Rosa Luxemburg Reader 2010 (PDF) - Die Linke.SDS Leipzig
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eigetragen, bei allen ist er in die Lehre gegangen. Und kein Wunder! Mit dem Verlassen<br />
des Klassenstandpunktes hat er den politischen Kompaß, mit dem Aufgeben des<br />
wissenschaftlichen Sozialismus die geistige Kristallisationsachse verloren, um die sich<br />
einzelne Tatsachen zum organischen Ganzen einer konsequenten Weltanschauung<br />
gruppieren.<br />
<strong>Die</strong>se aus allen möglichen Systembrocken unterschiedslos zusammengewürfelte Theorie<br />
scheint auf den ersten Blick ganz vorurteilslos zu sein. Bernstein will auch nichts von<br />
einer »Parteiwissenschaft«, oder richtiger von einer Klassenwissenschaft, ebensowenig<br />
von einem Klassenliberalismus, einer Klassenmoral hören. Er meint eine allgemein<br />
menschliche, abstrakte Wissenschaft, abstrakten Liberalismus, abstrakte Moral zu<br />
vertreten. Da aber die wirkliche Gesellschaft aus Klassen besteht, die diamentral<br />
entgegengesetzte Interessen, Bestrebungen und Auffassungen haben, so ist eine<br />
allgemein menschliche Wissenschaft in sozialen Fragen, ein abstrakter Liberalismus, eine<br />
abstrakte Moral vorläufig eine Phantasie, eine Selbsttäuschung. Was Bernstein für seine<br />
allgemein menschliche Wissenschaft, Demokratie und Moral hält, ist bloß die<br />
herrschende, d.h. die bürgerliche Wissenschaft, die bürgerliche Demokratie, die<br />
bürgerliche Moral.<br />
In der Tat! Wenn er das Marxsche ökonomische System abschwört, um auf die Lehren<br />
von Brentano, Böhm-Jevons, Say, Julius Wolf zu schwören, was tut er anderes, als die<br />
wissenschaftliche Grundlage der Emanzipation der Arbeiterklasse mit dem<br />
Apologetentum (Verherrlichung) der Bourgeoisie vertauschen? Wenn er von dem<br />
allgemein menschlichen Charakter des Liberalismus spricht und den Sozialismus in seine<br />
Abart verwandelt, was tut er anderes, als dem Sozialismus den Klassencharakter, also<br />
den geschichtlichen Inhalt, also überhaupt jeden Inhalt nehmen und damit umgekehrt die<br />
historische Trägerin des Liberalismus, die Bourgeoisie, zur Vertreterin der allgemein<br />
menschlichen Interessen machen?<br />
Und wenn er gegen »die Erhebung der materiellen Faktoren zu den omnipotenten<br />
(allmächtigen) Mächten der Entwicklung«, gegen die »Verachtung des Ideals« in der<br />
Sozialdemokratie zu Felde zieht, wenn er dem Idealismus, der Moral das Wort redet,<br />
gleichzeitig aber gegen die einzige Quelle der moralischen Wiedergeburt des Proletariats,<br />
gegen den revolutionären Klassenkampf eifert - was tut er im Grunde genommen<br />
anderes, als der Arbeiterklasse die Quintessenz der Moral der Bourgeoisie: die<br />
Aussöhnung mit der bestehenden Ordnung und die Übertragung der Hoffnung ins<br />
jenseits der sittlichen Vorstellungswelt predigen?<br />
Indem er endlich gegen die Dialektik seine schärfsten Pfeile richtet, was tut er anders, als<br />
gegen die spezifische Denkweise des aufstrebenden klassenbewußten Proletariats<br />
ankämpfen? Gegen das Schwert ankämpfen, das dem Proletariat die Finsternis seiner<br />
historischen Zukunft hat durchhauen helfen, gegen die geistige Waffe, womit es,<br />
materiell noch im Joch, die Bourgeoisie besiegt, weil es sie ihrer Vergänglichkeit<br />
überführt, ihr die Unvermeidlichkeit seines Sieges nachgewiesen, die Revolution im<br />
Reiche des Geistes bereits vollzogen hat! Indem Bernstein von der Dialektik Abschied<br />
nimmt und die Gedankenschaukel des Einerseits-Andererseits, Zwar-Aber, Obgleich-<br />
Dennoch, Mehr-Weniger sich aneignet, verfällt er ganz folgerichtig in die historischbedingte<br />
Denkweise der untergehenden Bourgeoisie, eine Denkweise, die das getreue<br />
geistige Abbild ihres gesellschaftlichen Daseins und ihres politischen Tuns ist. (Caprivi-<br />
Hohenlohe, Berlepsch-Posadowsky, Februarerlasse - Zuchthausvorlage,) das politische<br />
Einerseits-Andererseits, Wenn und Aber der heutigen Bourgeoisie sieht genau so aus, wie<br />
die Denkweise Bernsteins, und die Bernsteinsche Denkweise ist das feinste und sicherste<br />
Symptom seiner bürgerlichen Weltanschauung.<br />
Aber für Bernstein ist nunmehr auch das Wort »bürgerlich« kein Klassenausdruck,<br />
sondern ein allgemein-gesellschaftlicher Begriff. Das bedeutet nur, daß er - folgerichtig<br />
bis zum Punkt über dem i - mit der Wissenschaft, Politik, Moral und Denkweise auch die<br />
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