Kapitel vier – Textanalyse der Apokalypse und deren Aussage
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I<br />
Analyse <strong>der</strong> Bedeutung <strong>der</strong> Medienereignisse vom 11. September 2001 in New<br />
York aufgr<strong>und</strong> <strong>der</strong> Analyse von Apokalyptik <strong>und</strong> <strong>Apokalypse</strong><br />
I.1 Apokalyptik <strong>und</strong> <strong>Apokalypse</strong><br />
Der Begriff <strong>Apokalypse</strong> geht auf die Offenbarung des Johannes, das letzte Buch des Neuen<br />
Testaments, zurück. Die wörtliche Übersetzung des einleitenden Wortes des Originaltexts,<br />
Αποκάλυψις, lautet Offenbarung o<strong>der</strong> Enthüllung. 1 Der Begriff <strong>Apokalypse</strong> wurde schon in <strong>der</strong> Antike<br />
verwendet, um diese Literaturgattung zu benennen, <strong>der</strong> Begriff Apokalyptik entstand im 19.<br />
Jahrhun<strong>der</strong>t <strong>und</strong> benennt die den <strong>Apokalypse</strong>n zugr<strong>und</strong>e liegende Geisteshaltung. 2<br />
In einer <strong>Apokalypse</strong> werden das Ende <strong>der</strong> bestehenden <strong>und</strong> das Heraufkommen einer neuen Welt<br />
vorhergesagt. Dabei werden Wahrheiten über den Zustand <strong>der</strong> Welt <strong>und</strong> die Kategorien Gut <strong>und</strong> Böse<br />
enthüllt. Die bestehende Welt mit ihren wi<strong>der</strong>streitenden Deutungssystemen wird zerstört <strong>und</strong> eine<br />
neue, rein gute Welt erscheint, in <strong>der</strong> alles nur noch nach einem einzigen Deutungssystem geordnet<br />
ist. 3<br />
Die Erzählerfigur einer <strong>Apokalypse</strong> ist menschlich. Ihr offenbaren sich in Träumen o<strong>der</strong> Visionen<br />
außerweltliche Wesen, die ihr „[…] eine zeitlich o<strong>der</strong> räumlich transzendente Realität“ 4 enthüllen.<br />
Diese transzendente Realität ist eine Bestätigung des Glaubens des Erzählenden. Die moralischen<br />
Werte <strong>und</strong> religiöse Vorstellungen von <strong>der</strong> idealen Weltordnung werden in <strong>der</strong> kommenden Welt<br />
manifest. Die Bestätigung des Glaubens des Erzählers setzt schon mit <strong>der</strong> Zerstörung <strong>der</strong> bekannten<br />
Welt ein. Diese geschieht schrittweise <strong>und</strong> umfasst verschiedene Bestrafungen für die Ungläubigen.<br />
Vor <strong>der</strong> Entstehung <strong>der</strong> neuen Welt werden alle Ungläubigen vernichtet <strong>und</strong> das Prinzip des Bösen, im<br />
Christentum <strong>und</strong> im Islam <strong>der</strong> Antichrist, wird gebannt. 5 Zur Aufzeigung <strong>der</strong> formalen Kriterien <strong>der</strong><br />
<strong>Apokalypse</strong> wird hier zuerst die religionshistorische Entwicklung herangezogen. Darauf folgt eine<br />
Ergänzung <strong>der</strong> Charakteristika <strong>der</strong> klassischen <strong>Apokalypse</strong> <strong>und</strong> die Darstellung <strong>der</strong> historischen<br />
Entwicklung des Genres in Orient <strong>und</strong> Okzident.<br />
Im weiteren Verlauf des <strong>Kapitel</strong>s werden verschiedene Analysen <strong>der</strong> Textstruktur von <strong>Apokalypse</strong>n<br />
vorgestellt. Hierbei wird sich vor allem auf die Beantwortung <strong>der</strong> Frage nach <strong>der</strong> Funktion des Genres<br />
<strong>und</strong> <strong>der</strong> Begründung für den Symbolreichtum <strong>der</strong> Texte konzentriert.<br />
I.1.1<br />
Die religionshistorische Entwicklung <strong>der</strong> <strong>Apokalypse</strong><br />
Die <strong>Apokalypse</strong> entstand im Rahmen des antiken Judentums. Als Quellen für diese Literaturgattung<br />
können die Prophetie <strong>und</strong> die Weisheit genannt werden. 6 Die Prophetie steht insofern in Bezug zur<br />
<strong>Apokalypse</strong>, als dass in beiden Genres die Texte als Visionsbericht verfasst werden. Die<br />
alttestamentarische Weisheit geht <strong>der</strong> <strong>Apokalypse</strong> in dem Sinne voraus, dass sie Erzählungen<br />
umfasst, die den Zusammenhang von Tun <strong>und</strong> Ergehen erörtern. Während im Rahmen <strong>der</strong> Weisheit<br />
1<br />
Vgl. PREUSCHEN, Erwin: Griechisch-deutsches Taschenwörterbuch zum Neuen Testament. 1996, S. 36.<br />
2<br />
Vgl. KIPPENBERG, Hans G.: Apokalyptik / Messianismus / Chiliasmus. In: CANCIK, Hubert; GLADIGOW,<br />
Burkhard; LAUBSCHER, Matthias: Handbuch religionswissenschaftlicher Gr<strong>und</strong>begriffe. 1990, S. 9.<br />
3<br />
Vgl. BROKOFF, Jürgen: Die <strong>Apokalypse</strong> in <strong>der</strong> Weimarer Republik. 2001, S. 21.<br />
4<br />
KIPPENBERG, Hans G., a.a.O., S. 9.<br />
5<br />
Vgl. BROKOFF, Jürgen, a.a.O., S. 21 <strong>und</strong> COOK, David: Contemporary Muslim Apocalyptic Literature. 2005, S.<br />
9.<br />
6<br />
Vgl. KIPPENBERG, Hans G., a.a.O., S. 16.<br />
1
noch einzelne Fälle wie <strong>der</strong> des Hiob dargestellt werden, verhandelt die <strong>Apokalypse</strong> die gesamte<br />
Weltordnung.<br />
Ein weiteres Kennzeichen <strong>der</strong> <strong>Apokalypse</strong>, das auf die jüdische Literatur zurückgeht, ist die<br />
Pseudepigraphie. Hiermit ist gemeint, dass die Autoren nicht unter ihren eigenen Namen, son<strong>der</strong>n<br />
unter denen legendärer Personen <strong>der</strong> Vergangenheit schrieben. 7 So wurde es zum einen möglich, die<br />
Prophezeiungen <strong>der</strong> Texte auf die Gegenwart zu beziehen <strong>und</strong> zum an<strong>der</strong>en starke Kritik an <strong>der</strong><br />
herrschenden Ordnung zu äußern.<br />
Die Vorzeichen in den apokalyptischen Texten waren hauptsächlich auf die geltenden sozialen<br />
Normen bezogen. 8 So galt die Auflösung <strong>der</strong> traditionellen gesellschaftlichen Ordnung als Hinweis auf<br />
das bevorstehende Ende <strong>der</strong> Welt. Gleichzeitig waren die Texte häufig gegen die Herrschaft <strong>der</strong><br />
Hellenen <strong>und</strong> <strong>der</strong> Römer gerichtet. Außerdem versprachen sie eine Befreiung <strong>der</strong> Unterdrückten,<br />
wenn sie die prophezeite Gottesherrschaft mit einer Entlassung <strong>der</strong> Schuldsklaven in Verbindung<br />
brachten. 9<br />
Die Prägung <strong>der</strong> Endzeitvorstellungen im antiken Judentum wurde im Christentum übernommen.<br />
Dazu gehören die Figur des Menschensohns, <strong>der</strong> die Erlösung bringt <strong>und</strong> die Erwartung, dass das<br />
Reich Gottes zeitlich nahe ist. Zu den Vorzeichen des Endes <strong>der</strong> Welt wurde die Figur des Antichrist<br />
hinzugefügt. Die Kritik an <strong>der</strong> bestehenden Weltordnung resultierte in einer ablehnenden Haltung <strong>der</strong><br />
frühen Christen gegenüber den Gemeinden, in denen sie lebten. Diese öffentliche Kritik führte immer<br />
wie<strong>der</strong> zu Christenverfolgungen. So entstand die positiv besetzte Rolle des Märtyrers im christlichen<br />
Kontext. 10<br />
Obwohl die Vorstellung von einem jüngsten Gericht über alle Menschen in Mohammeds Prophetie<br />
elementar war, verbreiteten sich erst nach <strong>der</strong> Kodifizierung des Qur’an apokalyptische Vorstellungen,<br />
die sich auf das kommende Reich bezogen. Die literarische Form, in die die apokalyptischen Inhalte<br />
im Islam gefasst wurden, ist die des Hadith. Zentral ist in diesem Texten die Vorstellung, dass die Erde<br />
in <strong>der</strong> Endzeit von einem Mahdī ,(مهدي) einem (von Allah) Rechtgeleiteten, beherrscht werden wird. Im<br />
Laufe <strong>der</strong> islamischen Geschichte haben sich verschiedene Gruppierungen gebildet, die ihr spirituelles<br />
Oberhaupt als den rechtgeleiteten Imam anerkannten. Dabei kann dieser Glauben auch über den Tod<br />
<strong>der</strong> Person hinausgehen. Diese Konzeption wird ermöglicht durch den Glauben daran, dass <strong>der</strong> Mahdī<br />
nach seinem irdischen Tod nur verborgen sei <strong>und</strong> wie<strong>der</strong>kehren werde. Die verschiedenen<br />
Gruppierungen, die an einen Mahdī glaubten, hatten die Glaubensvorstellungen gemeinsam, dass die<br />
Kenntnis des Imam (امام) o<strong>der</strong> Mahdī <strong>und</strong> die Treue zu ihm zur Erlösung führe. Bei einigen Gruppen<br />
führte diese Vorstellung zu <strong>der</strong> Konzeption, dass die Kenntnis des <strong>und</strong> Treue zum Mahdī die<br />
Gläubigen von <strong>der</strong> Verpflichtung gegenüber den weltlichen Gesetzen entbinde. Im Gegensatz zur<br />
jüdisch-christlichen Tradition ist die islamische weniger in einer literarischen Form tradiert <strong>und</strong> hat<br />
mehr die Funktion <strong>der</strong> Gruppenbildung. In <strong>der</strong> islamischen Geschichtsschreibung wird von<br />
revolutionären Gruppen berichtet, die von einem Mahdī geleitet wurden. Diese Gruppierungen<br />
befanden sich meist in <strong>der</strong> Opposition zur institutionalisierten Geistlichkeit, <strong>der</strong> ’ulamā. Deren religiöse<br />
7<br />
Vgl. ebd., S. 16.<br />
8<br />
Vgl. ebd., S. 18.<br />
9<br />
Vgl. ebd., S. 17.<br />
10<br />
Vgl. ebd., S. 21.<br />
2
Autorität wurde durch die Mahdī-Bewegungen untergraben. 11<br />
Aus <strong>der</strong> religionshistorischen Perspektive heraus lassen sich abschließend folgende Formmerkmale<br />
erfassen:<br />
a) Offenbarung einer transzendenten Wahrheit von einem außerweltlichen Wesen an einen<br />
Menschen (Judentum <strong>und</strong> Christentum)<br />
b) Bezug <strong>der</strong> offenbarten Wahrheit auf die herrschende Weltordnung (Judentum, Christentum<br />
<strong>und</strong> Islam)<br />
c) Darstellung des Geschehens als Vision (Judentum <strong>und</strong> Christentum)<br />
d) Gericht über die gesamte Welt; Einteilung <strong>der</strong> Welt in Gut <strong>und</strong> Böse (Judentum, Christentum<br />
<strong>und</strong> Islam)<br />
e) Pseudepigraphie (Judentum <strong>und</strong> Christentum)<br />
f) Bezug <strong>der</strong> Vorzeichen <strong>der</strong> Endzeit auf die herrschende soziale Ordnung (Judentum)<br />
g) Repräsentant Gottes kämpft mit seinem Antagonisten um die Weltherrschaft (Christentum <strong>und</strong><br />
Islam)<br />
h) Treue zum wahren Gott <strong>und</strong> seinem Repräsentanten als Voraussetzung <strong>der</strong> Erlösung<br />
(Christentum <strong>und</strong> Islam)<br />
i) Naherwartung des Endes <strong>der</strong> bekannten Welt (Judentum <strong>und</strong> Christentum)<br />
j) Positive Wertung von Märtyrern (Christentum)<br />
k) Tradierung in literarischer Form (Judentum <strong>und</strong> Christentum)<br />
l) Funktion <strong>der</strong> Gruppenbildung (Islam)<br />
m) Opposition zur herrschenden Bevölkerungsgruppe (Christentum, Islam)<br />
Im folgenden Text werden weitere Formmerkmale <strong>der</strong> <strong>Apokalypse</strong> <strong>und</strong> <strong>der</strong> Apokalyptik<br />
zusammengetragen. Dabei geht es darum, den Schritt von <strong>der</strong> Antike in die Neuzeit zu machen.<br />
I.1.2<br />
Bernd U. Schippers Zusammenstellung <strong>der</strong> Kriterien klassischer <strong>Apokalypse</strong>n <strong>und</strong> die<br />
Herstellung des Gegenwartsbezugs<br />
Der Religionswissenschaftler Bernd U. Schipper beschäftigt sich im Rahmen seiner Forschung unter<br />
an<strong>der</strong>em mit <strong>der</strong> Apokalyptik in Antike <strong>und</strong> Neuzeit. Daher ist seine Arbeit beson<strong>der</strong>s dazu geeignet,<br />
den Gegenwartsbezug dieser Geisteshaltung herzustellen.<br />
In seinem Text Das Ende des Diskurses 12 benennt <strong>der</strong> Autor die siebziger Jahre des zwanzigsten<br />
Jahrhun<strong>der</strong>ts als Moment, in dem die Apokalyptik populär wurde. Er weist darauf hin, dass die häufige<br />
Verwendung des Begriffs Apokalyptik im öffentlichen Diskurs mit einem Zeitraum zusammenfällt, in<br />
dem eine elementare Verän<strong>der</strong>ung des Begriffs Religion stattfand. Diese Verän<strong>der</strong>ung ist die hier<br />
schon besprochene Ablösung des Religionsbegriffs von den institutionalisierten Formen von Religion<br />
<strong>und</strong> die damit einhergehende Revision <strong>der</strong> Wahrnehmung <strong>der</strong> Gesellschaft als säkular. 13<br />
Zur ersten Bestimmung zieht Schipper das 1988 erschienene Buch Die <strong>Apokalypse</strong> in Deutschland<br />
von Klaus Vondung heran. 14 Dieser bestimmt die <strong>Apokalypse</strong> als eine Symbolik, die zur Verarbeitung<br />
11<br />
Vgl. ebd., S. 22f.<br />
12<br />
SCHIPPER, Bernd U.: Das Ende des Diskurses. Apokalyptische Rede im ausgehenden zwanzigsten<br />
Jahrhun<strong>der</strong>t. In: LUCHESI, Brigitte; STUCKRAD, Kocku von (Hrsg.): Religion im kulturellen Diskurs. Festschrift<br />
für Hans G. Kippenberg zu seinem 65. Geburtstag. 2004, S. 377<strong>–</strong>399.<br />
13<br />
Vgl. ebd., S. 378.<br />
14<br />
VONDUNG, Klaus: Die <strong>Apokalypse</strong> in Deutschland. 1988.<br />
3
von Ängsten bezüglich <strong>der</strong> gegenwärtigen <strong>und</strong> <strong>der</strong> zukünftigen gesellschaftlichen Situation dient. Er<br />
benennt sie als „Symbolik <strong>der</strong> Erfahrungsauslegung“. 15 Der symbolhafte Charakter apokalyptischer<br />
Texte gilt neben <strong>der</strong> Beschreibung des Untergangs <strong>der</strong> bekannten Welt als Hauptkriterium für ihre<br />
Bestimmung. Bernd U. Schipper nennt in seinem Text weitere Beispiele aus <strong>der</strong> Theologie, in <strong>der</strong>en<br />
Rahmen die Funktion <strong>der</strong> Apokalyptik als die <strong>der</strong> Verarbeitung von Weltangst benannt wird. Durch die<br />
Bestimmung <strong>der</strong> Funktion des Genres wird gleichzeitig ein Charakteristikum <strong>der</strong> Autoren<br />
apokalyptischer Texte festgelegt. Sie gehören zu einer Gruppe von Menschen, die die aktuellen<br />
gesellschaftlichen Entwicklungen für gefährlich halten <strong>und</strong> befürchten, dass diese die Zukunft<br />
beherrschen werden. Um ihre Angst vor <strong>der</strong> wahrgenommenen Bedrohung zu bannen, imaginieren sie<br />
in apokalyptischen Texten eine unausweichliche katastrophale Entwicklung, die zur völligen<br />
Vernichtung des Schlechten <strong>und</strong> zum Überleben des Guten führt. 16<br />
Die Frage nach den Erfahrungen, die <strong>der</strong> Produktion apokalyptischer Texte zugr<strong>und</strong>e liegen, wird von<br />
Vondung, so Bernd U. Schipper allerdings unter falschen Voraussetzungen gestellt. Zentral sei<br />
nämlich, dass sich die Bedeutung des Begriffs Apokalyptik vom griechischen Wort für ‚enthüllen’<br />
ableite <strong>und</strong> eben nicht vom Wort für ‚Weltende’. Damit sei die Funktion <strong>der</strong> Texte primär auf die<br />
Enthüllung ausgerichtet. 17<br />
Im folgenden Text stellt <strong>der</strong> Religionswissenschaftler weiter Charakteristika <strong>der</strong> Geisteshaltung <strong>der</strong><br />
Apokalyptik zusammen. Elementar für die Beschreibung <strong>der</strong> Apokalyptik ist das bipolare Denken. 18<br />
Das bedeutet eine klare <strong>und</strong> eindeutige Unterscheidung aller beschriebenen Phänomene in zwei<br />
semantische Fel<strong>der</strong> o<strong>der</strong>, entsprechend <strong>der</strong> klassischen Apokalyptik, zwei Äonen. Die absolut<br />
gewerteten Kriterien für die Unterscheidung sind ‚Gut‘ <strong>und</strong> ‚Schlecht‘. Die in <strong>der</strong> Apokalyptik<br />
vorgestellte Situation ist die des Übergangs zwischen den beiden Zuständen. Enthüllt wird also die<br />
Existenz des rein guten Daseins <strong>und</strong> zusätzlich dessen Nähe zur Gegenwart.<br />
Der Reichtum <strong>der</strong> Texte an Metaphern <strong>und</strong> symbolischer Sprache wird von Schipper mit dem Gegenstand<br />
<strong>der</strong> Beschreibung begründet. Für die Darstellung einer bis dato nicht existenten Wirklichkeit<br />
müsse die Sprache <strong>der</strong> meist transzendent gedachten Daseinsform angepasst werden. Um das rein<br />
Gute darzustellen, können nur Symbole für gutes in ihrer höchsten Potenz verwendet werden, da es<br />
keine real existierende rein gute Welt gibt.<br />
Als nächstes Charakteristikum benennt <strong>der</strong> Autor den Zeit <strong>und</strong> Geschichtsbegriff apokalyptischer<br />
Texte, in denen die Zukunft aus <strong>der</strong> Vergangenheit hergeleitet wird. Die dahinter stehende Logik ist<br />
die, dass von <strong>der</strong> Vergangenheit bis in das Jetzt hinein eine fortschreitend negative Entwicklung<br />
stattgef<strong>und</strong>en hat, aufgr<strong>und</strong> von <strong>der</strong>en Bestehen die Zukunft als weitere Steigerung bis hin zum<br />
Kollaps vorhergesagt wird. Auf den Zusammenbruch folgt dann die absolute Umkehr des Prozesses.<br />
Weiteres Kennzeichen des Genres ist <strong>der</strong> Rückgriff auf den einer Kultur innewohnenden Vorrat an<br />
Zeichen aus literalen Traditionen sowie auf das „[…] kulturelle[…] Gedächtnis <strong>der</strong> jeweiligen Religion<br />
[…]“. 19 Durch die Verwendung von Zeichen aus bestimmten kulturellen Vorräten wird an die jeweilig<br />
aktuellen Diskurse angeknüpft.<br />
Des Weiteren werden die Texte durch die Mischung verschiedener literarischer Genres<br />
15<br />
Ebd., S. 70.<br />
16<br />
Vgl. Schipper, Bernd U., a.a.O., S. 380.<br />
17<br />
Vgl. ebd.<br />
18<br />
Vgl. ebd., S. 381.<br />
19<br />
Ebd., S. 381.<br />
4
eziehungsweise die Bildung eines „mixtum compositum“ 20 gekennzeichnet. Sie enthalten meist einen<br />
Erzählrahmen, <strong>der</strong> eine Vision im Traum o<strong>der</strong> während einer Himmelsreise beschreibt. Daneben<br />
beinhalten apokalyptische Texte weitere Elemente aus an<strong>der</strong>en Gattungen. Schipper nennt als<br />
Beispiele hier paränetische Ermahnungen, Visionen <strong>und</strong> Hymnen. Durch diese Mischform <strong>und</strong> den<br />
komplizierten Aufbau <strong>der</strong> Texte greift eine klassische Formanalyse bei ihnen häufig nicht.<br />
Nach <strong>der</strong> Zusammenstellung <strong>der</strong> Kriterien klassischer apokalyptischer Texte leitet Bernd U. Schipper<br />
anhand <strong>der</strong> Arbeit von Jürgen Brokoff in die Gegenwart über. Er betont dabei dessen Analyse <strong>der</strong><br />
Funktion apokalyptischer Texte, die im Abschnitt IV.2.1 vorgestellt wird.<br />
Aus dieser Analyse lassen sich folgende Rückschlüsse auf die Ereignisse vom 11. September 2001<br />
ziehen: Durch das Erscheinen anthropologisch konstanter Bil<strong>der</strong> in den Nachrichten kann das<br />
Kriterium des ‚mixtum compositum‘ auch auf die Berichterstattung zu den Anschlägen angewendet<br />
werden. Die Funktion dieser Bil<strong>der</strong> wie<strong>der</strong>um kann durch die Analyse <strong>der</strong> Apokalyptik als enthüllend<br />
bestimmt werden. Die <strong>Aussage</strong> <strong>der</strong> Anschläge wäre dementsprechend erfassbar als Ankündigung<br />
eines Umbruchs beziehungsweise des bevorstehenden Endes <strong>der</strong> herrschenden Weltordnung.<br />
I.1.3 Apokalyptik in <strong>der</strong> Gegenwart in Christentum <strong>und</strong> Islam<br />
Für eine Untersuchung <strong>der</strong> gegenwärtigen christlichen Apokalyptik muss zwischen <strong>der</strong> europäischen<br />
<strong>und</strong> <strong>der</strong> US-amerikanischen Form unterschieden werden. Gemeinsamkeiten liegen in <strong>der</strong> historischen<br />
Gr<strong>und</strong>lage <strong>der</strong> gegenwärtigen gesellschaftlichen Ordnung des Okzidents. Wichtigen Einfluss auf die<br />
gegenwärtige Apokalyptik haben die Bewegungen, die von <strong>der</strong> europäischen Aufklärung <strong>und</strong> <strong>der</strong><br />
französischen Revolution ausgelöst wurden. 21 Dabei spielen für die konkreten apokalyptischen<br />
Vorhersagen die den verschiedenen Konfessionen innewohnenden Glaubensvorstellungen <strong>und</strong> die<br />
Nationalität <strong>der</strong> apokalyptischen Propheten eine wichtige Rolle.<br />
Im Rahmen <strong>der</strong> protestantischen Apokalyptik, <strong>der</strong>en Schwerpunkt in Großbritannien lag, bezogen sich<br />
die verschiedenen Vorhersagen nach <strong>der</strong> französischen Revolution auf diese Umwälzung als göttlich<br />
vorhergesehenes Ereignis. Dabei waren unterschiedliche Wertungen möglich. So sah <strong>der</strong> ehemalige<br />
Leutnant Richard Brothers (1757<strong>–</strong>1824) die Revolution als Ankündigung des gesamteuropäischen<br />
Endes <strong>der</strong> Monarchie <strong>und</strong> als von Gott gewollte positive Entwicklung. Sich selbst betrachtete er als<br />
Neffen des Allmächtigen <strong>und</strong> als Verkün<strong>der</strong> einer bevorstehenden großen Verän<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Welt.<br />
Richard Brothers wurde 1795 unter <strong>der</strong> Anklage ein Jakobiner zu sein verhaftet. Joanna Southcott<br />
(1750<strong>–</strong>1814), die ab 1792 öffentlich verkündete, sie habe Visionen gehabt, in denen ihr mitgeteilt<br />
wurde, sie sei zur Braut des Herrn bei seiner Rückkehr auf die Erde auserkoren, sah sich als Brothers‘<br />
Nachfolgerin. Auch sie betrachtete die französische Revolution als Beginn des Jüngsten Gerichts, ging<br />
aber davon aus, dass nicht Frankreich, son<strong>der</strong>n England den Krieg, den sie als heilig betrachtete,<br />
gewinnen <strong>und</strong> damit zum Ursprung <strong>der</strong> neuen Weltordnung würde. Spätere Apokalyptiker wie zum<br />
Beispiel <strong>der</strong> Schotte John Cumming (1807<strong>–</strong>1881) sahen die Erfüllung biblischer Prophezeiungen in<br />
<strong>der</strong> beginnenden zionistischen Bewegung, die beinhaltete, dass die Juden in ihre biblische Heimat<br />
zurückkehrten. Eine apokalyptische Bewegung, die sich bis in die USA verbreitete, waren die von dem<br />
20<br />
Ebd., S. 381.<br />
21<br />
Vgl. ZIMDARS-SWARTZ, Paul F.; ZIMDARS-SWARTZ, Sandra: Apocalypticism in Mo<strong>der</strong>n Western Europe. In: STEIN,<br />
Stephen J. (Hrsg.): The Encyclopedia of Apocalypticism. Apocalypticism in the Mo<strong>der</strong>n Period and the<br />
Contemporary Age. 2000, S. 266.<br />
5
irischen Geistlichen John Nelson Darby (1800<strong>–</strong>1882) geleiteten ‚Brethren’. Darbys Ansatz ging davon<br />
aus, dass die Geschichte in verschiedene Dispensationen beziehungsweise verschiedene Perioden,<br />
aufgeteilt sei. In diesem Zusammenhang sah er die zu seiner Lebenszeit aktuelle Dispensation als die<br />
<strong>der</strong> Kirche, in <strong>der</strong> biblische Prophezeiungen nicht zuträfen. Die einzige Hoffnung, die Darby versprach,<br />
war eine geheime Ekstase, durch die die wahren Jünger Christi in den Himmel hinaufgetragen<br />
würden, um dort ihren Herrn zu treffen. Diese heimliche Ekstase konnte zu jedem Zeitpunkt eintreten<br />
<strong>und</strong> würde <strong>der</strong> Rückkehr Christi zur Erde vorausgehen. 22<br />
Im Rahmen <strong>der</strong> römisch-katholischen Kirche waren vor allem in Frankreich apokalyptische<br />
Bewegungen aktiv. Zentral in den Prophezeiungen dieser Gruppen waren die Rolle Frankreichs in <strong>der</strong><br />
endgültigen Erfüllung <strong>der</strong> menschlich-weltlichen Geschichte <strong>und</strong> Visionen <strong>und</strong> Botschaften von Maria,<br />
<strong>der</strong> Mutter Gottes. Die Empfänger dieser Visionen waren häufig Kin<strong>der</strong>, die in armen ländlichen<br />
Gebieten aufwuchsen. 23 Wichtiges Element solcher Marienvisionen war, dass den Sehern<br />
Geheimnisse mitgeteilt wurden, die das Schicksal <strong>der</strong> gesamten Welt betreffen sollten. Solche<br />
Geheimnisse wurden von den Kin<strong>der</strong>n dann Stück für Stück veröffentlicht o<strong>der</strong> in Briefen an religiöse<br />
Autoritäten weitergegeben. Die Botschaften von Maria beinhalteten vor allem die Auffor<strong>der</strong>ung zur<br />
Rückkehr zu traditionellen Glaubensformen, die Wertung von starken Krisen wie dem ersten Weltkrieg<br />
als Strafen Gottes für die herrschende Ungläubigkeit <strong>und</strong> die For<strong>der</strong>ung nach dem Aufbau einer neuen<br />
religiösen Gemeinschaft, die unter <strong>der</strong> Leitung <strong>der</strong> Seher eine entscheidende Rolle für das Kommen<br />
von Gottes Reich spielen solle. 24 Noch 1963 galt die heimliche Weitergabe des letzten Geheimnisses<br />
von Lucia dos Santos an die Regierungen von Großbritannien, <strong>der</strong> USA <strong>und</strong> <strong>der</strong> Sowjetunion als<br />
<strong>der</strong>en Motivation für das Aufsetzen <strong>und</strong> Abschließen des Vertrags gegen Atomtest zu Lande, im<br />
Wasser <strong>und</strong> in <strong>der</strong> Luft vom 06. August 1963. 25<br />
Die dritte apokalyptische Strömung in Europa war nicht an eine <strong>der</strong> Konfessionen geb<strong>und</strong>en, son<strong>der</strong>n<br />
ideengeschichtlich verankert. Dabei wurden die philosophischen Inhalte <strong>der</strong> Aufklärung mit den<br />
religiösen Traditionen <strong>der</strong> jüdischen <strong>und</strong> christlichen <strong>Apokalypse</strong>n vermischt. Der entscheidende<br />
Unterschied zwischen diesen Modellen <strong>und</strong> den religiösen Ansätzen lag in <strong>der</strong> Rolle <strong>der</strong> Menschheit.<br />
Während Gott im religiösen Kontext als die einzige Kraft galt, die eine gr<strong>und</strong>sätzliche Än<strong>der</strong>ung <strong>der</strong><br />
Weltordnung herbeiführen könne, war diese Rolle in den Szenarien <strong>der</strong> Philosophen <strong>der</strong> Aufklärung<br />
<strong>und</strong> ihrer Nachfolger <strong>der</strong> Menschheit zugedacht. 26 Diese Konzepte, <strong>der</strong>en religiöser Einfluss von den<br />
Verfassern nicht immer beabsichtigt war, aber in <strong>der</strong> Geschichtsauffassung <strong>und</strong> <strong>der</strong> Textform nicht von<br />
<strong>der</strong> Hand zu weisen ist, bildeten die Gr<strong>und</strong>lagen für solche politischen Strömungen wie Sozialismus,<br />
Kommunismus <strong>und</strong> Anarchie. 27 Einer <strong>der</strong> ersten Apokalyptiker dieser Richtung war <strong>der</strong> Waliser Robert<br />
Owen (1771<strong>–</strong>1858), <strong>der</strong> seine Theorie über die Entwicklung <strong>der</strong> Welt unter bewusstem Rückgriff auf<br />
jüdische <strong>und</strong> christliche Prophetie gestaltete. Dabei ging er von <strong>der</strong> Existenz einer reinen,<br />
unbefleckten <strong>und</strong> natürlichen Religion aus, die er im Gegensatz zu <strong>der</strong> Religion <strong>der</strong> Kirchen sah, die er<br />
als künstlich qualifizierte. Owen ging davon aus, dass durch die richtige Art <strong>der</strong> Ausbildung <strong>der</strong> Armen<br />
22<br />
Vgl. ebd., S. 267<strong>–</strong>272.<br />
23<br />
Beispiele hierfür sind die Visionen von Mélanie Calvat (1831<strong>–</strong>1904) <strong>und</strong> Maximin Girard (1835<strong>–</strong>1875) ab<br />
dem Jahr 1846 in La Salette in den Französischen Alpen <strong>und</strong> von Lucia dos Santos (1907<strong>–</strong>), Jacinta Marto<br />
(1910<strong>–</strong>1920) <strong>und</strong> Francisco Marto (1908<strong>–</strong>1919) ab dem Jahr 1917 in Fatima, Portugal. Vgl. ebd., S. 276<strong>–</strong>280.<br />
24<br />
Vgl. ebd., S. 276<strong>–</strong>283.<br />
25<br />
Vgl. ebd., S. 282f.<br />
26<br />
Vgl. ebd., S. 284<strong>–</strong>286.<br />
27<br />
Vgl. ebd., S. 285<strong>–</strong>289.<br />
6
<strong>und</strong> Unterdrückten in einer gut geordneten Umgebung das Erreichen einer idealen menschlichen<br />
Gesellschaft möglich sei. Seine Art <strong>der</strong> Weltanschauung, nannte er Sozialismus. 28<br />
Ein weiterer zeitgenössischer Apokalyptiker, <strong>der</strong> in <strong>der</strong> Tradition <strong>der</strong> Aufklärung stand, war Charles<br />
Fourier (1772<strong>–</strong>1837). Auch er ging davon aus, die Lehren des Neuen Testaments in die Praxis<br />
umzusetzen. Dabei sagte er eine f<strong>und</strong>amentale Verän<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Welt voraus, die durch Erfindungen<br />
<strong>und</strong> technologischen Fortschritt <strong>der</strong> Menschen hervorgerufen würde. Seine Lehren bewegten sich<br />
nicht ausschließlich in <strong>der</strong> Tradition des rationalen Denkens, konnten aber durch ihre mitreißenden<br />
Inhalte viele Menschen überzeugen. Auch Karl Marx (1818<strong>–</strong>1883) gehörte zu den Bewun<strong>der</strong>ern von<br />
Fouriers Ansatz. 29<br />
In <strong>der</strong> Entwicklung des theoretischen Hintergr<strong>und</strong>s des Marxismus <strong>und</strong> Kommunismus kamen<br />
dementsprechend auch apokalyptische Elemente zum Tragen. Dies zeigt sich schon allein an <strong>der</strong><br />
zugr<strong>und</strong>e liegenden Geschichtskonzeption, im Rahmen <strong>der</strong>er von verschiedenen Weltzeitaltern <strong>und</strong><br />
Formen <strong>der</strong> Weltordnung ausgegangen wird, die letztendlich zu einer rein guten Welt führen. Der<br />
Russe Michael Bakunin (1814<strong>–</strong>1878) baute auf diesem Ansatz auf, ging aber nicht davon aus, dass<br />
das organisierte Proletariat den Umsturz <strong>der</strong> Weltordnung auslösen werde, son<strong>der</strong>n erwartete einen<br />
freien <strong>und</strong> spontanen Aufstand <strong>der</strong> Massen. Der Neuaufbau <strong>der</strong> Weltordnung nach dieser letzten<br />
Revolution werde, so <strong>der</strong> Autor, auf <strong>der</strong> Basis von Freiheit, Vernunft, Gerechtigkeit <strong>und</strong> Arbeit<br />
geschehen. 30<br />
Während die apokalyptischen Traditionen <strong>der</strong> beiden christlichen Konfessionen im gegenwärtigen<br />
Europa im öffentlichen Diskurs keine große Rolle spielen, bildet die Tradition <strong>der</strong><br />
Fortschrittsgläubigkeit für die aktuelle Apokalyptik eine entscheidende Gr<strong>und</strong>lage. Dabei ist die<br />
momentane Weltordnung, in <strong>der</strong> dem kapitalistischen System keine Formen des Sozialismus o<strong>der</strong><br />
Kommunismus mehr gegenüberstehen, neben dem ständigen technologischen Fortschritt <strong>der</strong> zentrale<br />
Gegenstand. Seit <strong>der</strong> Nutzen neuer Technologien spätestens durch die Erfindung <strong>und</strong> Anwendung von<br />
Nuklearwaffen zumindest zwiespältig betrachtet wird, ist die Frage <strong>der</strong> Balance zwischen Fortschritt<br />
<strong>und</strong> Erhalt <strong>der</strong> natürlichen Ressourcen hauptsächlicher Gegenstand apokalyptischer Texte. Bernd U.<br />
Schipper nennt in seinem Text den Roman Die Rättin von Günter Grass als Beispiel für die<br />
Apokalyptik <strong>der</strong> frühen achtziger Jahre. 31 In diesem Roman werden die Ratten als die den Menschen<br />
überlegene Lebensform dargestellt, was durch ihre größere Verb<strong>und</strong>enheit mit <strong>der</strong> natürlichen<br />
Ordnung <strong>der</strong> Erde begründet wird. Grass warnt hier vor einer stetig fortschreitenden Zivilisierung <strong>und</strong><br />
immer weiter gehendem technologischen Fortschritt <strong>und</strong> schließt damit an den zu Beginn vorgestellten<br />
Kulturbegriff Kants an. Der durch die ökologische Bewegung <strong>der</strong> achtziger Jahre ausgelöste Diskurs<br />
über die Notwendigkeit <strong>der</strong> Erhaltung bestimmter natürlicher Ressourcen hat inzwischen erneut im<br />
Rahmen des Klimawandels die täglichen Nachrichten erreicht.<br />
Obwohl Katastrophenfilme sowohl in Europa als auch den USA insofern eine wichtige kulturelle Rolle<br />
spielen, als dass sie ein großes Publikum anziehen, haben beson<strong>der</strong>s solche Filme, die die<br />
Bedrohung durch eine außerirdische Zivilisation beinhalten auf beiden Kontinenten einen<br />
unterschiedlichen Status. Im Rahmen <strong>der</strong> in den USA vorherrschenden Weltdeutung werden sie als<br />
28<br />
Vgl. ebd., S. 284f.<br />
29<br />
Vgl. ebd., S. 285f.<br />
30<br />
Vgl. ebd., S. 286f.<br />
31<br />
Vgl. SCHIPPER, Bernd U., a.a.O., S. 387.<br />
7
wesentlich realistischer wahrgenommen als in Europa.<br />
Auf <strong>der</strong> politischen Ebene beruht die US-amerikanische Weltsicht darauf, dass die USA von <strong>der</strong><br />
Entstehung ihrer heutigen Form an, als neues <strong>und</strong> gelobtes Land betrachtet wurden, dessen<br />
Bevölkerung, dem Beispiel Israels entsprechend, einen exklusiven B<strong>und</strong> mit Gott hat. Damit einher<br />
geht die Vorstellung, eine Erneuerung <strong>der</strong> Welt müsse von den USA ausgehen. Die<br />
Auseinan<strong>der</strong>setzung mit <strong>der</strong> Problematik des technologischen Fortschritts <strong>und</strong> des Umweltschutzes<br />
verläuft an<strong>der</strong>s als in Europa. Auch in den USA ist die Angst vor <strong>der</strong> endgültigen Zerstörung <strong>der</strong> Erde<br />
durch den ständigen technologischen Fortschritt Teil des öffentlichen Diskurses. Die kulturelle<br />
Entwicklung, die daraus hervorgeht, enthält aber nicht die Botschaft, <strong>der</strong> vorsichtige Umgang mit<br />
natürlichen Ressourcen <strong>und</strong> <strong>der</strong> Verzicht auf Komfort zugunsten des Umweltschutzes könne die Erde<br />
retten, son<strong>der</strong>n generiert Hoffnung aus dem Glauben, außerirdische Lebensformen würden eine<br />
bestimmte Gruppe von Menschen retten. Eine 1996 durchgeführte Umfrage <strong>der</strong> Newsweek in den<br />
USA ergab, dass fast die Hälfte <strong>der</strong> US-Amerikaner an die Existenz von UFOs glaubt <strong>und</strong> davon<br />
ausgeht, dass die US-amerikanische Regierung die Wahrheit hierüber geheim hält. Beinahe die Hälfte<br />
dieser Gruppe geht davon aus, dass die UFOs von Außerirdischen geflogen werden, die Kontakt zur<br />
Erdbevölkerung suchen. 32 Zahlreiche Berichte über Entführungen von Menschen durch Außerirdische<br />
verweisen auf eine ähnliche Glaubensintensität wie sie schon Voraussetzung für die früheren<br />
Marienvisionen war. 33<br />
Für diese Art des apokalyptischen Glaubens spielen einige Medieninhalte eine wichtige Rolle. So<br />
waren verschiedene Science-Fiction-Serien elementare Bestandteile <strong>der</strong> Glaubensvorstellungen einer<br />
Gruppe namens Heavens Gate, <strong>der</strong>en Mitglie<strong>der</strong> 1997 einen Massenselbstmord verübten. In den<br />
Videobotschaften, die verschiedene <strong>der</strong> Gruppenmitglie<strong>der</strong> hinterließen, erklärten sie die Inhalte<br />
verschiedener Science-Fiction-Serien wie Star Trek zu Gegenständen ihres Glaubens. Dabei gingen<br />
sie davon aus, enthüllt zu haben, dass <strong>der</strong>en Erzählungen nicht rein fiktional seien. 34 Vor diesem<br />
Hintergr<strong>und</strong> betrachtet, haben die Katastrophenfilme <strong>der</strong> neunziger Jahre einen an<strong>der</strong>en<br />
Realitätsbezug als im Zusammenhang mit dem europäischen Weltbild.<br />
Wo also die im Rahmen <strong>der</strong> europäischen Apokalyptik die Verantwortung für die Entwicklung <strong>der</strong> Erde<br />
vor allem bei den Menschen liegt, wird in den USA entwe<strong>der</strong> die Bedrohung <strong>der</strong> Erde o<strong>der</strong> die Rettung<br />
vor <strong>der</strong> Zerstörung viel stärker externalisiert. Diese Art <strong>der</strong> Wahrnehmung schließt direkter an<br />
traditionell religiöse Denkweisen an als diejenige, die in Europa den öffentlichen Diskurs dominiert.<br />
Im Orient geht die Mo<strong>der</strong>nisierung <strong>der</strong> Apokalyptik mit einer Än<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> traditionellen religiösen<br />
Strukturen einher. Das apokalyptische Material des Islam wurde wie alle an<strong>der</strong>en Bereiche auch von<br />
<strong>der</strong> ’ulamā archi<strong>vier</strong>t <strong>und</strong> verwaltet. Traditionell spielt es keine wichtige Rolle im muslimischen<br />
Glauben. Seit Beginn <strong>der</strong> achtziger Jahre jedoch wird dieses Material von Predigern <strong>und</strong> politischen<br />
Theoretikern, die von den religiösen Autoritäten nicht anerkannt werden, neu interpretiert. Sie bilden<br />
die Radikale Schule. Ihnen gegenüber stehen die ’ulamā <strong>und</strong> die Neokonservativen. Seit <strong>der</strong><br />
Neuinterpretation <strong>der</strong> Radikalen Schule arbeiten auch die ’ulamā <strong>und</strong> die Neokonservativen verstärkt<br />
mit apokalyptischem Material.<br />
Die wichtigste Neuerung <strong>der</strong> muslimischen Apokalyptik ist die Aufnahme biblischen Materials in die<br />
32<br />
Vgl. O’Leary, Stephen D., a.a.O., S. 395.<br />
33<br />
Vgl. ebd.<br />
34<br />
Vgl. ebd., S. 394.<br />
8
Glaubensvorstellungen. Das ist zum einen darin begründet, dass original muslimische apokalyptische<br />
Texte einen sehr geringen Umfang haben, zum an<strong>der</strong>en steht die Radikale Schule den traditionellen<br />
Texten kritisch gegenüber. Zudem entspricht die Neuinterpretation von zentralen christlichen <strong>und</strong><br />
jüdischen Vorstellungen <strong>der</strong> Beanspruchung einer Deutungshoheit über das Material.<br />
Vorstellungen, die aus biblischen Texten übernommen wurden, betreffen hauptsächlich die<br />
Wie<strong>der</strong>kehr Christi am Ende <strong>der</strong> Welt, den Kampf mit dem Antichrist beziehungsweise dessen<br />
kurzzeitige Weltherrschaft <strong>und</strong> die Vorstellung von einem Jüngsten Gericht. Die Anwendung dieser<br />
Vorstellungen findet sich häufig in <strong>der</strong> Interpretation politischer Ereignisse o<strong>der</strong> politischer Personen.<br />
So gibt es Texte, in denen Bill Clinton, Benjamin Netanjahu o<strong>der</strong> George W. Bush als <strong>der</strong> Antichrist<br />
beschrieben werden. Aber auch Persönlichkeiten, <strong>der</strong>en Berühmtheit nicht auf politische Tätigkeiten<br />
zurückzuführen ist, wird diese Rolle zugeschrieben. Einer <strong>der</strong> muslimischen apokalyptischen Autoren<br />
ist davon überzeugt, <strong>der</strong> US-amerikanische Zauberer David Copperfield sei <strong>der</strong> Antichrist. Als<br />
Antichrist werden allerdings nicht nur Personen, son<strong>der</strong>n auch kulturelle Gruppen o<strong>der</strong> Nationen<br />
definiert.<br />
Dies betrifft am häufigsten die jüdischen Bewohner Israels. Der Mythos von <strong>der</strong> jüdischen o<strong>der</strong><br />
zionistischen Weltverschwörung kann als Herzstück <strong>der</strong> gegenwärtigen muslimischen Apokalyptik<br />
betrachtet werden. Bücher wie ‚Die Protokolle <strong>der</strong> Weisen von Zion‘ werden im Schulunterricht<br />
verwendet <strong>und</strong> die Frage nach dem Fortschritt <strong>und</strong> <strong>der</strong> Struktur <strong>der</strong> Verschwörung gegen die Muslime<br />
ist Gegenstand von Talkshows, Dokumentarfilmen <strong>und</strong> Nachrichtensendungen.<br />
Neben dem Bild von den USA als zionistisch unterwan<strong>der</strong>tem o<strong>der</strong> eigentlich zionistischem Staat<br />
herrscht in <strong>der</strong> islamischen apokalyptischen Literatur als zweites Motiv die Darstellung <strong>der</strong> USA als<br />
Nachfolge des Volks ‘Ad (آد) vor. Das Volk ‘Ad wird im Qur’an an <strong>vier</strong><strong>und</strong>zwanzig verschiedenen<br />
Stellen genannt. Bei diesen Nennungen handelt es sich um einzelne, kurze <strong>Aussage</strong>n, die durch<br />
Interpretation zu einem Bild zusammengefügt wurden. Die ‘Ad gelten als ein Nomadenvolk, das sich<br />
trotz <strong>der</strong> Warnungen seines Propheten Hud nicht zu Allah bekannte. Auf die Ablehnung des<br />
Bekenntnisses folgte die Zerstörung ihrer Siedlung durch einen Wolkenbruch. Diese Siedlung wird<br />
häufig mit einem Ort namens Iram dhat al-‘imad ( العممماد ذات ارم ) in Verbindung gebracht. Die<br />
tatsächliche historische Existenz dieses Ortes konnte bisher nicht nachgewiesen werden. Im Rahmen<br />
<strong>der</strong> historischen Entwicklung <strong>der</strong> Qur’an Kommentare entstand die Vorstellung, Iram dhat al-‘imad sei<br />
eine große <strong>und</strong> mächtige Stadt mit vielen prächtigen <strong>und</strong> fortschrittlichen Bauwerken gewesen. In <strong>der</strong><br />
Folge wurde die Begründung für die Zerstörung hauptsächlich im durch die Gebäude ausgestellten<br />
Reichtum gesucht. 35 Die Vorstellung, <strong>der</strong> Bau von aufwändigen <strong>und</strong> luxuriösen Gebäuden sei eine<br />
Sünde, die von Allah bestraft würde, rührt aus <strong>der</strong> Naherwartung des Jüngsten Tags aus dem frühen<br />
Islam her. Aufgr<strong>und</strong> <strong>der</strong> Annahme, das Ende sei nah, galt jede überflüssige Investition in die<br />
immanente Welt als verfehlt. 36<br />
Im Qur’an ist jede zur Zeit seiner Entstehung bekannte Region erwähnt worden. Die USA<br />
beziehungsweise Amerika fehlen hierbei. Da sie aber im Orient als stärkste politische, wirtschaftliche<br />
<strong>und</strong> kulturelle Macht wahrgenommen werden <strong>und</strong> <strong>der</strong> Qur’an selbst als göttlich <strong>und</strong> damit unfehlbar<br />
<strong>und</strong> vollständig gilt, haben verschiedene Autoren nach versteckten Hinweisen auf diesen Kontinent<br />
35<br />
Vgl. COOK, David, a.a.O., S. 155.<br />
36<br />
Vgl. ebd.<br />
9
gesucht. Bashir Muhammad ‘Abdallah ist <strong>der</strong> Autor, <strong>der</strong> eine Interpretation <strong>der</strong> ‘Ad als die USA populär<br />
gemacht hat. 37 In seiner Darstellung leitet er aus den Maximen <strong>der</strong> US-amerikanischen Kultur 38 eine<br />
gr<strong>und</strong>sätzliche Bedrohung aller Muslime her. Da <strong>der</strong> muslimische Glaube als natürlicher Zustand <strong>der</strong><br />
Menschen angenommen wird, muss ein Abwenden von dessen Inhalten wie ‘Abdallah es aufzeigt,<br />
bedeuten, dass die Bevölkerung <strong>der</strong> USA von den Zionisten manipuliert ist <strong>und</strong> daher nach <strong>der</strong><br />
Vernichtung des Islams strebt. 39<br />
In seinem Vergleich <strong>der</strong> US-Amerikaner mit dem Volk ‘Ad bezieht er sich auf die angenommene<br />
Übereinstimmung bestimmter Charakteristika bei<strong>der</strong> Gruppen. Dazu gehören technologischer<br />
Fortschritt beson<strong>der</strong>s im Bereich <strong>der</strong> Herstellung von Waffen, 40 eine säkulare, humanistisch<br />
ausgerichtete, Kultur <strong>und</strong> die gesellschaftliche Akzeptanz von Homosexualität. Des Weiteren stellt er<br />
Parallelen zwischen dem schon erwähnten Ort Iram dhat al-‘imad <strong>und</strong> New York her. Dabei leitet er<br />
aus dem Begriff Iram, <strong>der</strong> Säulen bedeutet, her, dass die antike Stadt von Hochhäusern dominiert<br />
worden sei. Darüber hinaus betrachtet <strong>der</strong> Autor beide Städte als gottlos. 41<br />
Den Einfluss dieser Darstellung Bashir Muhammad ‘Abdallahs schätzt David Cook als unklar ein, da<br />
sie zum Zeitpunkt <strong>der</strong> Veröffentlichung seines Buches noch neu war. Er kann allerdings schon auf<br />
positive Reaktionen <strong>und</strong> Nachahmung durch an<strong>der</strong>e Autoren verweisen. 42 Aufgr<strong>und</strong> <strong>der</strong> immensen<br />
Unterschiede bezüglich <strong>der</strong> Buchpublikation <strong>und</strong> <strong>–</strong>distribution zwischen Orient <strong>und</strong> Okzident kann an<br />
dieser Stelle nicht nachvollzogen werden, wie wichtig <strong>der</strong> Autor momentan ist. Als Begründung für die<br />
Anschläge kommt dieser Ansatz nicht in Frage. We<strong>der</strong> in dem Dokument, das im Gepäck Mohammed<br />
Attas gef<strong>und</strong>en wurde <strong>und</strong> als ‚Geistliche Anleitung’ <strong>der</strong> Attentäter gilt, noch in den Reden Osama bin<br />
Ladens wird auf die Vorstellung von den USA als zweites ‘Ad eingegangen. 43<br />
Für die Inhalte von an<strong>der</strong>en Medien, hauptsächlich für das Satelliten-Fernsehen, lässt sich die<br />
Bedeutung apokalyptischer Inhalte für die gegenwärtige muslimische Gesellschaft allerdings<br />
feststellen. Lawrence Pintak zeigt in seinem Text Framing the Other, 44 dass es beson<strong>der</strong>s in <strong>der</strong> Folge<br />
<strong>der</strong> Anschläge vom 11. September 2001 zu einer weiteren starken Verbreitung apokalyptischer<br />
Vorstellungen <strong>und</strong> zu einer Verstärkung antiamerikanischer Ressentiments kam. Dabei zitiert er<br />
Datenerhebungen aus den Jahren 2001 <strong>und</strong> 2003, die eine stark verän<strong>der</strong>te Haltung <strong>der</strong> Mehrheit <strong>der</strong><br />
muslimischen Bevölkerung gegenüber den USA zeigen. Während die USA direkt nach den<br />
Anschlägen hauptsächlich positiv gesehen wurden, herrschte zwei Jahre später eine sehr negative<br />
Wahrnehmung im Orient vor. 45 Pintak begründet dies mit <strong>der</strong> polarisierenden Rhetorik auf <strong>der</strong><br />
politischen Ebene, die von den Medien unreflektiert übernommen wurde. Die unterschiedlichen<br />
37<br />
Vgl. ebd., S. 156.<br />
38<br />
Gemeint ist hier vor allem die individuelle (Glaubens-)Freiheit.<br />
39<br />
Vgl. COOK, David, a.a.O., S. 158.<br />
40<br />
Den ‘Ad wird sogar <strong>der</strong> Besitz nuklearer Waffen nachgesagt. Vgl. ebd., S. 159.<br />
41<br />
Vgl. ebd., S. 160.<br />
42<br />
Vgl. ebd., S. 161.<br />
43<br />
Vgl. KIPPENBERG, Hans G.; SEIDENSTICKER, Tilman (Hrsg.): Terror im Dienste Gottes. Die »Geistliche<br />
Anleitung« <strong>der</strong> Attentäter des 11. September 2001. 2004, S. 17<strong>–</strong>27 <strong>und</strong> ABOU-TAAM, Marwan; BIGALKE, Ruth<br />
(Hrsg.): Die Reden des Osama bin Laden. 2006, S. 155. In <strong>der</strong> Rede vom 29. Oktober 2004 gibt Osama bin<br />
Laden als Begründung für die Anschläge die Rache für die Zerstörung von Städten im Libanon im Rahmen<br />
<strong>der</strong> Vertreibung <strong>der</strong> PLO im Jahr 1982 an. Mohammed Atta gibt in seinem Text weniger Begründungen für<br />
die Anschläge als Anweisungen für die richtige Durchführung <strong>der</strong> Attentate.<br />
44<br />
PINTAK, Lawrence: Framing the Other: Worldview, Rhetoric and Media Dissonance since 9/11. In: POOLE,<br />
Elizabeth; RICHARDSON, John E.: Muslims and the News Media. 2006, S. 188<strong>–</strong>198.<br />
45<br />
Vgl. ebd., S. 191.<br />
10
Weltdeutungen des Orient <strong>und</strong> Okzident seien, so <strong>der</strong> Autor, durch den öffentlichen Diskurs fortlaufend<br />
verstärkt worden, wobei die Existenz <strong>der</strong> von politischer Kontrolle relativ unabhängigen Satelliten-<br />
Sen<strong>der</strong> viel zu dieser Verschärfung beigetragen habe. Darüber hinaus schuf <strong>der</strong> öffentliche antiamerikanische<br />
Diskurs ein bisher ungekanntes Gemeinschaftsgefühl unter <strong>der</strong> muslimischen<br />
Weltbevölkerung. 46 Im Rahmen des Diskurses waren verschiedene Konzepte zentral für das<br />
Missverstehen <strong>der</strong> beiden kulturellen Gruppen. Dazu gehört unter an<strong>der</strong>em die Darstellung <strong>der</strong> USA<br />
als gelobtes Land <strong>der</strong> Freiheit, die im US-amerikanischen Patriotismus eine wichtige Rolle spielt.<br />
Anhand dieser Vorstellung wurde im Diskurs <strong>der</strong> USA zwischen Freiheitskämpfern <strong>und</strong> Terroristen<br />
unterschieden, während in <strong>der</strong> Wahrnehmung <strong>der</strong> orientalischen Bevölkerung beide Gruppen die<br />
gleichen Handlungen ausführten. 47 Die orientalischen Medien hingegen bauten ihren Diskurs auf <strong>der</strong><br />
Vorstellung von <strong>der</strong> weltumspannenden zionistischen Verschwörung gegen den Islam auf. Die<br />
kriegerischen Handlungen <strong>der</strong> US-Amerikaner im Rahmen <strong>der</strong> Angriffe auf Afghanistan <strong>und</strong> den Irak<br />
wurden insgesamt als Elemente des Endkampfs um die Welt betrachtet, <strong>der</strong> unter dem Vorwand <strong>der</strong><br />
Rache für die Anschläge vom 11. September 2001 begonnen worden war. In den in diesem Konflikt<br />
einan<strong>der</strong> gegenüber stehenden Kulturkreisen wurde die Auseinan<strong>der</strong>setzung also nicht im Rahmen<br />
des Kontexts wahrgenommen <strong>und</strong> dargestellt, son<strong>der</strong>n es wurden präexistierende Kategorien, die<br />
essentiell für die jeweilige Gemeinschaft sind, eingesetzt. Rami Khouri, Herausgeber <strong>der</strong><br />
libanesischen Zeitung The Daily Star schrieb 2003 in einem Artikel über die Kriegsberichterstattung<br />
des arabischen <strong>und</strong> amerikanischen Fernsehens:<br />
“For different reasons, Arab and American television<strong>–</strong>with a few notable conceptions that<br />
confirm the rule<strong>–</strong>both broadly provide a distorted, incomplete picture of events while<br />
accurately reflecting emotional and political sentiments on both sides.” 48<br />
Der öffentliche Diskurs zeichnet sich also auf beiden Seiten durch eine verstärkte Anwendung<br />
apokalyptischer Strategien <strong>und</strong> damit überlieferter Symbolik aus. Diese Symbolik wie<strong>der</strong>um bewirkt<br />
augenscheinlich eine Verstärkung <strong>der</strong> eigenen Gruppenidentität durch die eindeutige Abgrenzung.<br />
Diese <strong>und</strong> weitere Funktionen <strong>der</strong> Apokalyptik werden im folgenden Abschnitt zu einem<br />
Gesamtentwurf zusammengefügt.<br />
I.1.4<br />
Abgleich <strong>der</strong> Ergebnisse <strong>der</strong> Bestimmung <strong>der</strong> Merkmale <strong>der</strong> <strong>Apokalypse</strong>n mit den<br />
Ergebnissen <strong>der</strong> Medienanalyse<br />
Die Sichtweise <strong>der</strong> Welt von <strong>der</strong> apokalyptischen Warte aus för<strong>der</strong>t, das ließ sich am letzten Abschnitt<br />
zeigen, die Bildung von Gruppen. Dabei werden sowohl die Mechanismen <strong>der</strong> Abgrenzung durch die<br />
negative Darstellung einer als ‚die An<strong>der</strong>en‘ definierten Gruppe, als auch die <strong>der</strong> Affirmation durch die<br />
positive Darstellung <strong>der</strong> als ‚eigene‘ definierten Gruppe angewandt. Dass die Gültigkeit von<br />
Gruppenzugehörigkeiten vor dem Hintergr<strong>und</strong> des drohenden Weltuntergangs enorm verstärkt wird,<br />
ergibt sich logisch. Trotzdem bleibt die Frage, warum zu fast allen historischen Zeiten die Apokalyptik<br />
mehr o<strong>der</strong> min<strong>der</strong> stark vertreten ist <strong>und</strong> welches menschliche Bedürfnis sie erfüllt. Schließlich setzt<br />
die apokalyptische Denkweise gr<strong>und</strong>sätzlich Haltungen <strong>und</strong> Glaubensformen voraus, die im Rahmen<br />
<strong>der</strong> Dominanz des rationalen Denkens im Okzident zumindest merkwürdig erscheinen müssen.<br />
46<br />
Vgl. ebd., S. 191f.<br />
47<br />
Vgl. ebd., S. 192f.<br />
48<br />
Khouri, Rami: Getting a More Complete War Story. Arab + U.S. television = more accurate war coverage.<br />
http://www.nieman.harvard.edu/reports/03-2NRsummer/93-94V57N2.pdf, Zugriff: 20.05.2007.<br />
11
Die Apokalyptik kann dabei Element diametral entgegengesetzter Weltdeutungen sein, sie kann<br />
sowohl als Aufruf zur Rückkehr zu traditionellen Gesellschaftsformen als auch zum Fortschritt in neue<br />
Strukturen des Zusammenlebens dienen. Immer aber geschehen diese Appelle unter <strong>der</strong> Behauptung<br />
<strong>der</strong> Enthüllung des ursprünglichen beziehungsweise eigentlichen Seins <strong>der</strong> Menschheit.<br />
Die Funktion des Zusammenbringens von Gruppen lässt sich auch für die Medien insgesamt<br />
feststellen. Für die Nachrichten waren sie expliziter Teil <strong>der</strong> Analyse des letzten <strong>Kapitel</strong>s, wobei<br />
beson<strong>der</strong>s <strong>der</strong> Aspekt <strong>der</strong> Gruppenbindung durch eine gemeinsame Bedrohung betont wurde. Ebenso<br />
haben Katastrophenfilme die positive Wertung von Gruppenbildung im Blickfeld, wenn sie die<br />
Menschheit als vor einer von außen kommenden Bedrohung vereint darstellen.<br />
Die Behauptung <strong>der</strong> Erkenntnis <strong>der</strong> Wahrheit lässt sich auch auf die Medien übertragen. So nutzen die<br />
Katastrophenfilme ja die apokalyptische Argumentation <strong>und</strong> behaupten daher auch mit gleicher Stärke<br />
die Wahrheit des vertretenen Idealbilds von menschlichem Handeln. Die Nachrichten hingegen<br />
behaupten die Wahrheit aufgr<strong>und</strong> <strong>der</strong> zu Anfang vorgestellten Formkriterien des Genres. Die<br />
angenommene objektive Berichterstattung über den Zustand <strong>der</strong> Welt muss, wenn die Nachrichten<br />
ihren Auftrag <strong>der</strong> politischen Information erfüllen wollen, schließlich wahr sein.<br />
Die Apokalyptik ist, so zeigt es die historische Darstellung, eine Reaktion auf die Verän<strong>der</strong>ung <strong>der</strong><br />
Weltordnung. Zugleich stellt sie sich inhaltlich als Ankündigung <strong>der</strong> Wandlung dar. Gleiches gilt mit<br />
Sicherheit für die Nachrichten. Bezüglich <strong>der</strong> Katastrophenfilme lässt sich die Funktion <strong>der</strong> Reaktion<br />
auf Verän<strong>der</strong>ungen an <strong>der</strong> steigenden Anzahl solcher Produktionen in <strong>der</strong> Gegenwart ablesen.<br />
Inhaltlich stellen sie zwar fiktive Situationen des Wandels dar, berufen sich aber auf eher konservative<br />
Werte <strong>der</strong> Gesellschaftsordnung <strong>und</strong> wirken daher nicht o<strong>der</strong> nur in seltenen Fällen als Verkün<strong>der</strong><br />
einer sich än<strong>der</strong>nden Weltordnung. Vielmehr sind sie die Garanten <strong>der</strong> Ordnung, wenn sie die<br />
gr<strong>und</strong>legend religiöse Form des Auslösens <strong>und</strong> Bannens von Angst ausfüllen.<br />
I.2 Ermittlung <strong>der</strong> Funktion von <strong>Apokalypse</strong>n aus <strong>der</strong> <strong>Textanalyse</strong> heraus<br />
I.2.1<br />
Jürgen Brokoffs Thesen von Wahrheit <strong>und</strong> Gewalt <strong>und</strong> dem Ende des Diskurses<br />
Jürgen Brokoff hat 2001 seine literaturwissenschaftliche Dissertation über den Mo<strong>der</strong>nitätsbezug <strong>der</strong><br />
<strong>Apokalypse</strong> veröffentlicht. 49 Darin untersucht er den apokalyptischen Gehalt politischer Texte <strong>der</strong><br />
Weimarer Republik <strong>und</strong> entwickelt anhand des Materials zwei zentrale Thesen über apokalyptische<br />
Texte. Beide werden hier vorgestellt.<br />
Die erste These bezieht sich auf das Verhältnis von Wahrheit <strong>und</strong> Gewalt in apokalyptischen Texten.<br />
Jürgen Brokoff wertet die Darstellung <strong>der</strong> verschiedenen Katastrophen als Gewalt, die die Wahrheit<br />
<strong>der</strong> Vorhersagen bestätigt. Dabei ist die Vernichtung <strong>der</strong> Erde ein gewalttätiger Eingriff des<br />
transzendenten Gottes in die immanente Welt, wobei durch die transzendente Gewalt nicht von <strong>der</strong><br />
transzendenten Gerechtigkeit getrennt werden kann. 50 Die göttliche Gerechtigkeit richtet über die<br />
Treue <strong>der</strong> Menschen zu Gott. Dabei wird eindeutig zwischen Gläubigen <strong>und</strong> Nichtgläubigen<br />
unterschieden. Brokoff geht in seiner Analyse <strong>der</strong> <strong>Apokalypse</strong> als Redeform davon aus, dass absolute<br />
Gegensätze wie gläubig-ungläubig für das Genre <strong>der</strong> <strong>Apokalypse</strong> konstitutiv sind. 51 Das Neue<br />
Jerusalem, dessen Kommen die eigentliche Ursache <strong>der</strong> Vernichtung <strong>der</strong> Erde ist, ist, laut dem Autor,<br />
49<br />
BROKOFF, Jürgen, a.a.O.<br />
50<br />
Vgl. ebd., S. 16.<br />
51<br />
Vgl. ebd., S. 15f.<br />
12
nicht so sehr transzendent wie differenzlos. 52 Da im Text für die Vermittlung <strong>der</strong> Wahrheit <strong>der</strong><br />
Prophezeiungen Oppositionen notwendig sind, liegt <strong>der</strong> Schwerpunkt <strong>der</strong> Darstellung nicht auf <strong>der</strong><br />
kommenden Welt, son<strong>der</strong>n auf <strong>der</strong> Vernichtung <strong>der</strong> bekannten Welt. Der Vollzug <strong>der</strong> Zerstörung<br />
geschieht etappenweise <strong>und</strong> die endgültige Vernichtung wird permanent hinausgezögert. Das<br />
ermöglicht die Steigerung <strong>der</strong> Gewalttätigkeit <strong>der</strong> Darstellung, durch die wie<strong>der</strong>um die Differenz<br />
zwischen den Vernichteten <strong>und</strong> den Erlösten verstärkt wird. Diese Kontrastierung dient dazu, die<br />
direkte Anwesenheit <strong>der</strong> Transzendenz Gottes in <strong>der</strong> immanenten Welt zu betonen. 53<br />
Die Funktion <strong>der</strong> Gewalt geht in apokalyptischen Texten, so Brokoff, über den Einsatz als Mittel für die<br />
Durchsetzung <strong>der</strong> Gerechtigkeit hinaus. Sie ist stattdessen so eng mit <strong>der</strong> göttlichen Transzendenz<br />
verknüpft, dass ein an<strong>der</strong>er Weg zur Errichtung <strong>der</strong> Herrschaft Gottes im Text nicht einmal in<br />
Erwägung gezogen wird. Über die Anwendung von Gewalt wird nicht reflektiert, das jüngste Gericht<br />
scheint auf keine an<strong>der</strong>e Art durchsetzbar zu sein.<br />
„Das Setzen <strong>der</strong> absoluten Transzendenz Gottes macht eine Differenzierung von Wahrheit,<br />
Gewalt <strong>und</strong> Gerechtigkeit unmöglich. Vielmehr fallen alle diese Begriffe mit bzw. in Gott<br />
zusammen, so daß die Johannesoffenbarung eine Identität behauptet: Gott ist die Wahrheit,<br />
ist die Gewalt <strong>und</strong> ist die Gerechtigkeit.“ 54<br />
Durch den Aufschub <strong>der</strong> Vernichtung in <strong>der</strong> Darstellung wird ein narrativer Raum geschaffen, <strong>der</strong> es<br />
ermöglicht, durch jeden Einzelschritt <strong>der</strong> Vernichtung die Wahrheit <strong>und</strong> Transzendenz Gottes erneut<br />
<strong>und</strong> verstärkt zu betonen <strong>und</strong> den Triumph des Glaubens über den Unglauben bis zur endgültigen<br />
Vernichtung zu vergrößern. 55 Da <strong>der</strong> Wahrheitsanspruch des Textes universal ist, werden mit <strong>der</strong><br />
Enthüllung <strong>der</strong> Wahrheit über das Ende <strong>der</strong> Welt die Wahrheitsansprüche an<strong>der</strong>er Texte für ungültig<br />
erklärt. Damit wird die Gewalt des Dargestellten als Garant <strong>der</strong> Wahrheit zur Gewalt <strong>der</strong> Darstellung<br />
gegenüber an<strong>der</strong>en Formen <strong>der</strong> Darstellung. 56<br />
Auch die Funktion apokalyptischer Texte verortet Brokoff in den Texten selbst. Er betrachtet den Text<br />
an sich ohne sich auf einen außerhalb des Textes möglichen o<strong>der</strong> unmöglichen Weltuntergang zu<br />
beziehen. So entsteht eine Untersuchung über die textimmanenten Techniken <strong>der</strong> Sprache vom<br />
Untergang. 57<br />
Der Aufbau apokalyptischer Texte ist, wie schon an den klassischen <strong>Apokalypse</strong>n gezeigt, durch<br />
absolute Gegensätze bestimmt. Brokoff bestimmt die semantischen Gegensätze als<br />
Ordnungsprinzipien o<strong>der</strong> Glie<strong>der</strong>ungsmerkmale des Textes. Der Text selbst nun behauptet, von <strong>der</strong><br />
Warte des rein Guten o<strong>der</strong> im religiösen Falle von <strong>der</strong> Transzendenz aus zu sprechen. Er ist durch die<br />
in <strong>der</strong> Rahmenerzählung beschriebene Vision schon Teil <strong>der</strong> kommenden Welt <strong>und</strong> macht damit die<br />
Geltungsansprüche aller an<strong>der</strong>en, <strong>der</strong> immanenten o<strong>der</strong> schlechten Welt entstammenden Texte<br />
zunichte. 58 Die Funktion des Textes liegt also in seinem Aufbau selbst <strong>und</strong> ist die Beendigung<br />
existenter Diskurse <strong>und</strong> die Schaffung <strong>der</strong> verkündeten neuen Welt.<br />
Diese neue Wirklichkeit muss dabei nicht gr<strong>und</strong>sätzlich transzendent sein. Apokalyptische Texte<br />
können sich auch auf kleinere Zusammenhänge als das gesamte irdische Leben beziehen.<br />
52<br />
Vgl. ebd., S. 21.<br />
53<br />
Vgl. ebd., S. 21.<br />
54<br />
Ebd., S. 22. Hervorhebungen aus dem Original übernommen.<br />
55<br />
Vgl. ebd., S. 23.<br />
56<br />
Vgl. ebd., S. 23.<br />
57<br />
Vgl. ebd., S. 9.<br />
58<br />
Vgl. ebd., S. 28.<br />
13
Entscheidend ist, dass im Rahmen eines Diskurses eine neue Norm o<strong>der</strong> Ordnung eingeführt wird. 59<br />
Auch Jacques Derrida, auf den sich Brokoff in seiner Arbeit bezieht, fragt in seinem Text 60 nach <strong>der</strong><br />
Funktion <strong>der</strong> Verkündung <strong>und</strong> Androhung des Endes <strong>der</strong> Welt. Er vermutet hinter dieser Rede das<br />
Verbergen eines an<strong>der</strong>en Zwecks. 61 Die Funktion <strong>der</strong> Verkündung des Endes sieht <strong>der</strong> Autor in <strong>der</strong><br />
Verführung des Publikums. 62 Die durch einen apokalyptischen Text Angesprochenen werden also<br />
durch Weltuntergangsszenarien vom eigentlichen Inhalt <strong>und</strong> Zweck des Textes abgelenkt. Diese<br />
Einschätzung stimmt insofern mit Brokoffs These überein, als dass auch <strong>der</strong> von ihm bestimmte<br />
Zweck des Textes in <strong>der</strong> Struktur verborgen ist.<br />
Gleichzeitig nimmt Derrida, ähnlich wie Brokoff, wahr, dass die Rede vom Ende an<strong>der</strong>e Wahrheiten<br />
ausschließt, wodurch ein Zwang <strong>der</strong> ständigen Steigerung des apokalyptischen Diskurses entsteht.<br />
Derrida zählt in seinem Text die bisher verkündeten Enden kultureller Phänomene, natürlicher<br />
Lebensbedingungen <strong>und</strong> <strong>der</strong> Welt auf <strong>und</strong> endet mit <strong>der</strong> Feststellung:<br />
„Und wer auch immer dahin käme, das Ganze auf die Spitze zu treiben <strong>und</strong> das Raffinierteste<br />
[le fin du fin] zu sagen, nämlich das Ende des Endes [la fin de la fin], das Ende des Zwecks [la<br />
fin des fins], daß das Ende immer schon begonnen hat, daß man vielmehr zwischen Abschluß<br />
[clôture] <strong>und</strong> Ende [fin] unterscheiden müsse, so würde auch er, ob er will o<strong>der</strong> nicht, in das<br />
Gesamtkonzert mit einstimmen.“ 63<br />
Das Bestreiten <strong>der</strong> Wahrheit eines apokalyptischen Textes kann also, laut den vorgestellten Analysen,<br />
nur durch die Überbietung geschehen. Da die Gerechtigkeit beziehungsweise Wahrheit <strong>der</strong> Texte mit<br />
dem Ausmaß <strong>der</strong> angewendeten Gewalt zusammenfällt, geschieht die Überbietung einer<br />
apokalyptischen Darstellung durch die an<strong>der</strong>e, also durch die Steigerung <strong>der</strong> Gewalt.<br />
Im Rahmen <strong>der</strong> hier behandelten Mediengenres zeigt sich dieser Aspekt beson<strong>der</strong>s deutlich bei den<br />
Katastrophenfilmen. Wie schon festgestellt, ist <strong>der</strong> Fortschritt <strong>der</strong> Technologie gr<strong>und</strong>legend für dieses<br />
Genre. Die möglichst lebensechte Darstellung möglichst großer Zerstörung führt zur ständigen<br />
Steigerung des Einsatzes von Technologie bei <strong>der</strong> Herstellung solcher Filme. So gilt die Verwendung<br />
neuester technologischer Mittel auch als Qualitätskriterium von Katastrophenfilmen.<br />
Durch die Konzentration bei<strong>der</strong> hier vorgestellten Mediengenres auf Katastrophen zeigt sich auch,<br />
dass sie <strong>der</strong> apokalyptischen Logik <strong>der</strong> Gleichsetzung von Wahrheit <strong>und</strong> Gewalt folgen. Wo den<br />
Nachrichten Katastrophen als Gr<strong>und</strong>lage <strong>der</strong> Berichterstattung dienen <strong>und</strong> den Katastrophenfilmen als<br />
Voraussetzung <strong>der</strong> Erzählung, muss Wahrheit beziehungsweise Wirklichkeit o<strong>der</strong> Ideal mit Gewalt<br />
direkt verb<strong>und</strong>en sein.<br />
Das Streben nach dem diskursiven Regime ist für die Nachrichten konstitutiv. Das ständige Streben<br />
nach den neuesten <strong>und</strong> tiefgehendsten Erkenntnissen zu Themen des Diskurses <strong>und</strong> <strong>der</strong> Anspruch<br />
<strong>der</strong> Darstellung einer als objektiv angenommenen Wahrheit machen die Nachrichten unter diesem<br />
Aspekt zum apokalyptischen Genre par excellence. Auf <strong>der</strong> Ebene von fiktiven Erzählungen zur<br />
gesellschaftlichen Ideologie macht die Anlehnung <strong>der</strong> Katastrophenfilme an die Struktur <strong>der</strong><br />
Apokalyptik, also die <strong>Aussage</strong> über gesellschaftliche Werte vor dem Hintergr<strong>und</strong> des drohenden<br />
Weltuntergangs, Katastrophenfilme zu diskursiv unreflektierten <strong>und</strong> Dominanz anstrebenden<br />
Erzählungen.<br />
59<br />
Vgl. SCHIPPER, a.a.O., S. 383.<br />
60<br />
DERRIDA, Jacques: Von einem neuerdings erhobenen apokalyptischen Ton in <strong>der</strong> Philosophie. 2000.<br />
61<br />
Vgl. ebd., S. 22.<br />
62<br />
Vgl. ebd., S. 55.<br />
63<br />
Ebd., S. 50. Einfügungen in Klammern aus dem Original übernommen.<br />
14
I.2.2 Herstellung des Bezugs zum Diskurs <strong>der</strong> Medien<br />
In ihrer Dissertation aus dem Jahr 2000 betrachtet Tanja Busse Manifestationen <strong>der</strong> Apokalyptik in den<br />
Medien. Dabei geht sie von einer Analyse klassischer apokalyptischer Formen aus. In ihrem Ansatz<br />
zur Erklärung des Begriffs <strong>Apokalypse</strong> wertet sie ihn als mediengerecht, ob seiner häufigen<br />
Verwendung. 64 Dabei konstatiert sie das gleiche Missverständnis des Begriffs wie es auch schon bei<br />
Schipper benannt wurde: Die synonyme Verwendung des Begriffs <strong>Apokalypse</strong> mit dem des<br />
Weltuntergangs.<br />
Auch in ihrer Untersuchung klassischer <strong>Apokalypse</strong>n bestätigt sie bereits erwähnte Formkriterien.<br />
Dazu gehört die Vorstellung, dass Neues nur durch die Zerstörung des Alten entstehen kann <strong>und</strong> nicht<br />
durch den langsamen Übergang. Des Weiteren nennt auch sie die Behauptung eines enthüllenden<br />
Gehalts <strong>der</strong> Erzählung, die Empfindung <strong>der</strong> Gegenwart als krisenhaft <strong>und</strong> die Heilserwartung als<br />
notwendige Kriterien eines apokalyptischen Textes. 65<br />
Zusätzlich führt Busse eine Unterscheidung von <strong>Apokalypse</strong>n in drei verschiedene Tiefengrade ein,<br />
die den von Günter Thomas entwickelten <strong>vier</strong> Interaktionsebenen von Fernsehen <strong>und</strong> Religion ähnlich<br />
sind. So unterscheidet sie authentische <strong>Apokalypse</strong>n, die einen universalen Anspruch haben <strong>und</strong> sich<br />
auf eine transzendente Dimension beziehen. Sie besitzen den höchsten Tiefengrad. Sek<strong>und</strong>äre<br />
<strong>Apokalypse</strong>n beziehen sich auf einen kulturellen Teilbereich <strong>und</strong> haben damit einen begrenzten<br />
Deutungsanspruch. Als Beispiel nennt die Autorin Francis Fukuyamas Buch Das Ende <strong>der</strong><br />
Geschichte. 66 Scheinapokalypsen als die Form <strong>der</strong> <strong>Apokalypse</strong> mit dem geringsten Tiefgang<br />
schließlich nutzen apokalyptische Elemente wie die gewaltvolle Zerstörung <strong>der</strong> Welt ohne eine damit<br />
einher gehende Deutung <strong>und</strong> somit als Selbstzweck. Damit entspricht die Scheinapokalypse <strong>der</strong><br />
zweiten Interaktionsebene von Fernsehen <strong>und</strong> Religion. 67<br />
Wie Schipper betrachtet sie den Untergang <strong>der</strong> Welt als nicht konstitutiv für apokalyptische<br />
Erzählungen. 68 Bezüglich <strong>der</strong> Zeichenhaftigkeit <strong>der</strong> Texte beobachtet sie, dass Ereignisse o<strong>der</strong><br />
Phänomene im Rahmen <strong>der</strong> Texte aus ihrem Kontext gerissen <strong>und</strong> als apokalyptische Zeichen<br />
gedeutet werden. Sie führt die symbolreiche Sprache <strong>der</strong> <strong>Apokalypse</strong>n auf ein Beruhen auf <strong>der</strong><br />
Denkweise des Hermetismus zurück. 69<br />
Der Hermetismus ist wie <strong>der</strong> Rationalismus ein spätantikes Konzept, das laut Umberto Eco<br />
entscheidenden Einfluss auf das abendländische Denken ausgeübt hat. 70 Für den Rationalismus sind<br />
die Prinzipien <strong>der</strong> Logik <strong>und</strong> <strong>der</strong> Kausalität konstitutiv, damit bildet er die Gr<strong>und</strong>lage <strong>der</strong><br />
Wissenschaften <strong>und</strong> gilt als ideale Form des Denkens. Der Hermetismus beruht auf <strong>der</strong> Geheimlehre<br />
des Hermes Trismegos, die die Möglichkeit <strong>der</strong> parallel existierenden Wahrheit von verschiedenen<br />
<strong>und</strong> auch einan<strong>der</strong> wi<strong>der</strong>sprechenden Phänomenen beinhaltet. Göttliches zeigt sich durch<br />
Botschaften, Visionen, Träume o<strong>der</strong> Orakel, also durch Zeichen, <strong>der</strong>en Bedeutung noch enthüllt<br />
werden muss. Tanja Busse stellt eine Ähnlichkeit zur Apokalyptik fest <strong>und</strong> vermutet eine mögliche<br />
64<br />
Vgl. BUSSE, Tanja, a.a.O., S. 7.<br />
65<br />
Vgl. ebd., S. 8f.<br />
66<br />
FUKUYAMA, Francis: Das Ende <strong>der</strong> Geschichte. Wo stehen wir? 1992.<br />
67<br />
Vgl. BUSSE, Tanja, a.a.O S. 21.<br />
68<br />
Vgl., ebd., S. 12.<br />
69<br />
Vgl. ebd., S. 15.<br />
70<br />
Vgl. ECO, Umberto: Semiotik. Entwurf einer Theorie <strong>der</strong> Zeichen. 1987.<br />
15
Bezugsherstellung über die Gnosis. Sie verweist hier auf Ulrich H.J. Körtner <strong>und</strong> Rudolf Bultmann, die<br />
einen ähnlichen Bezug sehen. 71<br />
Nach <strong>der</strong> Zusammenstellung <strong>der</strong> Kennzeichen <strong>der</strong> Apokalyptik untersucht die Autorin die Wandlung<br />
apokalyptischer Inhalte im Lauf <strong>der</strong> europäischen Geschichte. Dabei legt sie Elemente <strong>der</strong> Apokalyptik<br />
im säkularisierten Denken fest. Zu diesen Elementen gehören die apokalyptische Figur, die<br />
Transformation durch Zerstörung bedingt <strong>und</strong> die Katastrophe als Enthüllung. 72 Sie geht dabei davon<br />
aus, dass in <strong>der</strong> gegenwärtigen westlichen Gesellschaftsordnung die Zukunft nicht mehr als von<br />
Göttern, son<strong>der</strong>n als von Menschen determiniert betrachtet wird. 73 Die Zukunft ist damit in erster<br />
Instanz offen <strong>und</strong> wird stückweise durch menschliches Handeln festgelegt. Dabei ist eine Katastrophe<br />
nicht vorhergesehen <strong>und</strong> muss daher Symptom einer krisenhaften Gegenwart sein. Der enthüllende<br />
Charakter <strong>der</strong> Katastrophe liegt in <strong>der</strong> Aufdeckung <strong>der</strong> falschen Entwicklung. 74<br />
Als Abschluss des theoretischen Teils stellt die Kulturwissenschaftlerin einen Bezug zwischen <strong>der</strong><br />
Apokalyptik <strong>und</strong> den Massenmedien her. Sie begibt sich auf die Suche nach Mustern <strong>der</strong><br />
Berichterstattung <strong>und</strong> <strong>der</strong> kulturellen Verarbeitung von Ereignissen. Zuerst bringt sie zu diesem Zweck<br />
gr<strong>und</strong>sätzliche Regeln <strong>der</strong> Entstehung <strong>und</strong> Variation von Bedeutungen ein. Sie zieht dabei erneut<br />
Ecos Semiotik heran. Die Theorie <strong>der</strong> Zeichenerzeugung des Autors geht von einem Modell aus, das<br />
Signifikant, also das Bezeichnende, Signifikat, das Bezeichnete <strong>und</strong> einen Code <strong>der</strong> Zuordnung<br />
enthält. Erst <strong>der</strong> Code macht die Signifikation, die Bezeichnung <strong>und</strong> damit das Verstehen möglich, da<br />
er das Bedeutungssystem ist, das die Beziehung zwischen anwesenden <strong>und</strong> abwesenden Einheiten<br />
herstellt.<br />
Ein Beispiel aus dem Zusammenhang <strong>der</strong> vorliegenden Arbeit ist <strong>der</strong> Begriff Religion. Die Wandlung<br />
des Bezugs von Religion als ein Wort für Christentum hin zu Religion als ein Wort für Glaubensformen<br />
stellt eine Verän<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Bedeutung <strong>und</strong> damit eine Verschiebung <strong>der</strong> Codierung dar. An diesem<br />
Beispiel zeigt sich, dass eine gemeinsame Codierung elementar für die Kommunikation ist. Die<br />
Verän<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Codierung ging in diesem Fall von <strong>der</strong> Wissenschaft aus, ist aber gr<strong>und</strong>sätzlich ein<br />
sozialer Akt, <strong>der</strong> in allen sprachlichen Bereichen möglich ist. 75<br />
Eco bringt zur weiteren Erklärung <strong>der</strong> Än<strong>der</strong>ung von Bedeutungen die Begriffe Denotation <strong>und</strong><br />
Konnotation ein. Dabei ist die Denotation die primäre Bedeutung eines Signifikats <strong>und</strong> die Konnotation<br />
umfasst alle weiteren Bedeutungen. So hat <strong>der</strong> hier untersuchte Begriff <strong>Apokalypse</strong> die Denotation<br />
‚literarische Gattung, für die die Beschreibung des Untergangs <strong>der</strong> bekannten <strong>und</strong> des Aufsteigens<br />
einer neuen Welt konstitutiv ist‘. Als mögliche Konnotationen hat sie ‚symbolreicher Text‘,<br />
‚Weltuntergang‘, ‚Gewalt‘ <strong>und</strong> ‚Offenbarung des Johannes‘. Das von Tanja Busse eingebrachte<br />
Beispiel macht den Bezug zur Än<strong>der</strong>ung von Bedeutungen noch deutlicher. Sie benennt das Signifikat<br />
Pferd, das vor <strong>der</strong> Erfindung des Autos hauptsächlich die Konnotation ‚Transportmittel‘ gehabt habe.<br />
Mit <strong>der</strong> Durchsetzungen des Autos als Allgemeingut, habe sich diese Konnotation dann zu ‚Freizeit<strong>und</strong><br />
Sporttier‘ gewandelt.<br />
71<br />
BULTMANN, Rudolf: Neues Testament <strong>und</strong> Mythologie. Das Problem <strong>der</strong> Entmythologisierung <strong>der</strong><br />
neutestamentlichen Verkündigung. 1985, S. 28f. <strong>und</strong> KÖRTNER, Ulrich H.J.: Weltangst <strong>und</strong> Weltende. Eine<br />
theologische Interpretation <strong>der</strong> Apokalyptik. 1988, S. 53.<br />
72<br />
Vgl. BUSSE, Tanja, a.a.O., S. 79f.<br />
73<br />
Vgl. ebd., S. 80.<br />
74<br />
Vgl. ebd., S. 80.<br />
75<br />
Vgl. zu diesem Abschnitt ECO, Umberto, a.a.O., S. 76 u. 204.<br />
16
Für apokalyptische Texte bleibt <strong>der</strong> Begriff <strong>der</strong> Konnotation wichtig. Durch den Bezug auf kulturell<br />
bekannte Ereignisse <strong>und</strong>/o<strong>der</strong> Phänomene <strong>und</strong> die Setzung dieser Entitäten in einen neuen Kontext<br />
schaffen apokalyptische Texte neue Konnotationen für Begriffe. Diese neuen Zeichen können sich im<br />
allgemeinen Diskurs durchsetzen. So wurden in <strong>der</strong> Folge <strong>der</strong> Arbeiten von Noam Chomsky <strong>und</strong> <strong>der</strong><br />
Filme von Michael Moore <strong>der</strong> Irakkrieg <strong>der</strong> USA <strong>und</strong> die Politik sowie die Person George W. Bushs zu<br />
Zeichen des drohenden Untergangs. Diese Zeichen wurden <strong>und</strong> werden im Rahmen von Protesten<br />
gegen die Außenpolitik <strong>der</strong> USA vielfach eingesetzt <strong>und</strong> haben auf <strong>der</strong> globalen Ebene für bestimmte<br />
Bevölkerungsgruppen Gültigkeit als apokalyptische Zeichen. Im Rahmen dieser apokalyptischen<br />
Erzählung mit Bezug auf George W. Bush als zentraler Figur geht es nicht in erster Linie um die<br />
Schaffung einer neuen, son<strong>der</strong>n um die Erhaltung <strong>der</strong> bestehenden Welt, wobei die Freiheit <strong>der</strong><br />
zentrale positiv besetzte Begriff ist.<br />
Wie auch das eingebrachte Beispiel entstehen in <strong>der</strong> Gegenwart die meisten Diskurse unter Einbezug<br />
<strong>der</strong> Massenmedien. Dabei betrachtet Tanja Busse die Prozesse <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>ung von Konnotationen<br />
<strong>und</strong> Bedeutungen als weniger einseitig als es im Rahmen <strong>der</strong> Nachrichtenforschung beschrieben<br />
wurde. Sie geht davon aus, dass über das Agenda-Setting hinaus neue Zeichen durch<br />
Wechselwirkungen zwischen Produzierenden <strong>und</strong> Rezipierenden <strong>der</strong> Massenmedien entstehen.<br />
Beson<strong>der</strong>e Gültigkeit erhält dieser Ansatz durch die Entwicklung <strong>und</strong> immer stärker werdende Nutzung<br />
des Internet. Bezüglich <strong>der</strong> Suche nach Mechanismen, die den Prozess <strong>der</strong> Zeichenentstehung <strong>und</strong> <strong>–</strong><br />
verän<strong>der</strong>ung regulieren, referiert sie an den Philosophen Michel Foucault. Dieser geht von einer<br />
Ordnung des gesellschaftlichen Diskurses durch bestimmte Mechanismen aus, die die „Gefahren des<br />
Diskurses“ 76 bannen.<br />
Die Ordnung des Diskurses wird also an <strong>der</strong> Ordnung <strong>der</strong> Gesellschaft<br />
ausgerichtet, die sich wie<strong>der</strong>um durch den Diskurs verän<strong>der</strong>t. Diskursbegrenzende Mechanismen<br />
setzen also da an, wo ein Diskurs die bestehende Ordnung zu unterminieren droht <strong>und</strong> wirken dann<br />
so, dass dieser Diskurs unterdrückt wird o<strong>der</strong> sie greifen nicht <strong>und</strong> eine gesellschaftliche Verän<strong>der</strong>ung<br />
findet statt.<br />
Da die Apokalyptik die Verän<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> bestehenden Ordnung als gr<strong>und</strong>sätzliches Element enthält,<br />
muss sie zwangsläufig als gefährlich betrachtet <strong>und</strong> durch die diskursbegrenzenden Mechanismen<br />
unterdrückt werden. Die Mechanismen <strong>der</strong> Kontrolle von Diskursen benennt Tanja Busse als die<br />
Entgegensetzung von Vernunft <strong>und</strong> Wahnsinn, Wahrheit <strong>und</strong> Lüge <strong>und</strong> das Sprechverbot. 77 Diskurse<br />
also, die unterdrückt werden sollen, werden in <strong>der</strong> Öffentlichkeit durch die Attribution von Wahnsinn<br />
<strong>und</strong> Lüge diskreditiert. Als Beispiel für die Diskursunterdrückung können die Spekulationen um den<br />
Hergang <strong>der</strong> Anschläge auf das World Trade Center <strong>und</strong> <strong>der</strong>en Urheber betrachtet werden. Neben <strong>der</strong><br />
Darstellung, die aus offiziellen Quellen mit gesellschaftlicher Macht <strong>und</strong> auch in dieser Arbeit vertreten<br />
werden, gibt es zahlreiche weitere Theorien <strong>und</strong> Beweisführungen, die an<strong>der</strong>e Abläufe, politische<br />
Motivation <strong>und</strong> Täter vermuten. Diese Beiträge finden sich vor allem im Internet <strong>und</strong> werden im Orient<br />
auch im offiziellen Diskurs vertreten, während sie im Okzident marginalisiert sind. 78<br />
76<br />
FOUCAULT, Michel: Die Ordnung des Diskurses. 1991, S. 10.<br />
77<br />
Vgl. für den Abschnitt BUSSE, Tanja, a.a.O., S. 117f.<br />
78<br />
Vgl. hierzu http://www.elfterseptember.info/, eine Website, auf <strong>der</strong> die Theorie vertreten wird, die Flugzeuge<br />
seien nicht in das World Trade Center hinein geflogen <strong>und</strong> das gesamte offizielle Bildmaterial sei<br />
manipuliert. Lei<strong>der</strong> ist es nicht möglich den gesamten Text zu drucken, so dass auf <strong>der</strong> CD nur <strong>der</strong> Beginn<br />
des Textes enthalten ist. Unter http://www.amazon.de/exec/obidos/ASIN/3926575875/qid=1061547199/sr=2-<br />
wird <strong>der</strong> Untersuchungsbericht zum Kauf angeboten, auf den sich die Website bezieht. Interessant für die<br />
Beobachtung <strong>der</strong> Mechanismen <strong>der</strong> Diskursunterdrückung sind die Kommentare <strong>der</strong> Rezensenten.<br />
17
Wie auch Jürgen Brokoff <strong>und</strong> Bernd U. Schipper betrachtet Tanja Busse den apokalyptischen Diskurs<br />
nicht nur als unterdrückten, son<strong>der</strong>n auch als unterdrückenden Diskurs, <strong>der</strong> vorherrschende<br />
Wahrheitsmodelle aushebeln <strong>und</strong> für sich selbst absolute Wahrheit beanspruchen will. Im Kontext <strong>der</strong><br />
Massenmedien, in dem Zeichen fast frei verfügbar sind, wirkt <strong>der</strong> apokalyptische Diskurs, so die<br />
Autorin, begrenzend <strong>und</strong> setzt sich dann durch, wenn auf breiter Ebene Bedarf nach neuem Sinn<br />
besteht. 79<br />
I.2.3 Zusammenfassung <strong>der</strong> Ergebnisse zur Apokalyptik <strong>und</strong> Herstellung des Bezugs zu den<br />
Ereignissen des 11. September 2001<br />
Für die Apokalyptik konnten im Hinblick auf ihre gesellschaftliche Funktion in diesem <strong>Kapitel</strong><br />
verschiedene Aspekte zusammen getragen werden. An erster Stelle steht dabei die Verknüpfung <strong>der</strong><br />
Apokalyptik mit <strong>der</strong> Opposition gegen aktuelle Machtverhältnisse <strong>und</strong> die Ablehnung <strong>der</strong><br />
Gesellschaftsordnung. Damit einhergehend wurde die Funktion <strong>der</strong> Apokalyptik als seelsorgerisch in<br />
dem Sinne benannt, als dass sie vor allem für Gruppen, die sich von <strong>der</strong> Ordnung <strong>der</strong> Welt bedroht<br />
fühlen, von Interesse ist.<br />
Dieser Deutung wurde dann die Betonung <strong>der</strong> Genrebezeichnung gegenüber gestellt, die zu einem<br />
Rückschluss auf die Funktion <strong>der</strong> <strong>Apokalypse</strong> als Mittel <strong>der</strong> Enthüllung führte. Diese Analyse<br />
beinhaltete die Feststellung des absoluten Wahrheitsanspruchs <strong>der</strong> Apokalyptik <strong>und</strong> <strong>der</strong> damit<br />
einhergehenden Beendigung von Diskursen.<br />
Des Weiteren konnte and <strong>der</strong> neueren historischen Entwicklung gezeigt werden, dass <strong>der</strong><br />
apokalyptische Diskurs im gesellschaftlichen Kontext die Bildung von einan<strong>der</strong> entgegengesetzten<br />
Gruppen unterstützt. Das bipolare Denken <strong>und</strong> die Ausschließlichkeit <strong>der</strong> Wahrheit bilden<br />
offensichtlich gut funktionierende Gr<strong>und</strong>lagen für die Definition von Gruppen.<br />
Ebenso hat sich erwiesen, dass das apokalyptische Denken anthropologisch so konstant ist, dass es<br />
in jede neue gesellschaftliche Situation eingepasst werden kann. Selbst unter den Bedingungen <strong>der</strong><br />
gesellschaftlichen Dominanz rationalen Denkens ist die Apokalyptik mit ihrer geheimnisvollen, nicht<br />
logisch beweisbaren <strong>und</strong> symbolträchtigen Weltbetrachtung für so viele Menschen anziehend, dass<br />
sie als Vorlage für teure <strong>und</strong> weltweit erfolgreiche Filme dienen kann.<br />
Die gesellschaftliche Funktion von Religion kann unter dem Aspekt <strong>der</strong> Apokalyptik neben ihrer<br />
Eigenschaft als Deutungs- <strong>und</strong> Symbolreservoir als Verarbeitungsmittel für Krisen <strong>der</strong> Weltordnung<br />
bezeichnet werden. Dabei wird betont, dass die Religion offensichtlich an den emotionalen Bereich<br />
<strong>der</strong> Bewältigung appelliert. Sowohl die dauerhafte Funktion als Vorrat von symbolischen Bil<strong>der</strong>n als<br />
auch die Rückbindung neuer Symbole an die religiöse Weltdeutung haben sich als im Gegensatz zum<br />
rationalen Denken stehend erwiesen. Zieht man Tanja Busses Ansatz <strong>der</strong> Entstehung von<br />
Diskursthemen durch Wechselwirkungen zwischen Kulturproduzierenden <strong>und</strong> Kulturrezipierenden<br />
heran, so ergibt sich die These, dass die stete Rückkehr apokalyptischer Deutungen ein Hinweis auf<br />
den konstanten emotionalen Bedarf an diese Form <strong>der</strong> Weltdeutung ist.<br />
Zum Verhältnis von Zeichen <strong>und</strong> Deutungssystem kann bezüglich <strong>der</strong> Apokalyptik festgestellt werden,<br />
dass ein gleich bleiben<strong>der</strong> Deutungszusammenhang in verschiedenen Zeiten durch in den Kontext <strong>der</strong><br />
Zeiten eingeb<strong>und</strong>ene äußere Zeichen in Gang gesetzt werden kann, wobei die Zeichen in <strong>der</strong><br />
79<br />
Vgl. BUSSE, Tanja, a.a.O., S. 121.<br />
18
Erzählung selbst sich nicht verän<strong>der</strong>n. Im Rahmen <strong>der</strong> kulturellen Entwicklung können also<br />
entstehende o<strong>der</strong> entstandene Symbole Auslöser für den Rückgriff auf das Symbolinventar <strong>der</strong><br />
Religion sein. So zeigt sich am Beispiel <strong>der</strong> Marienerscheinungen, dass Kin<strong>der</strong> im Rahmen des<br />
europäischen Katholizismus offensichtlich als beson<strong>der</strong>s geeignete Empfänger göttlicher Botschaften<br />
betrachtet wurden. Somit bilden die Empfänger <strong>der</strong> Offenbarungen einen Aspekt des variablen Teils<br />
<strong>der</strong> apokalyptischen Zeichen, <strong>der</strong> in den jeweiligen kulturellen Kontext eingepasst werden kann.<br />
Die Verän<strong>der</strong>ung des apokalyptischen Denkens von <strong>der</strong> Antike bis die Gegenwart enthält keine<br />
Loslösung <strong>der</strong> Verbindung von Wahrheit <strong>und</strong> Gewalt. Es gilt weiterhin das als wahr <strong>und</strong> damit wirklich,<br />
was die Gewalt als notwendiges Mittel einsetzt. Bezieht man diese <strong>Aussage</strong> auf die Anschläge vom<br />
11. September 2001 so führt die apokalyptische Symbolik <strong>der</strong> Anschläge auf das World Trade Center<br />
zu <strong>der</strong> Wahrnehmung, dass durch die ausgeübte Gewalt eine Wahrheit über das Verhältnis zweier<br />
kultureller Räume zueinan<strong>der</strong> behauptet wurde.<br />
Der sich än<strong>der</strong>nde Zusammenhang ist <strong>der</strong> Bezug von Gewalt beziehungsweise Wahrheit zu<br />
Transzendenz o<strong>der</strong> Jenseits. Gilt in <strong>der</strong> biblischen <strong>Apokalypse</strong> die Transzendenz noch gleichzeitig als<br />
Bedrohung <strong>und</strong> Verheißung, wird sie in <strong>der</strong> Gegenwart nur als Bedrohung dargestellt. Die Verheißung<br />
liegt in <strong>der</strong> Existenz einer idealisierten <strong>und</strong> von Menschen getragenen Gesellschaftsordnung. Die<br />
Helden dienen als Repräsentanten <strong>der</strong> positiven Werte <strong>und</strong> eine Analyse <strong>der</strong> von ihnen transportierten<br />
Eigenschaften kann einen Überblick über das Inventar <strong>der</strong> vertretenen Ideale geben. Damit<br />
unterscheiden sich die Katastrophenfilme elementar von <strong>der</strong> ursprünglichen christlichen <strong>Apokalypse</strong>,<br />
die die Funktion <strong>der</strong> Kritik an <strong>der</strong> herrschenden Ordnung hatte.<br />
Die fehlende Reflexivität des Einsatzes von Gewalt bleibt erhalten. Die Bedrohung wird in den Filmen<br />
als so akut dargestellt, dass das verzögernde Element <strong>der</strong> Reflexion den Tod <strong>der</strong> gesamten<br />
Erdbevölkerung bedeuten würde.<br />
Der von Jacques Derrida festgestellte Zwang zur Steigerung <strong>der</strong> Bedrohung bleibt ebenso erhalten.<br />
Der technische Fortschritt ermöglicht immer weitergehende Simulationen <strong>der</strong> Zerstörung <strong>der</strong> Welt.<br />
Durch die die Steigerung des Realismus <strong>der</strong> Darstellung wird auch <strong>der</strong> Bezug zur <strong>und</strong> die Bedrohung<br />
<strong>der</strong> Lebenswelt des Publikums immer stärker. Gleichzeitig dienen die Filme, wie schon festgestellt,<br />
nicht <strong>der</strong> Vorbereitung auf eine existentielle Bedrohung.<br />
Ein weiterer wichtiger Unterschied zwischen religiösen <strong>Apokalypse</strong>n <strong>und</strong> neuzeitlichen<br />
Katastrophenfilmen ist, dass die absolute Gerechtigkeit in den Filmen an den Gegebenheiten <strong>der</strong><br />
aktuellen Weltsicht orientiert ist. Die Eindeutigkeit des Todes als Strafe ist zwar noch vorhanden, <strong>der</strong><br />
Tod kann aber auch, trotz dieses strafenden Charakters, dazu dienen, die Figuren zu Märtyrern<br />
werden zu lassen <strong>und</strong> die Sünden ihres Lebens auszugleichen. Auch in <strong>der</strong> Johannes-Offenbarung ist<br />
die Rede von zwei Märtyrern, die sterben, diese ist in jener Erzählung allerdings nur eine Stufe <strong>der</strong><br />
Entwicklung, während <strong>der</strong> Tod in den gegenwärtigen Erzählungen den Endpunkt des Schicksals bildet.<br />
Bezüglich <strong>der</strong> mit <strong>Apokalypse</strong> verb<strong>und</strong>enen Idealisierung von Märtyrern ist auffällig, dass sich vor<br />
allem ältere Figuren für jüngere opfern. Die Begründung hierfür liegt wahrscheinlich in gegenwärtigen<br />
kulturellen Codes, die das Märtyrertum nicht mehr als ultimatives Glück, son<strong>der</strong>n als schlechtere<br />
Alternative zu einem erfüllten irdischen Leben beinhalten.<br />
Das Versagen bekannter Analysemethoden angesichts <strong>der</strong> Bil<strong>der</strong> <strong>der</strong> Anschläge sowie ihr starkes<br />
Appellieren auf <strong>der</strong> emotionalen Ebene stellen ein Argument für den Einsatz <strong>der</strong> Analyse anhand <strong>der</strong><br />
19
Archetypentheorie dar. Insgesamt greift die Analyse des hohen Gehalts <strong>der</strong> <strong>Apokalypse</strong>n an<br />
kryptischen Symbolen in allen besprochenen Ansätzen eher kurz. Der von Tanja Busse<br />
vorgeschlagene Bezug auf den Hermetismus hat nur im Okzident Gültigkeit <strong>und</strong> kann daher die<br />
Existenz von <strong>Apokalypse</strong>n außerhalb dieses Kulturkreises nicht begründen. Schippers Ansatz, die<br />
Symbolik liege darin begründet, dass eine nicht existente Welt beschrieben werde, greift einen<br />
wichtigen Punkt auf. Tatsächlich werden in <strong>Apokalypse</strong>n zwei Welten beschrieben, die in ihrer<br />
moralischen Absolutheit nicht anhand direkter Benennungen glaubhaft erfasst werden können.<br />
Darüber hinaus spielen die Behauptung geheimen Wissens <strong>und</strong> das In-Frage-Stellen <strong>der</strong><br />
vorherrschenden Wahrheit eine zentrale Rolle für die Verwendung einer symbolischen Sprache.<br />
Schließlich vermitteln die Texte häufig ein Gefühl <strong>der</strong> Gefahr <strong>und</strong> Bedrohung <strong>und</strong> müssen deshalb<br />
Codes enthalten, die nicht direkt erschließbar sind. Die Anwendung <strong>der</strong> Jungschen Analysemethode<br />
soll zu diesem Aspekt <strong>der</strong> Apokalyptik noch weitere Ergebnisse beitragen <strong>und</strong> damit das Spektrum <strong>der</strong><br />
hier angebotenen Deutungen erweitern.<br />
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