Material 11: „Hättest du mich abgetrieben?“ <strong>Georg</strong> <strong>Büchner</strong>: <strong>Woyzeck</strong> – eine Bearbeitung in Hörstationen „Hättest du mich abgetrieben?“ 1 Im folgenden Interview, das von der Zeitschrift „Die Zeit“ geführt wurde, spricht Gisela Steinert, die an Parkinson- Krankheit leidet, mit Christian Judith, der von Geburt an körperbehindert ist. Beide sprechen über Möglichkeiten, die sich durch die moderne medizinische Forschung auf dem Gebiet der Gendiagnose, der Gentherapie und der Pränataldiagnostik bieten können. Die Zeit • Wie äußert sich Ihre Krankheit? Gisela Steinert • Bei der Parkinson-Krankheit gehen Nervenzellen im Gehirn nach und nach zugrunde. Meine rechte Körperhälfte verlangsamt sich, die Muskeln verkrampfen. Das Schreiben geht schlechter, und irgendwann ergreift das den ganzen Körper. Christian Judith • Ich leide nicht und meine Behinderungsform hat nichts zu sagen. Die Zeit • Wie prägt der Zustand Ihres Körpers Ihr Verhältnis zur Genforschung? Gisela Steinert • Ich hoffe, dass sie mir helfen kann – mit besseren Medikamenten, die keine Nebenwirkungen haben, oder mit der Verpflanzung embryonaler Stammzellen ins Gehirn. Christian Judith • Ich hab Angst vor der Genforschung. Es entwickelt sich ein normierender Druck, der zu einer Art menschlicher Monokultur führt. […] Gisela Steinert • Die Leute sehen immer nur die Gefahren – aber die Patienten, denen die neuen Methoden helfen könnten, drängt man vor lauter Angst in den Hintergrund. Christian Judith • Die Sehnsucht nach Heilung verstehe ich vollkommen. Doch die Gentechnik wird nicht bei der Behandlung von Krankheiten stehen bleiben, sondern bald auch Qualitätsmerkmale in den Blick nehmen. […] Die Zeit • Sie sprechen von Gentests an ungeborenen Leben, Frau Steinert von der Therapie bereits Geborener. Muss man das nicht trennen? Christian Judith • Das hängt zusammen. […] Wird Behinderung – und sei es nur die von Embryonen – negativ bewertet, entsteht ein Druck auch auf behinderte Erwachsene. Gisela Steinert • […] Diskriminierung Andersartiger gab es schon immer. Daran ändert die Gentechnik nichts. Christian Judith • Doch die Genforschung eröffnet die Möglichkeit, Krankheiten auszumerzen. Damit sinkt die Bereitschaft, diese zu tolerieren. […] Die Zeit • Heißt das, Sie plädieren dafür, Behinderung unbedingt zu akzeptieren und nichts zu Ihrer Vermeidung zu unternehmen? Oder könnten Sie sich doch andere Fälle vorstellen? Christian Judith • Wir erleben immer wieder, wie die Wissenschaft einmal gezogene Grenzen durchbricht. Mag sein, dass ich mir bestimmte Fälle vorstellen kann. Aber mit solchen Erwägungen gerät man leicht auf die schiefe Ebene. Das ist wie in der Debatte um die Sterbehilfe. […] Wir werden keine Grenzen festlegen können. Deshalb bin ich ebenso gegen Gentests vor der Geburt wie gegen Sterbehilfe. […] Die Zeit • Teilen Sie denn Herrn Judiths Befürchtung, dass die Forschung an embryonalen Stammzellen missbraucht werden könnte? Gisela Steinert • Die Bedenken habe ich auch. Aber erst muss dort erforscht werden, was sich überhaupt bewerkstelligen lässt. Vielleicht stellt sich heraus, dass sich mit Stammzellen von Erwachsenen das Gleiche erreichen lässt wie mit Embryonenzellen. Dann wird man die Ethikdiskussion abbrechen können. Aber bis man das weiß, muss man mit Embryonen forschen. Christian Judith • Mein Problem dabei ist, dass die Ethik nicht so schnell ist wie das Skalpell. […] Die Zeit • Sehen Sie beide denn eine Möglichkeit, dass man in den moralischen Fragen, die die Gentechnik aufwirft, zum Konsens kommt? Gisela Steinert • Mit einem Gesetz, das Politiker erlassen, ist es nicht getan. Denn dabei entscheiden im Wesentlichen die Gesunden über die Kranken. Es muss ein Gremium her, das auch aus Behinderten besteht. Christian Judith • Genau darauf setze ich auch: sich zusammensetzen, sich schlau machen, etwas entwickeln. Dafür brauchen wir Zeit, und so lange sollten wir nichts machen, was wir nicht beherrschen können. […] Die Wissenschaft muss endlich die Verantwortung für ihr Handeln übernehmen – bevor sie auf den roten Knopf gedrückt hat. Bevor wir beschließen, dass ein paar Menschen nicht in unser Glücksempfinden hineinpassen, sollte man ein Moratorium vereinbaren. […] Gisela Steinert • Aber du redest jetzt von Wissenschaftlern. Wissenschaftler haben eben wenig mit den normalen Kranken zu tun. Christian Judith • Aber wie kann ich mich denn in die Hände der Wissenschaft begeben, wenn die vom Leben keine Ahnung hat? 1 Aus: Die ZEIT 7/2001. Mit freundlicher Genehmigung des Verlages.
Material 12: Beobachtungs- und Protokollbogen <strong>Georg</strong> <strong>Büchner</strong>: <strong>Woyzeck</strong> – eine Bearbeitung in Hörstationen Was darf Wissenschaft heute? Moderator Doktor Wissenschaftler Argumentationsstruktur Argument I • Beispiele • Belege Argument II • Beispiele • Belege Gesprächsverhalten • nimmt zentrale Ideen auf und entwickelt sie weiter • unterstützt Gesprächspartner positiv • beharrt auf eigener Position • achtet auf Körpersprache Pharmaindustrie Selbsthilfegruppe Betroffene/r Theologe