02.11.2013 Aufrufe

Rosa Luxemburg Reader 2010 (PDF) - Die Linke.SDS Leipzig

Rosa Luxemburg Reader 2010 (PDF) - Die Linke.SDS Leipzig

Rosa Luxemburg Reader 2010 (PDF) - Die Linke.SDS Leipzig

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

eigetragen, bei allen ist er in die Lehre gegangen. Und kein Wunder! Mit dem Verlassen<br />

des Klassenstandpunktes hat er den politischen Kompaß, mit dem Aufgeben des<br />

wissenschaftlichen Sozialismus die geistige Kristallisationsachse verloren, um die sich<br />

einzelne Tatsachen zum organischen Ganzen einer konsequenten Weltanschauung<br />

gruppieren.<br />

<strong>Die</strong>se aus allen möglichen Systembrocken unterschiedslos zusammengewürfelte Theorie<br />

scheint auf den ersten Blick ganz vorurteilslos zu sein. Bernstein will auch nichts von<br />

einer »Parteiwissenschaft«, oder richtiger von einer Klassenwissenschaft, ebensowenig<br />

von einem Klassenliberalismus, einer Klassenmoral hören. Er meint eine allgemein<br />

menschliche, abstrakte Wissenschaft, abstrakten Liberalismus, abstrakte Moral zu<br />

vertreten. Da aber die wirkliche Gesellschaft aus Klassen besteht, die diamentral<br />

entgegengesetzte Interessen, Bestrebungen und Auffassungen haben, so ist eine<br />

allgemein menschliche Wissenschaft in sozialen Fragen, ein abstrakter Liberalismus, eine<br />

abstrakte Moral vorläufig eine Phantasie, eine Selbsttäuschung. Was Bernstein für seine<br />

allgemein menschliche Wissenschaft, Demokratie und Moral hält, ist bloß die<br />

herrschende, d.h. die bürgerliche Wissenschaft, die bürgerliche Demokratie, die<br />

bürgerliche Moral.<br />

In der Tat! Wenn er das Marxsche ökonomische System abschwört, um auf die Lehren<br />

von Brentano, Böhm-Jevons, Say, Julius Wolf zu schwören, was tut er anderes, als die<br />

wissenschaftliche Grundlage der Emanzipation der Arbeiterklasse mit dem<br />

Apologetentum (Verherrlichung) der Bourgeoisie vertauschen? Wenn er von dem<br />

allgemein menschlichen Charakter des Liberalismus spricht und den Sozialismus in seine<br />

Abart verwandelt, was tut er anderes, als dem Sozialismus den Klassencharakter, also<br />

den geschichtlichen Inhalt, also überhaupt jeden Inhalt nehmen und damit umgekehrt die<br />

historische Trägerin des Liberalismus, die Bourgeoisie, zur Vertreterin der allgemein<br />

menschlichen Interessen machen?<br />

Und wenn er gegen »die Erhebung der materiellen Faktoren zu den omnipotenten<br />

(allmächtigen) Mächten der Entwicklung«, gegen die »Verachtung des Ideals« in der<br />

Sozialdemokratie zu Felde zieht, wenn er dem Idealismus, der Moral das Wort redet,<br />

gleichzeitig aber gegen die einzige Quelle der moralischen Wiedergeburt des Proletariats,<br />

gegen den revolutionären Klassenkampf eifert - was tut er im Grunde genommen<br />

anderes, als der Arbeiterklasse die Quintessenz der Moral der Bourgeoisie: die<br />

Aussöhnung mit der bestehenden Ordnung und die Übertragung der Hoffnung ins<br />

jenseits der sittlichen Vorstellungswelt predigen?<br />

Indem er endlich gegen die Dialektik seine schärfsten Pfeile richtet, was tut er anders, als<br />

gegen die spezifische Denkweise des aufstrebenden klassenbewußten Proletariats<br />

ankämpfen? Gegen das Schwert ankämpfen, das dem Proletariat die Finsternis seiner<br />

historischen Zukunft hat durchhauen helfen, gegen die geistige Waffe, womit es,<br />

materiell noch im Joch, die Bourgeoisie besiegt, weil es sie ihrer Vergänglichkeit<br />

überführt, ihr die Unvermeidlichkeit seines Sieges nachgewiesen, die Revolution im<br />

Reiche des Geistes bereits vollzogen hat! Indem Bernstein von der Dialektik Abschied<br />

nimmt und die Gedankenschaukel des Einerseits-Andererseits, Zwar-Aber, Obgleich-<br />

Dennoch, Mehr-Weniger sich aneignet, verfällt er ganz folgerichtig in die historischbedingte<br />

Denkweise der untergehenden Bourgeoisie, eine Denkweise, die das getreue<br />

geistige Abbild ihres gesellschaftlichen Daseins und ihres politischen Tuns ist. (Caprivi-<br />

Hohenlohe, Berlepsch-Posadowsky, Februarerlasse - Zuchthausvorlage,) das politische<br />

Einerseits-Andererseits, Wenn und Aber der heutigen Bourgeoisie sieht genau so aus, wie<br />

die Denkweise Bernsteins, und die Bernsteinsche Denkweise ist das feinste und sicherste<br />

Symptom seiner bürgerlichen Weltanschauung.<br />

Aber für Bernstein ist nunmehr auch das Wort »bürgerlich« kein Klassenausdruck,<br />

sondern ein allgemein-gesellschaftlicher Begriff. Das bedeutet nur, daß er - folgerichtig<br />

bis zum Punkt über dem i - mit der Wissenschaft, Politik, Moral und Denkweise auch die<br />

50<br />

39

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!