumiert!<br />

Die besondere Anfälligkeit jugendlicher Aussiedler ist bekannt.<br />

• Bis 2007 wird die Hälfte aller Schulen in Brandenburg geschlossen sein. 7<br />

Schulwege von über einer St<strong>und</strong>e sind dann keine Seltenheit mehr.<br />

Prognosen / Thesen zur Situation von Kindern <strong>und</strong> Jugendlichen in Brandenburg<br />

• Trotz des Geburtenrückgangs wird die Nachfrage nach Kinder-, Jugend- <strong>und</strong><br />

<strong>Familie</strong>nhilfe nicht weniger werden, sondern sich allenfalls örtlich stark<br />

unterscheiden! Wachstumsregionen r<strong>und</strong> um Berlin werden mehr <strong>und</strong> einen anderen<br />

Bedarf an Hilfe haben als die sich entvölkernden Brandenburger Randregionen.<br />

Meine These lautet: Auch wenn weniger Kinder zur Welt kommen, wachsen diese<br />

überproportional in belasteten <strong>Familie</strong>nsituationen auf, da deren Kinderzahl deutlich<br />

über dem Durchschnitt liegt.<br />

• Wertevermittlung <strong>und</strong> das Training von Sozialkompetenz gewinnen an Bedeutung<br />

nicht zuletzt <strong>für</strong> die Chancen auf dem <strong>Arbeit</strong>smarkt. Sie werden immer weniger<br />

(wurden vielleicht auch nie ausreichend) in den <strong>Familie</strong>n vermittelt. Schule <strong>und</strong><br />

Jugendhilfe sind hier verstärkt gefordert.<br />

• Die Jugendarbeitslosigkeit wird in den kommenden Jahren auf hohem Niveau<br />

stagnieren. Die flexiblen <strong>und</strong> gut ausgebildeten Jugendlichen gehen nach<br />

Westdeutschland oder besetzen die wenigen Lehrstellen <strong>und</strong> <strong>Arbeit</strong>splätze. Viele<br />

Jugendliche sehen dauerhaft keine Perspektive in ihrem Leben.<br />

• Stationäre Versorgungsstrukturen werden zu Gunsten ambulanter<br />

Hilfsangebote abgebaut. Dies wäre an sich begrüßenswert, würden genug<br />

problemadäquate Hilfsangebote bereit gestellt. Zu erleben ist jedoch das Gegenteil:<br />

Erziehungsbeistandschaft (§30 SGB VIII), Sozialpädagogische <strong>Familie</strong>nhilfe<br />

(§31 SGB VIII), Soziale Gruppenarbeit <strong>und</strong> Tagesgruppen werden kontinuierlich<br />

zurück gefahren. All diese gesetzlich verbrieften Hilfen werden somit zu einem<br />

„Luxus“, den sich das Jugendamt immer weniger leisten will oder kann, denn die<br />

Jugendhilfe wird vom Kämmerer diktiert. Aus finanziellen Gründen werden <strong>Familie</strong>n<br />

mit ihren Problemen abgewimmelt, beruhigt <strong>und</strong> allein gelassen – eine<br />

Verschleppungstaktik, die den Kindern <strong>und</strong> später auch der Kommune teuer zu<br />

stehen kommen kann.<br />

7 Dies trifft zumindest auf Schulen der Sek<strong>und</strong>arstufe I zu (Auskunft MBJS, Karsten Friedel).


• Stationäre Heimunterbringung, so mein Eindruck, kommt nur noch in Frage, wenn<br />

Gefahr in Verzug ist. Diese zugegebenermaßen kostenintensiven Einrichtungen<br />

werden ausschließlich mit Kindern <strong>und</strong> Jugendlichen belegt, die eine intensiv-<br />

pädagogische Betreuung notwendig machen. Dies erfordert jedoch andere<br />

Personalschlüssel <strong>und</strong> andere Heimstrukturen. Der Umbau ist bereits seit Jahren im<br />

Gange, die notwendigen Investitionen bergen nicht unerhebliche Risiken <strong>für</strong> die<br />

Heimträger, ohne dass sie den Bedarf abschätzen <strong>und</strong> steuern können. Der wird<br />

weiter von Jugendämtern nach Kassenlage entschieden.<br />

• Freiwillige Leistungen, etwa Zuwendungen <strong>für</strong> den Jugendtreff, werden sukzessive<br />

zurückgefahren, da die Pflichtleistungen, der mit Abstand größte Teil der Kommunal-<br />

haushalte, stetig steigen.<br />

• Das häufig unabgestimmte Vorgehen von Schule, Polizei, Jugendamt <strong>und</strong><br />

Jugendhilfeträgern führt zu erheblichen Reibungsverlusten, zur Mittelverschwendung<br />

<strong>und</strong> ist keine adäquate Antwort auf die zunehmende Gewalt unter Kindern <strong>und</strong><br />

Jugendlichen.<br />

• Suchtprävention <strong>und</strong> Suchtkrankenhilfe werden in Brandenburg stiefmütterlich<br />

behandelt. Zur Zeit stehen lediglich 1,5 Mio. € zur Verfügung!<br />

• Die Ganztagsschule wird zum primären Sozialisationsort <strong>für</strong> Kinder, an der sich<br />

Jugendhilfe <strong>und</strong> Jugendarbeit andocken müssen. Die Kooperation von Schule <strong>und</strong><br />

Jugendhilfe funktioniert meist nicht oder nur schleppend – zu unterschiedlich<br />

scheinen die Wahrnehmungswelten zu sein. Konzepte ganzheitlichen Lernens, in den<br />

Schulalltag integriert, sind Mangelware.<br />

• Fehlende, landesweite Standards in der Ausgestaltung von Jugendhilfe kosten<br />

jedes Jahr viel Geld, weil das „Rad ständig neu erf<strong>und</strong>en wird“. Chaotische<br />

Vertragsverhältnisse zwischen Leistungserbringern <strong>und</strong> Kostenträgern sind nur ein<br />

Ergebnis dieser Fehlsteuerung.<br />

Handlungsoptionen <strong>und</strong> Forderungen<br />

• Die ambulanten Hilfen nach SGB VIII dürfen nicht weiter abgebaut werden. Sie sind<br />

im Gegenteil deutlich stärker zu nutzen, um größere <strong>und</strong> deutlich teurere<br />

Fehlentwicklungen in betroffenen <strong>Familie</strong>n zu vermeiden. Der individuelle<br />

Rechtsanspruch auf Hilfe darf nicht vom Kämmerer gesteuert <strong>und</strong> entschieden<br />

werden.


• Soziale Gruppenarbeit (§29 SGB VII) <strong>und</strong> soziale Trainingskurse (§10 JGG)<br />

müssen im Hinblick auf Gewaltprävention <strong>und</strong> –bearbeitung ausgebaut werden.<br />

Außerdem müssen weitere haftersetzende ambulante sozialpädagogische<br />

Maßnahmen (§45, §47 JGG) geschaffen werden.<br />

• Die Kürzungen der Mittel in der Straffälligenhilfe müssen aufhören!<br />

• Eltern, Schulen, Jugendämter, Strafverfolgungsbehörden <strong>und</strong> Träger von<br />

Jugendhilfemaßnahmen müssen in der Gewalt- <strong>und</strong> Drogenprävention wesentlich<br />

intensiver zusammenarbeiten als bisher!<br />

• Landesweit anerkannte, fachliche <strong>und</strong> betriebswirtschaftliche<br />

Mindeststandards sind ein Gebot der St<strong>und</strong>e. Die bisherige Blockadehaltung muss<br />

aufgegeben werden.<br />

• Die Systeme Schule <strong>und</strong> Jugendhilfe müssen ernsthaft um gemeinsame Konzepte<br />

ringen. Jugendhilfe darf sich nicht als „Lückenbüßer“ <strong>für</strong> Problemfälle oder als<br />

Freizeitgestalter missbrauchen lassen <strong>und</strong> Schule muss als wichtiger Lernort auch in<br />

der Jugendhilfe mitgedacht werden. Da hier deutliche Hindernisse zu überwinden<br />

sind, sollte die Landesregierung an mehreren Modellstandorten<br />

Kooperationsfähigkeiten <strong>und</strong> -möglichkeiten der beiden Systeme ausloten.<br />

• Dazu müssen auch die Zuständigkeiten <strong>für</strong> das System Schule enger zusammen<br />

geführt werden. Kommunen müssen Mitsprache erhalten bei der Ausgestaltung des<br />

Schulalltags, Schulämter <strong>und</strong> Kreise sollten Hand in Hand arbeiten <strong>und</strong> sich<br />

gleichermaßen verantwortlich fühlen.<br />

• Die Erosion so genannter „freiwilliger Leistungen“ muss aufhören. Jugendtreffs<br />

<strong>und</strong> Freizeitangebote sind häufig die einzigen öffentlichen Orte, wo Kinder sich<br />

ausprobieren können <strong>und</strong> akzeptiert sind. So manche Schließung spielt bereits heute<br />

rechtsradikalen Gruppierungen in die Hände.<br />

• Mitmenschlichkeit, Solidarität, Kompromiss- <strong>und</strong> Konfliktfähigkeit sind wichtige<br />

Bausteine einer demokratischen Gesellschaft. Sie müssen ins Zentrum jedes<br />

Erziehungs- <strong>und</strong> Bildungsauftrages etwa in der Kita, Schule, Jugendgruppe.<br />

• Eltern müssen frühzeitig gefördert <strong>und</strong> unterstützt werden. Dies gilt insbesondere<br />

<strong>für</strong> marginalisierte <strong>Familie</strong>n, die durch die klassischen Angebote der <strong>Familie</strong>nbildung<br />

nicht erreicht werden. Sie müssen frühzeitig aufgesucht <strong>und</strong> auch über einen<br />

längeren Zeitraum begleitet werden. Eine aufsuchende <strong>Familie</strong>nförderung ist jedoch<br />

nur durch die konsequente Vernetzung von Ges<strong>und</strong>heitsdiensten, Ärzten, Erziehern


Fazit<br />

<strong>und</strong> Lehrkräften sowie dem Jugendamt möglich. Diese Koordination braucht eigene<br />

Strukturen <strong>und</strong> Ressourcen, die sich jedoch schnell „bezahlt machen“.<br />

• Die Reduzierung der Jugendarbeitslosigkeit muss eines der vorrangigsten Ziele<br />

des Landesprogramms sein. Eine Jugend, die sich in Teilen aufgibt, ist ein Skandal<br />

<strong>und</strong> eine teure Hypothek auf die Zukunft.<br />

<strong>Familie</strong>nfre<strong>und</strong>lichkeit <strong>und</strong> fördernde Bedingungen <strong>für</strong> Kinder <strong>und</strong> Jugendliche, zumal <strong>für</strong><br />

benachteiligte, sind nicht nur eine Frage des Geldes, sondern auch der Kreativität <strong>und</strong> des<br />

Willens zur Zusammenarbeit. Ressortegoismen <strong>und</strong> dogmatische Standpunkte etwa mit dem<br />

stetigen Verweis auf das Konnexitätsprinzip müssen überw<strong>und</strong>en werden. Es geht um die<br />

Zukunft unserer Kinder, es geht um unsere Zukunft. Dazu muss sich nicht nur politisches<br />

Handeln ändern, sondern auch die Stimmung in der Bevölkerung. Kinderfre<strong>und</strong>lichkeit ist<br />

auch Einstellungssache. Mentalitäten wandeln sich langsam. Was wir heute beginnen, wird<br />

erst morgen Früchte zeigen – wenn wir dran bleiben! Dies wäre dem Landesprogramm, wäre<br />

allen in diesem Anliegen Engagierten sehr zu wünschen.<br />

Herzlichen Dank <strong>für</strong> Ihre Aufmerksamkeit!<br />

Impulsreferat II: „<strong>Familie</strong>n stark machen – Selbstorganisation <strong>und</strong> Selbsthilfe am<br />

Beispiel der Bürgerplattformen“<br />

Prof. Dr. Leo J. Penta, Fachbereich Gemeinwesenarbeit / -ökonomie, Katholische<br />

Hochschule <strong>für</strong> Sozialwesen Berlin<br />

Wie können sich <strong>Familie</strong>n <strong>und</strong> Kinder stärker <strong>und</strong> nachhaltiger einmischen? Ich beginne mit<br />

drei sehr knapp gehaltenen Beispielen, die in das Thema einführen.<br />

Bericht 1<br />

Es ist früh abends <strong>und</strong> die etwa 350 erwarteten Teilnehmer/innen aus den 45<br />

Mitgliederorganisationen der Bürgerplattform East Brooklyn (EBC) nehmen langsam ihre<br />

Plätze in der etwas heruntergekommenen Turnhalle einer Schule ein. Das<br />

Vorbereitungsteam ist mit den letzten Details beschäftigt. Vinny Hall, Vater mehrerer Kinder<br />

<strong>und</strong> von Beruf Postbote, führt am heutigen Abend den Vorsitz. Die Spannung ist hoch, da<br />

unter anderem eine wichtige Erklärung des als schwieriger Gesprächspartner geltenden<br />

Bürgermeisters von New York auf der vollen Tagesordnung steht. Vinny Hall geht pünktlich


zum Podest <strong>und</strong> eröffnet die Versammlung. Er erklärt kurz die Tagesordnung <strong>und</strong> macht<br />

darauf aufmerksam, dass der Bürgermeister später erwartet wird. Da nur sieben Minuten <strong>für</strong><br />

seine Rede vorgesehen sind, macht Vinny einen Vorschlag, wie man den Bürgermeister,<br />

sollte dies nötig sein, bremsen kann, ohne ihn dabei zu verprellen. Eine Minute, bevor die<br />

Redezeit um ist, würde Vinny sich neben den Bürgermeister stellen, um ihm ein klares<br />

Zeichen zu geben. Sollte er nicht bald ein Ende finden, würde er dann leicht seine Schulter<br />

berühren. Sollte dies noch keine Wirkung zeigen, würde er schließlich einen Schritt<br />

zurücktreten <strong>und</strong> anfangen zu klatschen. Dies wäre ein Zeichen <strong>für</strong> das Publikum, auch das<br />

Klatschen anzufangen. Und so kommt es tatsächlich: Als der Bürgermeister anfängt, gegen<br />

Ende seiner Redezeit von seinem Text abzuschweifen, tritt Vinny an ihn heran, aber der<br />

Bürgermeister redet weiter, dann legt Vinny seine Hand behutsam auf seine Schulter – keine<br />

Reaktion. Vinny fängt daraufhin zu klatschen an <strong>und</strong> das Publikum folgt ihm. Auf einmal<br />

blickt der Bürgermeister auf <strong>und</strong> sagt: „Ach, ich sehe, meine Redezeit ist um! Ich wünsche<br />

allen einen angenehmen Abend“ – <strong>und</strong> weg ist er.<br />

Bericht 2<br />

Das Bild scheint vertraut genug zu sein. In einem Vorraum vor einem eleganten<br />

parlamentarischen Sitzungssaal holt eine Gruppe von Bürger/innen ihre Lokalpolitiker/innen<br />

ein. Eine Abstimmung zum Landeshaushalt wird in den nächsten Wochen erwartet <strong>und</strong> die<br />

Gruppe will wissen, ob ein Schlüsselprojekt <strong>für</strong> ihren Stadtteil im Haushalt enthalten sein<br />

wird. Nachher treffen sie sich mit ihrem Organizer <strong>und</strong> tauschen die Ergebnisse aus: Es sieht<br />

gut aus, aber mehrere Ausschusssitzungen stehen bevor, die das Projekt schon wieder aus<br />

den Gleisen werfen könnten. Diese Szene – eine kleine „Aktion“ im Jargon von „Community<br />

Organizing“ – wiederholt sich täglich quer durch die USA. Aber in diesem Fall sprechen die<br />

Bürger/innen deutsch <strong>und</strong> die Politiker, die sie ansprechen, sind Mitglieder des Berliner<br />

Abgeordnetenhauses. Das Thema ist die Schaffung der Standortkonzentration einer<br />

staatlichen Fachhochschule – mit ihren Tausenden von <strong>Arbeit</strong>splätzen <strong>und</strong> Studenten – in<br />

einem benachteiligten Stadtteil namens Schöneweide. Die Bürger/innen <strong>und</strong> ihr Organizer<br />

sind Mitglieder von Organizing Schöneweide, einem außergewöhnlichem Experiment, das<br />

sechs Jahrzehnte amerikanischer Praxis in Community Organizing in einem neuen <strong>und</strong><br />

andersartigen Kontext anwenden will. 8<br />

Bericht 3<br />

8 vgl. dazu Tom Lenz: „From Brooklyn to Berlin: Organizing Schöneweide“. In: Shelterforce, Jan./Feb.<br />

2004, S. 21; Übersetzung von mir. Für weitere Informationen zu Organizing Schöneweide <strong>und</strong><br />

Aufbruch e.V. in Deutschland siehe www.organizing-berlin.de <strong>und</strong> www.industrialareasfo<strong>und</strong>ation.org


Wenn man mit Gunther Jancke <strong>und</strong> Ursula Glatzel in Oberschöneweide unterwegs ist, wird<br />

hier gewunken <strong>und</strong> dort gegrüßt: „Hallo, wie geht's?“, „Guten Morgen, schön euch zu<br />

sehen!“, „Alles klar?“. Ihren Bekanntheitsgrad haben sich die beiden in den vergangenen<br />

Jahren durch ihr offenes Zugehen auf andere Menschen „erarbeitet“. Ursula Glatzel ist durch<br />

etliche Geschäfte des Bezirks gegangen, hat mit den Inhabern gesprochen, hat andere zu<br />

sich nach Hause eingeladen: „Ich wollte sie aufrütteln, sie bewegen, sich auch zu<br />

engagieren.“<br />

Als Frau Glatzel das erste Mal bei einer Versammlung war <strong>und</strong> von „Community Organizing"<br />

hörte, hat sie frech über den Tisch gerufen: „Na prima, jetzt haben wir ja endlich auch was<br />

Amerikanisches hier.“ Der Name, den man dann fand, ist lang, aber sagt inhaltlich genau das<br />

aus, was gemeint ist: „Menschen verändern ihren Kiez“. „Wir sind keine Bürgerinitiative im<br />

üblichen Sinne, sind parteipolitisch <strong>und</strong> konfessionell unabhängig“, erklärt Gunter Jancke.<br />

Seit zwei Jahren ist er Ansprechpartner <strong>und</strong> Koordinator aller Gruppen, die hier gemeinsam<br />

etwas bewegen wollen.<br />

Fast 25 Gruppen von der Kita über den Sportverein bis zur Kirchengemeinde haben sich in<br />

der Bürgerplattform inzwischen zusammengef<strong>und</strong>en ebenso wie r<strong>und</strong> 15 Firmen als<br />

Verbündete <strong>und</strong> Sponsoren. Eines hat „Organizing" bereits durch hartnäckiges Nachhaken<br />

beim Senat erreicht: 2006 sollen mit dem Umzug von 6500 Student/innen der<br />

Fachhochschule <strong>für</strong> Technik <strong>und</strong> Wirtschaft (FHTW), die hier einen zweiten Campus<br />

aufmacht, junge Leute herkommen. Über zehn Jahre lang war die Verlegung des Campus'<br />

im Abgeordnetenhaus immer wieder positiv entschieden worden <strong>und</strong> doch passierte nichts.<br />

„Da sind wir den Politikern aber auf die Füße getreten“, erzählt Ursula Glatzel stolz. Für sie<br />

ist es immer wieder ein Erlebnis „zu sehen, was man gemeinsam erreichen kann“ 9 .<br />

Lernerfahrungen aus der Praxis von Community Organizing<br />

In folgenden Thesen stelle ich die Lernerfahrungen aus der beispielhaften Praxis von<br />

Community Organizing in Berlin <strong>für</strong> das Thema „Mitmischen – Einmischen“ dar.<br />

Der Aufbau einer starken Bürgergesellschaft in Deutschland wird einer der wichtigsten<br />

Zukunftsfaktoren sein. Dies erstreckt sich nicht nur auf verschiedene Formen der<br />

gesellschaftlichen Dienstleistung, sondern <strong>und</strong> vor allem auch auf neue Partizipations- <strong>und</strong><br />

Gestaltungsansätze, die nicht <strong>für</strong>, sondern von <strong>und</strong> mit Bürgerinnen <strong>und</strong> Bürgern in ihrem<br />

Sozialraum verwirklicht werden. Eine derart breit verankerte <strong>und</strong> selbstständig aktive<br />

Bürgergesellschaft ist die beste Garantie <strong>für</strong> eine starke Demokratie <strong>und</strong> das wirksamste<br />

Mittel zur Verhinderung von Rechtsradikalismus <strong>und</strong> F<strong>und</strong>amentalismus.<br />

9 Berliner Morgenpost, 18.12.2004, Magazin, S.6


Während Staat <strong>und</strong> Wirtschaft Rahmenbedingungen <strong>und</strong> Unterstützung da<strong>für</strong> bereitstellen<br />

müssen, sollen sich zivilgesellschaftliche Akteure ohne Bevorm<strong>und</strong>ung der anderen beiden<br />

Sektoren selbstständig organisieren können, d.h. „von innen <strong>und</strong> von unten“, nicht „von<br />

außen <strong>und</strong> von oben“. Sie sollen sich vor Ort organisieren, nicht organisiert werden.<br />

Eine starke Bürgergesellschaft muss insbesondere in der Mitte <strong>und</strong> bei den Schwachen der<br />

Gesellschaft ansetzen <strong>und</strong> darf nicht nur als Wirkungsfeld der Elite <strong>und</strong> der ohnehin<br />

Einflussreichen angesehen werden.<br />

Deswegen braucht es eine gezielte <strong>und</strong> nachhaltige Ressourcensicherung <strong>für</strong> <strong>und</strong> eine<br />

kompetente personengestützte Begleitung von Bevölkerungsgruppen, „deren Ausstattung<br />

nicht ohne weiteres ausreicht, um im Konzert der Bürgergesellschaft ein hörbares Instrument<br />

zu spielen“ (W. Hinte). Hierzu kann man <strong>Familie</strong>n <strong>und</strong> Kinder in Deutschland ohne Weiteres<br />

zählen.<br />

Um sich erfolgreich <strong>und</strong> nachhaltig einzumischen, brauchen zivilgesellschaftliche Akteure,<br />

sprich <strong>Familie</strong>n <strong>und</strong> ihre intermediären Institutionen wie Schulvereine, Kirchengemeinden,<br />

Spielplatzinitiativen, Jugendprojekte usw., einen eigenen organisatorischen Ort, von wo aus<br />

sie gemeinsam, öffentlich <strong>und</strong> hartnäckig agieren können. In einer immer mehr<br />

individualisierten <strong>und</strong> anonymisierten Gesellschaft ist der erste Schritt dazu breit angelegte<br />

<strong>und</strong> grenzenüberschreitende Beziehungsprozesse im Gemeinwesen zu ermöglichen, die<br />

dazu führen, dass handlungsfähige <strong>und</strong> unabhängige Zusammenschlüsse oder<br />

Bürgerplattformen entstehen können.<br />

Das A <strong>und</strong> O von solchen Selbstorganisationsprozessen sind öffentliche, aber persönliche<br />

Beziehungen von Respekt <strong>und</strong> Vertrauen, die zunächst auf der Basis gemeinsamer<br />

Interessen zustande kommen. Organizing beginnt mit dem systematischen Aufbau solcher<br />

Beziehungen <strong>und</strong> tut dies bewusst über gesellschaftliche Grenzen <strong>und</strong> Trennlinien hinweg:<br />

ethnische, geographische, religiöse, milieubedingte, wirtschaftliche <strong>und</strong> soziale.<br />

Diese Tätigkeit, die systematisch <strong>und</strong> gezielt durch Einzelinterviews <strong>und</strong> Gruppentreffen<br />

geführt wird, macht den Unterschied zwischen Mobilisieren als kurzfristigem<br />

Zusammenführen von Menschen <strong>und</strong> Organisieren als nachhaltigem Einbinden von<br />

Schlüsselpersonen, Gruppen <strong>und</strong> Organisationen zu einer neuen Plattform aus. Solche<br />

freiwilligen Schlüsselpersonen sind das wichtigste Kapital <strong>und</strong> die Bausteine einer<br />

lebendigen Plattform. Darin wird kräftig investiert: die Zeit der wenigen Professionellen,<br />

Workshops <strong>und</strong> Seminare zur Fortbildung, aufwendige Vorbereitung <strong>und</strong> Auswertung von<br />

Aktionen, strategische Planung, Kontakte zu neuen Schlüsselpersonen.


Dieses „Capacity Building“ <strong>für</strong> gefährdete <strong>Familie</strong>n, Kinder <strong>und</strong> andere Mitglieder der<br />

Gesellschaft ist eine der wichtigsten gesellschaftlichen Investitionen (nicht nur rein finanziell<br />

verstanden), die getätigt werden können: eine Investition in die Entwicklung von Menschen,<br />

in die Entwicklung von tragfähigen Partnerschaften zwischen Zivilgesellschaft, Staat <strong>und</strong><br />

Wirtschaft, in den sozialen Frieden, in den Abbau von Parallelgesellschaften, in die<br />

Tragfähigkeit einer gelebten, nicht bloß formalen Demokratie.<br />

Für diese Investitionsaufgabe müssen neue Kräfte mobilisiert werden: Stiftungen, die explizit<br />

in diesem Bereich fördern; wirtschaftliche Akteure, die ihr Wohl im Wohl des Gemeinwesens<br />

erkennen; Verbände <strong>und</strong> Kirchen, die ihre <strong>für</strong>sorgerischen Prioritäten neu ordnen; ein Staat,<br />

der mehr Vertrauen in seine Bewohner <strong>und</strong> Bewohnerinnen setzt. Es gilt, nicht noch einmal<br />

eine Kommission, einen Kongress, einen R<strong>und</strong>en Tisch oder eine Studie zu fordern, sondern<br />

die operative Umsetzung von Best-Practice-Beispielen <strong>für</strong> nachhaltig organisierte<br />

Bürgerplattformen zu realisieren.


Konferenz<br />

<strong>Familie</strong>n- <strong>und</strong> kinderfre<strong>und</strong>liches Brandenburg am 25.10.05 im Alten Rathaus, Potsdam<br />

Forum 4: „Lokale Bündnisse <strong>für</strong> <strong>Familie</strong>“<br />

Schriftliche Fassung der Impulsreferate<br />

Impulsreferat I: „Wachsende Zustimmung <strong>für</strong> die Initiative – b<strong>und</strong>esweit <strong>und</strong> vor Ort“<br />

Dr. Jan Schröder, Servicebüro „Lokale Bündnisse <strong>für</strong> <strong>Familie</strong>“, JSB GmbH<br />

<strong>Familie</strong>npolitik wird zunehmend zum Standortfaktor. Was vor knapp anderthalb Jahren vom<br />

B<strong>und</strong>esfamilienministerium initiiert wurde, lebt heute nicht nur vor Ort, sondern auch landes- <strong>und</strong><br />

b<strong>und</strong>esweit. Unterschiedliche gesellschaftliche Akteure stellen sich hinter die Idee „Lokale<br />

Bündnisse <strong>für</strong> <strong>Familie</strong>“: vom Deutschen Industrie- <strong>und</strong> Handelskammertag hin zu<br />

Wohlfahrtsverbänden, vom Deutschen Städte- <strong>und</strong> Gemeindeb<strong>und</strong> hin zu lokalen<br />

Handwerkskammern, kleine Gemeinden in Bayern ebenso wie Großstädte in Nordrhein-<br />

Westfalen, die Länder vom Saarland über Sachsen-Anhalt bis nach Brandenburg. Mit der<br />

Kommunalpolitischen Vereinigung der CDU/CSU (KPV) <strong>und</strong> der Sozialdemokratischen<br />

Gemeinschaft <strong>für</strong> Kommunalpolitik (SGK) stellen sich auch die großen kommunalpolitischen<br />

Vereinigungen parteiübergreifend hinter die Initiative.<br />

„Lokale Bündnisse <strong>für</strong> <strong>Familie</strong>“: Ziele <strong>und</strong> Vernetzungen<br />

Idee der Initiative ist es, die Lebensbedingungen von <strong>Familie</strong>n direkt in ihrem Lebensumfeld, das<br />

heißt vor Ort in der Kommune, zu verbessern. Lokale Bündnisse <strong>für</strong> <strong>Familie</strong> bilden die strukturelle<br />

Basis, erfolgreich neue Partnerschaften ins Leben zu rufen, um die familienfre<strong>und</strong>liche Politik am<br />

Ort selbst zu gestalten. Die Initiative richtet sich darum an alle, die vor Ort Verantwortung <strong>für</strong><br />

<strong>Familie</strong>n übernehmen <strong>und</strong> sich <strong>für</strong> ein familienfre<strong>und</strong>liches Umfeld engagieren. Ziel eines lokalen<br />

Bündnisses kann es sein, die Öffentlichkeit <strong>für</strong> das Thema <strong>Familie</strong> zu gewinnen <strong>und</strong> Wissen über<br />

<strong>Familie</strong>n zu sammeln. Ziel kann es ebenso sein, bestehende Angebote vor Ort zu bündeln <strong>und</strong><br />

neue Ideen zu entwickeln. Aus diesen Ideen können neue Projekte entstehen, die darüber hinaus<br />

die direkte Einbeziehung der <strong>Familie</strong>n am Ort <strong>und</strong> das bürgerschaftliche Engagement stärken.<br />

Schließlich können Erfahrungen ausgetauscht <strong>und</strong> damit Lerninhalte weitergegeben werden.<br />

In der konkreten <strong>Arbeit</strong> hat sich immer wieder herausgestellt, dass <strong>Familie</strong>nfre<strong>und</strong>lichkeit<br />

besonders dann effektiv <strong>und</strong> wirkungsvoll gestaltet werden kann, wenn die vorhandenen<br />

Ressourcen vor Ort gebündelt <strong>und</strong> die beteiligten Akteure vernetzt werden. Schließlich geht es<br />

darum, gemeinsam neue Ideen zu entwickeln <strong>und</strong> an deren Realisierung zu arbeiten. Die<br />

Bedingungen im Land Brandenburg sind da<strong>für</strong> optimal. Schon die Landesregierung verdeutlicht,<br />

dass die Entscheidung <strong>für</strong> ein kinder- <strong>und</strong> familienfre<strong>und</strong>liches Brandenburg nur durch eine


integrierte Politik verwirklicht werden kann. Sie sieht das Thema demnach als eine<br />

Querschnittsaufgabe an, die den B<strong>und</strong>, die Länder <strong>und</strong> Kommunen, die Wirtschaft, die<br />

Sozialpartner, die Wohlfahrtspflege, die Kirchen <strong>und</strong> schließlich die <strong>Familie</strong>n selbst vor eine<br />

gemeinsame Herausforderung stellt. Dies nicht zuletzt auch auf Gr<strong>und</strong> der Tatsache, dass das<br />

Thema <strong>Familie</strong> nahezu alle Politikfelder betrifft.<br />

Die Initiative in Brandenburg<br />

Schon Anfang August 2005 übernahm die brandenburgische <strong>Familie</strong>nministerin Dagmar Ziegler<br />

darum die Schirmherrschaft über die Initiative „Lokale Bündnisse <strong>für</strong> <strong>Familie</strong>“ auf Landesebene.<br />

Auch der Ministerpräsident des Landes Brandenburg, Matthias Platzeck, hat das Thema <strong>Familie</strong><br />

zu einer Kernaufgabe der Landespolitik erhoben, wie wir heute Morgen gehört haben.<br />

In Brandenburg werden nicht nur zu wenige Kinder geboren. Problematisch ist auch die Tatsache,<br />

dass vor allem viele jüngere Menschen vor dem Hintergr<strong>und</strong> besserer Berufsaussichten in<br />

anderen B<strong>und</strong>esländern Beschäftigung suchen. Folge dieser Entwicklung sind sinkende<br />

Geburtenzahlen sowie langfristig ein Fachkräftemangel <strong>und</strong> Veränderungen in der Sozialstruktur<br />

der Gesellschaft.<br />

Um dieser Entwicklung entgegen zu steuern hat sich Brandenburg zum Ziel gesetzt, eine der<br />

kinder- <strong>und</strong> familienfre<strong>und</strong>lichsten Regionen Europas zu werden. Erster konkreter Meilenstein ist<br />

das Programm "Die Brandenburger Entscheidung: <strong>Familie</strong>n <strong>und</strong> Kinder haben Vorrang!", das<br />

darauf abzielt, einen gesamtgesellschaftlichen Wertewandel hin zu positiven Einstellungen<br />

gegenüber Kindern <strong>und</strong> <strong>Familie</strong>n zu erreichen. Die Unterstützung der Initiative "Lokale Bündnisse<br />

<strong>für</strong> <strong>Familie</strong>" ist ein wichtiger Baustein dieses Programms.<br />

Vor diesem Hintergr<strong>und</strong> haben sich in Brandenburg mittlerweile bereits fünf "Lokale Bündnisse <strong>für</strong><br />

<strong>Familie</strong>n" gebildet: in Wiesenburg, Ludwigsfelde, Eisenhüttenstadt, Cottbus Sachsendorf-Madlow<br />

<strong>und</strong> Cottbus selbst. Weitere, so z.B. in Potsdam, Schwedt, Brandenburg a.d.H., Guben, Prenzlau<br />

<strong>und</strong> Königs Wusterhausen sind in Vorbereitung. Auch Unternehmen wie Vattenfall Europe Mining<br />

& Generation oder die EKO Stahl GmbH beteiligen sich.<br />

Ziel der lokalen Bündnisse in Brandenburg ist es, entsprechend den unterschiedlichen regionalen<br />

Möglichkeiten die Bedingungen <strong>für</strong> Kinder <strong>und</strong> <strong>Familie</strong>n zu verbessern. Dabei beschäftigen sie<br />

sich mit Maßnahmen zur besseren Vereinbarkeit von <strong>Familie</strong> <strong>und</strong> Erwerbstätigkeit, zur Schaffung<br />

von bedarfsgerechten Angeboten der Kinderbetreuung <strong>und</strong> mit Angeboten der örtlichen<br />

Infrastruktur. Hierzu gehören z.B. Angebote zur Bildung <strong>und</strong> Freizeitgestaltung, aber auch<br />

Angebote von Beratungsstellen.


Um themenspezifische Schwerpunkte <strong>für</strong> die Bündnisarbeit zu setzen, bietet sich eine<br />

Orientierung an bestimmten Handlungsfeldern an, die von „Erziehung, Bildung, Betreuung“, über<br />

„Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> Pflege“, „<strong>Familie</strong>nrollen“, „Freizeit, Sport, Kultur“, „Beruf <strong>und</strong> <strong>Familie</strong>“ bis hin zu<br />

„Verkehr <strong>und</strong> Wohnen“ reichen können. Unter diesen Oberthemen entwickeln lokale Bündnisse<br />

individuelle Projekte <strong>und</strong> setzen diese nach ihren jeweiligen Möglichkeiten <strong>und</strong><br />

Rahmenbedingungen eigenständig um.<br />

Die <strong>Arbeit</strong> des Servicebüros<br />

Dank des großen Maßes an eigenständigen Gestaltungsmöglichkeiten entwickelte sich die<br />

Initiative „Lokale Bündnisse <strong>für</strong> <strong>Familie</strong>“ binnen kurzer Zeit zu einer b<strong>und</strong>esweiten Bewegung<br />

derjenigen Akteure, die ihr lokales Umfeld familienfre<strong>und</strong>licher gestalten wollen. Bereits fünf<br />

Monate nach Start der Initiative engagierten sich an über 160 Standorten Verbände,<br />

Unternehmen, Kammern, Kommunen, Gewerkschaften, Kirchen u.v.a.m. in Bündnissen oder im<br />

Bündnisaufbau. Heute gibt es b<strong>und</strong>esweit mittlerweile mehr als 230 Bündnisse. Aufgr<strong>und</strong> dieses<br />

erheblichen Erfolges steigt das mediale Interesse an der Initiative Zug um Zug.<br />

Erfolgsfaktoren hier<strong>für</strong> sind die hohe parteienübergreifende Zustimmung zur Initiative, der<br />

Reifegrad des Themas sowie die Qualität <strong>und</strong> Neutralität der Unterstützung durch das<br />

Servicebüro „Lokale Bündnisse <strong>für</strong> <strong>Familie</strong>“. Dieses koordiniert den Aufbau der Initiative.<br />

Kernleistungen des Büros sind die Prozessberatung vor Ort sowie die b<strong>und</strong>esweite <strong>und</strong> regionale<br />

PR-<strong>Arbeit</strong> <strong>für</strong> die Initiative wie auch <strong>für</strong> die einzelnen Bündnisse. Beraterinnen <strong>und</strong> Berater des<br />

Servicebüros versuchen als neutrale Dritte, geeignete <strong>Arbeit</strong>sweisen <strong>und</strong> -strukturen zu finden –<br />

passgenau zugeschnitten auf die jeweilige Gemeinde <strong>und</strong> Akteurskonstellation. Eingebracht<br />

werden zudem Erfahrungen aus einer Vielzahl von Bündnisentwicklungen.<br />

Individuelle Lösungen <strong>für</strong> die <strong>Familie</strong>n vor Ort sind das Ergebnis dieses Beratungsansatzes, der<br />

auf „Hilfe zur Selbsthilfe“ setzt. Dabei muss das Rad nicht immer neu erf<strong>und</strong>en werden. Oftmals<br />

ist schon einiges damit erreicht, die zahlreichen guten Angebote einer Kommune zu bündeln <strong>und</strong><br />

publik zu machen.<br />

Die kostenlosen Angebote des Servicebüros richten sich gleichermaßen an Neueinsteiger wie<br />

erfahrene Bündnisakteure. Kernleistung des Servicebüros ist die individuelle Unterstützung<br />

einzelner Bündnisse bei Aufbau <strong>und</strong> Fortentwicklung: Von der telefonischen Erstberatung über<br />

Vorort-Workshops bis hin zur Unterstützung bei der Presse- <strong>und</strong> Öffentlichkeitsarbeit reicht das<br />

Leistungsspektrum. Ziel ist dabei ein arbeitsfähiges Bündnis, das durch das Zusammenwirken<br />

unterschiedlicher Akteure innovativ <strong>und</strong> unbürokratisch viel <strong>für</strong> <strong>Familie</strong>n vor Ort erreicht.<br />

Neben der Beratung hält das Servicebüro weitere Leistungen abrufbar bereit. Umfassende<br />

Informationsmaterialien stehen den Bündnis-Akteuren ebenso zur Verfügung wie


Dokumentvorlagen <strong>und</strong> Musterbriefe. Besonders hilfreich ist das <strong>Arbeit</strong>sbuch des Servicebüros<br />

zum Aufbau eines lokalen Bündnisses, das von der Internetseite der Initiative herunter geladen<br />

werden kann. Hier finden sich auch Steckbriefe, Kurzportraits <strong>und</strong> Kontaktpersonen bestehender<br />

Bündnisse, denn Nachahmung <strong>und</strong> Kontaktaufnahme sind ausdrücklich erwünscht.<br />

Erfahrungsaustausch der Bündnisse <strong>und</strong> gemeinsame Aktionen werden zudem durch b<strong>und</strong>es-<br />

<strong>und</strong> landesweite sowie regionale Veranstaltungen gefördert.<br />

Impulsreferat II: „Praktische Erfahrungen im lokalen Bündnis <strong>für</strong> <strong>Familie</strong> aus Sicht der<br />

Kommune“<br />

Michaela Hänsel, Gleichstellungsbeauftragte der Stadt Eisenhüttenstadt<br />

Die demografische Entwicklung – der Bevölkerungsrückgang <strong>und</strong> der Anstieg des<br />

Altersdurchschnittes – stellt eine Herausforderung dar, insbesondere auch an die<br />

Kommunalpolitik. Denn es geht darum, sich mit diesem unausweichlichen Anpassungsprozess<br />

auseinander zu setzen <strong>und</strong> ihn mit Strategien <strong>und</strong> Lösungen zu begleiten.<br />

<strong>Familie</strong>nfre<strong>und</strong>lichkeit als städtisches Leitbild<br />

Eine Gr<strong>und</strong>lage hier<strong>für</strong> ist das Leitbild <strong>für</strong> Eisenhüttenstadt, das aus einer breiten öffentlichen<br />

Diskussion heraus im Rahmen des Projektes „Eisenhüttenstadt 2030“ entwickelt wurde. Hierbei<br />

stehen insbesondere zwei der fünf Leitbilder im Mittelpunkt: „Eisenhüttenstadt, eine offene,<br />

familien- <strong>und</strong> kinderfre<strong>und</strong>liche Stadt“ <strong>und</strong> „Perspektiven schaffen durch Bildung <strong>und</strong><br />

Qualifikation“.<br />

Kinder- <strong>und</strong> <strong>Familie</strong>nfre<strong>und</strong>lichkeit ist ein entscheidender Faktor <strong>für</strong> das Leitbild unserer Stadt.<br />

Hier können die Perspektiven von <strong>Familie</strong>n nachhaltig beeinflusst werden. Es geht darum, die<br />

Vereinbarkeit von <strong>Familie</strong> <strong>und</strong> Beruf sowie die Bildungs- <strong>und</strong> Lebenschancen aller, aber<br />

insbesondere auch von Kindern <strong>und</strong> jungen Menschen zu verbessern. Verb<strong>und</strong>en hiermit ist die<br />

Chancengleichheit der Generationen. Dabei ist die <strong>Familie</strong> in ihren verschiedenen Lebensphasen<br />

zu betrachten: von der <strong>Familie</strong>ngründung über die Kinderphase bis ins Seniorenalter. Die<br />

Kommune ist gefragt, praktische Lösungen <strong>für</strong> ein familienfre<strong>und</strong>licheres Lebensumfeld zu<br />

entwickeln. Dabei gibt es sicher nicht die Patentlösung, sondern eine Vielzahl von<br />

Handlungsansätzen. Ein Handlungsansatz ist die Bündelung der Kompetenzen in der Stadt im<br />

Interesse von mehr <strong>Familie</strong>nfre<strong>und</strong>lichkeit in einem lokalen Bündnis <strong>für</strong> <strong>Familie</strong>n.<br />

Warum ein lokales Bündnis <strong>für</strong> <strong>Familie</strong>n ?


• Die Initiative „Lokale Bündnisse <strong>für</strong> <strong>Familie</strong>“ hat das Ziel, familienfre<strong>und</strong>liche Ideen zu<br />

bündeln <strong>und</strong> neue Lösungen zu finden.<br />

• Unterschiedliche Kompetenzen <strong>und</strong> Ressourcen werden im Interesse von mehr<br />

<strong>Familie</strong>nfre<strong>und</strong>lichkeit zusammengeführt.<br />

• Von <strong>Familie</strong>nfre<strong>und</strong>lichkeit profitieren alle: die <strong>Familie</strong>n, die Organisationen <strong>und</strong> Vereine,<br />

die Stadt <strong>und</strong> die ortsansässigen Unternehmen.<br />

• Die Schaffung eines familienfre<strong>und</strong>lichen Klimas wird in Zukunft einer der zentralen Punkte<br />

im ökonomischen Wettstreit der Regionen sein. <strong>Familie</strong>nfre<strong>und</strong>lichkeit stärkt den Standort<br />

<strong>und</strong> bringt Wettbewerbsvorteile.<br />

Das „Forum <strong>Familie</strong>“ wurde initiiert durch die Stadt, vertreten durch den Bürgermeister, Herrn R.<br />

Werner, in Kooperation mit dem wichtigsten <strong>Arbeit</strong>geber in der Region, der EKO Stahl GmbH<br />

Arcelor Gruppe, vertreten durch Herrn R. Barcikowski, <strong>Arbeit</strong>sdirektor, gemeinsam mit dem<br />

Betriebsrat, vertreten durch den Vorsitzenden, Herrn H. Wachsmann. Zur<br />

Gründungsveranstaltung „Forum <strong>Familie</strong> Eisenhüttenstadt – ein lokales Bündnis <strong>für</strong> <strong>Familie</strong>n“,<br />

fanden sich am 07.06.05 über 80 Vertreterinnen <strong>und</strong> Vertreter von Vereinen, freien Trägern,<br />

Unternehmen <strong>und</strong> Institutionen, Abgeordnete der Stadt sowie Bürgerinnen <strong>und</strong> Bürger<br />

zusammen.<br />

Mit der Bündnisgründung wird ein weiterer wichtiger Schritt in Richtung <strong>Familie</strong>nfre<strong>und</strong>lichkeit in<br />

Eisenhüttenstadt getan. Die Unterzeichner/innen erklären sich bereit, das Bündnis zu<br />

unterstützen. Dabei ist es von besonderer Bedeutung, dass das Bündnis von einer breiten Basis<br />

getragen wird. Insbesondere ist es wichtig, die Unternehmen der Stadt mit einzubinden. Dies ist<br />

besonders im Hinblick auf die Vereinbarkeit von Beruf <strong>und</strong> <strong>Familie</strong> bedeutsam. Eckpunkte sind<br />

hier eine flexible <strong>und</strong> qualitativ gute Kinderbetreuung, aber auch in den Betrieben soll<br />

<strong>Familie</strong>nfre<strong>und</strong>lichkeit in seinen unterschiedlichen Facetten verstärkt thematisiert werden.<br />

Vorhaben im Rahmen des Bündnisses<br />

Es ist verabredet, in folgenden Bereichen konkrete Projekte vorzubereiten <strong>und</strong> umzusetzen:<br />

• Vereinbarkeit von <strong>Familie</strong> <strong>und</strong> Beruf: Bestandteil einer umfassenden kindorientierten<br />

Betreuung sind neben der Bildung <strong>und</strong> Erziehung die Gestaltung flexibler Formen der<br />

Kinderbetreuung, die die unterschiedlichen Lebenssituationen der <strong>Familie</strong> berücksichtigen,<br />

sowie die Entwicklung familienergänzender Angebote im Gemeinwesen. Um die variablen<br />

Bedürfnisse von Eltern <strong>und</strong> <strong>Familie</strong>n zu erfassen, wurde eine Befragung zur<br />

Kinderbetreuung in Eisenhüttenstadt durchgeführt, auf deren Gr<strong>und</strong>lage eine<br />

Verbesserung der Angebotsstrukturen in diesem Bereich erfolgen soll. Als ein erstes<br />

konkretes Ergebnis ist die neu überarbeitete <strong>und</strong> durch das Stadtparlament


verabschiedete Kita-Gebührensatzung zu sehen. Sie greift die Thematik auf <strong>und</strong> schafft<br />

die Gr<strong>und</strong>lage <strong>für</strong> die Inanspruchnahme einer noch flexibleren <strong>und</strong> individuell auf die<br />

<strong>Familie</strong>nsituation zugeschnittenen Kinderbetreuung.<br />

• Zusammenleben von „Jung <strong>und</strong> Alt“: Es gilt, noch mehr Angebote „vor Ort“, in den<br />

Sozialräumen zu entwickeln. Dabei wird die Kita verstärkt als „Ort der Begegnung“<br />

insbesondere auch der verschiedenen Generationen gesehen. Die <strong>Arbeit</strong> in Netzwerken in<br />

den Wohngebieten ist auszubauen <strong>und</strong> zu stärken.<br />

• <strong>Familie</strong>nfre<strong>und</strong>lichkeit im Unternehmen: Eine Kampagne „<strong>Familie</strong>nfre<strong>und</strong>licher Betrieb“<br />

soll das Thema <strong>Familie</strong>nfre<strong>und</strong>lichkeit stärker in das Bewusstsein rücken. In der<br />

<strong>Arbeit</strong>sgruppe werden weitere Vorschläge geprüft, um regionale Unternehmen im Sinne<br />

des Bündnisses besser einbinden zu können.<br />

Im Rahmen der Städtepartnerschaft wurde die Thematik ebenfalls aufgegriffen. Vom 26.09.2005<br />

bis 30.09.2005 fand in Eisenhüttenstadt eine Konferenz zum Thema: „Chancen gestalten –<br />

<strong>Familie</strong> <strong>und</strong> <strong>Arbeit</strong>swelt in Balance bringen. Ein Diskurs zu Fragen der Vereinbarkeit von Beruf<br />

<strong>und</strong> <strong>Familie</strong> <strong>und</strong> deren Umsetzung auf kommunaler Ebene“ statt. Die Partnerstädte Glogow<br />

(Polen), Drancy (Frankreich), Dimitroffgrad (Bulgarien) <strong>und</strong> Saarlouis (Deutschland) nahmen an<br />

der Konferenz teil; es erfolgte ein sehr interessanter Gedankenaustausch zu der Thematik. In den<br />

Beiträgen wurde deutlich, dass die Kommunen vor gleichen oder ähnlichen Herausforderungen<br />

stehen, was insbesondere auch die demografische Entwicklung betrifft. Es wird eine<br />

Weiterführung des Dialoges im Rahmen der Städtepartnerschaft geben.

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