Nicht-Machen. Lassen! Zu Walter Benjamins pädagogischem Theater
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<strong>Nicht</strong>-<strong>Machen</strong>. <strong>Lassen</strong>! <strong>Zu</strong> <strong>Walter</strong> <strong>Benjamins</strong><br />
<strong>pädagogischem</strong> <strong>Theater</strong><br />
In: Barbara Gronau, Alice Lagaay (Hg.): Ökonomien der <strong>Zu</strong>rückhaltung<br />
Kulturelles Handeln zwischen Askese und Restriktion. Bielefeld 2010, S. 331-352.<br />
KATJA ROTHE<br />
<strong>Walter</strong> Benjamin macht eine Ökonomie der <strong>Zu</strong>rückhaltung zum Grundpfeiler<br />
seines Konzeptes einer revolutionären Pädagogik, die ich in diesem Beitrag<br />
vorstellen möchte. Diese experimentiert mit dem Unfeststellbaren, dem Sich-<br />
Entziehenden, dem „Afformativen“ des kindlichen Spiels, das er nicht<br />
disziplinieren will, sondern zum Forschungsgegenstand des Pädagogen macht,<br />
eines Pädagogen aber, der sich gefälligst zurückhalten soll. Der Begriff des<br />
„Afformativen“ wird von Werner Hamacher in Auseinandersetzung mit <strong>Benjamins</strong><br />
Text <strong>Zu</strong>r Kritik der Gewalt eingeführt. Er ist nicht eigentlich als ein „Begriff“<br />
definierbar, sondern verweigert sich gerade dem <strong>Zu</strong>griff kategorialen Denkens<br />
und intentionalistischer Handlungstheorie. Mit dem „entsetzenden“ Afformativ<br />
verweist Hamacher auf die sprechakttheoretischen Implikationen des<br />
Gerechtigkeitsmodells <strong>Benjamins</strong> und auf die Sprache in ihrer prä-positionalen,<br />
vor-performativen Medialität. 1 Man könnte vereinfacht sagen, dass das<br />
Afformative als Gegenkonzept zur Intentionalität und Instrumentalität des<br />
Performativen gelesen werden kann. Wobei man, wie Andreas Hetzel in Anschluss<br />
an Hamacher ausführt, nicht einfach von einer Entgegensetzung von Afformativen<br />
und Performativen sprechen kann:<br />
„[J]ede positiv-performative Setzung [wird] erst vor dem Hintergrund eines entsetzenden<br />
Afformativen möglich, welches in der performativen Setzung zugleich beansprucht als auch<br />
verdrängt wird. […] Es [das Afformative, K.R.] setzt sich nicht einfach an die Stelle des<br />
Performativen, sondern arbeitet in, an, mit ihm: ‚Das ironische Gesetz des Afformativen ist das<br />
Gesetz seiner Bastardisierung mit dem Performativen‘.“ 2<br />
1<br />
Werner Hamacher: „Afformativ. Streik“, in: Christiaan L. Hart Nibbrig (Hg.):<br />
Was heißt darstellen?, Frankfurt a. M. 1994, S. 340-371, vor allem S. 345-<br />
347 sowie 359-361 (Anm. 4).<br />
2<br />
Andreas Hetzel: Zwischen Poiesis und Praxis: Elemente einer kritischen<br />
Theorie der Kultur, Würzburg 2001, S. 273. Hetzel zitiert Hamacher:<br />
„Afformativ, Streik“, S. 371.<br />
1
Ich möchte also im Folgenden dem Afformativen als einer Art und Weise, mit dem<br />
<strong>Nicht</strong>-zu-Haltenden zu rechnen, in <strong>Benjamins</strong> <strong>pädagogischem</strong> Konzept<br />
nachspüren. Mein Interesse richtet sich dabei auf eine dort vorgeschlagene<br />
Haltung, die sich selbst auszulassen bereit ist, um ein Anderes zuzulassen, auf eine<br />
Haltung des Geschehenlassens, des <strong>Nicht</strong>s-Tuns, die innerhalb des Performativen<br />
arbeitet. Das, was nicht zu halten ist, kann dabei Grund eines Kalküls der<br />
Selbstrestriktion werden, eines Kalküls, das wiederum affirmatives <strong>Machen</strong> und<br />
Tun im Rahmen eines Reg(ul)ierungswissens ermöglicht. Das <strong>Nicht</strong>-zu-Haltende<br />
kann aber auch ‚gelassen‘ werden. Das <strong>Lassen</strong> ist für <strong>Walter</strong> Benjamin Grundlage<br />
seines Projektes einer revolutionären Pädagogik: einer Pädagogik, die einerseits<br />
im Kontext zeitgenössischer protokybernetischer Bemühung um die<br />
experimentelle Erschließung des Potentiellen zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu<br />
sehen ist, andererseits jene gouvernementalen Bemühungen um den <strong>Zu</strong>griff auf<br />
das unzugängliche ‚Verhalten‘ radikal in Frage stellt. Der fundamentale Zweifel,<br />
den <strong>Benjamins</strong> Pädagogik streut, macht sich eben auch an einer Ökonomie der<br />
<strong>Zu</strong>rückhaltung fest, die den Beobachter betrifft, den Pädagogen, den Leiter des<br />
Spiels, der anstatt auf Erkenntnis über und direkte Einflussnahme auf das<br />
Verhalten der Kinder selbst auf die kindliche Erfahrung eines „‚nicht<br />
disziplinierte[n] Glück[es]‘“ 3 und damit die Suspendierung jedes Wissens<br />
verpflichtet wird. <strong>Benjamins</strong> Pädagogik zielt auf <strong>Zu</strong>rückhaltung als Form der<br />
Aufnahmebereitschaft für Unerwartetes, <strong>Nicht</strong>-Verfügbares, Unterbrechungen,<br />
Störungen. Sie lehnt dabei jede Setzung z.B. eines erzieherischen Ideals ab, ist<br />
Suspendierung des Thetischen an sich in einer Geste eben des <strong>Lassen</strong>s.<br />
Dem Rumoren des <strong>Lassen</strong>s in der <strong>Zu</strong>rückhaltung werde ich nun anhand einer<br />
Figur folgen, die Benjamin in dem Hörspiel „Radau um Kasperl“ (1932) zum<br />
Epizentrum seiner Pädagogik macht, eine Figur, die sich nicht zurückhält und auch<br />
nicht zu halten ist.<br />
Das entsetzte Radio<br />
Am Abend des 10. März 1932 findet zwischen 19.45 Uhr und 20.45 Uhr auf den<br />
Sendern Köln und Frankfurt am Main eine Übungsstunde statt, mit der <strong>Walter</strong><br />
Benjamin Kinder in die Funktionsweise des Radios einführt. 4 Protagonist der<br />
3<br />
„Die Anmut der Kinder besteht und sie besteht vor allem als ein Korrektiv<br />
der Gesellschaft; sie ist eine der Anweisungen, die uns auf das ‚nicht<br />
disziplinierte Glück‘ gegeben sind.“ <strong>Walter</strong> Benjamin: Briefe, hg. von<br />
Gershom Scholem/ Theodor W. Adorno, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1978, S.<br />
854.<br />
4<br />
<strong>Walter</strong> Benjamin: „Radau um Kasperl“. 1932; Text: <strong>Walter</strong> Benjamin: „Radau<br />
um Kasperl (1932)“, in: <strong>Walter</strong> Benjamin: Gesammelte Schriften, hg. von<br />
Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Bde. I–VII, Suppl. I–III (17<br />
Bde.), Frankfurt a. M. 1972–1999, Bd. IV. 2, S. 674-695. Angaben in<br />
<strong>Benjamins</strong> „Gesammelten Schriften“ werden im Folgenden abgekürzt mit
Benjamin’schen Übung in die Nutzung des neuen Mediums ist eine recht<br />
handgreifliche, schlagfertige Figur: ein Kasperle. Es ist der Begleiter der Kinder<br />
durch die radiofonen Medienräume, ja mehr noch: Das Kasperle bringt das Radio<br />
durch seine Performance überhaupt erst zur Erscheinung, aber im <strong>Zu</strong>ge eines<br />
afformativen Aktes der Entsetzung. <strong>Nicht</strong> die Performativität einer prozesshaften<br />
Erschließung und Einsetzung des Mediums, sondern das Afformative des medialen<br />
Ereignisses tritt im Kinderhörspiel <strong>Benjamins</strong> in Gestalt des Kasperls auf.<br />
<strong>Benjamins</strong> Kasperle tobt durch die Welt der Radios der Weimarer Republik, tritt<br />
dessen hehre Bildungsansprüche mit Füßen und bringt mit seiner Vorliebe für<br />
geräuschvolle Sinnlosigkeiten die kulturbeflissenen Programmverantwortlichen<br />
aus der Fassung. Die jungen Hörer und Hörerinnen verfolgen das geräuschvolle<br />
Spektakel und werden durch das Format der Sendung, ein Ratespiel für „Radau“,<br />
für Krach und Lärm, mitten hineingerissen in das Medienereignis, das<br />
paradoxerweise erst durch die „entsetzlichen“ Eskapaden des Kasperls gestiftet<br />
wird.<br />
Das Hörstück beginnt mit folgendem Szenario: An einem nebligen Morgen<br />
wird das Kasperle von seiner Frau Puschi geschickt, um auf dem Markt einen Fisch<br />
zu kaufen. Unterwegs begegnet ihm Herr Maulschmidt, der Sprecher des<br />
Rundfunks, dessen Namen wortwörtlich Programm war im Radio der Weimarer<br />
Republik. Benjamin formuliert seine Kritik an der pädagogischen Mission des<br />
Rundfunks in einem Brief an seinen Freund Scholem nicht gerade zurückhaltend:<br />
„Hier quatschen alle Universitätslehrer durch den Rundfunk.“ 5 Dieser<br />
sendungsbewusste Herr Maulschmidt also möchte unbedingt den „erfahrenen,<br />
berühmten Freund der Kinder“ 6 vor das Mikrophon bringen. Das Kasperl sträubt<br />
sich erst heftig, gibt schließlich nach, nutzt aber den Rund-Funk, der<br />
bildungspolitische Sendungen an alle schicken soll, dialogisch: Er funkt dem<br />
Seppel, seinem früheren Freund, eine verbale Ohrfeige und stürzt mit dieser<br />
frechen Vereinnahmung des Mediums den Sender ins Chaos.<br />
„KASPERL: So, das wär fein. Das scheint mir der richtige<br />
Augenblick. Räuspert sich. Du miserabliges Mistviech, du!<br />
Elende Kreatur! Hörst mich? Wer hat dir das angeschafft, dass<br />
du den Flurschütz hast rufen müssen? Grad, wie ich auf dem<br />
„GS Bd., S.“. Zwei Inszenierungen: <strong>Walter</strong> Benjamin: „Radau um Kasperl“.<br />
10.03.1932, Südwestdeutsche Rundfunkdienst AG (SÜWRAG) Frankfurt a.<br />
M., Regie: <strong>Walter</strong> Benjamin. Kein Tondokument erhalten; <strong>Walter</strong> Benjamin:<br />
„Radau um Kasperl“. 09.09.1932, „Westdeutsche Rundfunk AG“ (WERAG)<br />
Köln, Regie: Carl Heil. Teilweise Erhaltenes Tondokument: Benjamin, <strong>Walter</strong><br />
(2003): „Radau um Kasperl“, Tondokument, Stiftung Deutsches<br />
Rundfunkarchiv (dra): Was Kinder gerne hör(t)en. Was Kasperl zu erzählen<br />
hat: Kinderlieder und -hörspiele aus dem Deutschen Rundfunkarchiv<br />
aufgenommen in den 1930er und 1950er Jahren, Frankfurt a. M.;<br />
Typoskript zu „Radau um Kasperl“ im Literarischen Archive der Akademie<br />
der Künste, Berlin. <strong>Walter</strong> Benjamin Archiv.<br />
5<br />
Benjamin: Briefe, Bd. 1, S. 373.<br />
6<br />
Benjamin: „Radau um Kasperl“, S. 677.
Pflaumenbaum gesessen bin. Dös wer ich dir heimzahln. Du<br />
Sakramentskerl, du elendiglicher! Komm du mir nochmal vor die<br />
Finger! Dir hab ich eine Watschn zurecht gelegt, da besinnst<br />
dich –<br />
Telefonläuter. Fräulein: Hier Fernamt. Stimme: Jawohl. Ich<br />
verbinde. Neue Stimme: Polizeipräsidium Putzingen. Dort<br />
Rundfunk?<br />
HERR MAULSCHMIDT: Um Himmelswillen! Ausschalten!<br />
Unterbrechen! Der Malefizkerl, der Kasperl, der Halunke. […]<br />
Haltet ihn! Haltet ihn! Tot oder lebendig, ich muss ihn haben,<br />
den Kasperl!<br />
Türenschlagen, Scheppern von Scherben. Neues<br />
Telefonläuten. Dazwischen Autohupen. Rufe: Da vorn! Um die<br />
Ecke!“ 7<br />
Das Kasperl annektiert den Sender. Die Möglichkeit der Annexion von<br />
Radiosendern für ordnungsgefährdende Zwecke, die staatsfeindliche Besetzung<br />
z.B. der Sender durch die politische Linke, weckte an sich bereits vor der<br />
Gründung nationaler Rundfunkanstalten das blanke Entsetzen der Staaten<br />
Europas. Der Äther des Staates wurde in Deutschland explizit als nationaler<br />
Rundfunk gedacht, der die verstreute Masse unter autoritärer Oberhoheit und<br />
kulturpolitischem Auftrag zusammenschließen sollte. Und so, wie nur Radio hören<br />
darf, wer die Gebühr bezahlt, so darf im Rundfunk Europas auch nur reden, wer<br />
sich gebührend verhält und das heißt, man fordert ein angemessenes Reden, das<br />
an eine zu bildende, zu führende Masse adressiert ist. In einem solchen Rundfunk<br />
darf man nicht einfach so auftreten, schon gar nicht, wenn man statt<br />
Dichterworte Schimpfworte führt. Und auch das pure Geräusch wird von dem<br />
Volksbildungsinstitut Rundfunk geschmäht und vermieden. Das Kasperl aber<br />
funktionalisiert das Radio als Medium persönlicher Revanche gegenüber Seppel.<br />
Seine Schimpftiraden unterminieren das Eigenbild des Rundfunks, sich in<br />
erzieherischer Absicht an eine lernwillige Masse zu richten. Einmal in solch frecher<br />
Weise gestört, bricht Radau im Radio aus – der Lärm von schlagenden Türen,<br />
Autohupen, Telefongeklingel. Ein Unding im Rundfunk des Herrn Maulschmidt, in<br />
dem die technische Aufzeichnung von Realem in unversöhnlichem Gegensatz zur<br />
„symbolischen Fixierung von Symbolischem“ 8 gedacht wird. Was im Rundfunk<br />
erscheint, soll weiterhin aus den Archiven abzählbarer Zeichenmengen<br />
(Buchstaben, Ziffern, Noten) kommen: deutsches Kulturgut, Goethe, Schiller, die<br />
Herren Professoren etc. Die Möglichkeit der Analogmedien, jede Sequenz reeller<br />
Zahlen, als Frequenzen, als solche wiederzugeben – also die technische Basis des<br />
Radios –, stellt eine Bedrohung dieses Denkens dar, sollte als Störung, Lärm,<br />
Geräusch vermieden und bekämpft werden. Denn im Rauschen und im Lärm ist<br />
das Radio ein Medium, das sich dem <strong>Zu</strong>griff des Symbolischen entzieht. Das<br />
tobende, lärmende Kasperl wird deshalb unnachgiebig verfolgt. Nach der<br />
7<br />
Benjamin: „Radau um Kasperl“, S. 678 f.<br />
8<br />
Friedrich Kittler: Aufschreibesysteme 1800/1900, München 1995, S. 289.
temporären Annexion des Senders muss es vor der meuchelnden Meute,<br />
angeführt vom Herrn Maulschmidt, flüchten.<br />
Das Kasperl ist eine Störung, Unterbrechung, eine „Zäsur“ im pädagogischen<br />
Konzept des Weimarer Rundfunks. Benjamin definiert den Begriff „Zäsur“ als „die<br />
gegenrhythmische Unterbrechung“, sie wird „in der Tragödie als Verstummen des<br />
Helden, in der Hymne als Einspruch im Rhythmus vernehmbar […]. Ja, man könnte<br />
jenen Rhythmus nicht genauer bezeichnen als mit der Aussage, daß etwas jenseits<br />
des Dichters der Dichtung ins Wort fällt.“ 9 In eben jenem Sinne des Hereinfallens<br />
unterbricht auch das Kasperl gegenrhythmisch das Radioprogramm. Er ist<br />
singuläres Ereignis einer Diskontinuität. 10 Als eine solch ‚entsetzliche‘ Figur<br />
geistert es auch im weiteren Verlauf des Stückes durch den Radioraum, ahmt<br />
Tierstimmen nach, ist für Radau verantwortlich und begegnet anderen, nicht<br />
minder geisterhaften Figuren, wie z.B. auf dem Jahrmarkt einem transzendentalen<br />
„Geist“, einem „Zaubermagier“, „Unsichtbaren“, der die <strong>Zu</strong>kunft vorhersagen<br />
kann. 11 Das Kasperl befragt das Orakel:<br />
„KASPERL: Soll ich nicht vielleicht die Weltweisheit studieren?<br />
Denn was ist der Mensch ohne Philosophie?<br />
LIPSISLAPSUS: Vieh! […]<br />
KASPERL: Nun, so werd ich Doktor.<br />
LIPSISLAPSUS: Tor!“ 12<br />
Der „Geist“ Lipsislapsus ist ohne ontologischen Grund, er ist ein Echo, das völlig<br />
unabhängig vom Inhalt und adressierten Sinn ganz wie ein Radio wiederholt, was<br />
gespeichert und/oder übertragen werden kann. Das solchermaßen Erscheinende<br />
ist jedoch immer schon unterschieden vom Vorangegangen. Bereits in seinem<br />
Aufsatz Die Aufgabe des Übersetzers (1921) hatte Benjamin anhand eines Echo-<br />
Bildes auf das Hereinrufen eines Unsagbaren bzw. Unhörbaren in die Sprache<br />
durch das Übersetzen aufmerksam gemacht. 13 Das Echo markiert die<br />
Verschiebung in der Referenz auf ein Vorausgegangenes, wobei diese<br />
Wiederholung immer schon eine verstellte ist. Ebenso agiert Lipsislapsus: Er<br />
„übersetzt“ die Anfragen, anstatt zu beantworten. Das Kasperle wiederum hört,<br />
ohne es zu merken, nur sich selbst.<br />
9<br />
<strong>Walter</strong> Benjamin: „Goethes ‚Wahlverwandtschaften‘ (1925)“, in: GS I.1, S.<br />
123-201, hier S. 182.<br />
10<br />
Dazu Bettine Menke: „Benjamin vor dem Gesetz: Die Kritik der Gewalt in<br />
der Lektüre Derridas“, in: Anselm Haverkamp (Hg.): Gewalt und<br />
Gerechtigkeit. Derrida-Benjamin, Frankfurt a. M. 1994, S. 217-275.<br />
11<br />
Benjamin: „Radau um Kasperl“, S. 684.<br />
12<br />
Benjamin: „Radau um Kasperl“, S. 685.<br />
13<br />
„Die Übersetzung […] ruft […] das Original hinein, an demjenigen einzigen<br />
Ort hinein, wo jeweils das Echo in der eigenen den Widerhall eines Werkes<br />
der fremden Sprache zu geben vermag.“ <strong>Walter</strong> Benjamin: „Die Aufgabe des<br />
Übersetzers (1921)“, in: GS IV.1, S. 9-21, S. 16; Dazu Sigrid Weigel:<br />
Entstellte Ähnlichkeit. <strong>Walter</strong> <strong>Benjamins</strong> theoretische Schreibweise,<br />
Frankfurt a. M. 1997, S. 89.
In dieser Verschiebung oder Übersetzung zeigt sich, was Benjamin als die<br />
Mittelbarkeit der Sprache beschreibt. Die Szene verweist auf <strong>Benjamins</strong><br />
Auffassung der Sprache als eines „reinen Mittels“, die in ihrer Selbstbezüglichkeit<br />
jede Mittel-Zweck-Relation unterläuft und nicht instrumentell zu fassen ist. Die<br />
Sprache vermittelt nicht einfach Inhalte, sondern ist eine Technik sprachlicher<br />
Mitteilungen, die aber nicht jenseits der Sphäre der Mittelbarkeit liegen: Die<br />
Sprache teilt sich selbst als Technik der Mitteilung mit. 14 Sprache ist für Benjamin<br />
also nicht signifikativ, sondern Mittel der Mittelbarkeit zwischen Sprechenden,<br />
Mittel der Mittelbarkeit in einem Dritten, wobei sie in ihrem Zeichencharakter<br />
gleichzeitig „Symbol des <strong>Nicht</strong>-Mitteilbaren“ ist. 15 Lipsislapsus ist jenes dritte<br />
Moment, in dem Sprache in ihrer Mittelbarkeit spricht. Lipsislapsus ist Symbol für<br />
die Medialität des Sprechens im Radio, aber auch „Symbol des <strong>Nicht</strong>-<br />
Mitteilbaren“. 16 Sein Ort ist leer, er verweist auf nichts als auf das Sprechen eines<br />
Anderen. 17 Er markiert eine Stelle im Sprechen, die man mit Werner Hamacher als<br />
afformatives <strong>Lassen</strong> im Gegensatz zum performativen <strong>Machen</strong> beschreiben kann.<br />
Nach Hamacher lassen Afformative etwas geschehen, ohne es aber selbst<br />
geschehen zu machen, lassen etwas „in den Bereich der Setzung eintreten […]<br />
unter dessen Diktat sie selber nicht stehen“. 18 Das Afformative zeigt sich im<br />
„Bezirk der Phänomene als derjeniger positiver Manifestation“ selbst nur in<br />
„Auslassungen, Pausen, Unterbrechungen, Verschiebungen“. 19 Hamacher fasst<br />
zusammen: „Was, afformativ, läßt, läßt (sich selber) aus.“ 20<br />
14<br />
Dazu grundsätzlich Hamacher: „Afformativ. Streik“, S. 347.<br />
15<br />
<strong>Walter</strong> Benjamin: „<strong>Zu</strong>r Kritik der Gewalt (1920/1921)“, in: GS II.1, S. 179-<br />
203, S. 156. <strong>Walter</strong> Benjamin charakterisiert den proletarischen<br />
Generalstreik wie folgt: „Denn sie [die Arbeitsniederlegung, K.R.] geschieht<br />
nicht in der Bereitschaft, nach äußerlichen Konzessionen und<br />
irgendwelchen Modifikationen der Arbeitsbedingungen wieder die Arbeit<br />
aufzunehmen, sondern im Entschluß, nur eine gänzlich veränderte Arbeit,<br />
eine nicht staatlich erzwungene, wieder aufzunehmen, ein Umsturz, den<br />
die Art des Streiks nicht sowohl veranlaßt als vielmehr vollzieht.“ Benjamin:<br />
„<strong>Zu</strong>r Kritik der Gewalt“, S. 194.<br />
16<br />
Benjamin: „<strong>Zu</strong>r Kritik der Gewalt“, S. 156. <strong>Zu</strong> den medialen Implikationen<br />
der Benjamin‘schen Sprachtheorie siehe den Band: Hendrik Blumentrath/<br />
Katja Rothe/ Sven Werkmeister/ Michaela Wünsch/ Barbara Wurm (Hg.):<br />
Techniken der Übereinkunft, Berlin 2008; darin insbes.: Bettine Menke:<br />
„‚<strong>Zu</strong>r Kritik der Gewalt‘: Techniken der Übereinkunft, Diplomatie, Lüge“, S.<br />
37-56.<br />
17<br />
Er hat also eine ähnliche Position wie die Nymphe Echo in der griechischen<br />
Mythologie, die, ihrer körperlichen Präsenz beraubt, Narziss nur mit den<br />
letzten Silben der an sie gerichteten Rede ihre Liebe gestehen konnte. <strong>Zu</strong>m<br />
Echo als Übersetzungsphänomen siehe auch Rainer Nägele: Echoes of<br />
Translation: Reading between Texts, Baltimore, Maryland 1997.<br />
18<br />
Hamacher: „Afformativ. Streik“, S. 359 f.<br />
19<br />
Hamacher: „Afformativ. Streik“, S. 360.<br />
20<br />
Ebd.
Lipsislapsus ist eine Figuration jenes <strong>Lassen</strong>s, die dem <strong>Machen</strong> des Kasperls<br />
gegenübersteht. Er markiert den Moment der Suspendierung aller intentionalen<br />
„Setzungen“ innerhalb einer Zweck-Mittel-Relation 21 und verschiebt in seiner<br />
Übersetzung von Kasperls Fragen das Versprechen auf eine Antwort. 22 Dieses<br />
Versprechen ist in dem Namen Lipsislapsus buchstäblich geworden: Der Lapsus ist<br />
ein unbewusstes Ver-Sprechen 23 , ein ‚fehlerhaftes‘, fragmentarisches, verdrehtes<br />
Sprechen. Lipsislapsus steht also im Zeichen des Freudschen Unterbewussten, das<br />
sich im Hörspiel unter Bedingung elektronischer Signalverarbeitung zur Sprache<br />
bringt. Die Fragen des Kasperls beziehen sich aber gleichzeitig auch auf ein<br />
<strong>Zu</strong>künftiges, auf ein Versprechen des Orakels Lipsislapsus. Das wiederkehrende,<br />
entstellende Sprechen des Lipsislapsus ist also ein Versprechen auf die <strong>Zu</strong>kunft.<br />
Das Kasperl markiert den Abgrund des Radios: Was im Radio spricht, ist<br />
haltlos, Echo eines unsichtbaren Anderen, Prozessieren eines leeren Zentrums der<br />
Signifikation, eine permanente Verschiebung auf die <strong>Zu</strong>kunft hin, und gleichzeitig<br />
ist es Versprechen eines jenseits der Wahrnehmbarkeit Stattfindenden,<br />
Versprechen auf die Unmittelbarkeit der Übertragung. Was also hört man<br />
eigentlich im Radio? Das Kasperl bringt die Medialität des Mediums zum<br />
Erscheinen, die jeder urteilenden Distinktion zwischen Fiktion und <strong>Nicht</strong>-Fiktion<br />
vorausgeht. 24 Eben jene Ununterscheidbarkeit holt das Hörstück am Schluss ein.<br />
Nach einer wilden Flucht, erwacht das Kasperl plötzlich und auch für die<br />
Hörer überraschend verletzt zu Hause in seinem Bett. Offenbar hatte er einen<br />
Unfall, ohne dass er sich daran erinnern kann. Gerade erzählt er seiner Frau<br />
Puschi vom Erlebten, als der Herr Maulschmidt mit Tausend Mark Honorar für das<br />
Kasperl auftaucht. Die Rundfunkleute hatten während Kasperls Abwesenheit<br />
unbemerkt ein Mikrophon in seinem Hause installiert und Kasperls Erzählungen<br />
nun mitgeschnitten.<br />
„KASPERL: Was soll das bedeuten?<br />
HERR MAULSCHMIDT: Das bedeutet, Kasperl, daß du im<br />
21<br />
Benjamin: „<strong>Zu</strong>r Kritik der Gewalt“, S. 199.<br />
22<br />
<strong>Zu</strong>m <strong>Zu</strong>sammenhang von Kindertheater und afformativer Entsetzung siehe<br />
Hans-Thies Lehmann: „Eine unterbrochene Darstellung. <strong>Walter</strong> <strong>Benjamins</strong><br />
Idee des Kindertheaters“, in: Christel Weiler/ Hans-Thies Lehmann (Hg.):<br />
Szenarien von <strong>Theater</strong> (und) Wissenschaft. Festschrift für Erika Fischer-<br />
Lichte, Berlin 2003, S. 181-203, vor allem S. 193 f.<br />
23<br />
Benjamin beschäftigte sich zwischen 1927 und 1934 intensiv mit dem<br />
Begriff des Unbewussten bei Freud. Dazu Weigel: Entstellte Ähnlichkeit, S.<br />
81.<br />
24<br />
„Jede Sprache teilt sich selbst mit. […] [D]as, was an einem geistigen Wesen<br />
mitteilbar ist, ist seine Sprache. […] [D]ieses Mitteilbare ist unmittelbar die<br />
Sprache selbst. […] Was an einem geistigen Wesen mitteilbar ist, in dem<br />
teilt es sich mit […][.] [J]ede Sprache teilt sich in sich selbst mit, sie ist im<br />
reinsten Sinne das ‚Medium‘ der Mitteilung. Das Mediale, das ist die<br />
Unmittelbarkeit aller geistigen Mitteilung, ist das Grundproblem der<br />
Sprachtheorie[.]“ <strong>Walter</strong> Benjamin: „Über Sprache überhaupt und über die<br />
Sprache des Menschen (1916)“, in: GS II.1, S. 140-157, S. 142.
Rundfunk gesprochen hast, wenn du es auch nicht weißt.<br />
KASPERL: Das muß wohl im Schlafe gewesen sein.<br />
MAULSCHMIDT: <strong>Nicht</strong> im Schlafe, aber im Bett.<br />
FRAU PUSCHI: Im Bett?<br />
HERR MAULSCHMIDT: Wer zuletzt lacht, lacht am besten. Wir<br />
vom Rundfunk sind doch schlauer als du. Während du in der<br />
Stadt deine Schandtaten verübt hast, haben wir heimlich hier in<br />
deinem Zimmer unter dem Bett ein Mikrophon aufgebaut, und<br />
nun haben wir alles, was du gesagt hast, auf Platten und hier<br />
habe ich dir gleich eine mitgebracht. Hört nur zu: […]“ 25<br />
Das unmittelbare Ereignis, die Störungen, die Flucht erweisen sich als Kasperls<br />
traumwandlerischer Monolog, gebannt auf einer Platte, die Herr Maulschmidt<br />
triumphierend vorspielt. Am Ende des Hörspiels sind junge und alte HörerInnen<br />
mit erst durch analoge Speichermedien möglichen Zeitachsenmanipulationen<br />
konfrontiert, mit der Verwürfelung eines seriellen Datenstroms. 26 Voraussetzung<br />
hierfür ist die Möglichkeit der Speicherung und damit Vorproduktion, die im<br />
deutschen Rundfunk erst seit 1930 und auch nur spärlich eingesetzt wurde. Das<br />
Hörspiel Radau um Kasperl jedenfalls wurde, zumindest teilweise, aufgezeichnet.<br />
Kasperls Spektakel mit all seinen Entzügen und Störungen zeigt sich als Effekt von<br />
Übertragung und Speicherung, als Live-Effekt des Radios. Das radiofone<br />
Kasperletheater offenbart sich in seiner Mittelbarkeit, in seinen medialen<br />
Voraussetzungen und Abgründen. Denn es wird am Ende unklar, was man<br />
überhaupt hört. Etwas erscheint auf der Bühne des heimischen Radios, was nicht<br />
da ist, was woanders ist, von dem niemand weiß, ob es jetzt ist oder vergangen,<br />
unmittelbares Live-Erlebnis oder gespeicherte Aufzeichnung. Im Radio tritt anstatt<br />
ontologischer Sicherheit die Aufzeichnung als Aufzeichnung auf. Das Hörspiel<br />
stellt sich als Hörspiel vor. Wie bereits beim Auftritt des „Geistes“ Lipsislapsus<br />
wird hier das Hörereignis als ein mittelbares exponiert. Man kann diese Szene<br />
auch als „Darbietung der Mittelbarkeit, das Sichtbar-Werden des Mittels als<br />
solchen“ verstehen. 27<br />
Hans-Thies Lehmann macht im Gestischen das zentrale Element des<br />
Benjamin‘schen Konzepts eines revolutionären Kindertheaters aus. Die Geste ist<br />
„‚rahmende‘ Unterbrechung“, die „die herrschende Gewalt – und zugleich die<br />
eigene Darstellung […] sichtbar“ macht. 28 Die Geste am Ende des Kinderhörspiels<br />
ist also eine des <strong>Lassen</strong>s, des Zeigens der eigenen Darstellung, aber eben auch<br />
eine des <strong>Machen</strong>s.<br />
25<br />
Benjamin: „Radau um Kasperl“, S. 694 f.<br />
26<br />
Friedrich Kittler: „Real Time Analysis, Time Axis Manipulation“, in: Friedrich<br />
Kittler: Draculas Vermächtnis. Technische Schriften, Leipzig 1993, S. 182-<br />
206, vor allem S. 182-184.<br />
27<br />
Giorgio Agamben: „Noten zur Geste“, in: Jutta Georg-Lauer (Hg.):<br />
Postmoderne und Politik, Tübingen 1992, S. 97-108, S. 103. <strong>Zu</strong>r Geste im<br />
Denken <strong>Benjamins</strong> außerdem Lehmann: „Eine unterbrochene Darstellung“,<br />
S. 188 ff., 194-197.<br />
28<br />
Lehmann: „Eine unterbrochene Darstellung“, S. 197.
Denn in dieser Szene hat Herr Maulschmidt seinen Auftritt und offenbart den<br />
lustigen Schabernack als Überwachungsszene, als Experimentalanordnung, die<br />
nicht einfach eine klar definierte Hypothese oder Theorie bestätigt oder<br />
widerlegt, sondern in der performativ Wissen über den neuen medialen Raum<br />
hergestellt wird. Ohne ein vorgängiges Wissen vorauszusetzen, zielen die<br />
Benjamin‘schen Übungen auf das sich entziehende Kontingente des technischen<br />
Mediums. Benjamin schreibt ein Hörspiel, das sich mit Hans-Jörg Rheinberger als<br />
Konstruktion eines Experimentalsystems deuten lässt, d.h. als „Anordnungen zur<br />
Manipulation von Objekten des Wissens, die eingerichtet werden, um unbekannte<br />
Antworten auf Fragen zu geben, die wir ihrerseits noch nicht klar zu stellen<br />
vermögen“. 29 Experimentalanordnungen eröffnen den Prozess einer<br />
Wissensproduktion als eine provisorische Bastelei, deren unerwartete Ergebnisse<br />
neue Theorien begründen. 30 Benjamin geht es im Gegensatz zu dem an<br />
klassischen Bildungsinhalten orientierten Weimarer Rundfunk in seinem<br />
pädagogischen Konzept um das Einüben in eine „neuen Haltung“, um die<br />
performative Aneignung eines neuen Mediums im Medium. 31<br />
Schabernack und Assessment<br />
Das pädagogische Grundgerüst erkennt man bereits in der Konzeption des<br />
Hörspiels. Das Hörspiel sollte ursprünglich „Kasperl und der Rundfunk, eine<br />
Geschichte mit Lärm“ heißen und war auf die Einübung des Publikums in die<br />
technischen Klänge des neuen Mediums gerichtet. 32 Man plante eine Reihe von<br />
Episoden – durch den Zoologischen Garten, über einen Jahrmarkt usw. –<br />
vorzuführen, „deren Kernstück jeweils in verschiedenen charakteristischen<br />
Geräuscharten besteht, die hin und wieder von Andeutungen, Worten<br />
unterbrochen werden“. 33 Dabei sollten die einzelnen Sequenzen so offen bleiben,<br />
dass sie sich die Hörer „nach ihrem Gefallen […] ausmalen können, die jeweiligen<br />
29<br />
Hans-Jörg Rheinberger: „Experimentalsysteme, Epistemische Dinge,<br />
Experimentalkulturen. <strong>Zu</strong> einer Epistemologie des Experiments“, in:<br />
Deutsche Zeitschrift für Philosophie 42/3 (1994), S. 405-418, hier S. 408.<br />
30<br />
Ebd.<br />
31<br />
<strong>Walter</strong> Benjamin: „Bert Brecht“, in: GS II.2, S. 160-162, S. 161. <strong>Walter</strong><br />
<strong>Benjamins</strong> <strong>Theater</strong>konzepte orientieren sich grundsätzlich am epischen<br />
<strong>Theater</strong> Brechts. <strong>Walter</strong> Benjamin: „Was ist episches <strong>Theater</strong>? (1/1931) Eine<br />
Studie zu Brecht“, in: GS II.2, S. 519-531; <strong>Walter</strong> Benjamin: „Was ist<br />
episches <strong>Theater</strong>“ (2/1939), in: GS II.2, S. 532-539.<br />
32<br />
<strong>Zu</strong> dem Hörspiel und zu <strong>Benjamins</strong> Arbeit für den Rundfunk allgemein<br />
siehe: Sabine Schiller-Lerg: <strong>Walter</strong> Benjamin und der Rundfunk.<br />
Programmarbeit zwischen Theorie und Praxis, München, New York,<br />
London, Paris 1984.<br />
33<br />
<strong>Walter</strong> Benjamin nach Reinhard Döhl: „<strong>Walter</strong> <strong>Benjamins</strong> Rundfunkarbeit<br />
(1987)“, in: http://www.stuttgarter-schule.de/benjamin.htm (Stand<br />
10.10.2009).
Geräusche erraten müssen, um die Lösungen dann zur Preisverteilung an den<br />
Sender einzuschicken“. 34 Ein Rundfunksprecher sollte vorab das experimentelle<br />
Ratespiel erklären. Im Manuskript der Sendung vom 10. März 1932 im Sender<br />
Frankfurt am Main unter der Regie von Benjamin selbst sind dann auch die zu<br />
erratenden Geräusche als „Erster“, „Zweiter“, „Dritter Radau“ handschriftlich<br />
notiert 35 und die Südwestdeutsche Rundfunk-Zeitung forderte das Publikum<br />
tatsächlich im Vorhinein auf, „die hierbei auftretenden Geräusche“ zu erraten und<br />
„dem Südwestfunk mitzuteilen“. 36 Benjamin konstruiert also in seinem Hörspiel<br />
ein Ratespiel. Dieses Ratespiel richtet sich aber nicht auf die Inhalte bürgerlicher<br />
Erziehung, sondern auf die Materialität der Sprache im Radio, auf Geräusch,<br />
„Radau“, Lärm. Und Benjamin bleibt auch nicht bei dieser Schulung des<br />
technischen Hörens stehen. Vielmehr verdoppelt er das Ratespiel. Die<br />
Ratesituation wiederholt sich auf der Handlungsebene des Stückes: Auch im<br />
Hörspiel durchleben Kinder die „Geschichte mit Lärm“, sind aufgefordert, unter<br />
der unfreiwilligen und unbewussten Führung des Kasperls Tierstimmen zu deuten<br />
und Geräusche zu erraten. <strong>Zu</strong>sätzlich unterbricht Benjamin – wie beschrieben –<br />
am Ende des Stücks das Spiel und stellt es als Beobachtungssituation heraus, gibt<br />
dem turbulenten Ratespiel einen Rahmen, umreißt das Stück als Labor. Die<br />
Unterbrechung hat hier „pädagogische Funktion“, so Benjamin. „Sie bringt die<br />
Handlung im Verlauf zum Stehen und zwingt damit den Hörer zur Stellungnahme<br />
zum Vorgang, den Akteur zur Stellungnahme zu seiner Rolle.“ 37 Aufgrund dieser<br />
Distanznahme wird die Szene für Benjamin zum „dramatischen Laboratorium“, in<br />
dem der „vom Radio, vom Kino eliminierte Mensch […] gewissen Prüfungen<br />
unterworfen, begutachtet“ wird. 38 So wird also das sich entziehende Kasperl von<br />
einer technischen Apparatur umstellt und durch den Experimentator, Herrn<br />
Maulschmidt, innerhalb eines experimentellen Arrangements akustisch<br />
beobachtet, was wiederum die <strong>Zu</strong>hörer und <strong>Zu</strong>hörerinnen beobachten. 39<br />
Die pädagogische Übung <strong>Benjamins</strong> ist ein toller Schabernack, der sich anstatt<br />
auf Disziplinierung auf die performative Einübung und experimentelle Forschung<br />
innerhalb eines Kasperle-<strong>Theater</strong>s richtet. 40<br />
34<br />
Ebd.<br />
35<br />
Ebd.<br />
36<br />
Südwestdeutsche Rundfunk-Zeitung 8/10 (11.3.1932), S. 1.<br />
37<br />
<strong>Walter</strong> Benjamin: „<strong>Theater</strong> und Rundfunk. <strong>Zu</strong>r gegenseitigen Kontrolle ihrer<br />
Erziehungsarbeit (1932)“, in: <strong>Walter</strong> Benjamin: Medienästhetische Schriften,<br />
Nachw. von Detlef Schöttker, Frankfurt a. M. 2002, S. 396-399, S. 398.<br />
38<br />
Ebd.<br />
39<br />
In dem Text „Zweierlei Volkstümlichkeit. Grundsätzliches zu einem<br />
Hörspiel“ benennt Benjamin die Nähe seines Hörspiels „Was die Deutschen<br />
lasen, während ihre Klassiker schrieben“ (1932) zu zeitgenössischen<br />
experimentellen Verhaltensforschungen: „Kurz: das fragliche Hörspiel<br />
bemüht sich um engste Fühlung mit den Forschungen, die in der jüngsten<br />
Zeit zur sogenannten Soziologie des Publikums unternommen wurden.“<br />
<strong>Walter</strong> Benjamin: „Zweierlei Volkstümlichkeit. Grundsätzliches zu einem<br />
Hörspiel (1932)“, in: Benjamin: Medienästhetische Schriften, S. 400-402.<br />
40<br />
Grundsätzlich dazu Lehmann: „Eine unterbrochene Darstellung“.
Diese Betonung der theatralen Technik der Erziehung gegenüber deren Inhalten<br />
ist ein wesentliches Element der pädagogischen Auffassung <strong>Benjamins</strong>. Er schreibt<br />
zum <strong>Theater</strong> als Ort der Erziehung:<br />
„Die proletarische Erziehung braucht also unter allen Umständen zuerst einmal einen Rahmen,<br />
ein sachliches Gebiet, in dem erzogen wird. <strong>Nicht</strong>, wie die Bourgeoisie, eine Idee, zu der<br />
erzogen wird.“ 41<br />
Innerhalb dieses „Rahmens“, dieses „Laboratoriums“ versteht Benjamin Erziehung<br />
als Technologie der Beobachtung. Ihm geht es nicht um „moralische<br />
Einwirkungen“. 42 Vielmehr benennt er als Aufgabe der Erziehung, als „das<br />
eigentliche Genie der Erziehung: die Beobachtung“. 43<br />
„Der Beobachtung aber – hier fängt Erziehung erst an – wird jede kindliche Aktion und Geste<br />
zum Signal. <strong>Nicht</strong> so sehr, wie dem Psychologen beliebt, Signal des Unbewußten, der Latenzen,<br />
Verdrängungen, Zensuren, sondern Signal aus einer Welt, in welcher das Kind lebt und<br />
befiehlt.“ 44<br />
Der Erwachsene, der Leiter, ist allein Beobachter der Signale und Gesten der<br />
Kinder. Benjamin fordert unmissverständlich, „[d]as Kaltstellen der ‚moralischen<br />
Persönlichkeit‘ im Leiter“. 45 Ihm ist <strong>Zu</strong>rückhaltung und Selbstbeschränkung in der<br />
Beobachtung des Geschehens auferlegt. 46 Seine Aufgabe ist eine „Lehre von den<br />
Signalen“. 47 Er soll aus den kindlichen Gesten, die „Befehl und Signal in einer<br />
Umwelt“ 48 sind, „Stoffe, Aufgaben, Veranstaltungen“ 49 entwickeln und so nur<br />
indirekt auf das Spiel der Kinder wirken. Die Erziehung besorgen die Kinder selbst.<br />
Sie bilden untereinander einen ‚Regelkreis‘: „Die unvermeidlichen moralischen<br />
Ausgleichungen und Korrekturen nimmt das Kollektivum der Kinder selbst an sich<br />
41<br />
<strong>Walter</strong> Benjamin: „Programm eines proletarischen Kindertheaters (1928)“,<br />
in: <strong>Walter</strong> Benjamin: Über Kinder, Jugend und Erziehung, 2. Aufl., Frankfurt<br />
a. M. 1969, S. 79-86, S. 80. „Proletarische“ Erziehung ist für Benjamin als<br />
Gegenbegriff zur bürgerlichen Erziehung zu verstehen, der sich auf<br />
Jugendliche aller sozialen Schichten bezieht. Benjamin unterhält ein<br />
zurückhaltendes Verhältnis zu sozialistischen und kommunistischen<br />
Ideologien.<br />
42<br />
Benjamin: „Programm eines proletarischen Kindertheaters“, S. 82.<br />
43<br />
Ebd.<br />
44<br />
Benjamin: „Programm eines proletarischen Kindertheaters“, S. 82 f.<br />
45<br />
Benjamin: „Programm eines proletarischen Kindertheaters“, S. 82.<br />
46<br />
„Auf ‚unbefangene‘, ‚verständnisvolle‘, ‚einfühlende‘ Praktiken, auf<br />
‚kinderliebe‘ Erzieherinnen wird man verzichten können.“ Benjamin:<br />
„Programm eines proletarischen Kindertheaters“, S. 85.<br />
47<br />
Benjamin: „Programm eines proletarischen Kindertheaters“, S. 83.<br />
48<br />
Ebd.<br />
49<br />
Benjamin: „Programm eines proletarischen Kindertheaters“, S. 82.
vor.“ 50 Die Kinder regulieren sich also in ihrem Schabernacke selbst. Dieser<br />
Steuerkreis bedarf keines Publikums 51 und hat keinen Leiter, der als „‚sittliche<br />
Persönlichkeit‘ auf Kinder“ 52 wirken würde. Erziehung sollte also für Benjamin auf<br />
der Bühne in Form einer permanenten Übung stattfinden, in der sich die Kinder<br />
selbsttätig regulieren.<br />
Die Art und Weise dieser Selbstreg(ul)ierung versteht Asja Lacis, eine enge<br />
Freundin <strong>Benjamins</strong>, mit der er viel über Erziehungsfragen nachdachte, ebenfalls<br />
als Praxis der gegenseitigen Beobachtung:<br />
„Ausgangspunkt für Erzieher und zu Erziehende war für uns die Beobachtung. Die Kinder<br />
beobachten die Dinge, ihre Beziehungen zueinander und ihre Veränderbarkeit; die Erzieher<br />
beobachten die Kinder daraufhin, was sie erreicht haben und wie weit sie ihre Fähigkeiten<br />
produktiv anwenden können.“ 53<br />
Die Beobachtung und daraus folgende Anpassung an ein scheinbar ‚normales‘<br />
Verhalten der Anderen wird von Lacis als Regulierungstechnologie gedacht, in der<br />
man sich zwar nicht nach einer festen Norm, aber doch nach einem<br />
beobachteten, also performativ hergestellten ‚Normalen‘ richtet. 54 Die<br />
aufmerksame Beobachtung der Kinder untereinander wird hier zur selbstgeführten,<br />
selbst-vollzogenen Erziehung innerhalb eines quasi-experimentellen<br />
Rahmens, zu einer Übung im Sinne von Foucaults Gouvernementalitätskonzept,<br />
50<br />
Ebd.<br />
51<br />
„Es gibt keinen möglichen Standort für überlegenes Publikum vorm<br />
Kindertheater.“ Benjamin: „Programm eines proletarischen Kindertheaters“,<br />
S. 82.<br />
52<br />
Ebd.<br />
53<br />
Asja Lacis: Revolutionär im Beruf, hg. von Hildegard Brenner, 2. Aufl.,<br />
München 1976, S. 27.<br />
54<br />
Nach Foucault kann man dieses Verhältnis zur Norm im Gegensatz zu<br />
einem disziplinären als gouvernementales Verhältnis beschreiben. Foucault<br />
spricht – auch wenn er diese Terminologie auch nicht stringent anwendet –<br />
von Normalisierung als einen Prozess, der „verschiedene<br />
Normalitätsaufteilungen wechselseitig in Gang“ setzt. „Es sind diese<br />
Aufteilungen, die als Norm dienen, die Norm ist ein Spiel im Inneren der<br />
Differential-Normalitäten.“ Michel Foucault: Geschichte der<br />
Gouvernementalität I: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Vorlesung am<br />
Collège de France 1977-1978, hg. von Michel Sennelart, Frankfurt a. M.<br />
2004, S. 98. Die Statistik produziert diese Normalitätsbereiche, in dem sie<br />
das kontingente Auftreten von Fällen ‚beobachtet‘ und<br />
Wahrscheinlichkeiten im <strong>Zu</strong>ge des Auftretens der Fälle berechnet. Foucault:<br />
Geschichte der Gouvernementalität, S. 38 f.; <strong>Zu</strong>r Normalisierung auch<br />
Jürgen Link: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert<br />
wird, Opladen 1997.
ei dem „Machtausübung […] im ‚Führen der [Selbst-]Führung‘“ besteht . 55<br />
Auffallend sind die Ähnlichkeiten, die diese Verkopplung von Beobachtung,<br />
Wissen und indirekter bzw. Selbst-Führung mit dem ebenfalls in den 1920er<br />
Jahren entwickelten neuen Verfahren der Auswahl von Offizieren hat, einem<br />
Verfahren, was später unter dem Namen Assessment Center Karriere machen<br />
wird. 56 Auch in diesem Auswahlverfahren geht es nicht mehr um den einfachen<br />
Test vorher feststehender Normen oder das bloße Abfragen von<br />
Trainingserfolgen. Im AC-Test geht es um Fremd- und vor allem um<br />
Selbstbeobachtung, um das Ein- und Abschätzen des anderen und der eigenen<br />
Möglichkeiten und um die Selbstoptimierung am Leitfaden der eigenen<br />
Beobachtung. Das <strong>Zu</strong>r-Schau-Stellen wird dabei zur Selbsttechnik. Man spielt sich<br />
selbst als Rolle, beobachtet sich und die anderen und wie diese wiederum<br />
beobachten. Eva Horn beschreibt das Assessment deshalb als <strong>Theater</strong>:<br />
„Es wird also <strong>Theater</strong> gespielt. […] [D]as Schauspiel [soll] zur ‚Erscheinungsform des<br />
Authentischen‘ werden. Jeder beobachtet jeden, die Interaktion wird zum zentralen<br />
Gegenstand der Beobachtung der Teilnehmer wie der Prüfer.“ 57<br />
Die Generalisierung der Beobachtung ist das zentrale Merkmal der neuen<br />
Testverfahren. Denn in den theatralen Selbstinszenierungen sind nicht mehr so<br />
sehr der Blick des Experten, die Konditionierung von Emotionen und die<br />
Ausmessung des einzelnen Körpers entscheidend. Die Idee des AC-Tests ist es<br />
vielmehr, zu ab- und einschätzenden Vergleichen mit dem jeweils spezifischen<br />
Situationsverhalten der anderen zu animieren, zum Zwecke der permanenten<br />
Selbstkontrolle und Optimierung des individuellen Verhaltens, das immer wieder<br />
den sich verändernden Situationen angepasst werden sollte. Denn eine<br />
Besonderheit von AC-Tests ist es, dass sie ‚normales‘ Verhalten anregen und<br />
fördern, indem sie – ohne im Besitz eines Standardmaßes zu sein – durch (Selbst-)<br />
Beobachtung nach den Unterschieden zwischen den getesteten Individuen<br />
suchen. 58 Ein differenzielles Verfahren also, das Normalität nicht durch<br />
statistische Verfahren ermittelt, sondern durch Vergleiche Normalitätszonen<br />
umreißt. Der AC-Test geht nicht mehr von starren Hierarchien und der Vision<br />
55<br />
Michel Foucault: „Das Subjekt und die Macht“, in: Hubert L. Dreyfus/<br />
Rabinow Paul (Hg.): Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und<br />
Hermeneutik, 2. Aufl., Weinheim 1994, S. 243-261, S. 255.<br />
56<br />
Dazu ausführlich Katja Rothe: Katastrophen hören! Experimente im frühen<br />
europäischen Radio, Berlin 2009, S. 140-151.<br />
57<br />
Eva Horn: „Test und <strong>Theater</strong>. <strong>Zu</strong>r Anthropologie der Eignung im 20.<br />
Jahrhundert“, in: Ulrich Bröckling/ Eva Horn (Hg.): Anthropologie der<br />
Arbeit, Tübingen 2002, S. 109-125, S. 110, 112.<br />
58<br />
Tom Holert: „Phantome der Norm und Heuristiken des Schlauseins. Die<br />
kulturelle Dimension kognitiver Arbeit im Post-IQ-Zeitalter“, in: Marion von<br />
Osten (Hg.): Norm der Abweichung, Zürich 2003, S. 225-241; Majia<br />
Holmer Nadesan: „Constructing Paper Dolls: The Discourse of Personality<br />
Testing in Organizational Practice“, in: Communication Theory 7 (1997), S.<br />
189-218.
eines kontinuierlichen, individuellen oder kollektiven Fortschritts aus, vielmehr<br />
werden hier flexible Positionswechsel innerhalb eines offenen sozialen Raums<br />
erprobt. Anstatt einer katalogisierten Ergebnisprüfung liegt der Schwerpunkt auf<br />
dem Gesamtverlauf der Performance und dem jeweiligen Situationsverhalten der<br />
Probanden.<br />
Der AC-Test, ebenso wie Asja Lacis’ Modell der Erziehung, sind<br />
Experimentalsysteme, die sich auf das Potentielle beziehen, auf das <strong>Zu</strong>künftige<br />
Verhalten und die noch nicht klar definierbaren Möglichkeiten, auf die man aber<br />
nichtsdestoweniger innerhalb performativ verfahrender<br />
Experimentalanordnungen zugreifen möchte. Diese Experimentalisierung des<br />
‚Noch-<strong>Nicht</strong>‘ kann man als performatives Verfahren der Wissensgenerierung über<br />
Potentialität verstehen, als Sicherheitstechnologie, die Foucault als Instrument<br />
gouvernementaler Machtausübung beschreibt: Die Sicherheit<br />
„operiert auf dem Möglichkeitsfeld: sie stachelt an, gibt ein, lenkt ab, erleichtert oder<br />
erschwert, erweitert oder begrenzt […]; aber stets handelt es sich um eine Weise des<br />
Einwirkens auf ein oder mehrere handelnde Subjekte, und das, sofern sie handeln oder zum<br />
Handeln fähig sind. Ein Handeln auf Handlungen.“ 59<br />
Muss man folglich <strong>Benjamins</strong> Pädagogik, muss man auch sein radiofones<br />
Kasperletheater in ihrer Abgrenzung und Entsetzung der disziplinierenden<br />
bürgerlichen Pädagogik als neue, gouvernementale Steuerung in Form des<br />
Assessment begreifen? Zielt die hier vorgeführte Ökonomie der <strong>Zu</strong>rückhaltung des<br />
Pädagogen auf die indirekte Führung sich selbst regulierender kindlicher<br />
Probanden? Benjamin versperrt die Indienstnahme seiner experimentellen<br />
Übungen. Diese Sperre liegt in seinem Verständnis des Beobachtens begründet.<br />
Beobachten ist Sache des Erziehers, während die Kinder ihre Angelegenheiten<br />
selbst regeln. Aber beobachten auch die Kinder, wie es Asja Lacis nahelegt? Und<br />
was wird überhaupt vom Erzieher beobachtet? Wie genau sieht diese Technik des<br />
Beobachtens aus?<br />
Gesten des <strong>Lassen</strong>s<br />
Benjamin versteht Beobachtung – vor allem auch im Sinne eines pädagogischen<br />
Konzeptes – als Erfahrung nicht der performativen Regulierung, sondern der<br />
Erfahrung des Afformativen, wie sie die Kinder lehren (und eben nicht lernen)<br />
können. Der Erzieher muss sich angesichts der Aufführung völlig zurückhalten:<br />
„Die Aufführung steht der erzieherischen Schulung gegenüber als die radikale<br />
Entbindung des Spiels, dem der Erwachsene einzig und allein zusehen kann.“ 60<br />
Der Erzieher sieht dem radikal entbundenen Spiel zu, die Kinder aber<br />
59<br />
Foucault: „Das Subjekt und die Macht“, S. 255.<br />
60<br />
Benjamin: „Programm eines proletarischen Kindertheaters“, S. 84.
„stehen während der Aufführung […] auf der Bühne und belehren und erziehen die<br />
aufmerksamen Erzieher. Neue Kräfte, neue Innervationen treten auf, von denen oft der Leiter<br />
unter der Arbeit nichts ahnte. Erst in dieser wilden Entbindung der kindlichen Phantasie lernt<br />
er sie kennen.“ 61<br />
Der Erzieher erzieht also nicht die Kinder, er lernt von ihnen in der Aufführung. 62<br />
Aufführungen versteht Benjamin als „Karneval“, in dem das „[o]berste […] zu<br />
61<br />
Benjamin: „Programm eines proletarischen Kindertheaters“, S. 85.<br />
62<br />
Das Prekäre seines Konzepts zeigt sich am Begriff der „Innervation“, der<br />
Benjamin zwischen 1928 und 1939 umtreibt, der aber unklar bleibt. Auf<br />
„Innervation“ zielt das erfahrende Lernen der Erzieher in seinem<br />
pädagogischen Konzept. Denn die Geste des Kindes ist „schöpferische<br />
Innervation in exaktem <strong>Zu</strong>sammenhang mit der rezeptiven“, ist<br />
unbewusste, körperliche Performanz, die sich auf die Interaktion in der<br />
konkreten, aktuellen Umwelt und den dort vorhandenen Dingen und<br />
Menschen bezieht. Benjamin: „Programm eines proletarischen<br />
Kindertheaters“, S. 83. Hans-Thies Lehmann stellt deshalb<br />
unmissverständlich klar, dass „<strong>Benjamins</strong> Beharren auf der Bewußtlosigkeit<br />
[…] vom Konzept des Unbewußten streng unterschieden [ist] durch das<br />
kollektive Moment, durch seine Verstrickung mit der Dingwelt und die an<br />
Körperlichkeit gebundene ‚Aktualität‘“, Lehmann: „Eine unterbrochene<br />
Darstellung“, S. 190. Anderseits weist der Begriff der „Innervation“ als eine<br />
vorbewusste, psychische wie somatische Reaktion auf die Reflexe der<br />
Umwelt auf andere ‚Verwandtschaften‘ hin: Ähnlichkeiten zu<br />
protokybernetischen Modellen aus Biologie (Uexkülls Merk- und Wirkwelt),<br />
aber auch Psychologie, insbesondere weiterentwickelter Formen der<br />
Psychotechnik und Verfahren der topologischen Psychologie Kurt Lewins<br />
sind offensichtlich. Siehe dazu Roland Innerhofer/ Katja Rothe:<br />
„Regulierung des Verhaltens zwischen den Weltkriegen am Beispiel Robert<br />
Musil und Kurt Lewin“, erscheint in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte<br />
(2010), Schwerpunktheft "Regulierungswissen", hg. von Carsten Reinhardt.<br />
Der Begriff „Innervation“ ist bei Benjamin ein schillernder, der zwischen<br />
Ästhetik, Aisthesis, Physiologie, Psychologie und Psychotechnik oszilliert.<br />
Innervation zielt sowohl auf die Eröffnung neuer Räume, Räume<br />
beispielsweise für das ent-setzende Spiel der Kinder, das nicht von<br />
intentionalen (Selbst-) Bewusstsein gespeist, sondern durch Intuition<br />
körperlich in Improvisationen ausagiert wird. Andererseits schwingen im<br />
Begriff der Innervation ebenfalls psychotechnische und<br />
arbeitswissenschaftliche Kontexte mit, die zu eben jener Zeit, in der<br />
Benjamin sein Konzept einer revolutionären Pädagogik entwickelt, nicht<br />
mehr nur auf die <strong>Zu</strong>richtung der Körper durch bestimmte Normen<br />
(Arbeitsnormen beispielsweise) zielen, sondern auf Selbstregulierung und<br />
Selbststeuerung des Verhaltens innerhalb experimenteller Übungen. <strong>Zu</strong><br />
diesem prekären Begriff grundsätzlich: Tom Holert: „‚My phone’s on<br />
vibrate for you‘. Über Innervation und vibrotaktile Kommunikation nach<br />
<strong>Walter</strong> Benjamin”, in: Ralf Schnell (Hg.): MedienRevolutionen. Beiträge zur<br />
Mediengeschichte der Wahrnehmung, Bielefeld 2006, S. 121-146, hier S.
unterst gekehrt“ 63 wird, als freie Improvisation, als „radikale Entbindung des<br />
Spiels“. 64 Die Beobachtung dieses „Karnevals“ zielt bei Benjamin nicht auf eine<br />
erkenntnisgeleitete Regulierung des kindlichen Verhaltens. Vielmehr eröffnet die<br />
Beobachtung der Kinder dem Erzieher die Erfahrung 65 eines Suspens allen<br />
Wissens. „[I]m <strong>Nicht</strong>-Wissen – im <strong>Zu</strong>schauen“ 66 wird nicht Erkenntnis gewonnen,<br />
sondern eine Erfahrung der Unterbrechung von Wissen gemacht. 67 Die<br />
Beobachtungen, die Benjamin allein den Erwachsenen empfiehlt – in Bezug auf<br />
die Kinder wird nicht von gegenseitiger Beobachtung gesprochen – 68 , die<br />
Beobachtungen also sollen nicht im performativen Akt das kindliche Verhalten<br />
normalisieren, sondern zielen auf die Erfahrung einer Ent-Setzung, eines<br />
Afformativen, auf Gesten des <strong>Lassen</strong>s. Diese Geste des <strong>Lassen</strong>s zeigt sich nicht<br />
unmittelbar, sondern ist immer eine mediale Szene, die ihre eigene Mittelbarkeit<br />
mit kommuniziert, ist eine Geste der Verweisung, die an kein Ende kommt. Jede<br />
Setzung wird hierbei unterbunden. Man kann sich dieser Geste nicht mit<br />
intentionalem (Selbst-) Bewusstsein auf einen bestimmten Zweck hin nähern.<br />
Vielmehr werden sie durch Intuition körperlich in Improvisationen ausagiert, muss<br />
man sie mimetisch nachvollziehen, erfahren. Benjamin stellt in dem Hörspiel<br />
Radau um Kasperl sein pädagogisches Konzept als eine Einübung in Medienräume<br />
vor, die er nicht als bewusstes Lernen, aber auch nicht als unmittelbares Erlebnis<br />
erschlossen wissen möchte. Ihm geht es – und das ist ein politisches Konzept – um<br />
Möglichkeiten einer nicht thetischen, mimetischen Inkorporation der Welt. 69 Die<br />
Geste des <strong>Lassen</strong>s ist also in Bezug auf Wissen und Setzung einer Ökonomie der<br />
128. Mirijam Bratu Hansen: „Benjamin and Cinema: Not a One-Way-Street“,<br />
in: Critical Inquiry 25 (1999), S. 306-343, hier S. 340.<br />
63<br />
Benjamin: „Programm eines proletarischen Kindertheaters“, S. 85.<br />
64<br />
Benjamin: „Programm eines proletarischen Kindertheaters“, S. 84.<br />
65<br />
Beobachtung steht für Benjamin in der Nähe zur Erfahrung: „Die Identität<br />
von Erfahrung und Beobachtung ist zu erweisen. S. den Begriff der<br />
‚romantischen Beobachtung‘ in meiner Disseration. – Beobachtung auf<br />
Versenkung beruhend.“ GS VI, S. 89. Dazu auch Lehmann: „Eine<br />
unterbrochene Darstellung“, S. 187.<br />
66<br />
<strong>Walter</strong> Benjamin: Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik<br />
(1918/1919), Frankfurt a. M. 1973, S. 54f.<br />
67<br />
Dazu Lehmann: „Eine unterbrochene Darstellung“, S. 187.<br />
68<br />
Darauf weist auch Hans-Thies Lehmann explizit hin. Lehmann: „Eine<br />
unterbrochene Darstellung“, S. 186. Benjamin spricht tatsächlich in Bezug<br />
auf die Kinder nur von Selbstkorrekturen. Benjamin: „Programm eines<br />
proletarischen Kindertheaters“, S. 82. Wie diese genau aussehen, formuliert<br />
er nicht aus. Das Ratespiel als Genre erfordert zumindest eine erhöhte<br />
Aufmerksamkeit für die Situation und einen gegenseitigen Bezug der<br />
Akteure. Insofern kann man auch hier von Selbstbeobachtung sprechen.<br />
Wiewohl diese Selbstbeobachtung auszubuchstabieren wäre, gerade auch<br />
in Hinblick auf das „wilden Spiel“, das alle Setzungen aufhebt, interessiert<br />
sich Benjamin allein für die Beobachtung der Erzieher.<br />
69<br />
Mirijam Bratu Hansen: „Room-for-Play: Benjamin’s Gamble with Cinema“,<br />
in: October 109 (2004), S. 3-45, hier S. 9.
<strong>Zu</strong>rückhaltung verpflichtet, die für Benjamin gerade deshalb revolutionär ist, weil<br />
sie jeden gesetzten Zweck suspendiert, weil sie Politik unterlässt. Anders als das<br />
Wort ‚Ökonomie‘ nahelegt – nämlich vom Haus und seinem Gesetz zu sprechen –<br />
geht es Benjamin nicht um erzieherische Steuerung und die Setzung von Normen.<br />
Der „Radau um Kasperl“ setzt das Haus und seine Gesetze vielmehr in Chaos,<br />
unterläuft die Sprechakte des Gesetzes und seiner Erhaltung. Das ‚ent-setzende‘,<br />
afformative Kasperletheater richtet sich vielmehr auf das „Kommende“ in der<br />
kindlichen Geste: „Wahrhaft revolutionär wirkt das geheime Signal des Kommenden,<br />
das aus der kindlichen Geste spricht.“ 70 Benjamin geht es weder um<br />
Regulierung noch um utopische Konzepte oder bessere (Reform-) Pädagogik,<br />
sondern um die kindliche Geste als eine Geste, die sich allen Setzungsgewalten<br />
entzieht, indem sie immer nur an-künftig ist, weil sie eine im Potential<br />
verbleibende Geste des <strong>Lassen</strong>s ist. Insofern müsste man in Bezug auf <strong>Benjamins</strong><br />
Konzept einer revolutionären Pädagogik von einer ‚Anti‘-Ökonomie der<br />
<strong>Zu</strong>rückhaltung sprechen, von einer angesichts der afformativen Ent-Setzung<br />
gelassenen Erfahrung des <strong>Nicht</strong>-<strong>Machen</strong>s.<br />
Literatur<br />
Agamben, Giorgio: „Noten zur Geste“, in: Jutta Georg-Lauer (Hg.): Postmoderne<br />
und Politik, Tübingen 1992, S. 97-108.<br />
Benjamin, <strong>Walter</strong>: „Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen<br />
(1916)“, in: <strong>Walter</strong> Benjamin: Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann<br />
und Hermann Schweppenhäuser. Bde. I-VII, Suppl. I-III (17 Bde.), Frankfurt a.<br />
M. 1972-1999, Bd. II.1, S. 140-157.<br />
- Ders.: Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik (1918/1919),<br />
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70<br />
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