07/2013 - Gemeinde Eppendorf
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30.06.<strong>2013</strong><br />
Historie S. 6<br />
GEORG LENUWEIT – EIN FLÜCHTLINGSJUNGE IN EPPENDORF (II)<br />
Spätsommer. Die Erzgebirgsbauern hatten<br />
den Roggen gemäht, zu Garben gebunden<br />
und in Hocken gestellt. Das waren andere<br />
Hocken, als wir sie in Ostpreußen kannten.<br />
Es waren „Puppen“, deren Garben rund<br />
gestellt wurden, oben zusammengebunden.<br />
„Ährensammeln“ und „Kartoffelstoppeln“<br />
waren bis dato für uns vollständig unbekannte<br />
Begriffe und Tätigkeiten. In Padrojen<br />
hatte das keiner nötig und in der Zeit bis<br />
1948 in Ernstwalde gab es nichts zu sammeln<br />
und zu stoppeln.<br />
Pilze sammeln<br />
Das Kartoffelstoppeln war mühsam. Der<br />
Bauer hatte die Kartoffeln mit dem Schleuderroder<br />
geerntet (manche <strong>Eppendorf</strong>er<br />
sagten Erdäppeln) dann hat er zweimal<br />
geeggt und zweimal abgesammelt. Erst jetzt<br />
war das Feld frei für die Schar der Stoppler.<br />
So waren die Flächen bald vollständig<br />
durchgekratzt.<br />
Der Erzgebirgswald hatte nicht viel zu bieten.<br />
Unter dem dicht geschlossenen Kronendach<br />
der großflächig, gleichaltrig angelegten<br />
Fichtenbestände war nichts weiter als<br />
graues Nadelstreu. Trotzdem – einen Pilz<br />
lernten wir hier kennen und schätzen. Es<br />
war der zu den Wulstlingen zählende essbare<br />
Perlpilz, in der <strong>Eppendorf</strong>er Gegend als<br />
„Lungenpilz“ bekannt. Dann gab es noch<br />
Braunhäuptlinge und manchmal einen Birkenpilz<br />
und Steinpilz.<br />
Besonders schwierig war es damals, das<br />
notwendige Brennmaterial zu beschaffen.<br />
Die Zuteilung an Rohbraunkohle reichte<br />
nicht aus. Braunkohle – wieder etwas, was<br />
wir nicht kannten. Sie wurde an die Haushalte<br />
auf Bezugsscheine verteilt und befand<br />
sich dabei in dem Zustand, wie sie aus dem<br />
Tagebau als mindere Qualität gefördert<br />
wurde. Die <strong>Eppendorf</strong>er Einwohner, ob<br />
Einheimische oder Flüchtlinge, versuchten,<br />
sich zusätzliches Holz aus dem Wald zu<br />
beschaffen. Es waren nicht viele Fichtenstubben<br />
(hier in Sachsen hießen sie<br />
„Stöcke“), die im Waldboden blieben. Dort,<br />
wo starkes Holz geschlagen wurde, wurden<br />
die Stöcke in Parzellen nummeriert und die<br />
Liste an die <strong>Gemeinde</strong>verwaltung gegen<br />
Entgelt zur Verteilung gegeben.<br />
Henry und ich zogen immer mit einem kleinen<br />
geborgten Handwagen und dem erforderlichen<br />
Werkzeug den langen Berg hinauf<br />
in den Reifländer Wald. Wir rodeten in den<br />
Beständen schwächere Fichtenstubben aus<br />
den Durchforstungen und fanden manchmal<br />
auch etwas Reisig.<br />
Meistens war der Wald wie ausgekehrt.<br />
Stöcke roden, Äste sammeln<br />
Und was war mit dem Schulunterricht?<br />
Unser Lehrer in Ostpreußen hatte uns im<br />
Herbst 1944 nach Hause geschickt. Die<br />
Front rückte immer näher. Nach der Vertreibung<br />
gab es für die Kinder auch keinen<br />
Unterricht. Jetzt waren wir schon im Mai<br />
1948. So konnte das nicht weiter gehen.<br />
Jetzt wurde ich in <strong>Eppendorf</strong> zum zweiten<br />
Mal eingeschult.<br />
Mutter wurde in die <strong>Eppendorf</strong>er Schule<br />
bestellt, um mit der Schulleiterin Fräulein<br />
Stohn alles Notwendige zu besprechen.<br />
„Ja, Frau Lenuweit, was machen wir denn<br />
nun mit ihren Kindern? Nehmen wir den<br />
mittleren, den Georg, in Ostpreußen hatte er<br />
den Abschluss der zweiten Klasse, jetzt ist<br />
er dreizehn Jahre alt. Wir können ihn ja nun<br />
schlecht bei uns hier noch einmal in die<br />
zweite oder auch dritte Klasse stecken. Ich<br />
schlage vor, dass wir den Henry und den<br />
Georg zusammen probehalber in die vierte<br />
Klasse geben. Dann sind die beiden zusammen<br />
und können sich auch gegenseitig helfen.<br />
Das Schuljahr ist bald zu Ende und<br />
dann entscheiden wir neu. So machen wir es<br />
auch mit Ruth in der dritten Klasse.“ Natürlich<br />
war das ein Angebot. Was blieb Mutter<br />
übrig, sie war einverstanden und so sollte es<br />
geschehen. Wir waren die ältesten in der<br />
Klasse, aber es gab noch zahlreiche andere<br />
Flüchtlingskinder, die das Normalalter<br />
ebenfalls überschritten hatten. Unter uns<br />
allen gab es eine beste Kameradschaft.<br />
Später in einer anderen höheren Klasse hatte<br />
Henry einen Bauernsohn als Banknachbarn.<br />
Das war ein großes Glück. Sein<br />
Freund, der Bauernjunge, hatte jetzt immer<br />
die doppelte Menge Bemmen (Stullen mit<br />
Aufstrich und Belag) in seinem Ranzen.<br />
Auch ich profitierte davon.<br />
Es kam der Sommer. Nach weniger als drei<br />
Monaten war für uns das Schuljahr in der<br />
vierten Klasse zu Ende. Und welch ein<br />
Glück, mit der Ausgabe der Zeugnisse war<br />
es klar: Wir sind alle drei in die nächst<br />
höhere Klasse versetzt worden. Mit dem<br />
Eintritt in die fünfte Klasse begann der<br />
Fachunterricht und es kam Russisch dazu.<br />
Was war das für ein Russisch, dass der Herr<br />
Wach uns da lehrte? Immer hatte er einen<br />
Fall parat, dem er eine Nummer gab und<br />
den wir nicht erkannt hatten. Na, die Russen,<br />
die nach Ostpreußen gekommen waren,<br />
hätten ihm wohl was erzählt!<br />
Und wieder war im Sommer 1949 ein<br />
Schuljahr zu Ende. Jetzt hätte ich in die<br />
sechste Klasse kommen müssen. Die Zeugnisse<br />
wurden ausgegeben und ich konnte<br />
mich wirklich über gute Zensuren freuen.<br />
Unser Klassenlehrer Herr Liebe meldete<br />
sich bald darauf bei unserer Mutter zu<br />
einem Hausbesuch an. Was hatte das wohl<br />
zu bedeuten? An diesem Nachmittag hatte<br />
ich mich verdünnisiert. Als ich am Abend<br />
nach Hause kam, war alles in unserem Sinne<br />
beschlossene Sache: Henry hatte zur<br />
Klasse immer noch einen Altersvorsprung<br />
von vier Jahren. Er wird nicht erst in die<br />
sechste Klasse versetzt, sondern soll diese<br />
überspringen und kommt in die siebente.<br />
Mein Altersvorsprung von drei Jahren zur<br />
Klasse sollte auf zwei reduziert werden, um<br />
dann mit 16 Jahren aus der achten Klasse<br />
entlassen zu werden. Mit diesem Angebot<br />
war ich sehr zufrieden.<br />
In der Schule gab es an jedem Schultag für<br />
alle Kinder ein trockenes Roggenbrötchen als<br />
Schulspeisung. Die Lehrer bekamen keines.