Rosa Luxemburg Reader 2010 (PDF) - Die Linke.SDS Leipzig
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was er kann, ist: die Marxsche Lehre zuerst in verschiedenen einzelnen Grundsätzen zu<br />
bekämpfen und zuletzt, da diese Lehre ein fest zusammengefügtes Gebäude darstellt, das<br />
ganze System vom obersten Stockwerke bis zum Fundament zu zerstören. Damit ist<br />
erwiesen, daß die opportunistische Praxis in ihrem Wesen, in ihren Grundlagen mit dem<br />
Marxschen System unvereinbar ist.<br />
Aber damit ist ferner noch erwiesen, daß der Opportunismus auch mit dem Sozialismus<br />
überhaupt unvereinbar ist, daß seine innere Tendenz dahin geht, die Arbeiterbewegung in<br />
bürgerliche Bahnen hinüberzudrängen, d.h. den proletarischen Klassenkampf völlig<br />
lahmzulegen. Freilich ist proletarischer Klassenkampf mit dem Marxschen System -<br />
geschichtlich genommen - nicht identisch. Auch vor Marx und unabhängig von ihm hat<br />
es eine Arbeiterbewegung und verschiedene sozialistische Systeme gegeben, die jedes in<br />
seiner Weise ein den Zeitverhältnissen entsprechender theoretischer Ausdruck der<br />
Emanzipationsbestrebungen der Arbeiterklasse waren. <strong>Die</strong> Begründung des Sozialismus<br />
durch moralische Gerechtigkeitsbegriffe, der Kampf gegen die Verteilungsweise, statt<br />
gegen die Produktionsweise, die Auffassung der Klassengegensätze als Gegensatz von<br />
arm und reich, die Bestrebung, die »Genossenschaftlichkeit« auf die kapitalistische<br />
Wirtschaft aufzupfropfen, alles das, was wir im Bernsteinschen System vorfinden, ist<br />
schon einmal dagewesen. Und diese Theorien waren ihrer Zeit bei all ihrer<br />
Unzulänglichkeit wirkliche Theorien des proletarischen Klassenkampfes, sie waren die<br />
riesenhaften Kinderschuhe, worin das Proletariat auf der geschichtlichen Bühne<br />
marschieren lernte.<br />
Aber nachdem einmal die Entwicklung des Klassenkampfes selbst und seiner<br />
gesellschaftlichen Bedingungen zur Abstreifung dieser Theorien und zur Formulierung<br />
der Grundsätze des wissenschaftlichen Sozialismus geführt hat, kann es - wenigstens in<br />
Deutschland - keinen Sozialismus mehr außer dem Marxschen, keinen sozialistischen<br />
Klassenkampf außerhalb der Sozialdemokratie geben. Nunmehr sind Sozialismus und<br />
Marxismus, proletarischer Emanzipationskampf und Sozialdemokratie identisch. Das<br />
Zurückgreifen auf vormarxsche Theorien des Sozialismus bedeutet daher heute nicht<br />
einmal den Rückfall in die riesenhaften Kinderschuhe des Proletariats, nein, es ist ein<br />
Rückfall in die zwerghaften, ausgetretenen Hausschuhe der Bourgeoisie.<br />
<strong>Die</strong> Bernsteinsche Theorie war der erste, aber zugleich auch der letzte Versuch, dem<br />
Opportunismus eine theoretische Grundlage zu geben. Wir sagen: der letzte, weil er in<br />
dem Bernsteinschen System ebenso negativ in der Abschwörung des wissenschaftlichen<br />
Sozialismus, wie positiv in der Zusammenwürfelung aller verfügbaren theoretitischen<br />
Konfusion so weit gegangen ist, daß ihm nichts zu tun mehr übrig bleibt. Durch das<br />
Bernsteinsche Buch hat der Opportunismus seine Entwicklung in der Theorie (wie durch<br />
die Schippelsche Stellungnahme zur Frage des Militarismus in der Praxis)S vollendet,<br />
seine letzten Konsequenzen gezogen.<br />
Und die Marxsche Lehre ist nicht nur imstande, ihn theoretisch zu widerlegen, sondern<br />
sie ist es allein, die in der Lage ist, den Opportunismus als geschichtliche Erscheinung in<br />
dem Werdegange der Partei auch zu erklären. Der weltgeschichtliche Vormarsch des<br />
Proletariats bis zu seinem Siege ist tatsächlich »keine so einfache Sache«. <strong>Die</strong> ganze<br />
Besonderheit dieser Bewegung liegt darin, daß hier zum erstenmal in der Geschichte die<br />
Volksmassen selbst und gegen alle herrschenden Klassen ihren Willen durchsetzen,<br />
diesen Willen aber ins jenseits der heutigen Gesellschaft, über sie hinaus setzen müssen.<br />
<strong>Die</strong>sen Willen können sich die Massen aber wiederum nur im beständigen Kampfe mit<br />
der bestehenden Ordnung, nur in ihrem Rahmen ausbilden. <strong>Die</strong> Vereinigung der großen<br />
Volksmasse mit einem über die ganze bestehende Ordnung hinausgehenden Ziele, des<br />
alltäglichen Kampfes mit der großen Weltreform, das ist das große Problem der<br />
sozialdemokratischen Bewegung, die sich auch folgerichtig auf dem ganzen<br />
Entwicklungsgange zwischen den beiden Klippen: zwischen dem Aufgeben des<br />
Massencharakters und dem Aufgeben des Endziels, zwischen dem Rückfall in die Sekte<br />
und dem Umfall in die bürgerliche Reformbewegung, zwischen Anarchismus und<br />
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