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Wilhelm Bracke
Dem Manne des Volkes,<br />
dem Freunde der Menschheit<br />
Wilhelm Bracke<br />
3., überarbeitete Auflage<br />
© Frieder Schöbel, 2005
Wilhelm Bracke<br />
INHALTSVERZEICHNIS<br />
Vorwort zur 3. Auflage 5<br />
Der beste Bürger und wahrste Patriot – Das Leben eines Sozialdemokraten 8<br />
Wilhelm Brackes Zeit 25<br />
Die politischen Ansichten Wilhelm Brackes 31<br />
Dokumente und Zeugnisse 36<br />
Brackes Arbeit als Stadtverordneter 57<br />
Wilhelm Bracke im Reichstag 65<br />
Beerdigung Wilhelm Brackes: Die Geistlichkeit blieb fern 71<br />
Statt einer Zusammenfassung: Brackes Glaubensbekenntnis 76<br />
Zeittafel: Leben und Tätigkeit Wilhelm Brackes 1842 – 1880 80<br />
Literatur 86<br />
4
Vorwort<br />
VORWORT ZUR 3. AUFLAGE<br />
Aufs Neue legen wir zum 125. Todestag Wilhelm Brackes am 27. April 2005 diese<br />
Schrift in die Hand der LeserInnen. Wir haben sie durch Aufnahme einer Reihe von<br />
Briefen aus Brackes Feder erweitern können, die seine Persönlichkeit lebendiger werden<br />
lassen.<br />
Wilhelm Bracke ist immer noch von höchster Aktualität. Ist es doch selbst in unserem<br />
reichen Land bisher nicht gelungen alle seine Forderungen zu erfüllen – die doch endlich<br />
auf ein würdiges Menschenleben für alle zielten.<br />
So beobachten wir mit Entsetzen, dass wie in fast allen Ländern auch bei uns heutzutage<br />
Reiche immer noch reicher werden, Manager sich Gewinne zuscheffeln, während<br />
sie abhängig Beschäftigte entlassen, junge Leute und Alte arbeitslos werden oder bleiben.<br />
Um Ungerechtigkeit und Ausbeutung zu stoppen, die Demokratie zu entwickeln<br />
setzte Wilhelm Bracke mehr als sein Vermögen ein.<br />
Als Lehrer, Schüler und Eltern für Wilhelm Bracke stimmten, wollten sie die aufopferungsvolle<br />
Arbeit des wenig bekannten, früher hoch geachteten Politikers und Kaufmanns<br />
würdigen. Am 17. März 1981 beschloss die Gesamtkonferenz der 1971 gegründeten<br />
ersten Braunschweiger Integrierten Gesamtschule den Namen Wilhelm Brackes,<br />
des Mitbegründers der damaligen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, der Vorläuferin<br />
der SPD, für sich zu beantragen. Ein Jahr zuvor hatte die Stadt mit einer Ausstellung in<br />
der „Brücke“ Wilhelm Brackes 100. Todestages gedacht. Früher waren an seinen Geburtstagen<br />
Zehntausende Braunschweigerinnen und Braunschweiger zu seinem Grab<br />
auf dem Petrikirchhof gezogen.<br />
Ende der zwanziger Jahre wurde an der Broitzemer Straße der Bracke-Hof gebaut, wo<br />
ein kleiner Gedenkstein an den Namensgeber erinnert. Seit 1945 gibt es in Rühme die<br />
Brackestraße, wie übrigens sonst nur in Leipzig-Grünau.<br />
Die erste Auflage dieser Schrift veröffentlichte Bernd Rother als seine Dissertation<br />
ebenfalls 1980. Er nutzte für sie vor allem die Arbeiten Georg Eckerts, des weltweit<br />
bekannten Braunschweiger Wissenschaftlers und Gründers des Internationalen<br />
Schulbuchinstituts. Ihm verdanken wir die meisten Veröffentlichungen über Wilhelm<br />
Bracke. Er hatte bei seinen Auslandsreisen mehrfach staunend erlebt, dass ihn Menschen<br />
auf Bracke ansprachen: „Ach, Sie kommen aus der Stadt von Bracke!“<br />
1984 haben Ingrid Krieger und ich diese Schrift für die 2. Auflage völlig umgearbeitet,<br />
die Lesbarkeit und das Layout verbessert. Aus diesem Grund wurde auch die breite<br />
Darstellung der politischen Theorie zugunsten des Abdrucks von mehr Dokumenten<br />
5
Wilhelm Bracke<br />
und Fotos kürzer gefasst.<br />
Autoren aus der DDR haben sich ebenfalls mit Wilhelm Bracke befasst. Heinrich<br />
Gemkow gab 1963 den Briefwechsel Brackes mit Marx und Engels heraus. Jutta Seidel<br />
beschrieb schon 1966 seine Entwicklung vom Lassalleaner zum Marxisten. Da in Brackes<br />
Leben sowohl lassalleanische als auch marxistische Elemente mehrfach wirksam wurden,<br />
berufen sich heute Sozialdemokraten, Sozialisten und kommunistische Gruppen<br />
teils zu Unrecht auf ihn. Die ideologische Auseinandersetzung ist aber glücklicherweise<br />
seit der Wende fast verschwunden. Die Erhaltung von Arbeit, Frieden und Umwelt<br />
sind jetzt die drängendsten Probleme.<br />
Bracke studierte zuerst mit Begeisterung Geschichte. Dies führte ihn zur Turner-,<br />
Freiheits- und Arbeiterbewegung (Gründung des MTV und des ADAV in Braunschweig)<br />
und dadurch zu dem großen Denker seiner Zeit, Karl Marx. Bei ihm fand er die weiteren<br />
Grundlagen für seinen Kampf um Menschlichkeit, Gerechtigkeit und Demokratie.<br />
Für diese Ziele trat er immer friedlich und selbstlos, aber konsequent, ein.<br />
1989 konnten wir lernen, dass friedliche Umwälzungen im Sinne Brackes möglich<br />
sind, wenn die neuen Lektionen der gewaltfreien Aktion und des Zivilen Ungehorsams<br />
gelernt und eingeübt werden – eine Entwicklung, die in Deutschland erst an ausländischen<br />
Vorbildern studiert werden musste, an Henry David Thoreau, Mahatma Gandhi,<br />
Leo Tolstoi, Albert Schweitzer, Martin Luther King und Bertrand Russell. Sie stehen für<br />
ein entschiedenes Leben im Sinne von Wahrheit, Gerechtigkeit, Freiheit und Solidarität.<br />
Sie haben uns Wege in die Zukunft aufgezeigt.<br />
Sicher müssen in der praktischen Politik vorsichtig Abstriche gemacht, Bündnisse<br />
geschlossen und nachhaltige Organisationsformen aufgebaut werden, um wenigstens<br />
Teilerfolge zu erreichen. Das heißt aber nicht, dass grundsätzliche Ziele aus tagespolitischen<br />
Erwägungen aufgegeben werden sollten. Einige von Brackes Zielen wurden<br />
von der sozialdemokratischen Bewegung in Deutschland durchgesetzt:<br />
– das allgemeine und gleiche Wahlrecht (1919)<br />
– die soziale Absicherung der unteren Schichten<br />
– die Schulgeldfreiheit (1953)<br />
– in größerem Umfang Eigentumserwerb aller Schichten<br />
– die direkte Einkommensteuer<br />
– die Kontrolle über die Reichen durch Kartellamt und Medien<br />
– die Mit- und Selbstbestimmung eines größeren Teils der Bürger<br />
– die Abschaffung der Prügelstrafe (1971 in Niedersachsen).<br />
6
Vorwort<br />
Nicht durchgesetzt sind mindestens folgende Ziele:<br />
– die Abschaffung des Krieges und der stehenden Heere<br />
– Entscheidung über Krieg durch das Volk<br />
– ein einheitliches und gerechtes Gemeinschafts-Schulsystem<br />
– unentgeltlicher Unterricht in allen Bildungsanstalten<br />
– Versöhnung der Religionen, so wie sie der große Braunschweiger Aufklärer<br />
Lessing gefordert hatte, über dessen Vorbildfunktion (neben Marx und Jacoby)<br />
auch Wilhelm Bracke einen Aufsatz geschrieben hat.<br />
– eine einzige Einkommensteuer<br />
– eine auch für die Sozialdemokratie jederzeit offene Braunschweiger Zeitung<br />
– Gerechtigkeit und Menschenrechte für alle Menschen der Erde.<br />
Für uns bleibt die Erkenntnis: Information, die Bildung der Betroffenen, ihre Aktivierung<br />
und ihr Zusammenschluss sind unabdingbare Voraussetzungen für Verbesserungen.<br />
Heute bewirken dies in beachtlichem Umfang die Zivilgesellschaft und die Bürgerinitiativen.<br />
Brackes idealistischer Ansatz und seine politische Arbeit können uns immer<br />
noch als Grundsatz, Mahnung und Ermunterung dienen, auf diesem Wege weiterzugehen.<br />
Nicht nur die drei Braunschweiger, sondern alle Gesamtschulen der Bundesrepublik<br />
(etwa 15 Prozent) haben auch heute noch gegen Missstände zu kämpfen, gegen die<br />
Wilhelm Bracke aufgestanden ist: gegen Vorurteile, gegen Privilegien, zu wenig Geld<br />
für das Bildungswesen und zu große Klassen. Mögen bald mehr Kinder länger gemeinsam<br />
erzogen werden können – so wie es Wilhelm Bracke wollte.<br />
Frieder Schöbel<br />
7
Wilhelm Bracke<br />
DER BESTE BÜRGER UND WAHRSTE PATRIOT<br />
Das Leben eines Sozialdemokraten<br />
Ich will nicht Thaler auf Thaler häufen<br />
Wilhelm Bracke entstammte einer angesehenen Braunschweiger Kaufmannsfamilie.<br />
Sein Großvater war der Besitzer der Mühle in Groß-Denkte, einem Dorf am Fuße der<br />
Asse. Sein Vater Andreas Bracke wurde Müllermeister und Administrator der Burgmühle<br />
in Braunschweig. Bis vor wenigen Jahren stand dessen Name an seinem ehemaligen<br />
Lagerhaus an der Hildesheimer Straße.<br />
Wilhelm Bracke wurde am 29. Mai 1842 in Braunschweig geboren, wo er in der<br />
Geborgenheit des väterlichen Hauses glückliche Kinderjahre verlebt zu haben scheint.<br />
Als Schüler des Martino-Katharineums, der angesehensten und traditionsreichsten Schule<br />
der Stadt, interessierte er sich vor allem für Geschichte, Literatur, Physik und Chemie.<br />
Die Vorliebe zu den aufstrebenden Naturwissenschaften,<br />
die das Weltbild der europäischen Intelligenz<br />
in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts<br />
mehr und mehr bestimmte, blieb ihm auch<br />
in seinen späteren Lebensjahren erhalten, ebenso<br />
wie das rege Interesse für geschichtliche und<br />
politische Probleme. Als erwachsener Mann widmete<br />
er einen nicht geringen Teil seiner spärlichen<br />
Freizeit naturwissenschaftlichen Studien<br />
und Experimenten, für die er sich einen eigenen<br />
Raum, die sogenannte Sternwarte, eingerichtet<br />
hatte. Sein Vater, der 1856 in dem Haus Hintern<br />
Brüdern 9, einem stattlichen Fachwerkbau,<br />
Geburtshaus Brackes Hintern Brüdern<br />
eine gutgehende Mehl- und Getreidehandlung eröffnet hatte, wollte seinen Sohn auf<br />
die künftige Leitung des Geschäftes vorbereiten. Den jungen Wilhelm Bracke drängte<br />
es dagegen zum Studium der Naturwissenschaften: Mein innigster Wunsch möge mir<br />
Erfüllung werden, schrieb er seinem Vater.<br />
Ich will Physik und Chemie studieren, um an dem Fortschritt der Menschheit<br />
Antheil zu nehmen. Ich will nicht Thaler auf Thaler häufen.<br />
Vater und Sohn einigten sich auf einen Kompromiss: Wilhelm arbeitete im väterlichen<br />
Geschäft, erhielt aber die Genehmigung, sich zugleich am Collegium Carolinum, der<br />
8
Der beste Bürger und wahrste Patriot<br />
heutigen Technischen Universität, weiterzubilden. Dort geriet Bracke unter den Einfluss<br />
des Historikers Dr. Wilhelm Aßmann, der am Vorabend der Revolution von 1848/49<br />
eine führende Rolle in der Deutschkatholischen Gemeinde der Stadt Braunschweig gespielt<br />
hatte und nach Frankfurt zum Vorparlament deputiert worden war. Nach seinem<br />
Anschluss an die lassalleanische Bewegung war Bracke bemüht, seinen alten Lehrer, der<br />
als überzeugter Liberaler dem Sozialismus ablehnend gegenüberstand, für die Sache der<br />
Arbeiter zu gewinnen. (ECKERT, 100 Jahre..., S. 51f.)<br />
Bereits drei Monate nach der Gründung der Braunschweiger Gruppe des Allgemeinen<br />
Deutschen Arbeitervereins (ADAV) 1865 durch Wilhelm Bracke wurde er in den – wie<br />
wir heute sagen würden – Bundesvorstand gewählt. In zahlreichen Versammlungen<br />
versuchte er die Braunschweiger Arbeiter, die Handwerksgilden und das in Braunschweig<br />
dominierende Kleinbürgertum für das lassalleanische Programm zu gewinnen. 1867<br />
hatte die junge Partei den ersten Wahlkampf zu bestehen, bei dem sie in beiden Braunschweiger<br />
Wahlkreisen weit über 2.000 Stimmen gewann. Georg Eckert schreibt über<br />
Wilhelm Brackes erste politische Arbeit:<br />
Die besondere Stellung der Braunschweiger Partei in diesen ersten beiden<br />
Dekaden ihrer Entwicklung kann nicht ohne die Persönlichkeit Wilhelm<br />
Brackes verstanden werden, einer der liebenswertesten, klügsten und charaktervollsten<br />
Gestalten aus der Frühzeit der deutschen Sozialdemokratie.<br />
Bereits 1865, im zweiten Jahr der Lassalleschen Agitation, gründete er<br />
den Braunschweiger Zweigverband des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins,<br />
der sich bald so großes Ansehen erwarb, daß Braunschweig 1867<br />
zum Tagungsort der Generalversammlung gewählt wurde. In den unerfreulichen<br />
Auseinandersetzungen um das politische Erbe Lassalles und im<br />
Widerstand gegen die Schweitzerische Verbandsführung begannen Bracke<br />
und die Braunschweiger bald, eigene Wege zu gehen, die sie über Johann<br />
Jacoby zu Bebel und Liebknecht führten. Im August 1869 gründeten<br />
die oppositionellen Lassalleaner und die Führer der Arbeitervereinsbewegung<br />
die erste marxistische Partei auf deutschem Boden, die Sozialdemokratische<br />
Arbeiterpartei, die sich als deutsche Sektion zu den Prinzipien<br />
der Internationalen Arbeiterassoziation bekannte.<br />
Als Anerkennung für Brackes entschiedenes Auftreten gegen Schweitzer wählten die<br />
Delegierten des Eisenacher Gründungsparteitages und der Stuttgarter Konferenz von<br />
1870 Braunschweig-Wolfenbüttel zum Sitz des Parteiausschusses, des obersten Führungsgremiums<br />
der Partei. (ECKERT, Aus den Anfängen..., S. 3) August Bebel schildert<br />
Brackes Anteil an der Entstehung des Aufrufs zur Parteigründung:<br />
9
Wilhelm Bracke<br />
Es war Mitternacht, als der prächtige Bracke sich über das in der Wirtsstube<br />
stehende Billard streckte, um auf demselben den Aufruf niederzuschreiben,<br />
für den als dann Unterschriften für die Einberufung eines Kongresses<br />
gesammelt werden sollten.<br />
Jutta Seidel würdigt den ehrlichen und engagierten politischen Charakter:<br />
... ließ sich Bracke in seiner politischen Aktivität auf die Dauer keine Schranken<br />
setzen, wie sie durch die Festlegung auf Lassallesche Dogmen und<br />
durch politisches Paktieren mit Bismarck vom Präsidenten des Vereins errichtet<br />
wurden. Dazu ist Bracke ein viel zu selbstständiger, schöpferisch<br />
denkender Mensch. (SEIDEL, Wilhelm Bracke, S.<br />
Der glückliche Bildungsweg eines Bourgeois<br />
Wilhelm Bracke entwickelte sich in den ruhigen, soliden Verhältnissen, wie sie nur dem<br />
Mittelstande eigen sind, der sich ein stolzes Unabhängigkeitsgefühl bewahrt hat, gestützt<br />
auf eine sichere Wohlhabenheit und auf das Bewusstsein persönlicher Tüchtigkeit.<br />
Diesen Verhältnissen entsprechend war sein Bildungsgang. Er besuchte nacheinander<br />
die Volksschule, das Realgymnasium, die polytechnische Anstalt, vollendete seine<br />
kaufmännische Berufsbildung bei der Braunschweigischen Bank und vollzog durch Reisen<br />
im In- und Ausland den Übergang von der Schule ins Leben.<br />
Auch die Entwicklung des Charakters, dessen, was den Menschen im Denken und<br />
Handeln bestimmt, nahm früh eine besondere Richtung. Als Wilhelm Bracke, des<br />
Hochverrats angeklagt, vor dem Richter stand, rühmte ihn sein ehemaliger Lehrer, der<br />
71-jährige Professor Aßmann, als einen seiner besten Schüler, der sich stets durch großen<br />
Eifer, seltene Begabung und gründliches Studieren ausgezeichnet habe. Schon als<br />
Schüler habe er gerne freie Vorträge gehalten und schriftliche Arbeiten gemacht.<br />
Der erfahrene Pädagoge glaubte die feste Überzeugung aussprechen zu können, dass<br />
Bracke bei seinen Bestrebungen keine eigennützigen und selbstsüchtigen Zwecke verfolge,<br />
dass er zu den Charakteren gehöre, die völlig für das schwärmen, dem sie sich<br />
hingegeben haben, und die alles, was in ihren Kräften steht, aufbieten, um ihre Ideen zu<br />
verwirklichen.<br />
Wir wissen nicht viel über die politischen Gesinnungen in der Familie Bracke, es ist<br />
aber vielleicht von tieferer Bedeutung, dass Bracke bereits mit 18 Jahren an der Gründung<br />
des bis heute blühenden Männer-Turn-Vereins (MTV) entscheidenden Anteil nahm.<br />
Dass Bracke um die demokratische Tradition der deutschen Turnbewegung gewusst<br />
hat, bewies ein kleiner Zwischenfall bei der Tausendjahrfeier der Stadt im Jahre 1861.<br />
10
Der beste Bürger und wahrste Patriot<br />
Der MTV entschloss sich, ungeachtet einer polizeilichen Warnung, die schwarz-rotgoldene<br />
Fahne des Vereins von 1848 im Festzug mitzuführen. Als die Demonstration<br />
politische Debatten unter den Vereinsmitgliedern zur Folge hatte, entschlossen sich die<br />
ersten drei Turnratsmitglieder zum Austritt. Nur Wilhelm Bracke bekannte sich zu dem<br />
gefassten Entschluss und damit zugleich zu der Tradition von 1848.<br />
Dass Brackes Weltanschauung auch eine religiöse Wurzel hatte, zeigt das folgende<br />
Gedicht. Es wurde von Bracke am 5. Dezember 1870 im Braunschweiger Klostergefängnis<br />
St. Ägidien niedergeschrieben auf der Rückseite eines Bandes von Gustav<br />
Freytag, Die verlorene Handschrift:<br />
Sonst weilt die Freude rings bei Hoch und Nieder<br />
An Deinem Wiegenfeste, heil’ger Christ,<br />
Der Du ein Vorbild hoher Liebe bist,<br />
Die alle Menschen gleich umfaßt als Brüder,<br />
Heut’ tönt durch herrliche Gefilde wieder<br />
Der Lärm des Kriegs, der Dein Gebot vergißt,<br />
Und manchen Theuern treue Liebe mißt,<br />
Und manche Träne rinnt durch heiße Lider,<br />
Den Meinen aber möcht’ um mein Geschick<br />
Ich heute bannen Kummer, Sorg’ und Klage,<br />
Indem ich auf Dein reines Vorbild seh’,<br />
Du opfertest bereit Dein ganzes Glück,<br />
Ich mit den Meinen freudig wen’ge Tage<br />
Im hohen Dienst der göttlichen Idee.<br />
(ECKERT, Die Braunschweiger Arbeiterbewegung..., S. 354)<br />
Als 1867 der erste Band des Kapitals erschien, begann sich Bracke mit den Theorien des<br />
Wissenschaftlichen Sozialismus zu befassen und einen Braunschweiger Leserkreis mit<br />
den Gedankengängen des Marxschen Werkes vertraut zu machen. Ein Jahr später hielt<br />
er auf der Hamburger Generalversammlung der Lassalleaner ein Grundsatzreferat: Das<br />
Werk von Karl Marx. Im gleichen Jahr begann er sich auch mit den Ideen und Vorschlägen<br />
des alten Königsberger Demokraten und Veteranen der 1848er Bewegung in Preußen,<br />
Dr. Johann Jacoby, öffentlich auseinanderzusetzen. Als Jacoby sich im Frühjahr<br />
1868 mit den sozialen Forderungen der Arbeiterschaft solidarisch erklärte, unterbreitete<br />
Bracke einer Massenversammlung auf der Asse sechs Thesen über Das demokratische<br />
Programm von Dr. Johann Jacoby. Er bekannte sich dabei zu einer Art demokratischer<br />
Sammlung, zu einem Zusammengehen aller freisinnigen Elemente mit der Sozialdemokratischen<br />
Arbeiterpartei. Der recht diktatorische Präsident Jean Baptiste von Schweit-<br />
11
Wilhelm Bracke<br />
zer, der um die geistige Einheit der lassalleanischen Organisation besorgt war, antwortete<br />
auf Brackes Vorgehen mit einem heftigen Angriff, der zu der späteren Entfremdung<br />
zwischen ihm und der Braunschweiger Gemeinde des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins<br />
beigetragen haben dürfte.<br />
1869 näherte sich Bracke den treuesten Parteigängern der Fraktion Marx auf deutschem<br />
Boden, August Bebel und Wilhelm Liebknecht. Dank ihrer Vermittlung kam es<br />
im Oktober 1869 zu einer Begegnung zwischen Wilhelm Bracke und Karl Marx, die<br />
über den künftigen politischen Weg des jungen Braunschweiger Arbeiterführers entscheiden<br />
sollte. Marx befand sich auf einer kürzeren Deutschlandreise, die ihn u. a.<br />
nach Hannover ... führte. Als ihm dort der Besuch Brackes und anderer Braunschweiger<br />
Lassalleaner angekündigt wurde, war er zunächst wenig erbaut:<br />
Sonntag kommt andre Deputation von Braunschweig, schrieb er an Engels,<br />
Bracke, Bonhorst, Spier. Die ist mir minder angenehm.<br />
Die Begegnung scheint ihn aber sehr bald für den jugendlichen, begeisterungsfähigen<br />
Bracke eingenommen zu haben. Jedenfalls hat sich Marx, der in seinen Briefen außerordentlich<br />
grob und sarkastisch werden konnte, über Bracke stets wohlwollend und lobend<br />
ausgesprochen, es sei denn, dass er ihn gelegentlich als zu gutmütig und weichherzig<br />
tadelte. (ECKERT, Aus den Anfängen..., S. 7)<br />
Ein fester Charakter und guter Freund<br />
Ein Zusatz in einem Brief von Wilhelm Bracke ist für den freundschaftlichen Verkehrston<br />
zwischen Marx und Bracke kennzeichnend. Bracke, der von der Begegnung ganz<br />
begeistert berichtete, scheint bei dieser Gelegenheit das Vertrauen von Marx in so hohem<br />
Maße gewonnen zu haben, dass er von nun an als besonderer Vertrauensmann der<br />
Londoner betrachtet wurde. (K. MARX/F. ENGELS: Briefwechsel..., S. 5) Dazu schreibt<br />
August Bebel, dass Bracke von der Begegnung mit Marx aufs höchste entzückt war; er<br />
sei, schrieb er ihm‚ ein lieber Mensch, sie hätten sich beide sehr gut verständigt. Strafen<br />
und Verhaftungen kommentierte Wilhelm Bracke mit tröstlichen, aber kühlen strategischen<br />
Überlegungen, beispielsweise schrieb er zum Strafantritt August Bebels 1872:<br />
Wenn Eure Familien nicht wären, könnte ich fast triumphieren über die<br />
Einfalt unserer Feinde! Du zum Beispiel wirst Dich körperlich erholen und<br />
viel lernen; dann bist Du ein verdammt gefährlicher Kerl, und schließlich<br />
wird Deine liebe Frau auch, trotz des harten Loses der Trennung, zufrieden<br />
sein, wenn Du auf diese Weise eine Kurzeit durchmachst, die Dich wieder<br />
kräftigt fürs Leben.<br />
12
Der beste Bürger und wahrste Patriot<br />
Tatsächlich hat Bebel die Festungshaft in diesem Sinne – studierend und schriftstellernd<br />
– genutzt. (BEBEL, Aus meinem Leben II, S. 214f.) Oder an anderer Stelle:<br />
Sprich darüber mit Liebknecht. Ueberhaupt wäre es mir ganz lieb, wenn<br />
Du diesen Brief an Liebknecht übergiebst, da er ja auch ebenso gut an ihn<br />
adressirt ist u. es mir sehr lieb wäre, wenn auch Liebknecht’s Frau meine<br />
obigengutenTrostgründe zu würdigen Gelegenheit bekäme. Und nun<br />
bewahrt Euch nur immer Euren Humor. Ueber Eure kühne Weinkeller-<br />
Unternehmung an jenem „heiligen“ Abend habe ich mich recht sehr gefreut.<br />
Herzlichen Gruß an Euch u. vor allem auch an Eure lieben Frauen!<br />
Auch meine kleine Liebste lässt Euch u. Eure Liebsten herzlich grüßen, bei<br />
Frau Bebel auch um ein ganz kleines, kleines Briefchen bitten. Euer Br.<br />
Ein großes Lob spricht später Wilhelm Blos in seinen Erinnerungen aus:<br />
Am gleichen Tage lernte ich auch meinen Chef, den Führer der Braunschweigischen<br />
Sozialdemokratie, Wilhelm Bracke jr., kennen. Sein Name<br />
war dadurch, daß man ihn mit dem ganzen Braunschweiger Ausschuß<br />
1870 in Ketten nach Lötzen geschleppt hatte, sowie durch den hinterher<br />
folgenden Prozeß in ganz Deutschland und darüber hinaus bekannt geworden.<br />
Er war ein langaufgeschossener Dreißiger, blaß und mager. Er<br />
sah mit seinem schlicht herabhängenden Haar wie ein trockener Gelehrter<br />
aus. Aber wenn er öffentlich sprach, dann belebte seine Züge das<br />
Feuer, das ihn beseelte. Ich habe nie einen besseren Volksredner gehört,<br />
jedenfalls keinen, der die Massen mehr mitreißen konnte, als Bracke ...<br />
Bracke und ich schlossen uns bald enge aneinander an. Es ist mir das eine<br />
der liebsten Freundschaften meines Lebens gewesen ... Ich verließ Braunschweig<br />
ungern, denn die schöne Kameradschaftlichkeit, die dort unter<br />
den Parteigenossen herrschte, hatte mir sehr gefallen. (BLOS,<br />
Denkwürdigkeiten..., S.)<br />
Auch die Angestellten seines Vaters äußerten voller Lob über Wilhelm Bracke:<br />
Es muß uns recht wundern, daß es sich Einer herausnehmen kann, über<br />
Jemanden zu urtheilen, der Er nicht kennt, wir dies aus dem Tageblatte<br />
vom vergangenen Sonntage sehen; wir müssen nun dem Herrn mittheilen,<br />
daß es recht unanständig ist, unsern jungen so verdächtigen zu wollen;<br />
unser junger Herr geht noch keine 27 Jahre mit Arbeitern um, wie bester<br />
Herr F. aber so viel ist gewiß, wenn sich bester Herr F. so viel Liebe erworben<br />
hat von seinen Arbeitern wie sich unser junger Herr bei uns Unterzeichneten<br />
erworben hat, so würden sie doch Leib und Leben für Ihn lassen,<br />
wie wir es für Ihn thun, denn Er verdient es mit recht, daß wir seine<br />
13
Wilhelm Bracke<br />
Taten rühmen, und wenn geehrter Herr mit unserem jungen Herrn schon<br />
Umgang gehabt hätte so würde Er nicht so berichten, und wenn ein jeder<br />
Brodtgeber so viel Liebe und Vertrauen zu seinen Leuten hätte, wie unser<br />
junger Herr so würde es mit den Arbeitern viel, viel besser stehen. Er genirt<br />
sich nicht vor jeder Arbeit, die vorkommt; er schleppt auch Mehlsäcke und<br />
weiß ganz gewiß, was arbeiten bedeutet obschon er noch nicht mal 27<br />
Jahre alt ist; also bester Herr F., lassen Sie sich doch nicht wieder einfallen,<br />
unsern jungen Herren so zu verläumden, sondern thun Sie nach seinen<br />
Werken und Worten, so werden Ihre Arbeiter Sie ewig im Andenken behalten.<br />
Ch. Roloff, A. Geffer, H. Wächter, Arbeiter der Firma A. Bracke<br />
(ECKERT, Die Flugschriften..., S. 349)<br />
Wilhelm Bracke – ein Vertrauensmann von Marx und Engels<br />
Weniger bekannt ist die Korrespondenz, die Marx und Engels länger als ein Jahrzehnt<br />
mit Wilhelm Bracke geführt haben. Bracke war neben Bebel und Liebknecht der bedeutendste<br />
Führer der jungen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei; er war im besten<br />
Sinne des Wortes einer der Vertrauensmänner von Marx und Engels in der deutschen<br />
Arbeiterbewegung der siebziger Jahre. (MARX/ENGELS, Briefwechsel..., S. 5)<br />
Da Bracke so eng mit Bebel und Liebknecht befreundet war, wussten Marx und Engels,<br />
dass jeder Rat, den sie Bracke erteilten, auch den anderen marxistischen Führern der<br />
deutschen Partei zuteil wurde. (MARX/ENGELS, Briefwechsel..., S. 21)<br />
Schon vor der entscheidenden Begegnung mit Marx hatte Bracke mit Schweitzer<br />
gebrochen. Das Streben des Präsidenten nach diktatorischer Vollmacht führte die oppositionellen<br />
Lassalleaner endgültig an die Seite von Bebel und Liebknecht. Am 22.<br />
Juni 1869 entschlossen sie sich in Magdeburg zu gemeinsamem Handeln; wenige Wochen<br />
später gründeten sie in Eisenach die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Deutschlands,<br />
die Vorläuferin der heutigen SPD. In Anerkennung seiner Verdienste um die<br />
Gründung und Konsolidierung der jungen Partei wurde der Braunschweiger Vorstand<br />
für zwei Jahre mit der Führung der Parteigeschäfte beauftragt. Bracke war damit in<br />
seinem 28. Lebensjahr einem der wichtigsten, mit großer Verantwortung betrauten<br />
Sprecher der sozialdemokratischen Arbeiterschaft geworden. Jutta Seidel zitiert seine<br />
zukunftsweisende Ablehnung des Personenkultes:<br />
Wir brauchen und wollen keine persönliche Spitze.<br />
(POLLMANN, Wilhelm Bracke, S. 26)<br />
14
Der beste Bürger und wahrste Patriot<br />
Ein Mann mit Mut und Besonnenheit<br />
In den stürmischen Geschehen dieser Jahre (Deutsch-Französischer Krieg, Reichsgründung,<br />
Pariser Kommune etc.) wurden Bracke und die neue Partei vor immer neue,<br />
nicht selten auch in den eigenen Reihen umkämpfte Entscheidungen gestellt. Bracke<br />
bewies dabei einen Mut und eine Besonnenheit, die sein Ansehen in der Partei fest und<br />
dauerhaft begründen sollten. Den Höhepunkt dieser Zeit bildete das berühmte Manifest<br />
vom 5. September 1870, mit dem die Braunschweiger Sozialisten – drei Tage nach<br />
der Katastrophe des Bonapartismus bei Sedan – für einen ehrenvollen Frieden mit der<br />
französischen Volksregierung eintraten. Bracke folgte damit dem Rat von Marx, der<br />
sich entschieden gegen jede Annexion im Westen ausgesprochen hatte.<br />
Vier Tage nach der Veröffentlichung seines Manifestes wurde der Braunschweiger<br />
Ausschuss mit Bracke an der Spitze auf illegale Weise verhaftet, in Ketten gelegt und<br />
unter unwürdigen Begleitumständen nach Ostpreußen transportiert, wo die Gefangenen<br />
in Lötzen auf der Feste Boyen in Untersuchungshaft gehalten wurden. (ECKERT,<br />
Wilhelm Bracke, S. 6f.) Im nachfolgenden Prozess wegen Vergehen gegen die öffentliche<br />
Ordnung, Vorbereitung des Hochverrats und Teilnahme an einem verbotenen Verein<br />
wurde Bracke am 25. November 1871 zunächst zu 16 Monaten, in der Revisionsverhandlung<br />
dagegen zu 3 Monaten Haft verurteilt, die er dann schon abgesessen hatte.<br />
Ins Gefängnis für den Frieden! Wenn in dieser Situation Frieden geschlossen worden<br />
wäre, wie es die Sozialdemokraten wollten, wären der Erste und Zweite Weltkrieg vielleicht<br />
verhindert worden.<br />
Von seinen Gegnern verfolgt<br />
In der Gefängniszelle entwarf Bracke auch das nachstehende, seiner Frau gewidmete<br />
Gedicht. Bracke hatte 1869 die Tochter des Zimmermeisters Walter aus Eschershausen<br />
geheiratet. Emilie Bracke, die ein Kind erwartete, war durch das Gerücht geängstigt<br />
worden, ihrem Mann drohe standrechtliche Erschießung. Ein Gesuch Brackes, seine<br />
Frau ohne Zeugen zu sprechen, wurde zunächst abgelehnt.<br />
Die Ablehnung dieses so natürlichen und so berechtigten Wunsches erregte<br />
in mir ein Gefühl des Hasses und des Abscheus und zum ersten<br />
Male in meinem Leben fuhr ein Fluch über meine Lippen, von dem ich<br />
wünschen will, daß er sich nicht bewahrheiten möge. Gegen die Entscheidung<br />
... erhob ich Beschwerde ... und hatte die Freud, – nach einer Masse<br />
wunderbarer Weiterungen ... – allein mit meiner Frau beisammen sein zu<br />
dürfen.<br />
15
Wilhelm Bracke<br />
Bracke schreibt deshalbseiner Frau:<br />
Meinem Weibe!<br />
Geliebtes Weib, seit uns das Schicksal trennte,<br />
Fühl ich, wie heiß zu Dir die Liebe ist,<br />
Wie Du so werth mir wie mein Leben bist<br />
Und sehnend streck ich nach Dir aus die Hände.<br />
Doch auch die Macht der Feinde hat ein Ende,<br />
frei werd ich sein, trotz ihrer argen List!<br />
O wenn ich wieder doch, in kurzer Frist,<br />
Geliebtes Mädchen, dich umarmen könnte!<br />
Und doch ich kanns; ich fühls in meiner Brust,<br />
Die Saat der Feinde wird im Keim ersticken;<br />
Frei werd ich bald, und Freude, Lieb und Lust<br />
Wird wieder dann aus Deinem Auge blicken<br />
Und froher wieder wird, nach langem Bangen,<br />
Geliebte, Dich Dein lieber Mann umfangen.<br />
5.12. (1870 ) (ECKERT, 100 Jahre..., S. 314)<br />
Aus der Haft entlassen, versuchte Bracke die Braunschweiger Parteiorganisation der<br />
SDAP neu aufzubauen. Im Frühjahr 1871, auf dem Höhepunkt des französischen Bürgerkrieges,<br />
wurde sie jedoch wegen Verfolgung verbotener Tendenzen aufgelöst. Als der<br />
Volksverein, der an ihre Stelle treten sollte, das gleiche Schicksal erlitt, gründete Bracke<br />
den Braunschweiger Volksfreund, der den Sozialisten der Stadt und des Herzogtums von<br />
nun an als einigendes Band und organisatorischer Sammelpunkt diente. Die Parteimitglieder<br />
wurden von nun an als Einzelmitglieder bei der zentralen Parteiorganisation<br />
geführt.<br />
Die Bindung der Arbeiter an ihr Blatt wurde durch die ständigen Repressalien der<br />
Regierung und Polizei eher noch verstärkt. Die Arbeiter identifizierten sich mit den<br />
linken Intellektuellen der Redaktion.<br />
Um der Braunschweiger Linken ein legales Betätigungsfeld zu sichern, versuchte Bracke<br />
die Angehörigen der Arbeiterbewegung und die Reste der bürgerlichen Demokratie im<br />
Demokratischen Wahlverein zusammenzuführen. Da sich die neue Organisation nur die<br />
ersten neun, nicht spezifisch sozialistischen Punkte des Eisenacher Programms zu eigen<br />
machte, stieß Bracke auf den entschiedenen Widerspruch von Liebknecht und Bebel,<br />
die ihn im Volksstaat des Bruches von Parteitagsbeschlüssen und eines Verstoßes gegen<br />
Grundprinzipien der Bewegung beschuldigten. Bracke setzte sich, unterstützt von der<br />
Braunschweiger Mitgliedschaft, erfolgreich zur Wehr.<br />
16
Der beste Bürger und wahrste Patriot<br />
Die nächsten Reichstagswahlen bewiesen zudem, dass seinem Versuch Erfolg beschieden<br />
war. Bereits im November 1872 war Bracke neben zwei bürgerlichen Demokraten<br />
in den Rat der Stadt gewählt worden, in dem er sich bald durch große Aktivität, nicht<br />
zuletzt durch sein Eintreten für das Schul- und Gesundheitswesen hervortat. 1874 gelang<br />
es Bracke, in allen drei Braunschweiger Wahlkreisen sowie im Bezirk Leipzig-Land<br />
einen hohen Prozentsatz der Gesamtstimmenzahl auf sich zu vereinen. 1877 errang der<br />
Demokratische Wahlverein in der Stadt Braunschweig die absolute Mehrheit; Bracke<br />
selbst wurde von der alten sozialistischen Hochburg Glauchau-Meerane zum erstenmal<br />
in den Reichstag entsandt.<br />
Im Laufe der Auseinandersetzungen mit seinen Freunden Bebel und Liebknecht versuchte<br />
Bracke seinen eigenen prinzipiellen Standpunkt klarer zu umreißen. In einem<br />
vielbeachteten Beitrag zur Programmdiskussion der Jahre 1873/ 74 wandte er sich – in<br />
klarem Bruch mit seiner lassalleanischen Vergangenheit – gegen den Punkt 10 des Eisenacher<br />
Programms, der ihm als zu unsozialistisch, den Anforderungen der Klassenbewegung<br />
nicht mehr zu entsprechen schien. Als die Vereinigung der beiden deutschen<br />
Arbeiterparteien 1875 eine neue, heftige Programmdiskussion zur Folge hatte, stellte<br />
sich Bracke mit Entschiedenheit auf die Seite von Marx und Engels.<br />
Macht man einmal den Lassalleanern Konzessionen, erklärte er Engels,so<br />
weiß ich nicht, wie das enden soll. Es gibt das vielleicht dieselbe schiefe<br />
Ebene, die rettungslos die Fortschrittler und Liberalen bergab geführt hat<br />
... Ich möchte doch gerne wissen, wie Sie und Marx über die Angelegenheit<br />
denken. Ihre Erfahrung ist die reifere, Ihre Einsicht eine bessere als die<br />
meine ...<br />
Marx und Engels handelten unverzüglich. Am 5. Mai sandten sie Bracke die später so<br />
berühmt gewordene Kritik des Gothaer Programms mit der Bitte, sie an die entscheidenden<br />
Parteiführer weiterzuleiten. Der Vereinigungswille der Mitgliedschaft erwies sich<br />
jedoch als so übermächtig, dass die Führung alle theoretischen Bedenken beiseite schob.<br />
Als der Parteitag das neue Programm nach einigen Modifikationen angenommen hatte,<br />
bat man Bracke, Marx und Engels zu besänftigen. (ECKERT, Wilhelm Bracke, S. 7f.)<br />
Nicht nur gehörte er zu den hervorragendsten und von den Gegnern gefürchteten<br />
Führern der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, sondern er war auch einer der gescheitesten<br />
und unermüdlichsten Agitatoren. Um seiner Sache möglichst kräftig dienen zu<br />
können, schaffte sich der Getreide- und Mehlhändler eine eigene Buchdruckerei an<br />
und begründete ein Verlagsgeschäft für sozialdemokratische Schriften, das sehr bald<br />
eine große Bedeutung erlangte. Was von ihm vor Gericht ausgesagt wurde, das bestätig-<br />
17
Wilhelm Bracke<br />
te er jetzt mit größerem Eifer denn je zuvor. Er wollte den Arbeitern helfen, aber um das<br />
mit gutem Erfolge tun zu können, suchte er sie aufzuklären, bildend und veredelnd auf<br />
sie zu wirken. Zu diesem Zwecke nahm er eine Masse von Broschüren und mehrere<br />
größere Werke in sein Verlagsprogramm auf. (ECKERT, 100 Jahre..., S. 314)<br />
Der Braunschweiger Volksfreund<br />
Während der Lötzener Festungshaft reifte Brackes Entschluss, eine eigene Zeitung für<br />
die sozialistischen Arbeiter herauszugeben. Und unter großen persönlichen Opfern konnte<br />
am 15. Mai 1871 der Braunschweiger Volksfreund erscheinen, der sich schnell zu einem<br />
führenden Organ der Eisenacher Partei entwickelte. In ihm wurden entschieden<br />
die Interessen der Arbeiter in den Lohn- und Streitkämpfen vertreten und mutig der<br />
preußisch-deutsche Militarismus bekämpft.<br />
Kein Wunder, dass die den Junkern und Großbourgeois dienende Bürokratie alles<br />
daran setzte, diesem wahren Volksfreund durch Konfiskationen und Prozesse den Garaus<br />
zu machen. Allein im Monat September 1872 wurden gegen Bracke als damals<br />
verantwortlichem Redakteur 15 Strafverfahren eingeleitet. Doch dank der Opferbereitschaft<br />
der Braunschweiger Arbeiter, ihrer Redakteure und Brackes selbst, widerstand die<br />
Zeitung allen Unterdrückungsmaßnahmen, bis sie in den Oktobertagen 1878 mittels<br />
des Sozialistengesetzes verboten wurde. (MARX/ENGELS, Briefwechsel..., S. 18)<br />
Marx und Engels schätzten Brackes Wirksamkeit als sozialistischer Verleger hoch ein<br />
und unterstützten ihn unermüdlich mit Rat und Tat. (MARX/ENGELS, Briefwechsel...,<br />
S. 21)<br />
Auch als Schriftsteller suchte er zu wirken. Die von ihm verfassten Broschüren hatten<br />
großen Einfluss in der Partei und eine derselben wurde in mehr als 200.000 Exemplaren<br />
verbreitet ... Überall bewährte er das Wort, das in dem Hochverratsprozess ein<br />
Zeuge über ihn gesprochen hatte: an alles, was er einmal für gut hält, geht er mit<br />
Lust, Liebe und Eifer. (ECKERT, 100 Jahre..., S. 314)<br />
Eine tüchtige Kraft oder ein Schwärmer?<br />
In Bracke personifizierte sich seit 1865 die Arbeiterbewegung in Braunschweig; er war<br />
anfangs fast der einzige Redner in den Versammlungen, so beispielsweise auch auf einer<br />
Versammlung in Holzminden, die wie folgt kommentiert wurde:<br />
Zunächst müssen wir die durchaus ruhige und würdige Haltung constatiren,<br />
welche Herr Bracke von Anfang bis zu Ende zu behaupten verstand, auch<br />
gegenüber den mehrfachen Störungen, die ihm keinen Zweifel an der<br />
18
Der beste Bürger und wahrste Patriot<br />
Hoffnungslosigkeit seiner Bemühungen an hiesigem Platze lassen konnten.<br />
Obgleich ersichtlich angegriffen und abgespannt von den Anstrengungen<br />
der vorhergehenden Tage, wußte er in seinem, wie schon bemerkt,<br />
fast 2stündigen Vortrage mit beredtem Munde seine Sache zu führen<br />
und diejenigen Zuhörer, denen ein Verständniß für parlamentarisches<br />
Leben sowohl, als für den Gegenstand selbst nicht abging, zu fesseln,<br />
zeigte sich auf allen einschlägigen Sätteln gerecht, schlagfertig auf alle<br />
Einwürfe, voll Begeisterung und Ueberzeugungstreue, wie man denn seinem<br />
ganzen bisherigen Auftreten das Zeugniß hohen Muthes nicht versagen<br />
kann. Wir nicht allein haben aus seiner Begegnung den Eindruck<br />
Die erste Ausgabe des Braunschweiger Volksfreunds<br />
19
Wilhelm Bracke<br />
einer durchaus interessanten Erscheinung, eines wenn auch immerhin von<br />
Schwärmerei getragenen Talents mit fortgenommen. Herr Bracke ist offenbar<br />
eine tüchtige Kraft, über welche ohne Weiteres abzusprechen und<br />
abzuurtheilen sehr wenig Einsicht verriethe, eine Kraft, die, wenn sie erst<br />
noch die nöthigen Läuterungsprocesse durchgemacht und die vollständige<br />
Reife erlangt haben wird, ihren Weg schon machen wird, und falls sie<br />
sich von Eitelkeit und Arroganz frei zu halten weiß, vielleicht noch einmal<br />
gesucht sein möchte, zumal tüchtige parlamentarische Kräfte, nach den<br />
Schwierigkeiten bei den bisherigen Reichstagswahlen zu urtheilen, im<br />
Herzogthume nicht allzudick gesäet zu sein scheinen; eine Kraft, die nur in<br />
die richtigen Hände kommen und mit Wohlwollen auf den rechten Weg<br />
gebracht werden muß, eine Kraft endlich, mit der sich zu messen, oder die<br />
zu fördern, keineswegs eine Unehre ist, wie solches in einer andern Wählerversammlung,<br />
wenn wir nicht irren in Wolfenbüttel, behauptet wurde.<br />
Etwas Anderes ist es mit der Sache, die er, wie wir glauben, nicht auf<br />
immer vertritt. Wie schon erwähnt, muß es Herrn Bracke vollständig klar<br />
geworden sein, dass er auch nicht einen seiner Zuhörer für seine Ansichten<br />
gewonnen hat, wie verschieden, rein äußerlich, oder auch auf völlig<br />
mangelndem Verständniß beruhend, die Gründe Mancher sein möchten.<br />
(SONDERDRUCK Braunschweigisches Jahrbuch, Band 48, S. 117)<br />
In der zweiten Hälfte der siebziger Jahre wurde Brackes Leben mehr und mehr von<br />
Leiden und Krankheit überschattet. Trotz der aufopfernden Pflege durch seine Frau<br />
verschlimmerte sich sein Zustand von Jahr zu Jahr. Die Sorge um seine vier Kinder, vor<br />
allem aber die aufreibende Tätigkeit als Kaufmann, Verleger, Parlamentarier und Parteiführer<br />
zehrten an der Wurzel seiner Kraft. (ECKERT, Wilhelm Bracke, S. 9)<br />
Brackes Gesundheitszustand hatte sich nicht zuletzt wegen seiner aufopfernden politischen<br />
Tätigkeit fortlaufend verschlechtert. Bereits 1877 schrieb Engels an ihn:<br />
Sie sind ja ein schrecklich von Krankheiten geplagter Mann. Man sollte<br />
glauben, das Braunschweig hätte ein schauerlich ungesundes Klima. Gicht,<br />
Rheumatismus, Masern und eine unbekannte Krankheit obendrein, das ist<br />
ja haarsträubend! Hoffentlich läuft alles günstig ab. (ECKERT, Aus den<br />
Anfängen..., S. 67) Dabei war dieser erstaunlich tätige Mann durch und<br />
durch krank. Wie ein kleines Kind mußte er sich nähren, um die Krankheit<br />
in erträglichen Grenzen zu erhalten. Hoffnungslos kam er im vergangenen<br />
Herbste aus dem Bade – er wußte es, daß seine Tage gezählt seien.<br />
Aber sein Muth war nicht gebrochen, und nicht leicht dürfte es einen zweiten<br />
Menschen geben, der mit so unerschütterlicher Hoffnungsfreudigkeit<br />
den endlichen Sieg der von ihm vertretenen Sache erwartete, als Bracke.<br />
20
Der beste Bürger und wahrste Patriot<br />
Obwohl gerade er von dem Sozialistengesetze besonders hart getroffen<br />
wurde (fast sein ganzer Verlag wurde verboten und viele tausend Mark hat<br />
er verloren); obwohl auch er die bösesten Erfahrungen in seiner Partei<br />
gemacht hatte, so war er doch fröhlichen Muths. Was man ihm auch dagegen<br />
einwenden mochte – er ließ sich nicht erschüttern. Und man sah,<br />
man fühlte es, daß er kein Schwärmer, kein Fanatiker war; im Gegenteil,<br />
er war eine kühl berechnende, sorgfältig erwägende Natur, und was er<br />
sagte, war bei ihm kein Glaube, kein von einer Autorität übernommenes<br />
Dogma, sondern eine durch redliche Arbeit und eigenes Nachdenken errungene<br />
Überzeugung. So gehörte er zu den wenigen seiner Partei, die<br />
sich von dem Lassallekultus fernhielten. Trotzdem schätzte er Lassalle außerordentlich<br />
hoch, wie er denn unmittelbar vor Erlaß des Sozialistengesetzes<br />
mit dem Plane sich beschäftigte, eine kritische Gesammtausgabe<br />
der Agitationsschriften Lassalle’s zu veranstalten. (ECKERT, 100 Jahre..., S. 272)<br />
Brackes finanzielle Situation<br />
Lassen wir dazu August Bebel zu Wort kommen:<br />
Bracke, der einer wohlhabenden Familie angehörte und aus dem höchsten<br />
Idealismus sich der Partei der Enterbten angeschlossen hatte, war<br />
damals in großen Nöten. Er hatte sich durch Fritzsche bestimmen lassen,<br />
für die Produktivgenossenschaft der Tabak- und Zigarrenarbeiter Bürgschaften<br />
zu übernehmen, und kam nach dem Konkurs der Genossenschaft in<br />
die höchst fatale Lage, sehr erhebliche Summen bezahlen zu müssen.<br />
Bracke klagte mir in zahlreichen Briefen sein Leid, wie wir denn beide kurz<br />
nach unserer Bekanntschaft uns eng aneinandergeschlossen und keine<br />
Geheimnisse voreinander hatten. Der Ärmste hat viele Jahre zu kämpfen<br />
gehabt, um aus den Verlegenheiten herauszukommen, in die er sich durch<br />
seine Gutherzigkeit und Opferwilligkeit gestürzt hatte. Als ihn der Tod ereilte<br />
– er starb allzu jung, kaum 38 Jahre alt –, wurde sein Verlust in der<br />
ganzen Partei als ein unersetzlicher angesehen.<br />
Ein Beispiel aus Brackes eigener Feder:<br />
Braunschw[eig], 28 Nov[em]b[e]r 1869<br />
Lieber Liebknecht!<br />
[...] Wären wir aber doch erst nach Mitte December, gut und glücklich!<br />
Wenigstens was mich betrifft, wird es eine schwere Zeit werden, ich sehe<br />
es kommen. Die Compagnie in Berlin kann schwerlich noch baares Geld<br />
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