18.11.2013 Aufrufe

PDF-Download - Bayerische Staatsoper

PDF-Download - Bayerische Staatsoper

PDF-Download - Bayerische Staatsoper

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

MAX JOSEPH<br />

Neu in szenier ung<br />

Der Ring des<br />

Nibelungen<br />

Andreas<br />

Kriegenburg<br />

Kent Nagano<br />

Erzählungen von<br />

Händl Klaus<br />

Christine Pitzke<br />

Helmut Krausser<br />

Ann Cotten<br />

Robert Hültner<br />

Vom<br />

Ring<br />

erzählen


<strong>Bayerische</strong><br />

staatsoper<br />

Max Joseph 2 2011–2012<br />

Das Magazin der <strong>Bayerische</strong>n <strong>Staatsoper</strong>


13 Künstler erzählen ihren Ring


Editorial 3<br />

Das Erzählen ist ein ungeheuerlicher Vorgang. Etwas erweckt unsere Aufmerksamkeit,<br />

eine Figur, eine Begebenheit, vielleicht auch die Stimme eines Erzählers.<br />

Folgen wir diesem Reiz, erwacht eine ganz eigene Landschaft, in der wir, den roten<br />

Faden des Erzählers ertastend, Bewohner neuer Welten werden. Zugleich sind wir<br />

selbst oft Erzähler, um zu unterhalten, zu überzeugen, um etwas preiszugeben von<br />

uns oder um Geschehenem einen Sinn zu verleihen.<br />

Im kommenden Halbjahr wird die <strong>Bayerische</strong> <strong>Staatsoper</strong> Richard Wagners<br />

Ring des Nibelungen neu auf die Bühne bringen. Für Regisseur Andreas Kriegenburg<br />

ist die gemeinschaftliche Erzählung dieses Mythos der zentrale Denkansatz.<br />

Daher haben wir für diese Ausgabe von MAX JOSEPH Literaten gebeten, uns<br />

eine Geschichte zu erzählen, deren Ausgangspunkt im Kosmos des Ring liegt, an<br />

deren Ende aber etwas völlig Neues steht. Entstanden sind Erzählungen in den<br />

unterschiedlichsten Farben, jede mit ihrer eigenen fantastischen Welt. Um die ruhende<br />

Waffe des Vaters etwa spinnt Helmut Krausser seine Erzählung, um ein<br />

Rinnsal aus Wasser, das in eine Achselhöhle laufen darf, Christine Pitzke ihre.<br />

Händl Klaus setzt an bei einem Vater, zu groß für eine Wohnung, und die Lyrikerin<br />

Ann Cotten bei einer Wette um das eigene Haupt.<br />

Die Bilder zwischen diesen Erzählungen haben internationale Künstler entworfen,<br />

die ebenfalls ganz eigene Darstellungen für bekannte Gestalten aus dem<br />

Ring gefunden haben. Anmutig und doch bedrohlich tritt bei Alex Simpson der<br />

Rhein über die Ufer, und Thais Beltrame lässt am Ende Siegfried von einem Leichenzug<br />

aus Kindern zu Grabe tragen.<br />

Zunächst aber kommen die Hauptpersonen der Ring-Inszenierung zu<br />

Wort. Andreas Kriegenburg spricht ausführlich über den zentralen Gedanken des<br />

Lagerfeuers, und Kent Nagano erzählt von seiner eigenen Erfahrung mit Erzählung<br />

und der Sprache der Musik. Solisten auf der Bühne schließlich verraten uns<br />

in überraschenden und oft berührenden Antworten, was sie persönlich mit dem<br />

Erzählen verbinden.<br />

Was in all diesen Facetten des Erzählens deutlich wird, ist der Reichtum<br />

einer guten Geschichte. Wir möchten Ihnen Lust machen, sich auf jede einzelne<br />

Erzählung einzulassen wie auch auf jene große, die alle Kräfte der <strong>Bayerische</strong>n<br />

<strong>Staatsoper</strong> mit Andreas Kriegenburg neu erzählen werden.<br />

Nikolaus Bachler, Staatsintendant<br />

Black Light (For Ten Performers), 2010-2011<br />

Photograph by Nina Canell & Robin Watkins


Zur NeuiNsZeNieruNg<br />

Der Ring des Nibelungen<br />

8<br />

Das Vergnügen am irrationalen<br />

Regisseur Andreas Kriegenburg<br />

über seinen Zugang zu Wagners<br />

Ring<br />

16<br />

Den Worten nachspüren<br />

Generalmusikdirektor Kent<br />

Nagano über die Sprache der<br />

Musik<br />

ErzählungEn<br />

von Literaten zu einem Motiv aus dem Kosmos des Ring<br />

Ann Cotten – Willkür<br />

Von einer Wette um das eigene Haupt,<br />

wenn es nicht gelänge, sechs jungen Männern<br />

Spaß zu bringen<br />

helmut Krausser – Die Familie<br />

der Verlorenen (Bronn)<br />

Von einer liegen gebliebenen Waffe<br />

des Vaters, die Bronn gebraucht, um<br />

sich Lust zu verschaffen<br />

Christine Pitzke<br />

Die Pause nach dem Dritten<br />

Akt und kein Ende<br />

26<br />

36<br />

Von einem so rauschhaften wie poetischen Musikerlebnis 48<br />

händl Klaus – Mädi<br />

Von der Rache des Sohnes an seinem zu großen Vater<br />

56<br />

Zum Cover<br />

Der amerikanische<br />

Fotograf Blake<br />

Andrews ist<br />

Auto didakt. Ausgerüstet<br />

mit einer<br />

Kleinbildkamera<br />

fängt er täglich das<br />

ein, was ihm<br />

direkt in den Blick<br />

kommt. Das Kind<br />

auf dem Foto ist<br />

sein jüngster Sohn<br />

Emmett, aufgenommen<br />

im Alter<br />

von drei Jahren,<br />

als er den zauberwald<br />

in Salem /<br />

Oregon besuchte<br />

(www.blakeandrews.<br />

blogspot.com).<br />

Silke Scheuermann<br />

Die Rheintöchter<br />

Von Magda, die an der Gewöhnlichkeit<br />

ihrer Töchter leidet, und eines Tages doch<br />

ihr Hörkränzchen beeindruckt<br />

robert hültner – Die Ablehnung<br />

Von einer fiktiven Erklärung des<br />

Dramaturgen an den Autor, der die Vertonung<br />

des Nibelungenliedes eingereicht hat<br />

Als ZugAbe<br />

Yusuf Özgüney (12 Jahre)<br />

Sigurds Rettung<br />

Vom weiteren Schicksal Sigurds,<br />

dem Helden aus der<br />

Kinderoper Sigurd der Drachentöter<br />

64<br />

74<br />

84


BilDEr<br />

gestaltet von Künstlern, inspiriert von Szenen aus dem Ring<br />

säNger<br />

antworten auf Fragen zum Erzählen<br />

Elsa Voß (9 Jahre)<br />

Wie Fafner sich in einen Drachen verwandelt,<br />

und mehr (Filzstift) 22<br />

Brecht Vandenbroucke<br />

Wie die Riesen Freia rauben<br />

(Schwarzstift, CMYK-Colorierung)<br />

Alex Simpson<br />

Wie die Rheintöchter das Gold wiedererlangen und wie<br />

Siegfried die Stimme des Vögleins versteht (Aquarellfarbe)<br />

lili Scratchy<br />

Wie Fafner Fasolt erschlägt und wie die Rheitöchter<br />

sich unter Wasser vergnügen (Filzstift)<br />

Thais Beltrame<br />

Wie Siegfried zu Grabe getragen wird<br />

(Chinatinte und Pinsel)<br />

Elvis Studio<br />

Wie man den Ring in jeder Welt finden kann<br />

(Buntstift)<br />

32<br />

44<br />

54<br />

62<br />

72<br />

80<br />

Klaus Florian Vogt 34<br />

Siegmund<br />

Juha uusitalo 42<br />

Wotan, Der Wanderer<br />

Nina stemme 43<br />

Brünnhilde<br />

ulrich reß 52<br />

Mime<br />

Catherine Naglestad 53<br />

Brünnhilde<br />

Catherine Wyn-rogers 61<br />

Erda<br />

Okka von der Damerau 70<br />

Floßhilde<br />

Johan reuter 71<br />

Wotan<br />

eri Nakamura 83<br />

Woglinde<br />

sophie Koch 86<br />

Fricka<br />

stephen gould 87<br />

Siegfried<br />

Seite 2<br />

FOTOArBEiT<br />

von nina Canell & robin Watkins<br />

Seite 3<br />

EDiTOriAl<br />

von nikolaus Bachler<br />

Seite 6<br />

BilDKünSTlEr / imPrESSum<br />

Seite 89<br />

AgEnDA<br />

Seite 90<br />

SPiElPlAn<br />

Seite 96<br />

PlAKATKünSTlEr<br />

Collage von Dennis rudolph<br />

Seite 100<br />

VOrSChAu


Impressum<br />

Die Bildkünstler<br />

die diese MAX JOSEPH -Ausgabe gestaltet haben<br />

magazin der<br />

<strong>Bayerische</strong>n staatsoper<br />

www.staatsoper.de/maxjoseph<br />

max-Joseph-platz 2 / 80539 münchen<br />

T 089 – 21 85 10 20<br />

F 089 – 21 85 10 23<br />

www.staatsoper.de<br />

E-Mail<br />

maxjoseph@staatsoper.de<br />

Alex Simpson<br />

Seite 44<br />

Brecht Vandenbroucke<br />

Seite 32<br />

Elsa Voß (9 Jahre)<br />

Seite 22<br />

Herausgeber<br />

staatsintendant Nikolaus Bachler<br />

(V.i.s.d.p.)<br />

Redaktionsleitung<br />

maria märz<br />

Gesamtkoordination<br />

Christoph Koch<br />

Redaktion<br />

miron Hakenbeck, rainer Karlitschek,<br />

Olaf A. schmitt, Andrea schönhofer, martina<br />

stütz, Bettina Wagner-Bergelt<br />

Bildredaktion<br />

Yvonne Gebauer, Julia schmitt<br />

Gestaltung<br />

Bureau mirko Borsche<br />

mirko Borsche, Johannes von Gross,<br />

reinhard schmidt, Felix Wetzel<br />

Autoren<br />

Jörg Böckem, Ann Cotten, Händl Klaus, robert<br />

Hültner, Helmut Krausser, Yusuf Özgüney,<br />

Christine pitzke, silke scheuermann<br />

Fotografen & Illustratoren<br />

Blake Andrews, Thais Beltrame, Nadja<br />

Bournonville, Nina Canell & robin Watkins<br />

(mit bestem Dank an die Galerie Barbara<br />

Wien), elvis studio, Gian Gisiger, Till Janz,<br />

Jörg Koopmann, Dennis rudolph, Lili<br />

scratchy, Alex simpson, Brecht<br />

Vandenbroucke, elsa Voß, patrick Widmer<br />

Aquarelle sind das Herzstück<br />

der Arbeit der Londoner<br />

Künstlerin Alex Simpson.<br />

Sie lädt das Ungezwungene<br />

und Spontane dazu ein, ihre<br />

feingliedrigen Figuren in<br />

verwässerte Tinte ausbluten<br />

zu lassen. Für diese Ausgabe<br />

hat sie eindrucksvoll<br />

Siegfried diesen Weg gehen<br />

lassen, als er plötzlich die<br />

Sprache des Vögleins<br />

verstehen kann, und den<br />

mächtigen Moment, als der<br />

Rhein über die Ufer tritt und<br />

die Rheintöchter den Ring<br />

zurückgewinnen. Ab S. 44.<br />

Bunt, laut, roh und farbenfroh<br />

sind die Arbeiten des<br />

belgischen Künstlers Brecht<br />

Vandenbroucke. Der frisch<br />

diplomierte Illustrator<br />

gestaltet auch Plattencover<br />

und Plakate, veröffentlicht<br />

in Magazinen und Ausstellungen<br />

und zeichnet Comics.<br />

Entsprechend spannend ist<br />

das Bild des Moments, als<br />

Wotan mit der Bezahlung<br />

zögert, und daraufhin die<br />

Riesen Freia rauben und<br />

noch vor Sonnenuntergang<br />

Bezahlung verlangen.<br />

Zu sehen auf S. 32/33.<br />

Elsa geht in die Klasse 4f<br />

der Münchner Astrid-Lindgren-Grundschule.<br />

Sie malt<br />

sehr gern und denkt sich<br />

selbst Geschichten aus, die<br />

sie entweder aufschreibt<br />

oder zeichnet. Ihre eigenartigen<br />

und besonderen Welten<br />

beschäftigen sie oft wochenlang.<br />

Wer Mühe hat, sich im<br />

Geflecht der Wagner’schen<br />

Figuren zurechtzufinden,<br />

dem seien Elsas Zeichnungen<br />

empfohlen, die erstaunliche<br />

Klarheit darüber<br />

bringen, was wirklich zählt<br />

im Ring. Ab S. 22.<br />

Marketing<br />

Laura schieferle<br />

T 089 – 21 85 10 27 / F 089 – 21 85 10 33<br />

marketing@staatsoper.de<br />

Schlussredaktion<br />

Christiane Fritsche<br />

Verlag<br />

HOFFmANN uND CAmpe VerLAG GmbH,<br />

ein unternehmen der GANsKe<br />

VerLAGsGruppe<br />

Harvestehuder Weg 42 / 20149 Hamburg<br />

T 040 – 44 18 8-457 / F 040 – 44 18 8-236<br />

cp@hoca.de<br />

www.hocacp.de<br />

Lili Scratchy<br />

Seiten ß4/6ã<br />

Thais Beltrame<br />

Seite 72<br />

Elvis Studio<br />

Seite 80<br />

Anzeigenleitung<br />

<strong>Bayerische</strong> staatsoper:<br />

Imogen Lenhart<br />

T 089 – 21 85 10 06 / anzeigen@staatsoper.de<br />

Verlag:<br />

Doris Bielstein<br />

T 040 – 27 17 20 95 / doris.bielstein@jalag.de<br />

Vertrieb Zeitschriftenhandel<br />

premium sales Germany GmbH<br />

poßmoorweg 2-6 / 22301 Hamburg<br />

T 040 – 27 17-23 43<br />

Lithografie<br />

mXm Digital service, münchen<br />

Druck<br />

Gotteswinter, münchen<br />

ISSN<br />

1867-3260<br />

Nachdruck nur nach vorheriger einwilligung<br />

Alle rechte vorbehalten<br />

Ihr Pseudonym hat die<br />

Französin Lili Scratchy als<br />

Hommage an Die Simpsons<br />

im Jahr 199ß ausgewählt, als<br />

ihr erstes Kinderbuch Lulu<br />

Magazine veröffentlicht<br />

wurde. Ihre Arbeit – in<br />

Illustrationen, in Comics, in<br />

ihrem Laden in Paris –<br />

strahlt einen fröhlichen und<br />

lauten Optimismus aus. Ist<br />

dieser bei der Darstellung<br />

der Rheintöchter (S. 6ã/63)<br />

noch gut vorstellbar, wirkt<br />

er verblüffenderweise auch<br />

im Bild der kämpfenden<br />

Riesen Fafner und Fasolt<br />

(S. ß4/ßß).<br />

Thais Beltrame hat schon<br />

als Kind Buntstifte gehasst<br />

und stattdessen mit<br />

Kugelschreibern endlose<br />

Linien und Muster gezeichnet.<br />

Mittlerweile schafft die<br />

in São Paolo lebende<br />

Künstlerin daraus Schwarz-<br />

Weiß-Zeichnungen zu<br />

existenziellen Themen, die<br />

das Dunkle in unseren<br />

Kindheitserinnerungen<br />

wachrufen, aber auch die<br />

glühende Entdeckerfreude<br />

darin. Für diese Ausgabe<br />

sind die gezeichneten<br />

Linien zu Siegfrieds Leichenzug<br />

geworden (S. 7ã/73).<br />

Helge Reumann und Xavier<br />

Robel arbeiten als Elvis<br />

Studio seit 1998 in Genf.<br />

Ihre Zeichnungen quellen<br />

über vor tausenderlei bunten<br />

Figuren, Widersprüchen<br />

und Wesen, einer Vielfalt am<br />

Rande des Wahnsinns. Ihr<br />

Bilderkosmos entsteht,<br />

indem jeder Künstler<br />

abwechselnd ein neues<br />

Fragment hinzufügt, dem<br />

Eigenleben ihrer Figuren<br />

folgend. Hier liegt nicht die<br />

Schönheit, sondern die<br />

Geschichte im Auge des<br />

Betrachters. Zu erfahren<br />

auf S. 80/81.<br />

Foto Beltrame: Adalberto rossette


München<br />

Residenzstrasse 6<br />

089 238 88 50 00<br />

Düsseldorf<br />

Kö-Center/<br />

Martin-Luther-Platz 32<br />

0211 135 40 92<br />

Frankfurt<br />

Goethestrasse/<br />

Grosse Bockenheimer-Str. 13<br />

069 219 96 700<br />

Hamburg<br />

Neuer Wall 39<br />

040 430 94 90<br />

Wien<br />

Am Kohlmarkt 4<br />

01 535 30 53<br />

www.akris.ch


Das Vergnügen am Irrationalen


Eine Gesellschaft<br />

sitzt um ein<br />

Lagerfeuer und<br />

erzählt sich vom<br />

Verschwinden<br />

der Götter und wie<br />

sie Macht‐ und<br />

materielle Gier<br />

über wunden hat –<br />

welch Utopie.<br />

Regisseur Andreas<br />

Kriegenburg<br />

erläutert für<br />

MAX JOSEPH<br />

den zentralen<br />

Denkansatz<br />

seiner Neuinszenierung<br />

von<br />

Richard Wagners<br />

Ring des<br />

Nibelungen.<br />

Links: Andreas Kriegenburg,<br />

Regisseur des<br />

neuen Ring an der<br />

<strong>Bayerische</strong>n <strong>Staatsoper</strong><br />

Fotografie Till Janz<br />

Richard Wagner hat<br />

mit dem Ring des Nibelungen versucht,<br />

aus mehreren mythologischen<br />

Quellen und zeitgenössischen<br />

Einflüssen ein in sich geschlossenes<br />

Weltgebäude zu errichten, in dem<br />

alles miteinander in Beziehung steht.<br />

Was reizt daran, dieses Weltgebäude<br />

neu zu errichten, oder was ist daran<br />

auch suspekt?<br />

Wagner<br />

hat sicherlich versucht, ein musikalisches,<br />

gedankliches, ästhetisches<br />

Werk mit einer großen Geschlossenheit<br />

und Wucht zu schaffen. Ob seine<br />

Intention tatsächlich dahin ging,<br />

eine Welt zu miniaturisieren, um sie<br />

dann innerhalb eines Bühnenkontextes<br />

wiedergeben zu können, weiß ich<br />

nicht. Das wäre mir vom Gedanken<br />

auch zu groß. Unser Ansatz in der<br />

Neuinszenierung wird sein, nicht zu<br />

versuchen, Welt abzubilden, sondern<br />

das Motiv der Entstehung von Welt<br />

durch Erzählung wiederzugeben.<br />

Diese Erzählung ist bei Wagner<br />

unglaublich komplex, wodurch der<br />

Eindruck einer großen Realität<br />

entsteht. Über die Verwerfungen, die<br />

Ausfransungen, über die Unwahrscheinlichkeiten<br />

wird es merkwürdigerweise<br />

wahrscheinlicher, dass sie<br />

eine ganze Welt abbilden soll. Ich<br />

glaube, dass man Wagner und sich<br />

selbst zu sehr unter Druck setzt,<br />

wenn man sagt: Ich muss eine oder<br />

gar seine Welt abbilden. Deshalb<br />

auch unser Versuch, den Interpretationsballast<br />

herunterzubrechen<br />

und sich auf das soziale Motiv des<br />

Erzählens zu konzentrieren.<br />

Die Figuren des Ring erzählen<br />

immer wieder, und das aus den<br />

unterschiedlichsten Gründen: um an<br />

Informationen zu kommen, um die<br />

Vergangenheit zu erinnern. Was aber<br />

meint Erzählen als soziales Motiv?<br />

Das Erzählen ist auch der<br />

Ausgangspunkt Wagners. Er unterscheidet<br />

nicht strukturell zwischen<br />

Erzählung und Kunstwerk, zwischen<br />

Rezitativ und Arie, die sich letztlich<br />

wie ein Zeitloch in die Handlung<br />

Interview Miron Hakenbeck und Olaf A. Schmitt<br />

9<br />

drückt. Ich glaube, es gibt Werke,<br />

die mehr oder weniger stark erzählend<br />

sind, ein Werk von Mozart oder<br />

Händel ist sicher weniger erzählend.<br />

Die Behauptung von Erzählung<br />

funktioniert dort nur als Vehikel: auf<br />

der einen Seite für die Ausstellung<br />

von Kunstfertigkeiten und auf der<br />

anderen Seite zur Widerspiegelung<br />

von inneren Zuständen. Manche<br />

Erzählungen geben nur vor, Erzählung<br />

zu sein, sind aber Traum oder<br />

Angstvision. Sie bewegen sich<br />

nirgendwohin und haben keine<br />

Interaktion mit der Wirklichkeit. Da<br />

entsteht ein dramatischer Moment<br />

auf der Bühne, und man bewegt sich<br />

lange um ihn herum – mit Arien und<br />

Koloraturen. Das ist beim Ring ganz<br />

anders. Die Intention zu erzählen ist<br />

ein wesentlicher Motor für die<br />

Geschichte. Wagner ist hier viel<br />

unerbittlicher, drängender, treibender,<br />

ist auch musikalisch fortlaufend<br />

am Erzählen, mit Ahnungen und<br />

Deutungen, die sich überschneiden.<br />

Er gibt den Figuren untereinander<br />

viel Zeit und Raum, etwas von sich<br />

preiszugeben, Rätselhaftes als<br />

rätselhaft zu bemerken und eben<br />

nicht entschlüsseln zu können.<br />

Merkwürdigerweise hat man auf der<br />

anderen Seite das Gefühl, dass<br />

gleichzeitig die Geschichte in<br />

gigantischem Tempo auf die nächstmögliche<br />

schlimme Wendung zurast.<br />

Vor allem aber wollen wir versuchen,<br />

den Ring wieder als eine unsere<br />

Kultur stiftende Erzählung zu<br />

verstehen und als ein soziales<br />

Ereignis: Man teilt einander Gewusstes,<br />

Erlebtes oder auch Erfundenes<br />

mit.<br />

Und wer erzählt da wem etwas?<br />

Wenn man es ganz utopisch<br />

formuliert, dann erzählt die Gesellschaft<br />

sich selber etwas. Es gibt<br />

nicht den einen Erzähler, sondern<br />

der gesamte Apparat der Oper<br />

fungiert als Erzähler, bündelt die<br />

Fantasiekräfte. Weniger um ein<br />

ästhetisches Überrumpelungswerk<br />

zu entwerfen, sondern vielmehr setzt


sich die Gesellschaft mit ihren<br />

Wurzeln auseinander, indem sie<br />

sich von ihnen erzählt.<br />

Welche Funktion hat eine solche<br />

kollektive Erzählung? Definiert oder<br />

erschafft sich diese Gesellschaft<br />

damit neu?<br />

Vielleicht schafft sie sich sogar<br />

neu, aber in einem fortwährenden<br />

Prozess, indem sie sich ihrer Wurzeln<br />

versichert. Kollektive Erinnerung<br />

stiftet immer Identität. Das ist eine<br />

der wesentlichsten Aufforderungen,<br />

die uns die Zeit stellt: Bleibt starrsinnig<br />

im euch Erinnern! Auch in der<br />

Auseinandersetzung mit Wagner<br />

taucht die Aufforderung auf, sich an<br />

ihn, sein Werk, aber auch an das zu<br />

erinnern, was mit ihm manipulativ<br />

geschehen ist. Für mich ist allerdings<br />

das soziale Ereignis wichtiger als der<br />

Nebeneffekt, dass eine kulturelle<br />

Identität entsteht oder sich bestätigt.<br />

Wo setzt die Erzählung dann an?<br />

Wir haben es ja mit einem doppelten<br />

Mythos zu tun. Da ist einerseits das<br />

scheinbar Ursprüngliche, das<br />

„Urgewand“, wie Wagner es nennt:<br />

mehrere Stoffe, die im 19. Jahrhundert<br />

überhaupt erst wieder auftauchten<br />

– die Nibelungensaga, die Edda<br />

usw. Dann gibt es Wagners spezifische<br />

Erzählweise. Sie haben sich mit<br />

dem Nibelungenstoff in der Inszenierung<br />

von Friedrich Hebbels Version<br />

Der Regisseur Andreas Kriegenburg<br />

begann seine Theaterarbeit als Tischler<br />

und Techniker am Theater seines Geburtsortes<br />

Magdeburg. Nach ersten Inszenierungen<br />

in Frankfurt/Oder wurde er Anfang<br />

der 1990er Jahre Hausregisseur an der<br />

Volksbühne Berlin. Später inszenierte er<br />

regelmäßig am Staatstheater Hannover<br />

und am Burgtheater Wien, von 2001 bis<br />

2009 als Oberspielleiter am Thalia Theater<br />

Hamburg und seit 2009 am Deutschen<br />

Theater Berlin. Immer wieder kehrt er<br />

auch an die Münchner Kammerspiele zurück,<br />

wo er über Jahre hinweg eindrucksvolle<br />

Inszenierungen schuf. Schon für die<br />

Münchner Inszenierung von Friedrich<br />

Hebbels Die Nibelungen beschäftigte er<br />

sich mit jenem Mythos, der Richard<br />

Wagner als Ausgangspunkt für seine<br />

Ring‐Tetralogie diente. Diese wie auch<br />

zahlreiche andere Inszenierungen Kriegenburgs<br />

wurden zum Berliner Theatertreffen<br />

eingeladen. Mit Alban Bergs<br />

Wozzeck gab er 2008 sein bemerkenswertes<br />

Debüt an der <strong>Bayerische</strong>n <strong>Staatsoper</strong>.<br />

Hier bringt er nun mit seinem Team in<br />

einer Spielzeit alle vier Teile von Richard<br />

Wagners Der Ring des Nibelungen auf<br />

die Bühne. In seiner theaterfreien Zeit<br />

tanzt der selbsterklärte Utopist Tango<br />

und fährt leidenschaftlich gern Motorrad.<br />

Andreas Kriegenburg<br />

an den Münchner Kammerspielen<br />

schon auseinandergesetzt. Liegt nun<br />

der Ansatzpunkt zu dieser Erzählung<br />

nur bei Wagner, oder wollen Sie<br />

durch Wagner auch zu den Quellen<br />

stoßen?<br />

Vielleicht führt uns Wagner selbst<br />

zu den Quellen. Mein Gedanke ist,<br />

die Geschichte von ihrem Ende her,<br />

aus einer Perspektive nach der<br />

Götterdämmerung zu erzählen. Ich<br />

bin jemand, der starrsinnig nach<br />

Utopien sucht und bis zum Selbstwiderspruch<br />

an diesen Utopien<br />

festhält. Wir versuchen, die Behauptung<br />

aufzustellen, dass es nach dem<br />

Niedergang der in der Götterdämmerung<br />

beschriebenen Gesellschaft<br />

eine neue Gesellschaft gab, die ihren<br />

Ursprungsmythos lebendig hält und<br />

ihn sich immer wieder erzählt. Es gibt<br />

von uns aus die Projektion einer<br />

friedlichen, sich ihrer selbst bewussten<br />

Gesellschaft, die sich immer<br />

wieder trifft, um diesen Mythos des<br />

Verschwindens der Götter, der<br />

Machtgier und der materiellen Gier<br />

zu erleben.<br />

Wenn sich viele Menschen<br />

gemeinsam ihre Geschichte erzählen,<br />

dann müsste es auf diese<br />

Geschichte auch viele Perspektiven<br />

geben, die alle wahr sind. Wie kann<br />

es funktionieren, dass Erzählen eine<br />

Gemeinschaft stiftet, wenn man<br />

akzeptieren muss, dass es die eine<br />

Wahrheit der Geschichte nicht gibt?<br />

Ich glaube, dass man sich im<br />

philosophischen Sinne vom Ziel des<br />

Findens verabschieden muss.<br />

Gleichzeitig stellt einem die gemeinsame<br />

Suche auch bestimmte Fragen<br />

wie: Warum ist trotz unserer sich<br />

stets wiederholenden Erfahrungen<br />

die Sehnsucht nach Liebe größer als<br />

die Sehnsucht nach Geld? Warum ist<br />

die Sehnsucht nach Gerechtigkeit<br />

größer als der Egoismus? Warum,<br />

trotz aller Unwahrscheinlichkeit,<br />

sind wir Menschen zur Humanität<br />

fähig? Diese Fragen sind für mich<br />

sinnstiftender als die Antworten. Und<br />

in dieser Vielstimmigkeit der Suche<br />

spiegelt sich wider, dass nicht das<br />

gemeinsame Finden einer gültigen<br />

Antwort das Ziel ist, sondern die<br />

Gemeinsamkeit als solche.<br />

Das Vergnügen am Irrationalen<br />

„Warum, trotz<br />

aller Unwahrscheinlichkeit,<br />

sind wir<br />

Menschen zur<br />

Humanität<br />

fähig? Diese<br />

Fragen sind<br />

für mich sinnstiftender<br />

als<br />

die Antworten.”<br />

Findet sich diese Offenheit in<br />

Wagners Werk auch? Über 100 Jahre<br />

Rezeption hinweg wurde er immer<br />

wieder kategorisch ausgelegt, bis hin<br />

zur Demagogie.<br />

Das kann ich nur sehr persönlich<br />

beantworten. In den letzten zwei<br />

Jahren musste ich mir eine Nähe zu<br />

Wagner mehr oder weniger mühsam<br />

erhören. Er ist mir in seiner musikalischen<br />

Vehemenz eher fremd. Indem<br />

er mir aber über seine fast manische<br />

Dringlichkeit abstruseste Begegnungen<br />

mit einer unglaublich hohen<br />

Leidenschaftlichkeit vor den Latz<br />

knallt – ob das Betrug oder Begierde<br />

ist, ob Inzest –, konfrontiert er mich<br />

mit Kategorien, die meinen alltäglichen<br />

Horizont sprengen, und zwingt<br />

mich zu einer persönlichen Auseinandersetzung.<br />

Wagner zwingt mich<br />

stärker als andere Komponisten,<br />

denen ich mich näher fühle – eine<br />

Vorbereitung zu einer Händel‐Oper<br />

fällt mir scheinbar leichter –, in ganz<br />

andere Denkkonsequenzen. Ich muss<br />

mich mit der Zeit der Komposition,<br />

mit der vielfältigen Interpretationsgeschichte<br />

auseinandersetzen, auch<br />

der Zeit des Nationalsozialismus. Er<br />

zwingt mich auch zu einer Auseinandersetzung<br />

mit den Wurzeln meines<br />

Liebesbegriffs, meines Humanitätsbegriffs,<br />

bis dahin, dass er mich<br />

auffordert, darüber nachzudenken,<br />

welche Art von Ereignistheater ich<br />

denn eigentlich kreieren und selber<br />

erleben möchte. Was setzt man höher


Jeder erlebt seinen eigenen Drachen 11<br />

an: das „Spektakel Wagner“, die<br />

unglaublich provozierend potente<br />

Geste, oder das Schicksal der<br />

Figuren, das Berührende der Begegnung?<br />

Seinen Theaterbegriff überdenken<br />

– das hat Wagner permanent<br />

getan. Er hat den Stoff in seinem<br />

Kosmos erweitert und dabei letztlich<br />

bemerkt, dass er ihn an einem<br />

normalen Opernhaus nicht aufführen<br />

kann und sein eigenes Theater bauen<br />

muss. Das Werk ist von einem<br />

zeitlichen Ausmaß, das es bis dato<br />

nicht gab. Fordert dieser Stoff in<br />

seinen in vielerlei Hinsicht überbordenden<br />

Ausmaßen dazu auf, das<br />

Theater zu sprengen?<br />

Wagner lässt einen für sich selber<br />

wieder wachrufen, dass Theater<br />

immer anmaßend sein muss, dass<br />

Theater immer als eines seiner Ziele<br />

formulieren muss: Ich lasse mich<br />

nicht einsperren, nicht in meinem<br />

Denken, nicht in meiner Fantasie und<br />

auch nicht in meiner Ökonomie,<br />

weder in der finanziellen noch in der<br />

Kondition der Zuschauer. Ich folge<br />

dem eigenen Impuls, meinetwegen<br />

auch dem genialischen Impuls.<br />

Wagner bringt mich an den Punkt,<br />

mich auch meinem eigenen Wunsch<br />

nach Maßlosigkeit zu stellen.<br />

Gleichzeitig möchte ich mich nicht<br />

mit ihm in Konkurrenz begeben. Es<br />

war eine der ersten Entscheidungen<br />

des Teams, Wagner nicht noch einmal<br />

zu vergrößern. Nicht zu versuchen,<br />

„Die Götter sind<br />

letztlich in<br />

sich moralisch,<br />

aber den<br />

Menschen<br />

unserer Welt<br />

gegenüber<br />

total moralfrei.”<br />

der Rezeptionsgeschichte einen noch<br />

größeren Wagner hinzuzufügen, und<br />

das Theater mit sich selber prahlen<br />

zu lassen. Wir versuchen, Wagner vor<br />

allem über die Maßlosigkeit seiner<br />

Leidenschaft zu verstehen. Indem wir<br />

die Intensität des Erlebens nicht an<br />

der Dauer und der Lautstärke der<br />

Musik und Szenen messen, sondern<br />

daran, wie er Menschen einander<br />

begegnen lässt und sie in größte<br />

Verwirrung und Ängste stürzt. Und<br />

diese unglaublich kraftvolle, manische<br />

Dimension, die Dringlichkeit<br />

und Schmerzhaftigkeit von Szenen<br />

erlebbar zu machen, ist mir als<br />

Neuorientierung wichtiger als eine<br />

gigantische Materialschlacht.<br />

Hinter sehr vielen Begegnungen<br />

im Ring tauchen also archetypische<br />

Erfahrungen auf. Wie kann man<br />

einerseits eine Identifikation mit<br />

Figuren und Situationen stiften und<br />

andererseits in dieser Haltung<br />

bleiben – „wir sind eigentlich dabei,<br />

uns gemeinschaftlich etwas Größeres<br />

zu erzählen“?<br />

Das ist in der Tat im Theater in<br />

vielen Stücken strukturell widersprüchlich.<br />

Auch im Ring erleben wir<br />

Figuren auf der Bühne, die sich<br />

unserer Realität entziehen. Nicht nur,<br />

weil sie Opernfiguren, sondern weil<br />

sie Götter sind. Das heißt, wir haben<br />

einerseits immer die Aufgabe, sie zu<br />

vermenschlichen, sie absurderweise<br />

zu psychologisieren, damit wir uns<br />

emotional an sie binden können.<br />

Gleichzeitig müssen wir sie aber auch<br />

von uns distanzieren, das heißt, wir<br />

müssen Insignien von Macht finden,<br />

die keinem Menschen zustehen. Die<br />

Gewalt über andere Menschen<br />

beispielsweise, die sich im Motiv des<br />

Gottes widerspiegelt. Die Götter sind<br />

letztlich in sich moralisch, aber den<br />

Menschen unserer Welt gegenüber<br />

total moralfrei. Ich kann nicht sagen<br />

amoralisch, weil wir uns gar nicht als<br />

ihnen ebenbürtig wahrnehmen. Das<br />

auszubalancieren ist letztendlich<br />

auch eine Form, mit dem eigenen<br />

Sadismus und natürlich auch mit der<br />

eigenen Liebesbedürftigkeit umzugehen.<br />

Welche Motive lassen mich<br />

einen Wotan, der mit einer mir<br />

fremden Macht ausgestattet ist, in<br />

seiner Gefangenheit miterleben, und<br />

welche Motive zeigen mir andererseits<br />

diese unglaubliche Ferne seiner<br />

Macht? Seinen permanenten selbstverständlichen<br />

Übergriff auf die<br />

körperliche Autonomie des anderen?<br />

Mit Wagners Ideengeber Ludwig<br />

Feuerbach kann man sagen: Es gibt ja<br />

doch keine Götter, sondern sie sind<br />

von Menschen gemacht. Wenn ich an<br />

den Göttern eine menschliche Seite<br />

zeige und dann die übersteigert<br />

götterhafte, ist die götterhafte dann<br />

die Darstellung von etwas fast<br />

Unvorstellbarem, wovon der Mensch<br />

dennoch weiß, dass er selbst dazu<br />

fähig ist? Steigert der Mensch sein<br />

Wesen in der Erzählung noch einmal,<br />

um es sich so zu vergegenwärtigen?<br />

Wir kommen da mit Feuerbach<br />

nicht weiter, weil wir uns in der<br />

Autonomie einer Aufführung bewegen<br />

und darin Verwirrungen schaffen,<br />

die sich quasi nur über das<br />

Göttliche erklären lassen: Verhaltensmechanismen,<br />

in die wir das<br />

Motiv des Göttlichen, also des uns<br />

Fremden einlagern. Natürlich<br />

können wir aus unserer Perspektive<br />

der Vernunft sagen, dass es keine<br />

Götter gibt, aber in der Mechanik<br />

der Aufführung gibt es sie. Und<br />

innerhalb dieser Mechanik funktioniert<br />

es auch nicht, das Göttliche in<br />

den Figuren zu ignorieren und zu<br />

sagen: Das sind halt Industrielle!<br />

Weil man sich dann innerhalb der<br />

Logik des Stücks fragt, was der<br />

Industrielle mit dem Speer will. Das<br />

erfordert auf der einen Seite, eine<br />

Psychologie zu ermöglichen, indem<br />

ich den dort oben auf der Bühne für<br />

mich als Zuschauer nacherlebbar<br />

mache, dabei aber nicht völlig in der<br />

psychologischen Erkennbarmachung<br />

der Figur versinke. Er ist kein<br />

Mensch. Es offenbaren sich in ihm<br />

aber Zwänge, Prozesse, Ängste und<br />

Verwerfungen, die ich auch kenne.


13<br />

„Wir versuchen,<br />

Wagner über<br />

die Maßlosigkeit<br />

seiner<br />

Leidenschaft<br />

zu verstehen.“


Könnten wir heute so eine<br />

mythische Erzählform auf der Bühne<br />

auch mit neuen Stoffen kreieren?<br />

Natürlich. Es gibt Wunschkonstellationen,<br />

die sich in uns nicht verändert<br />

haben. Der Wunsch nach Gerechtigkeit:<br />

Wenn wir Dinge sehen, in<br />

denen dieser Wunsch angegriffen und<br />

der Angriff abgewehrt wird oder<br />

meinetwegen auch auf tragische<br />

Weise siegreich ist – das sind Geschichten,<br />

die man auch heute noch<br />

erfinden kann oder im Alltag findet.<br />

Ob im kleinen Kontext der Familie<br />

oder global: Kontinente können im<br />

Prinzip Götterpositionen einnehmen,<br />

wenn der eine Kontinent den anderen<br />

dominiert, bis dieser den Unterdrücker<br />

niederwirft. Ich glaube, dass<br />

Theater als Ort sozialer Realität<br />

unsere Sehnsucht nach Empathie<br />

nicht gerade befriedigt, aber doch<br />

immer wieder anspricht. Das ist vom<br />

Lagerfeuer bis zu modernen Formen<br />

des Lagerfeuers erhalten geblieben.<br />

Unser Dilemma ist nur, dass das<br />

Theater immer stärker Markt‐ und<br />

Beschleunigungsmechanismen<br />

unterworfen ist und die Künstler<br />

demgegenüber zynisch reagieren,<br />

indem sie die Erzählung verweigern.<br />

Wenn es diese Zeiträume für Erzählung<br />

und für die Nähe von Bühne und<br />

Zuschauerraum nicht mehr gibt, läuft<br />

das Theater Gefahr, nur noch eine<br />

Bestätigungsmaschine für Gewiss‐<br />

„Das Tolle am<br />

Theater ist, dass<br />

es in seiner<br />

tiefsten Struktur<br />

ein soziales<br />

Ereignis ist,<br />

aber trotzdem<br />

jeder Einzelne<br />

die Geschichte<br />

hört und<br />

durch seine Fantasie<br />

ergänzt.”<br />

Andreas Kriegenburg<br />

heiten zu sein: „Die Wirtschaft läuft<br />

schlecht, die Banken sind böse,<br />

keiner liebt mehr den anderen.“ Aber<br />

die Bestätigung von Gewissheiten<br />

stiftet überhaupt keine Gemeinschaft,<br />

sondern zermürbt Identität, weil man<br />

nur darin bestätigt wird, dass alle<br />

gleich denken und alles in einen<br />

starren und unkreativen Zustand<br />

gerät.<br />

Sie haben gerade vom Lagerfeuer<br />

gesprochen ...<br />

Für mich ist das Lagerfeuer der<br />

zentrale Denkansatz für den Ring.<br />

... und von seinen modernen<br />

Formen. Funktioniert das Prinzip<br />

Lagerfeuer noch heute, oder gibt es<br />

diese kollektive Form des Erzählens<br />

in einer ausdifferenzierten Gesellschaft<br />

nicht mehr?<br />

Natürlich gibt es auch außerhalb<br />

des Theaters Rituale der sozialen<br />

Organisation, in denen sich das<br />

Gemeinsame ausdrückt, angefangen<br />

vom Clubabend bis hin zum Tango‐<br />

Tanzen. Für mich ist aber das, was im<br />

Theater an Kraft aus Gemeinschaftlichkeit<br />

sowohl auf der Probe als<br />

auch im Ereignis der Aufführung<br />

entsteht, fast mit nichts vergleichbar.<br />

Auch Großveranstaltungen, von den<br />

Gladiatorenkämpfen bis zum Fußballspiel<br />

oder den Kirchentagen, agieren<br />

mit den Ritualen des Theaters.<br />

Eigentlich spiegelt sich darin nur die<br />

Sehnsucht der Menschen nach der<br />

Bedeutung eines Momentes wider,<br />

der über sich selbst und die Trivialität<br />

des eigenen Daseins hinausweist<br />

– Überwältigung!<br />

Wagner überwältigt uns auch<br />

heute noch mit ganz einfachen<br />

Bildern. Warum hat etwa ein Drache<br />

als Zeichen immer noch eine solche<br />

Kraft?<br />

Weil wir in einem bestimmten<br />

Zeitraum unseres Lebens, gerade in<br />

der Jugend, innerhalb einer Kultur<br />

determinierend erzogen wurden.<br />

Bestimmte mythologische Figuren<br />

tauchen in ganz vielen Kulturen auf:<br />

das geschuppte Wesen, das hinkende<br />

Wesen oder das gehörnte Wesen.<br />

Mythen begegnen uns und der<br />

nächsten Generation wieder, weil sie<br />

eine so starke emotionalisierende<br />

Kraft haben. Das Faszinierende daran<br />

Das Vergnügen am Irrationalen<br />

„Mein Gedanke<br />

ist, die Geschichte<br />

aus einer Perspektive<br />

nach<br />

der Götterdämmerung<br />

zu<br />

erzählen. Ich<br />

bin jemand, der<br />

starrsinnig<br />

nach Utopien<br />

sucht und bis<br />

zum Selbstwiderspruch<br />

daran<br />

festhält. Wir<br />

versuchen, die<br />

Behauptung<br />

aufzustellen,<br />

dass es nach<br />

dem Niedergang<br />

in der Götterdämmerung<br />

eine<br />

neue Gesellschaft<br />

gab, die<br />

ihren Ursprungsmythos<br />

lebendig<br />

hält und ihn<br />

sich immer<br />

wieder erzählt.“<br />

ist, dass sie sich nie erklären müssen.<br />

Kein Kind fragt danach, woher<br />

der Drache kommt. Es zeigt sich eine<br />

Grundangst und gleichzeitig eine<br />

Sehnsucht, dieser Angst zu begegnen,<br />

sodass ich sie an keinem Punkt<br />

rationalisieren muss. Ähnlich die<br />

Engel: Jedes Kind freut sich in einem<br />

bestimmten Alter, Engelsfiguren an<br />

der Wand zu haben. Das sind Dinge,<br />

die sich nie rationalisieren, als<br />

würden die Menschen einen Teil von


Jeder erlebt seinen eigenen Drachen 15<br />

sich, das Irrationale, beschützen<br />

wollen. Bestimmte Fragen werden<br />

ganz konsequent verweigert, was<br />

Hollywood auch aufnimmt. Filme, in<br />

denen Drachen auftauchen, liefern<br />

nur ganz fadenscheinige Gründe für<br />

deren Existenz, hauptsächlich<br />

spielen sie mit dem Motiv des<br />

Erlebens von Angst.<br />

Nun hat aber Hollywood die<br />

Potenz zu einer perfekten Illusion,<br />

die keine Bühne darstellen kann und<br />

vielleicht auch nicht will.<br />

Aber das ist doch toll, dass ich im<br />

Kino davon erlöst bin, mir selber mein<br />

Bild zu machen. Dass ich die verdinglichte<br />

Adaption meiner Angst erleben<br />

muss, verlangt das Theater von mir.<br />

Das ist mitunter viel intensiver, weil<br />

sich nicht das Abbild, sondern das<br />

innere Wesen dieser Angst zeigt. Das<br />

Theater darf nicht die Hülle des<br />

Drachens darstellen, sondern es<br />

muss einen Überrumpelungsmoment<br />

erfinden, der mich in einer ähnlichen<br />

Weise emotional bedrängt, und sei es<br />

mit Ekel. Es lässt mich etwas, wovon<br />

ich weiß, dass ich seit meiner<br />

Kindheit davor Angst habe, noch<br />

einmal genussvoll erleben.<br />

Aber es wirft mich auch wieder<br />

auf meine Angst und meinen Ekel<br />

zurück, vollkommen irrational, denn<br />

ich weiß ja, dass es keine Drachen<br />

gibt.<br />

Das Tolle am Theater ist, dass es<br />

in seiner tiefsten Struktur ein<br />

soziales Ereignis ist, aber trotzdem<br />

jeder Einzelne die Geschichte hört<br />

und durch seine Fantasie ergänzt.<br />

Das zeigt sich auch im Drachen:<br />

Jeder erlebt seinen eigenen Drachen.<br />

Bei dem einen ist der Ekel gegenüber<br />

dem Blut, das von dessen Gesicht<br />

heruntertropft, größer als bei dem<br />

anderen, der daran vielleicht sogar<br />

ein Vergnügen hat, weil er eine Lust<br />

verspürt, sich mit dieser Angst<br />

auseinanderzusetzen. Das Vergnügen<br />

am Irrationalen! Es ist spannend<br />

zu fragen, warum Wagner diese<br />

vielen unglaublich naiven Momente<br />

benutzt. Er hat einerseits große Lust<br />

an der Vehemenz der theatralen<br />

Geste, andererseits traut er sich, in<br />

eine Szenerie größter Bedrängnis<br />

Märchenmotive einzubauen. Der<br />

Trick Wotans im Rheingold, Alberich<br />

zu überrumpeln, hätte auch raffinierter<br />

und gewalttätiger sein können.<br />

Warum tauchen hier Schlange und<br />

Kröte auf? Warum traut sich Wagner,<br />

diese scheinbar fernliegenden<br />

Momente zu verknüpfen? Warum<br />

verweist er in diesem Punkt, der in<br />

sich so grausam ist, auf eine ganz<br />

bestimmte Naivität der Erzählung?<br />

Wenn man genauer hinsieht, verweist<br />

dies aber genau darauf, dass sich<br />

diese Erzählung auch in unserem<br />

persönlichen Ursprung wiederfindet.<br />

Die Höhle, die Dunkelheit, die<br />

Gefahr, die Zauberei und der Trick<br />

des Schlauen gegenüber dem<br />

Dummen – mit all dem schafft Wagner<br />

einen Verweis auf die für ihn so<br />

wichtige Naivität für das Wahrnehmen<br />

der Szene und seiner Musik.<br />

Wir wollen johlen, wenn der Gute<br />

den Bösen überwindet. Jedes Kind,<br />

jeder Erwachsene will irgendwann<br />

einmal verschwinden oder sich<br />

kleinmachen, jeder hat einmal Angst<br />

vor einem Unwesen. Und diese Dinge<br />

benutzt Wagner sehr affirmativ. Er<br />

fährt alle textlichen, musikalischen<br />

und szenischen Mittel auf, um diesen<br />

irrationalen Moment im größtmöglichen<br />

Ausmaß zu erzeugen.<br />

Und in der größtmöglichen<br />

visuellen und akustischen Bildhaftigkeit!<br />

Er schafft eine Möglichkeit<br />

des höchst Unwahrscheinlichen: der<br />

Verwandlung eines Wesens in ein<br />

anderes oder des Wunsches danach,<br />

unsichtbar oder unverwundbar zu<br />

werden. Er stellt sich nie infrage oder<br />

sichert sich ironisch ab, sondern<br />

nimmt diesen Bereich einfach als Teil<br />

der Erzählung an und gestaltet ihn<br />

musikalisch ungeheuer kraftvoll.<br />

Unterscheidet sich die theatrale<br />

kollektive Erzählung von der persönlichen<br />

Erzählung, die ich beispielsweise<br />

meinem Kind vorlese? Die Großmutter<br />

sitzt am Bett und schlüpft für<br />

einen Moment in die Rolle des Wolfs.<br />

Das Kind weiß, dass es sich etwas<br />

erzählen lässt, aber für den Moment<br />

akzeptiert es, dass die Großmutter<br />

das Monster ist, das ihm den Schreck<br />

einjagt.<br />

Ja, wenn man diesen Gedanken<br />

zu Ende denkt, dann funktioniert das<br />

über das Vergnügen der Großmutter,<br />

diese Geschichte für das Enkelkind<br />

zu theatralisieren. Ein gemeinsames<br />

Vergnügen, bestimmten Emotionen<br />

ausgesetzt zu sein!<br />

Der Ring des Nibelungen<br />

Bühnenfestspiel für drei<br />

Tage und einen Vorabend<br />

von Richard Wagner<br />

— Das Rheingold<br />

Premiere am Samstag, 4. Februar 2012<br />

— Die Walküre<br />

Premiere am Sonntag, 11. März 2012<br />

— Siegfried<br />

Premiere am Sonntag, 27. Mai 2012<br />

— Götterdämmerung<br />

Premiere am Samstag, 30. Juni 2012<br />

Vorstellungen jeweils<br />

im Nationaltheater<br />

Weitere Termine im Spielplan<br />

ab S. 90


Den Worten nachspüren<br />

Generalmusikdirektor<br />

Kent<br />

Nagano wird<br />

die Neuproduktion<br />

des Ring<br />

des Nibelungen<br />

dirigieren.<br />

Im Interview<br />

mit Jörg Böckem<br />

spricht er<br />

über die Erzähltradition<br />

in<br />

seiner Familie<br />

und das<br />

faszinierende<br />

Verhältnis<br />

zwischen<br />

Sprache und<br />

Musik.<br />

Der fünfte Stock im Ver waltungsgebäude<br />

der <strong>Bayerische</strong>n <strong>Staatsoper</strong><br />

in München. Ein geräumiges<br />

Büro, gedämpftes Licht, weiche<br />

Ledersessel. Vor Kurzem hat Kent<br />

Nagano seinen 60. Geburtstag<br />

gefeiert. Der Generalmusikdirektor<br />

der <strong>Bayerische</strong>n <strong>Staatsoper</strong> ist<br />

höflich und konzentriert. Er wägt<br />

seine Worte genau, beugt den Kopf<br />

zur Seite, hängt den Fragen und<br />

Gedanken nach. Er sucht nach den<br />

richtigen Antworten. Manchmal<br />

auch nach solchen, die nicht zu viel<br />

preisgeben.<br />

Fotografie Jörg Koopmann<br />

MAX JOSEPH Herr Nagano, hat<br />

der Ring uns heute noch etwas zu<br />

erzählen, über den Menschen, die<br />

Gesellschaft und über uns?<br />

KENt NAGANO Sicher. Wagner ist<br />

es mit dem Ring gelungen, eine neue<br />

Perspektive für die Oper aufzuzeigen<br />

und gleichzeitig eine Referenz<br />

an traditionelle Erzählformen zu<br />

schaffen. Legenden und Mythen<br />

sind mehr als schöne Geschichten.<br />

Früher wurden sie von Mund zu<br />

Mund weitergegeben – wohl die<br />

stärkste Erzählform. Sie erzählen<br />

von den Wurzeln einer Gesellschaft,<br />

ihrer Struktur, verhandeln soziale<br />

Regeln und tabus. Woran glauben<br />

wir, welche Werte haben wir,<br />

wie gehen wir miteinander um?<br />

Wir brauchen eine Vorstellung<br />

von der Vergangenheit für unser<br />

Selbstverständnis, unsere Identität.<br />

Wagner verbindet im Mythos des<br />

Ring Vergangenheit und Gegenwart<br />

und weist schicksalhaft in die<br />

Zukunft. Deshalb ist er so bedeutend<br />

für die Gesellschaft, bis heute.<br />

MJ Wie kann man mit Musik<br />

erzählen? Ist sie eher eine Art<br />

Hintergrundgemälde, das Stimmung<br />

und Emotionen, vielleicht<br />

psychische Zustände illustriert,<br />

oder kann Musik eine eigenständige<br />

Erzählebene neben den Worten und<br />

Bildern bieten?<br />

KN Das ist nicht so einfach zu<br />

beantworten. Wir wissen, dass Musik<br />

die Fähigkeit hat, im Kopf Bilder,<br />

Vorstellungen und Stimmungen<br />

zu erzeugen. Deshalb waren<br />

Stummfilme auch nicht still, sondern<br />

wurden mit Musik begleitet. Auch<br />

im Ring ist die Erzählebene der<br />

Musik oft sehr direkt – wir hören<br />

das Fauchen des Drachen, fühlen<br />

in der Musik das Gewicht der<br />

gigantischen Brüder. Da ist Wagner<br />

sehr programmatisch. Doch ihm<br />

gelingt viel mehr. Seine Motive sind<br />

mit den Charakteren verbunden.<br />

Die Idee ist nicht neu, aber Wagner<br />

benutzt sie auf besondere Weise.<br />

Interview Jörg Böckem<br />

Die Motive werden wiederholt, wie<br />

im Fluss, aber diese Wiederholung<br />

ist nie gleich, immer ist das Motiv<br />

leicht verändert, gekürzt, entwickelt,<br />

in einer anderen Reihenfolge oder<br />

tonalität oder Dynamik. Jede<br />

dieser Veränderungen in der Musik<br />

ist auch eine Veränderung in der<br />

Geschichte der Figuren. Die Musik<br />

transportiert das Außerzeitliche,<br />

das Ewige und Schicksalhafte der<br />

Erzählung – ewige Entwicklung<br />

statt Wiederholung. Die wörtliche<br />

Erzählung ist von der musikalischen<br />

Substanz nicht zu trennen.<br />

MJ Die großen Erzählungen und<br />

Mythen der Moderne werden seit<br />

Jahrzehnten im Fernsehen und Kino<br />

verhandelt, den Lagerfeuern der<br />

Neuzeit. Sie sind ohne Fernsehen<br />

und Kino aufgewachsen.<br />

KN Ja, das ist wahr – aber ich habe<br />

natürlich trotzdem ferngesehen, bei<br />

Freunden zum Beispiel, und ich war<br />

auch ab und an in L.A. im Kino, ich<br />

bin kein völliger Barbar!<br />

Kent Nagano lacht, zum ersten Mal<br />

in diesem Gespräch. Ein lautes,<br />

ansteckendes und herzliches<br />

Lachen, das seinen ganzen Körper in<br />

Bewegung versetzt. Minuten vorher<br />

hat er noch in der für ihn typischen<br />

Art in sich selbst versunken<br />

dagesessen, mit geschlossenen<br />

Augen den Worten nachgespürt. Eine<br />

Art Tempo- und Temperaturwechsel,<br />

der sich durch das gesamte Gespräch<br />

ziehen wird.<br />

MJ Welche Erzählformen haben Ihre<br />

Kindheitsgeschichten geprägt?<br />

KN Unser Leben auf dem Land war<br />

nicht vom Fernsehen beeinflusst,<br />

eher von der Natur. tatsächlich<br />

haben wir oft beisammen gesessen<br />

und Geschichten erzählt. Manchmal<br />

fiktive und auch japanische und<br />

sogar amerikanische Legenden. Aber<br />

oft war es auch eine Art mündliche<br />

Familiengeschichtsstunde: Meine<br />

Großeltern haben erzählt, wie sie


Kent Nagano<br />

Der Generalmusikdirektor vor der elektronischen<br />

Orgel der <strong>Bayerische</strong>n <strong>Staatsoper</strong>. Der Monitor<br />

stellt den Kontakt zwischen dem Dirigenten im<br />

Orchestergraben und dem Spieler am Orgeltisch her.<br />

17


Im mündlichen Gespräch durchziehen<br />

tempi- und temperaturwechsel die<br />

Sprache von Kent Nagano. Während er<br />

oft mit geschlossenen Augen nach den<br />

Antworten sucht, lacht er an anderer<br />

Stelle laut, herzlich und ansteckend.<br />

Ende des 19. Jahrhunderts aus<br />

Japan nach Amerika gekommen sind,<br />

ohne Geld und Sprachkenntnisse.<br />

Wie es war, mit einem asiatischen<br />

Gesicht im Wilden Westen zu leben,<br />

Amerika war damals zu weiten teilen<br />

noch cowboy country. Meine Eltern<br />

haben erzählt, wie sie im Zweiten<br />

Weltkrieg nach dem Angriff auf Pearl<br />

Harbor verhaftet und eingesperrt<br />

worden sind, nur weil sie Japaner<br />

waren. Für uns Kinder war das<br />

toll! So haben wir eine Idee davon<br />

bekommen, wo wir herkamen, neben<br />

der tatsache, dass wir auch typische<br />

US-Kids der 1960er Jahre waren. Für<br />

uns war das keine Geschichtslektion<br />

wie in der Schule, es war tolle<br />

Unterhaltung, ein großer Spaß!<br />

Die Begeisterung ist noch heute zu<br />

spüren. Seine Stimme wird lauter<br />

und lebhafter, er unterstreicht seine<br />

Worte mit den Händen. Es ist, als<br />

könne man den neugierigen Jungen,<br />

der atemlos seinen Großeltern<br />

lauscht, in seinem Gesicht erkennen.<br />

MJ Haben Sie diese Erzähltradition<br />

mit Ihrer tochter weitergeführt?<br />

KN Ja, sogar ziemlich intensiv,<br />

zumindest als sie noch kleiner<br />

war. Heute ist sie 13, da ist es<br />

schwieriger. Vor allem meiner Frau<br />

war das sehr wichtig. Sie entstammt<br />

Kent Nagano<br />

zwei traditionellen Familien mit<br />

einer Generationen überspannenden<br />

Geschichte. Meine Frau hat die<br />

Familiengeschichten hauptsächlich<br />

von ihrer Urgroßmutter erzählt<br />

bekommen, und genauso war es<br />

dann auch bei unserer tochter.<br />

Seltsamerweise hatte ich den<br />

Eindruck, dass vor allem meine Frau<br />

und ich davon besonders profitiert<br />

haben. Die Geschichten noch einmal<br />

erzählt zu bekommen, hat den<br />

Eindruck immens vertieft.<br />

Kent Nagano ist dafür bekannt, sich<br />

sehr intensiv mit den Komponisten,<br />

deren Werke er auf die Bühne<br />

bringt, zu beschäftigen, mit deren<br />

Lebensumfeld und deren Sprache.<br />

Er spricht neben Japanisch<br />

und Englisch auch Deutsch,<br />

Französisch, Italienisch und etwas<br />

Russisch.<br />

MJ Sie sind Musiker, beschäftigen<br />

sich aber intensiv mit Sprache.<br />

Warum?<br />

KN Es ist kein Geheimnis, dass<br />

Sprache Grundlage jeder Kultur<br />

ist. Kunst wird von der jeweiligen<br />

Kultur gespeist, in der sie entsteht.<br />

Also ist Sprache untrennbar mit<br />

Kunst, mit Musik verbunden. Das gilt<br />

besonders in der Oper: Wenn man<br />

die Sprache des Komponisten nicht<br />

Den Worten nachspüren<br />

„Kann man in<br />

der Sprache der<br />

Musik lügen?“<br />

— MAX JOSEPH<br />

„Man kann die<br />

Wahrheit<br />

verschleiern.<br />

Dann wird es<br />

artifiziell oder<br />

manieriert.<br />

Das spürt jeder<br />

Musiker sofort.“<br />

— Kent Nagano


Den Worten nachspüren 19<br />

spricht, entsteht Distanz, die Arbeit<br />

kann schnell artifiziell werden.<br />

Für meinen Entwicklungsprozess<br />

als Musiker ist es wichtig, die<br />

jeweilige Sprache zu lernen und<br />

in mein Denken zu integrieren.<br />

Sprache schafft einen Kontext,<br />

der hilft, das Wesen der Musik zu<br />

verstehen. Das klingt so abgehoben<br />

und intellektuell, ist es aber nicht.<br />

Es geht auch um ganz praktische<br />

Dinge: den Atemrhythmus, die<br />

Sprechgeschwindigkeit, die<br />

Satzmelodie. All das hat etwas mit<br />

Musik zu tun.<br />

MJ Können Sie ein Beispiel nennen?<br />

KN Ich habe vor Jahren die West<br />

Side Story gehört, gespielt von<br />

einem sehr guten europäischen<br />

Orchester, technisch perfekt,<br />

wunderbar ausgeführt. Aber für<br />

mich war ganz klar zu hören, dass<br />

die Musiker nicht Amerikanisch<br />

sprachen. Es klang nicht wie der<br />

Leonard Bernstein, den wir in den<br />

USA kennen. Das ist legitim, aber<br />

es repräsentiert nicht die Kultur,<br />

aus der es stammt. Ein anderes<br />

Beispiel: In Kalifornien haben<br />

wir zu Schulzeiten im Orchester<br />

bayerische Volksmusik gespielt,<br />

mein Musikprofessor stammte aus<br />

Bayern. Als ich dann das erste Mal<br />

auf dem Oktoberfest war und diese<br />

Lieder dort gehört habe, war ganz<br />

deutlich, dass wir in Kalifornien<br />

weit davon entfernt gewesen waren,<br />

diese Stücke auf die ursprüngliche<br />

bayerische Art zu spielen. Deshalb<br />

habe ich den Auftrag eines sehr<br />

bekannten Komponisten aus Indien<br />

abgelehnt. Aus technischer Sicht<br />

wäre es kein Problem gewesen. Aber<br />

es ist bedeutungslos, nur die töne<br />

in der richtigen Zeit, dem richtigen<br />

tempo und der richtigen Intonation<br />

zu spielen. Die Frage ist doch, was<br />

liegt dahinter?<br />

MJ Welche Sprache sprechen Sie in<br />

Ihrer Familie?<br />

KN Wir sprechen meist Deutsch,<br />

Englisch oder Französisch. Mein<br />

Japanisch ist nicht besonders gut,<br />

und meine Frau ist im Italienischen<br />

nicht so zu Hause. Ich muss<br />

zugeben, dass wir oft von einer<br />

Sprache in die andere wechseln.<br />

Wahrscheinlich, weil wir nicht<br />

diszipliniert genug sind. Empfehlen<br />

würde ich das niemandem!<br />

MJ Ist die Sprache, die Sie<br />

benutzen, abhängig vom Inhalt des<br />

Gesprächs oder der Stimmung des<br />

Sprechenden?<br />

KN Nicht unbedingt. Es gibt<br />

verschiedene Faktoren für<br />

Sprachwechsel. Einmal spielt<br />

natürlich die Umgebung eine Rolle<br />

– wenn wir in München sind, ist<br />

die Chance sehr hoch, dass wir<br />

überwiegend Deutsch sprechen.<br />

Zum anderen liegt es wohl daran,<br />

dass meine Frau und ich zwar viele<br />

Sprachen sprechen, aber in keiner<br />

wirklich sicher sind. Der Hauptgrund<br />

ist, dass ein bestimmter Sachverhalt,<br />

ein Zustand oder eine Idee oft in<br />

einer bestimmten Sprache leichter<br />

oder effizienter auszudrücken ist<br />

als in einer anderen. Zum Beispiel<br />

gibt es im Englischen keine exakte<br />

Entsprechung für „gemütlich“.<br />

„Relaxed“ und „comfortable“<br />

meinen nicht dasselbe. „Presto!“<br />

hat eine andere Bedeutung, einen<br />

anderen Charakter als „Schnell!“<br />

oder „Sofort!“. Vielleicht haben die<br />

Sprachwechsel auch damit zu tun,<br />

das wir eine musikalische Familie<br />

sind, wir sind nicht so gut darin, mit<br />

Worten zu kommunizieren.<br />

Auch im Interview spricht Kent<br />

Nagano so. Immer wieder mischt<br />

er englische Worte in seine Sätze,<br />

manchmal auch französische oder<br />

italienische. Trotzdem keine Spur von<br />

babylonischer Sprachverwirrung,<br />

Nagano spricht klar, überlegt<br />

und verständlich. Das Bemühen,<br />

verstanden werden zu wollen, ist<br />

deutlich zu spüren.<br />

MJ Welche Rolle spielt die<br />

Kommunikation über die Musik in<br />

Ihrer Familie?<br />

KN Eine sehr große. Meine Frau und<br />

meine tochter sind Pianistinnen, wir<br />

arbeiten zusammen, unterstützen,<br />

kritisieren einander und diskutieren<br />

über die Musik.<br />

MJ Das heißt, die Musik schafft<br />

in Ihrer Familie emotionale<br />

Verbundenheit?<br />

KN Ja. In dem Klischee, dass wir<br />

Menschen uns näherkommen,<br />

je besser wir miteinander<br />

kommunizieren, uns austauschen<br />

können, liegt Wahrheit. Musik ist<br />

eine direkte Art zu kommunizieren,<br />

eine universelle Sprache. Wieder<br />

ein Klischee, aber auch das trifft zu.<br />

Wenn ein Baby nicht schlafen kann,<br />

sagt die Mutter nicht „Schlaf ein!“,<br />

sie singt ihm ein Wiegenlied vor.<br />

Musik kommuniziert oft mehr als die<br />

Worte. Sie ist eng mit demjenigen<br />

verbunden, der sie spielt. Ich fühle<br />

es, wenn etwas nicht stimmt, nicht<br />

von innen kommt.<br />

MJ Kann man in dieser Sprache lügen?<br />

KN Man kann die Wahrheit verschleiern.<br />

Dann wird es artifiziell<br />

oder manieriert: Wenn ich versuche,<br />

etwas zu sein, was ich nicht bin,<br />

etwas vorzuspielen, das nicht aus<br />

mir kommt. Das spürt jeder Musiker<br />

sofort.<br />

MJ In welcher Sprache träumen Sie?<br />

KN Bis vor ungefähr zehn Jahren<br />

habe ich auf Englisch geträumt,<br />

heute träume ich in allen Sprachen,<br />

die ich spreche. Das weiß ich, weil<br />

ich manchmal im traum laut rede.<br />

Letzte Woche zum Beispiel war ich<br />

im traum in eine hitzige Diskussion<br />

verwickelt, ich war sehr echauffiert<br />

und habe in einem sehr aufgeregten,<br />

lauten Italienisch gesprochen.<br />

Davon bin ich aufgewacht. Das war<br />

sehr lustig!<br />

MJ Was, denken Sie, ist der Grund für<br />

die Mehrsprachigkeit Ihrer träume?<br />

KN Vielleicht, dass ich jetzt so<br />

lange in Europa lebe und diese<br />

Sprachen so häufig benutze.<br />

Oder es liegt daran, dass sich<br />

das amerikanische Englisch in<br />

den letzten Jahrzehnten sehr


verändert hat. Das Vokabular ist<br />

immer kleiner geworden. Vielleicht<br />

auch ein Grund dafür, dass ich<br />

im Gespräch oft in einer anderen<br />

Sprache Zuflucht suche. Wenn in<br />

einer Sprache immer weniger Worte<br />

benutzt werden, ist es schwierig,<br />

komplexe Inhalte auszudrücken.<br />

Diese Frustration, starke Emotionen<br />

zu spüren, die nach außen drängen,<br />

sie aber nicht in Worte fassen zu<br />

können, erlebe ich häufig gerade<br />

bei jungen Menschen.<br />

MJ Wenn Sie ein tier auswählen<br />

müssten, das Sie repräsentiert,<br />

welches würden Sie wählen?<br />

KN Im asiatischen Denken ist<br />

der Unterschied zwischen tieren<br />

und Menschen nicht so groß.<br />

Die tradition, Menschen tiere<br />

zuzuordnen, ist im Schintoismus<br />

weitverbreitet. Viele alte Legenden<br />

handeln von tieren, die sich<br />

in Menschen verwandeln und<br />

umgekehrt. Meine Großmutter<br />

war Buddhistin, sie hat mich von<br />

klein an einen Seeotter genannt.<br />

Im Norden Kaliforniens, wo wir<br />

gelebt haben, gibt es ein großes<br />

Seeotter-Habitat. Als Junge habe<br />

ich das Wasser geliebt, ich war<br />

ständig im Meer, in Flüssen oder<br />

Seen. Meine Großmutter glaubte an<br />

Wiedergeburt, für sie war klar, dass<br />

ich in einem vorherigen Leben ein<br />

Seeotter ge wesen bin.<br />

MJ Sehen Sie selbst sich denn<br />

auch als Seeotter?<br />

KN Darüber habe ich noch nie<br />

nachgedacht. Seeotter sind sehr<br />

interessante tiere – sie sind in<br />

verschiedenen Umgebungen zu<br />

Hause, an Land, im Wasser, sie<br />

gelten als kreativ und lernfähig,<br />

da sie zu den wenigen tieren<br />

gehören, die zu problemlösendem<br />

Denken fähig sind und Werkzeuge<br />

einsetzen, um an ihre Nahrung<br />

zu gelangen. Und sie lieben es zu<br />

spielen, nur zum Vergnügen, das<br />

tun nicht alle tiere. Ja, vielleicht<br />

hatte meine Großmutter recht.<br />

MJ Und wenn Sie eine Figur aus<br />

der Ring-Welt auswählen müssten,<br />

welche wäre Ihnen da am nächsten?<br />

KN Das ist unmöglich zu<br />

sagen, darin liegt ja gerade<br />

Wagners Genie: Die gesamten<br />

Personen dieser langen,<br />

weitverzweigten Geschichte, all<br />

diese verschiedenen Charaktere<br />

machen uns Menschen aus, sie<br />

alle sind teil von uns – Siegfried,<br />

Brünnhilde, Freia, Hagen, sogar<br />

Fafner. Wagner ist es gelungen,<br />

die verschiedenen Aspekte des<br />

Menschen in einzelne Figuren zu<br />

gießen. Nur in der Summe sehen<br />

wir uns selbst.<br />

Wie kann man mit Musik erzählen?<br />

Jörg Böckem ist Journalist und Autor in<br />

Hamburg. Er veröffentlichte u. a. die Bücher<br />

Lass mich die Nacht überleben und<br />

Freitags Gift.<br />

Der Ring des Nibelungen<br />

Bühnenfestspiel für drei<br />

Tage und einen Vorabend<br />

von Richard Wagner<br />

– Das Rheingold<br />

Premiere am Samstag, 4. Februar 2012<br />

– Die Walküre<br />

Premiere am Sonntag, 11. März 2012<br />

– Siegfried<br />

Premiere am Sonntag, 27. Mai 2012<br />

– Götterdämmerung<br />

Premiere am Samstag, 30. Juni 2012<br />

Vorstellungen jeweils<br />

im Nationaltheater<br />

Weitere termine im Spielplan ab S. 90


shop online tobias-grau.com<br />

berlin düsseldorf hamburg köln münchen · ludwigstraße 10 stuttgart


Willkür<br />

von Ann Cotten<br />

Wie ich, Mime, die Welt umdrehen wollte, mir alles aneignend,<br />

von dem mir gesagt wurde, du kannst es nicht führen,<br />

und den Fehler machte, dies im Rahmen eines Auftrags zu tun,<br />

was mir nur Häme einbrachte, und meine Gefühle<br />

so unbehaust ließ wie zuvor<br />

Jetzt wo es wieder kalt wird, tragen die jungen Männer<br />

schwarze kurze Mäntel. Sie stehen, ungeschmiedetes Eisen,<br />

pig iron, wie wir sagen, und warten auf Grün,<br />

gehen dann über die Ampel und verschwinden in dem Gebäude, wo sie wohnen.<br />

Musen, steht mir bei.<br />

Sechs von diesen Männern – sechs ist eine Zahl,<br />

die ihnen irgendwie entspricht wie ein sechstüriger Wagen<br />

(obsolet und großspurig zugleich,<br />

anmaßend einfallslos und total verloren) –<br />

umstanden mich an einem dieser Abende,<br />

wo ich eine Kneipe suchte und nur Ecken fand.<br />

Musen, steht mir bei! Dass ich euer nicht vergesse!<br />

Euer Parfum leite mich! Lasst mich, durch euren Liebreiz,<br />

die Schritte, die ich tue, nicht spüren!<br />

Sie drücken mich später im Rücken<br />

als Erschütterungen.<br />

„Männer,“ sagte ich, blickte zu ihnen auf.<br />

Kleine blaue Augen blickten unter den Rändern ihrer Mützen hervor.<br />

Musen, lacht mir und tänzelt! Ich brauche eure schwebenden Waden,<br />

sie sind das Bild des Schwerts, zu dem meine Zunge<br />

schmelzen soll – weswegen ich schreibe.<br />

26<br />

Ich also: „Männer,“ sag ich, „wo finde ich hier in der Gegend den Spaß?“<br />

Von den sechsen vier feixten und machten Gegrinse,<br />

einer, der Kleinste, schwieg, der letzte aber hatte<br />

die Weisheit mit Löffeln gefressen und sagte:<br />

„Wo du bist, ist der Spaß – vorausgesetzt, freilich, du machst ihn.“<br />

„Freilich machte ich ihn,“ so ich pikiert,<br />

„hätte ich dazu die Mittel.“ „Was meinst du? Geld?“<br />

„Ja, Geld.“ „Davon haben wir dicke.“


Sagt nun, ihr Musen, die ihr da steht<br />

und lächelt, und in die Brise kuckt,<br />

was hättet ihr an meiner Stelle gefühlt und getan?<br />

Ich sage euch, was ich fühlte: unwiderstehliche Lust<br />

diese sechs gestopften Langweiler beim Wort zu nehmen.<br />

„Was wollt ihr mir geben, verschaffe ich euch den größten, den schönsten<br />

Spaß eures Lebens?“ „Das ... wirst du dann sehen.<br />

Unvergesslich sei dein Werk, desto länger bleibst du im Gedächtnis.“<br />

„Zahlt ihr mir alle bei der Beschaffung des Spaßes anfallenden Spesen?“<br />

„Alles zahlen wir, solang es nur spaßt,“ sagte der Kleinste konzentriert.<br />

„Wenn das so ist,“ so ich, „habe ich nur noch eine Bedingung,<br />

diese aber müsst ihr mit Eiden mir schwören zu erfüllen:<br />

Wenn, was ich mache, euch nicht gefällt, wenn ihr<br />

den Spaß vor der Zeit beenden wollt, weil er nicht spaßt, wenn ihr<br />

meinem Sinn für Schönheit und meinen Fähigkeiten<br />

nicht mehr vertraut, müsst ihr mich töten. Schwört es!“<br />

Willkür<br />

„Töten? Was soll das? Warum dich töten?“<br />

„Ihr guten jungen Männer, hört und ich erklärs.<br />

Es unterscheidet sich heutzutage das Leben<br />

des schönen von dem des vernünftigen Geschlechts<br />

durch Taten und Wünsche, weniger mehr durch die Geburt.<br />

Und zwar die Taten entstehen vor allem<br />

durch Messer im Rücken und Hingabe ohne Zurück.<br />

Wenn ich scheitere, müsst ihr mich also töten.“<br />

„Nein, das können wir nicht machen. Nicht möglich.“<br />

„Hört mal: Ich habe keine Verwandte.<br />

Vater und Mutter bin ich mir selbst. Ohne Spaß bin ich nichts.<br />

Wenn ihr mich gut verscharrt, wird euch niemand behelligen.“<br />

Sie nicken und beruhigen sich. Ich, Mime, bestelle für den Anfang,<br />

um mich an die selbst bestimmte Arbeit zu gewöhnen,<br />

mehrere Schläuche Wein, einen Heizpilz für die Kreuzung,<br />

einen Eimer mit bestem Wisky und acht Huren auf Fahrrädern.<br />

Eine davon kam auf Rollschuhen, ich sagte, das wäre ok.<br />

Dann Samtvorhänge, die ich über die Kreuzung spannen ließ<br />

von drei Bauarbeitern aus Polen und einem Dichter aus Split.<br />

Die Achtschaft Polizei, die kam, konnte ich überreden, den Huren zu zeigen,<br />

wie sie goldene Sicheln beim Fahren über ihre Häupter schwingen können.<br />

Die Huren kannten ein Lied, das sie uns alle bald lehrten.<br />

Darin ging es um Helden im Krieg, um Mütter und um Serbien.<br />

Zwei Königskinder wandelten darin trunken einher<br />

und entschliefen gegen Ende des Liedes, beim Einsatz des Pathos.<br />

Fünf Zymbale, eine Tuba und eine Bassbalalaika<br />

versammelten sich um das Lied herum, und als es schloss,<br />

spielten sie lauter, umfassten die Kreuzung, wie Wolken von einem Brand<br />

eines staats- oder für die Kultur wichtigen Gebäudes in einer großen Stadt<br />

die Leute, die frisch aus dem Theater kommen, umschließen.<br />

Bald wünschten zwei der Huren, ihre Fricsen dabeizuhaben,<br />

ich schickte sie daher in die Oranienburger Straße und auch<br />

zum Spätkauf, denn andere riefen bereits nach mehr Wein.<br />

Nur die sechs dunkelblassen Männer standen und traten<br />

von einem Bein auf das andere und wollten lieber Bier.<br />

Musen, seid ehrlich, was hättet ihr hier an meiner Stelle getan?<br />

Ich war kurz ratlos, aber dann kam, wie mir schien, mir der rettende Einfall.<br />

„Hört alle her!“, rief ich. „Wir brauchen eine Geliebte!“<br />

27


Die Huren sagten, sie kennten eine, sie arbeite<br />

in einem Bistro auf der Touristenmeile, und gingen sie holen.<br />

Von hinter der Volksbühne radelten modische Leute vorbei und hielten<br />

auf ihren Rennrädern, mit ihren Bärten und Kleidern aus Baumwollstoff,<br />

Gitarren, verstimmten Klavieren, hauchenden, demokratischen Stimmen.<br />

Sie sprachen in Metaphern aus der Wühlkiste ihrer kapitalistischen Seelen,<br />

hauptsächlich von Plüschanimalia, Moral und psychologischem Verhalten.<br />

Sie fuhren, als wären sie gefährlich und elegant zugleich,<br />

wie schwere Moskitos, die den Malariavirus tragen und geben,<br />

um uns herum, versprühten „Like“s und jungenhaftes Grinsen,<br />

das so aussah wie Wimpernzucken, das Spiegel zerbrechen kann.<br />

Sie hungerten, es grollten in ihnen nordisch anmutende Horizonte.<br />

So geistig schien uns ihr Hunger, dass wir ihnen ihr eigenes Klavier<br />

zum Fraß anboten, dessen monotonische Melancholie uns störte.<br />

Sie verkohlten das Elfenbein ihrer Tastaturen als Geste, die denen<br />

der südamerikanischen Surrealisten nachgedichtet war.<br />

Die Sterne gingen auf, und Bären kamen hervor.<br />

Sie aßen die Hipster, die Animalia und die Reste der Klaviere.<br />

Die Saiten in ihnen trugen ihre Sehnsucht nun weit über ihre Heimat hinaus.<br />

Sie stießen die Fixies, die ja Übersetzung ablehnen, von ihren einfachen Rädern,<br />

das Design nutzte ihnen nichts. Nun hatten die Bären die Räder.<br />

Bei den Bären aber trugen die Bären die Räder.<br />

All dies betrachtete ich schon mit Verwunderung.<br />

Ungefähr zu dieser Zeit überquerte ein Idiot auf einem großen Dreirad<br />

die Kreuzung. Das war das letzte<br />

der selbstangetriebenen Fahrzeuge. Dann kamen die Huren<br />

mit der Geliebten zurück. Sie leuchtete. Es war tatsächlich der Frühling,<br />

den sie als seidenen Schal sich um die Schultern geschmissen.<br />

Ihre Augen flogen, wie Schwäne, die stöhnen,<br />

während sie fliegen, unter den kleinen Gesichtern<br />

der Männer und ihren Mützen umher, der Panik nahe.<br />

Nie hatte sie ein so sinnloses Beginnen gesehen wie meines hier.<br />

Am Arm der Geliebten war der Scherzer. Er war<br />

das Feuer und der sich ins Feuer legte, der sang und das Singen vergaß.<br />

Er lebte nicht selbst, er lebte an anderen, und sein Protest<br />

war seine Seele, ein Knüppel aus hellem Holz.<br />

Er kam zu den Leuten, um ihnen zu zeigen, wo sie<br />

Idioten waren, und ging, den Schwanz noch heil zwischen den Beinen.<br />

Allein das war schon ein Wunder, es folgten darauf aber<br />

Veränderungen in den Leuten, an ihren idiotischen Stellen.<br />

Dem Scherzer folgte ein Schwarm von Vögeln, die nichts kosteten<br />

und alles rühmten. Sie begrüßten fortwährend,<br />

so dunkel es werden wollte, den kommenden Tag.<br />

Oder sie machten ihre eigenen, teils kollektiven Flugwitze.<br />

Einzig die sechs bekappten jungen Männer standen und schienen<br />

in ihren Taschen nach etwas zu suchen, und fanden<br />

weder Kleingeld noch Freigang noch Melancholie.<br />

28<br />

Darauf sagte ich: „Ihr holt, um euch voller zu fühlen,<br />

am besten so schnell es geht aus der Pfalz eure Mütter herbei.“<br />

Es kamen in einem kleinen Flieger bald sechs fünfzigjährige Frauen an.<br />

Sieben davon waren seit kurzem Malerinnen und fingen unverlegen zu malen an.<br />

Heiter, gerührt, und immer wacher werdend malten sie<br />

Porträts von den Bauarbeitern und Karikaturen von den Huren.<br />

Die Kinder der Huren, Hippies und zwei Bettler aus Gran Canaria<br />

hatten die Sensen und die Fahrräder, die an die Apotheke gelehnt waren, gefunden,<br />

und während die letzte Hure noch immer ihre Kreise auf Rollschuhen drehte,<br />

verstand es ein leutseliger Kfz-Mechaniker, die Sicheln<br />

an die Naben der Fahrräder perpendikular zu befestigen.<br />

„Sehr gut! Wir brauchen Blut!“, sagte ich, „nur nicht zu viel gleich am Anfang.“<br />

Die sechs jungen Mützen standen noch immer auf dem Bordstein<br />

und schienen auf etwas zu warten. Ihre Mütter waren schon längst<br />

ein Teil der Szenerie geworden und konnten ihnen keinen Blick mehr schenken.


Ungefähr zu dieser Zeit erwischte mich ein Blick meiner selbst in der Spiegelung<br />

der Auslage der Apotheke, und ich versuchte, die Situation zu erfassen.<br />

Der Gedanke und der Versuch stürzten ringend in die Tiefe<br />

des Abgrunds, der klafft, wenn ein Autor sich selbst erblickt. Ich sah<br />

mein blondes Haar, Krönung eines absurden Leibs, seine humoristische Fahne;<br />

ich sah die Stummel meiner schnellen, abgebrochenen Bewegungen,<br />

die ins Freie gehen wie ein wildes Tier am Rand einer Lichtung erscheint,<br />

stehen bleibt, erschrickt, und verschwindet.<br />

Ganz Vampir-bei-Tag, wäre ich eben gern davongeschlichen, hätte mich ganz<br />

mit Hautcreme bedeckt, allein die Szenerie, die unter meiner fehlenden Kontrolle<br />

sich zusammenbraute, begann mich doch mehr und mehr zu interessieren,<br />

je mehr konfligierende Entwicklungen die Teile sehen ließen.<br />

Nicht wollte ich mit dem Kopf den Algorithmus der Veränderungen finden,<br />

hingegeben wie an eine Melodie folgte ich geneigt ihren Spuren.<br />

Willkür<br />

Angelockt vom Blut, drängten sich immer mehr Künstler heran,<br />

Feuerschlucker, Flaschensammler und ein Bildhauer,<br />

der von Maurern eine ziemlich gute Tribüne nach seinen Entwürfen<br />

errichten ließ, voll Falltüren und idyllischer Ecken.<br />

Auch ein einsamer Wanderer näherte sich, einer von jenen<br />

mit Hut, die nur darauf warten, um eine Kippladung modriger Maximen<br />

loszulassen, die erklären, warum sie so schweigsam sind.<br />

Er klopfte misstrauisch auf den Putz und entfernte sich,<br />

da niemand ihn sonderlich beachtete.<br />

„Musik!“, rief ich nun, denn die Kreuzung drohte zu verstummen.<br />

Wie abgemagerte Prinzen hingen die Samtvorhänge schlaff auf den Asphalt.<br />

Der Himmel ging nun auf und auch die Salsiccieria,<br />

und die Musiker hatten sich gestärkt und wussten nun mehr auswendig als zuvor.<br />

Strahlende Fließbänder flossen wie Öl,<br />

und die goldene Sichel halbierte<br />

drei Stunden später 300 ermüdete Philharmoniker,<br />

Hobbymusiker, Stradivaris, Oboen, Kantinen und Harfen.<br />

Die halben Instrumente, mit Pick-ups versehen, konnte<br />

ein Tonmeister in seine Kabelsalate speisen und spielen lassen<br />

die bezaubernden Interferenzen, wo die Vermutungen sich schönen<br />

wie Lippen im Lippenstift, wie Wüstenmäuse in Sinustönen.<br />

Und es ertönte in zierlicher Übersetzung der Herzschlag der Stadt,<br />

die blaue Dämmerung kratzte weiche Gefühle auf, der Zweifel der Halben<br />

vibrierte und sang. Und der Gesang formierte aus seinen Kreuzungen<br />

ein Federballnetz und zwei Gladiatoren, und die russische Armee,<br />

die so gut spielen kann, und ein Schwimmerteam, lauter Schwestern,<br />

kam und verlangte nach sehr viel Wasser auf einmal. Also fuhren wir ans Meer.<br />

„Für die jungen Männer eine Sänfte!“, rief ich, denn sie standen<br />

an der Ecke und tuschelten unentschieden vor sich hin.<br />

Zwei sollten drinnen sitzen und die anderen vier tragen,<br />

als ob sie bald heiraten könnten. Ich dachte, das taugte ihnen.<br />

Ich spazierte zum Meer Arm in Arm mit der Geliebten und ihrem Verlobten,<br />

wir kamen hin, und ich vergaß meine Sorgen und befahl aus Spaß,<br />

die sechs Männer bis zum Nabel im Sand zu begraben.<br />

Die Huren bewegten sich und gruben, Sand auf den Wangen,<br />

Sand auf der Oberfläche ihrer Korsette, im Nabel und<br />

auf den Schenkeln. Die Schuhe hatten sie am Rand des Strandes<br />

vergessen, sie dienten streunenden Hunden als Schlafstätte oder Pissoir.<br />

Hinter den Dünen erschienen auch Indigene mit Federn,<br />

Perlen, Windhunden und einem Kürbis, voll trüber Bowle aus Kräutern,<br />

der herumgereicht wurde. Auf der Bowle schwamm ein Feuer,<br />

es war ein vergangenes Feuer, und wer hineinsah,<br />

erkannte in sich selbst nur mehr seine Ahnen wieder.<br />

Schläuche kamen aus den Wolken, wo in Zeppelinen<br />

längst verstorben geglaubte Industrielle und Bohemiens<br />

saßen und den Saft aus den Kürbissen inhalierten. Sie atmeten auch aus.<br />

So strömten Liebe und Ordnung, muffig riechend,<br />

in die Atmosphäre über unserem Strand, und das Meer<br />

29


ließ davon ab, die Geistespest davonzuspülen oder mit Winden<br />

von seiner großen Oberfläche her pustend zu verscheuchen.<br />

Ich rief: „Gedichte!“ Denn gegen solch irrealen Dünste<br />

kannte ich nicht die wenigsten Waffen. War ich mir bei der<br />

Herstellung von Atmosphären unsicher, konnte bei deren Klärung<br />

keiner schneller als ich einen Horizont durch die Szene ziehen.<br />

„Gedichte!“, rief ich also, um die verbliebenen Kräfte zu konzentrieren.<br />

Außerdem war ich überzeugt, dass die sechs jungen Männer schliefen.<br />

Es kamen Nobelpreisträger, versiffte Gewissen und junge Ambitionierte,<br />

alle schleppten ihre Horizonte. Bei jeder Berührung<br />

wippten die Horizonte wie Florette, glühten wie Abendrot.<br />

Bei Abgesängen trafen sich diese Dichter selbst in die Brust,<br />

und sinnloses Blut durchtränkte den Strand, bis alle verstanden,<br />

was los war, was Freude bedeutete, was Sinken war. Die Toten<br />

zogen Blusen und Hemden aus, sangen mit bloßem Oberkörper,<br />

was sie zu singen wagten, und rezitierten den Rest in Versen,<br />

umschlossen von brennenden Hulareifen, gehalten von den Huren,<br />

sicher und professionell, bis ihnen die Hände, verkohlt,<br />

abfielen. Es kamen, das Schauspiel zu sehen, noch mehr: zutrauliche<br />

Flamingos, Wasserbüffel, kleine Krebse und Scharen von Quallen,<br />

die immer trockener wurden, obwohl ich manche in den Wisky tat.<br />

Erdwürmer steckten ihre augenlosen Häupter aus dem Gebüsch<br />

und teilten sich selbst, um vor der Ewigkeit für die Dichter<br />

deren misslungenen Verse zu büßen.<br />

Die jungen Männer schliefen wirklich,<br />

begraben in ihren sandigen schwarzen Mänteln.<br />

Dunkel wurden die Himmel, längst war der Mond weg, die Sterne verschwanden,<br />

doch statt des Lichts des Morgens kam über das Meer<br />

ein größeres Dunkel, und die Flamingos begannen<br />

zu stöhnen, und knickten ein, ihre Knie verschwanden und sie<br />

flogen in Panik davon. Die unteren Teile ihrer Beine ließen sie<br />

im Sand stecken, die Beine blickten auf,<br />

den verhallenden Geräuschen der Flamingos nach.<br />

„Flaschendrehen!“, riefen die einen aufgeregt,<br />

vor Aufregung „Fischen!“ und „Ficken!“ die anderen,<br />

„Blutsbruderschaft!“ und „Eine andere Musik!“<br />

Bauern kamen mit einem Anwalt und errichteten eine Diskothek, Humanisten<br />

kamen und strichen sie mit Bildern an, die verblichen, Schlosser kamen<br />

und legten Techno auf, die Münder aufzusperren, in welche<br />

die Feuerschlucker und Garnelen Feuer und Erbsen legten,<br />

Erdbeeren und Schwerter. Es war Karaokezeit.<br />

Die Lieder kamen vom Himmel – die Erzengel zeigten Tafeln,<br />

die eine Schneiderin getreu auf Kartone abschrieb.<br />

Sie träumte von einem guten Diktierprogramm und war<br />

an der Entwicklung eines alternativen Systems<br />

beteiligt gewesen, doch nach der Wende<br />

wurde das Programm abgewickelt, sie umgeschult.<br />

Es erfüllte sie mit einem geheimen, tragischen Schmerz,<br />

die Arbeit manuell zu verrichten, die ihr Programm<br />

gemacht hätte, und mit schaurigem Genuss<br />

schrieb sie den Stoff der Trauer, als bauschte sie singend die Hände,<br />

im Schimmer der Stimme badend, in minusbestirntem blauem Samt.<br />

Das muss die Zeitumkehr bewirkt haben. Denn bald ging der Mond wieder auf,<br />

den wir endgültig gesunken wähnten, und am Himmel<br />

zeichneten sich die Umrisse von gläsernen Papageien,<br />

Hotelketten, Kettenläden und gekauften Riesen<br />

ab, Hinterseiten von Schildern und falsche Palmen.<br />

Wölfe rissen die Papageien, Blauwale die Wölfe,<br />

als ob sie die Kleinen rächten – eine Tat, der die Kleinen liebend gedachten.<br />

Und Zebras zogen durch, die Bäuche voll Nadelöhren,<br />

und Flugzeuge flogen tief, und Helikopter stahlen sich davon.<br />

Meine Fantasie wogte gegen die Trauer. Vergessen waren die Männer,<br />

der Spaß und mein Tod am Ende dieser Geschichte.<br />

30<br />

Nun, da ich sie schreibe, zieht sich die Verzweiflung zurück<br />

und lässt mich mit meiner Vernunft an diesem grauen Strand<br />

zurück. Ich scheine mir ganz alleine, und wie zum Hohn<br />

blinkt mir der Mond zwischen falschen Palmen hindurch, zitiert Heine.<br />

Alleine? Nein! Sechs Männer dösen noch immer im Dunklen,<br />

scharren in ihrem Gefängnis und quengeln im Schlaf. Und ich sehe,


wie sich das Meer in die jüngere und immer fernere<br />

Geschichte zurückzieht. Ich sehe Bismarck am Horizont,<br />

eine Schar von Todesvögeln, neuerfunden, mit glänzenden Flügeln<br />

und unerbittlichen Schnäbeln in Schönkurrent formulieren,<br />

dann sehe ich schon die schweren Stifte der Legionen,<br />

die spitzen Winkel dreimeterlanger Lanzen, die die Schweizer beinahe<br />

unter Kontrolle haben, Todesquadrate, deren Gewicht aus dem Bewusstsein<br />

seiner Bestandteile besteht, dass sie keinen Ausweg haben. Napoleons<br />

kleine besorgte Fresse, und sterbende Pferde, und Frauen voll Schweiß.<br />

(In ihnen stecken die schlichten Frisuren von Renaissancegelehrten,<br />

mit Tinte schreibend, von Sorgfalt lebend, ein Blümlein zwischen den Fingern,<br />

einem einzigen Rausch bereit sich hinzugeben mit bebender Seele<br />

((wie eine Jungfrau die Blüten im Frühling, unter dem Schnee<br />

dürftiger Sprache bleibend, mit Schaudern interpretiert)).)<br />

Ich bin erschreckt von der Zerstreutheit, in der<br />

meine Ahnungen erscheinen, mich selbst nur streifend.<br />

Der Horizont unterstreicht mein Streifen, er seufzt,<br />

erweicht sich und wird wieder heller und wird Abend.<br />

Willkür<br />

Die Zeit hat begonnen, sich rückwärts zusammenzurollen,<br />

sie zieht sich von unserer Welt zurück und lässt mich nackt,<br />

Erinnerungen und Gedanken sind nur mehr getrennte Gespenster.<br />

Ich schreie und will einen Busen, besinne mich und werde still.<br />

Größeres Grauen habe ich noch nie gekannt als meine Entscheidung,<br />

zu verstummen, doch es wird sofort übertönt von mehr Grauen,<br />

der Fortsetzung des Grauens in seinen Anfang hinein. Es wird heller und heller,<br />

und ich sehe uns klar, betrunkene Flamingos, wie Herbstzeitlosen<br />

über den Sand gespleizt, das verschmutzte, verschaumte Meer,<br />

sarkastische Kommentare murmelnd, während es ebbt<br />

und lustlos flutet. Ich sehe die Quallen leiden. Die Kormorane,<br />

aus Sehnsucht und Knochen bestehend, immer halb im anderen Element,<br />

tauchend mit Luft nach Fisch, den sie nicht wollen.<br />

Ich möchte mich nicht mehr rühren, bis ich erfriere,<br />

denn ich meine, ich habe genug Unfug gemacht.<br />

Doch eine graue Sonne, deren Schwingungen<br />

alles nicht älter, sondern dümmer machen, geht auf<br />

im Westen, und meine Moleküle bewegen sich<br />

immer schneller, immer mehr wie die forcierten<br />

Kinderzeichnungen von reichen Fauvisten, immer weniger<br />

imstande, mich durch ihre Vernunft am Leben zu halten, doch noch<br />

weniger imstande, mich in Ruhe zu lassen.<br />

Sterben, merke ich, wäre nur ein Traum.<br />

Plötzlich rühren sich hinter mir die jungen Männer,<br />

und unter der feuchten Mütze eines von ihnen<br />

schlängelt sich ein verquollener Blick hervor und trifft meinen.<br />

Er sagt: „Du kannst ja genauso wenig feiern wie wir.“<br />

„Was?“, schrie ich. „Sind doch alles Behauptungen!“<br />

„Du reagierst auf Behauptungen. Mit Behauptungen.“<br />

„Schlag mir den Kopf ab. Du hast recht. So will ich nicht leben.“<br />

„Noch nicht.“ „Ihr spinnt!“ „Wir spinnen nicht mehr.<br />

Wir suchen den Faden.“ „Und ich soll ihn haben.“<br />

„Du musst ihn machen.“ „O eine Axt! Eine Axt!<br />

Bei Gott, ich will eine Axt! Keinen Faden!“ Und ich begrub<br />

mein Haupt in den sandigen Sand der Dünen<br />

zwischen den verlorenen Messergriffen und den Schalen<br />

von Generationen von toten Muscheln.<br />

31<br />

Ann Cotten, geboren 1982 in Iowa, lebt seit 1987 in Wien, seit 2006 in Berlin. Zuletzt veröffentlichte sie die<br />

Sammlung Florida-Räume im Suhrkamp Verlag.


Fünf Fragen an …<br />

Klaus Florian Vogt<br />

Siegmund — Die Walküre<br />

Welchen Faden aus Wagners Erzählung des<br />

Nibelungen-Mythos verfolgen Sie am liebsten?<br />

Die Geschichte um Siegmund und Sieglinde finde ich besonders<br />

spannend. Sie ist konkret, lässt aber viel Raum für<br />

Fantasie. Die Figuren handeln menschlich und sind deshalb<br />

nachvollziehbar. Ich freue mich sehr darauf, den Siegmund<br />

zu singen und zu spielen.<br />

Wer hat Ihnen an welchen Orten<br />

Geschichten erzählt?<br />

Am besten erinnern kann ich mich an meine Großtante, die<br />

mir abends am Bett vorgelesen hat.<br />

Welche Geschichte hörten Sie in Ihrer<br />

Kindheit am liebsten?<br />

Märchen fand ich immer toll, spannende Geschichten mit<br />

einem gutem Ende.<br />

„Meinen Kindern<br />

erzähle ich oft,<br />

wie ich nach<br />

einem Verwandtenbesuch<br />

in der<br />

DDR einen Wellensittich<br />

in der<br />

Provianttasche über<br />

die Grenze geschmuggelt<br />

habe.“<br />

Wem erzählen Sie welche Geschichte gerne<br />

immer wieder?<br />

Meinen Kindern erzähle ich oft, wie ich mit meiner Mutter<br />

und meiner Schwester nach einem Verwandtenbesuch in der<br />

DDR einen Wellensittich in der Provianttasche über die<br />

Grenze zurück in den Westen geschmuggelt habe.<br />

Warum, glauben Sie, erzählen wir uns Geschichten?<br />

Weil wir damit eine Verbindung zu unserem Gegenüber herstellen.<br />

Die erzählte Geschichte wird durch die Fantasie des<br />

Zuhörers auch zu seiner eigenen, es ist also ein sehr persönlicher<br />

Vorgang.<br />

Fünf Fragen an …


Seit 1841<br />

Möbel aus eigener Werkstatt und von ausgesuchten Herstellern,<br />

Stoffe, gewebte Teppiche, Glas, Geschirr<br />

und besondere Mode…<br />

F. Radspieler & Comp. Nachf.<br />

Hackenstraße 7 · 80331 München<br />

Telefon 089/235098-0 · Fax 089/264217<br />

mail@radspieler-muenchen.de<br />

www.radspieler.com


36<br />

Küchenmatrosenfresse<br />

Die<br />

Familie<br />

der<br />

Verlorenen<br />

(Bronn)<br />

von Helmut<br />

Krausser


Bronn hatte keine Lust, sich zu erschießen, wusste spontan aber auch nichts Besseres<br />

mit sich und dem Nachmittag anzufangen. Als ob eine Pflicht erfüllt sein<br />

müsste, selbst noch das Merkwürdigste an- und weiterzudenken, dachte er kurz<br />

darüber nach, während er die Pistole betrachtete, die er im Offizierskoffer seines<br />

Vaters auf dem Dachboden gefunden hatte. Das lag nun schon etliche Jahre zurück,<br />

und oft seither hatte er die Waffe ausprobieren wollen; jedes Mal hatte ihn<br />

eine kindlich zu nennende Scheu daran gehindert. Seine Furcht galt nicht der<br />

Waffe an sich. Er konnte Pistolen und Revolvern viel abgewinnen, registrierte<br />

sogar eine fast erotische Affinität zu deren Mechaniken, insbesondere zu den<br />

Klicklauten, die solche Mechaniken hervorrufen. Eher fürchtete Bronn sich davor,<br />

etwas, das so eindeutig mit seinem Vater verbunden war, in die Hand zu nehmen,<br />

also sah er die Waffe nur an, stundenlang an, als könne sie durch präzise Betrachtung<br />

von der Aura des Vorbesitzers gereinigt werden.<br />

Mein Vater, der Gedanke war ihm in der gestrigen Nacht zum ersten Mal<br />

gekommen, hat mir diese Pistole nicht ohne Absicht hinterlassen, ganz sicher<br />

nicht, nein, ihn trieb die Hoffnung, dass ich sie brauchen könnte und irgendwann<br />

gebrauchen würde. Er wollte, dachte Bronn, gleichermaßen von der Willkür seines<br />

Gedankengangs wie von dessen drastischer Logik erschrocken, dass ich mir<br />

ihre Mündung an den Kopf halte und mit einem Projektil, seinem Projektil, seinem<br />

letzten und unvollendeten Projekt, einen Schlussstrich durch mein Gehirn<br />

ziehe. Der wohl niederträchtigste Versuch, doch noch einmal, nach so langer Zeit,<br />

Besitz von mir zu ergreifen. Es würde seine späte, raffiniert konstruierte Rache<br />

dafür sein, dass ich ihm fünfzehn Jahre lang entkommen konnte. Er soll meinen<br />

Namen auf dem Sterbebett gerufen haben. Seine Frau, sein dressierter Gebärkanal,<br />

meine Erlebnisrutsche ins Leben, hätte mir die Information auch vorenthalten,<br />

sprich: ersparen können.<br />

Bronn hatte kein Schuldgefühl gehabt. Erst jetzt, mit dem zeitlichen Abstand<br />

eines halben Jahrzehnts, stellte sich etwas, wenn auch nur sehr entfernt,<br />

Ähnliches ein. Sentimentale Selbstrelativierungen, die eine Midlife-Crisis oft begleiten,<br />

eine Art vorausgreifende Aussöhnung mit dem Kosmos, hin zur allumfassenden<br />

Vergebung. Urbi et Orbi. Requiescant in pace. Wenn er darüber nachdachte,<br />

bekam die Angelegenheit schnell etwas Zotig-Lächerliches. So vieles zu<br />

verzeihen, dafür ist jeder Mensch zu klein. Das Ende des Zorns ist das Ende des<br />

Lebens. Jeder vergibt sich selbst, und damit gut.<br />

Warum rief mein Vater meinen Namen auf dem Sterbebett? Er wusste<br />

doch, dass ich nicht kommen würde. Aber seine Gattin sollte die Anklage protokollieren<br />

und an mich weiterreichen.<br />

So der Plan. Das ist nicht eben versöhnlich gedacht für einen verröchelnden<br />

Vater. Ich hätte in die Klinik fahren und ihn mit einem Schuss<br />

aus dieser seiner Waffe abknallen sollen. Das wäre überraschend und logisch<br />

gewesen. Stil- und würdevoll. Etwas pathetisch, aber mit Verve. Womöglich hätte<br />

er es sogar begrüßt. Als aufgebauschte Form von Anteilnahme.<br />

Wie anders sähen die Biografien vieler Menschen aus, ohne all die Hemmschwellen,<br />

die aus dem bloßen Wissen von der Existenz der Gefängnisse entstehen.<br />

Dabei sind Gefängnisse so banal. Wir leben zivilisiert, wir leben in Angst.<br />

Leben banal. Dauernd hemmen uns Ängste vor einer verfrühten Vollendung. Vor<br />

irgendeiner verfrühten Vollendung, als gäbe es jene eine, die zur rechten Zeit zu<br />

uns käme – und richtiger wäre. Wir zögern hinaus, mit allen Mitteln, das Einzige,<br />

was an uns nicht banal ist: aufhören zu können mit dem Sein.<br />

37<br />

Die Familie<br />

der Verlorenen<br />

(Bronn)<br />

Waffe<br />

Endlich nahm Bronn die Pistole in die Hand. Sie fühlte sich nicht an wie etwas<br />

Böses, war ein willig handzahmes Ding, das fortan dem gehörte, der es nahm<br />

und benutzte. Zweckgebundene Materie. Eine Nutte von Ding. Sein Vater<br />

schrie und starb in diesem Moment ein zweites Mal, auf weit höherer Ebene.<br />

Bronn wollte feiern. Gern ging er nachmittags durch die luxussanierte Markthalle<br />

am Marheinekeplatz, betrachtete ein Boule-Spiel oder aß ein Hühnerbein.<br />

Viele schreckliche Mensch-Komparsen saßen auf den Bänken und tranken Bier.


Neben dem Spielplatz verkauften Trödler knallbunte Tücher, Strohhüte, Gürtel,<br />

altes Geschirr und sonstigen Plunder, auch gestohlene, zerlegte und neu zusammengesetzte<br />

Fahrräder. Bei einer Gelegenheit wie dieser hatte er Elisabeth zwischen<br />

den Ständen erblickt, das war nun auch schon wieder fast vier Jahre her.<br />

Sie war aus den Himmeln gekommen, saß da, in einem cremefarbenen Kleid, mit<br />

baumelnden Beinen, das Kinn auf ihren rechten Handrücken gestützt. Bronn sah<br />

nicht irgendein Mädchen, er sah Elisabeth. Denn das war der Name, den er dem<br />

Wesen gegeben hatte, lange, bevor er es zum ersten Mal zu Gesicht bekam.<br />

Für Mitte Oktober war es recht warm. Ein klarer, sonniger Tag ging zu Ende.<br />

Bronn mochte die Stunde, sehr früh am Abend, wenn es noch nicht ganz dunkel<br />

ist, wenn der Flüsterteer schimmert und die Stimmung auf den urbanen Alleen<br />

etwas Traumhaft-Jenseitiges gewinnt. Stunde, da die Farbpracht der Bäume<br />

letztmals ins Bewusstsein tritt, bevor sie in die Nacht hinein versickert. Wenige<br />

Farben konkurrieren: ein tiefes, selbstbewusstes Mittelblau, ein zart verwaschenes<br />

Rosa, und, weit hinten, der untergehenden Sonne entgegen, Flecken von<br />

kränklichem Schwefelgelb. Herbstluft zeichnet Konturen schärfer und härter gegen<br />

den Himmel. Zum Aufflackern der Straßenlaternen fehlen nur Sekunden,<br />

während das letzte Licht am Horizont sich zwischen Tag und Nacht noch immer<br />

nicht entscheiden will.<br />

Bronn betrat, melancholisch bewegt, seine Fünfzimmerwohnung, ließ in<br />

der Küche die Jalousien herab, floh vor der Jahreszeit unter ein Zelt aus dimmfähigen<br />

Lichtquellen. Er suchte sich von der Schwere seiner Gedanken, die an<br />

Herbstabenden fast ausschließlich der Vergänglichkeit galten, der eigenen besonders,<br />

abzulenken, blätterte mit der Fernbedienung im Teletext nach neuen Schlagzeilen<br />

und kochte, um einer Erkältung vorzubeugen, Hühnersuppe in einem verkrusteten,<br />

täglich benutzten Topf. Den regelmäßig zu reinigen, hielt er nicht für<br />

nötig; die Flüssigkeit, auf hundert Grad erhitzt, müsste alle darin enthaltenen<br />

Keime, dachte Bronn, abtöten. Danach legte er sich kurz zu Elisabeth und als er<br />

gekommen war, nahm er ein Bad.<br />

Seine oft bis übers Nagelbett hinaus abgebissenen Fingernägel spielten mit<br />

dem Schaum, ließen schillernde Blasen platzen, und dass dabei kein Knall ertönte,<br />

wertete Bronn als Unvermögen seiner seit Tausenden von Jahren schamlos<br />

verkümmerten Ohren.<br />

Alles Unvollkommene muss sterben.<br />

Er rasierte seine Hoden und Achselhöhlen, betrachtete sich im Spiegel.<br />

Mein Antaios, dachte Bronn, ist schön, einer der schönsten, ich kann stolz auf ihn<br />

sein, sogar Elisabeth empfindet ihn inzwischen, und ihr fehlt doch jeder Vergleich,<br />

als angenehm und wohlgestalt. Bronn griff nach einem Handtuch, entstieg der<br />

Wanne, stolz auf die kleine Pfütze, die sich um seine Füße in den Teppich grub.<br />

Jetzt und hier ist alles da, eins zu eins, noch fern aller Legenden, ist wahr und am<br />

Leben, ist echt, bis hin zur verschrumpelten Haut der aufgeweichten Zehen.<br />

Bronn war begeistert. Ach, flöge nur ein großer Vogel von mir fort, aus meiner<br />

Stirn heraus, mit allem, was ich denke, in ein geschütztes Nest, ein Reservat.<br />

Er zog sich an, sehr langsam, verlieh sich jedes Kleidungsstück wie einen<br />

Orden. Seine Gesten schienen selbst ihm bald kapriziös, übertrieben bewusst.<br />

Über den Besitz einer gut gefertigten Socke ehrliche Freude empfinden zu können<br />

– wann war das zuletzt möglich? Dazu benötigt es Kriege, dachte Bronn.<br />

Verlorene Kriege. Ehrgeizige Völker müssen um verlorene Kriege dankbar sein,<br />

nur in ihnen erfinden sie sich von Grund auf neu.<br />

Kurz vor einundzwanzig Uhr flanierte er in einem beigefarbenen Leinenanzug<br />

zur nächstgelegenen U-Bahn-Station. Das Transportmittel widerstrebte<br />

ihm; zu viel Tuchfühlung mit Gesindel wurde riskiert. Regelmäßiges Taxifahren<br />

konnte er sich nicht leisten, er war kein vermögender Mensch, ging keiner Arbeit<br />

nach. Was er an Ererbtem besaß, würde ihm, sparsam eingeteilt, noch etwa sieben<br />

Jahre lang ein Auskommen sichern. Dann, an seinem fünfzigsten Geburtstag,<br />

wollte er Selbstmord begehen, hatte sich dazu bereits die nötigen Narkotika<br />

Aufflackern


esorgt. Sie konnten bis dahin an Wirkung eingebüßt haben, gewiss. Sah man es<br />

so, war ihr Kauf voreilig gewesen. Doch besser, beruhigender ist es, sagte sich<br />

Bronn, dergleichen im Haus zu haben. Sieben Jahre noch existieren. Und manchmal<br />

so leben, wie es mir zusteht.<br />

Niemandem steht irgendetwas zu auf dieser Welt, dachte Bronn. Aber alles<br />

steht offen und bereit für den, der sich davon zu nehmen wagt. Er begriff sich<br />

als einen Mann der Tat. Wo andere viele Worte machten, um mit ihrem Leben<br />

ins Reine zu kommen, bevorzugte Bronn, und es kam ihm selbst oft kindisch<br />

aufbegehrend vor, die Tat, gleichermaßen als Mutprobe und definitive Stellungnahme,<br />

als letztmöglichen Ausweg aus der grassierenden Unverbindlichkeit. Bedenken<br />

will ich, was ich tu – der Satz des Feuergottes Loge, aus dem letzten Bild<br />

der Oper Rheingold, wurde für Bronn oft zum lose gemurmelten Mantra. Ging<br />

über in Tun will ich dann, was ich bedacht hab.<br />

Lüge ist, wenn mein Denken sich vom Körper zu weit entfernt. Wir müssen<br />

dieser an Äußerlichkeiten festgezurrten Welt mit unseren Körpern begegnen, nicht<br />

mit unserem Denken. Wie lächerlich sind Sandkörner, die sich in einem Getriebe<br />

einnisten, um fortan knirschend, wichtigtuerisch an Stimme zu gewinnen. Sie erzählen<br />

das ewige Lied doch nur – er machte Pause und suchte nach Worten – mit<br />

der gequälten Stimme der Maschine.<br />

All diese Sätze sprach Bronn flüsternd in sein Diktafon. Er schrieb sie<br />

selten auf.<br />

Wir, die Familie der Verlorenen, sind Körper, die Geschichten zerstören,<br />

um neue zu erfinden.<br />

Bronn bemerkte, dass einige der Menschen im Abteil ihn, während er<br />

sprach, anstarrten, wozu sie keinerlei Recht besaßen. Doch wussten sie davon<br />

nichts, und man musste ihnen verzeihen. Öffentlichkeit zwingt zu Kompromissen.<br />

An der Haltestelle Kleistpark verließ Bronn den Zug, hetzte zur Rolltreppe,<br />

angeekelt von Blicken, deren Interesse offenkundig, oder nur wenig verstellt,<br />

seiner Vernichtung galt.<br />

Von der frischen kühlen Luft beruhigt, ging er hundertachtundsechzig<br />

Schritte nach Norden, zu einem Etablissement in der Goebenstraße, ein, wie er<br />

selbst fand, widerlich versiffter Schuppen, der im Parterre DVDs, Dildos und<br />

Pornohefte verkaufte und im ersten Stock ein Pornokino und Videokabinen betrieb.<br />

Jener Bereich wurde von Kameras nur teilweise überwacht, wie sich Bronn<br />

bei vorherigen Besuchen vergewissert hatte. Der Eingang zum Kino bildete, in<br />

diesem Sinne, eine Gefahrenzone. Da musste man durch, was aber kein großes<br />

Risiko war, es gab keine Aufzeichnungen.<br />

Ein wovon auch immer klebriger Boden entlockte den Sohlen seiner Turnschuhe<br />

bei jedem Schritt ekelhafte Ploppgeräusche. Der überheizte Raum mit<br />

den neun Videokabinen schien menschenleer. Bronn fühlte sich zu seiner Schande<br />

mehr erleichtert als enttäuscht. Auch seine Lust hielt sich in Grenzen. Eine<br />

angelehnte Tür schwang auf.<br />

Der junge Mann mit den kurzen weißblonden Haaren sah Bronn freundlich<br />

lächelnd an. Ein hagerer Mensch, kaum zwanzig Jahre alt, in Jeans und gelbem<br />

Polohemd. Sein Gesicht war einigermaßen hübsch, doch wenig interessant, es hatte<br />

noch einen weiten Weg vor sich. Smutjegesicht. Eine bleiche, der Akne längst<br />

noch nicht entwöhnte Küchenmatrosenfresse. Bronn hob die rechte Hand zum<br />

Gruß. Der junge Mann blinzelte ihm zu, und sein lasziver Griff in den eigenen<br />

Schritt, verbunden mit einem auffordernd eindeutigen Grinsen, erregte Bronn. Er<br />

tat ein paar Schritte auf den Jungen zu, lächelte, betrat die Kabine, schloss hinter<br />

sich ab, öffnete Gürtel und Reißverschluss seiner Hose, schob sie mitsamt dem<br />

Slip bis zu den Knien hinab. Bronn fühlte sich verehrt und sehr korrekt behandelt,<br />

streichelte die Ohren seines Wohltäters mit beiden Zeigefingerspitzen und wartete,<br />

bis seine Erektion sich verfestigt hatte. Der blonde junge Mensch war unerfahren,<br />

wenngleich er sich Mühe gab, mit den Zähnen die Haut nicht zu berühren.<br />

Bronn stieß ihm sein Glied heftig in den Rachen, der Blondjunge schnaubte, seine<br />

Nase klang verstopft und verursachte ein unangenehm rasselndes Geräusch.<br />

39<br />

Die Familie<br />

der Verlorenen<br />

(Bronn)<br />

Ploppgeräusche


Das Projektil, das in sein rechtes Ohr eindrang, verließ sein zerwühltes Gehirn<br />

durchs linke und blieb in der Wand stecken. Als sei es ein Gedanke gewesen, dem<br />

man nur mit halber Aufmerksamkeit zugehört hatte. Der Schalldämpfer ist zweifellos<br />

eine der zärtlichsten Erfindungen der Menschheit. Dachte Bronn, der große<br />

Erregung daraus zog, dass die Kugel sich nur Zentimeter über seiner Eichel durch<br />

die gallertartige Masse fremder Gedanken hindurchgebohrt hatte.<br />

Der helle Anzug war eine zu kühne bis absurde Farbwahl gewesen, das<br />

gestand er sich jetzt. Mit einem Taschenmesser pulte Bronn das kaum verformte<br />

Projektil aus der Plastikwand. Roch daran. Steckte es in die Innentasche seines<br />

Jacketts. Danach schob er den toten Körper mit Fußtritten unter den Sitz. Bronn<br />

öffnete die Tür der Videokabine einen Spalt, sah sich um. Schnell glitt er zur Tür<br />

hinaus und schloss sie von außen, hielt sich eine Hand vors Gesicht, als er den<br />

Eingangsbereich zum Kino durchschreiten musste, ging, froh um die kühle<br />

Abendluft, gemächlichen Schrittes die Potsdamer Straße entlang, fühlte sich derangiert,<br />

wegen der wichtigtuerischen Blutspritzer auf seiner Hose. Er stoppte,<br />

ausnahmsweise, ein Taxi, nahm im Rückraum Platz. Der Fahrer würde sicher<br />

nichts bemerken. Agone? Hoc age! Um mit den römischen Priestern zu reden.<br />

Tun, was bedacht ist.<br />

Bronns Glied, der Begriff Antaios, den er selbst dafür gebrauchte, enthielt<br />

eine Spur von Ironie, blieb während der Heimfahrt ständig steif. Er freute sich<br />

sehr darauf, vor dem Fortdämmern noch einmal zu Elisabeth kriechen zu können.<br />

Sieben große Jahre liegen vor mir, dachte er. Bevor die Welt von mir Abschied<br />

nehmen muss. Eine Träne rollte ihm die Wange hinab. So glücklich, dachte Bronn,<br />

bin ich schon lang nicht mehr gewesen.<br />

Die Hoffnung, rechtzeitig vor meinem Tod unglücklich und depressiv zu<br />

werden, gar vielleicht gerne zu sterben, scheint entmutigend unrealistisch. Ich<br />

will aber auch nicht feig sein oder bequemlich. Nein.<br />

Zu viel von allem ist zu viel. Marienkäfer sind niedlich. Millionen von Marienkäfern<br />

sind eklig. Es gibt Milliarden von Menschen. Zu Hause fand er Elisabeth<br />

schlafend vor. Nicht vom hellsten Licht erwachte sie auch nicht, als er ihren<br />

Rücken mit Küssen liebkoste. Er legte sich neben das Mädchen, atmete ruhig und<br />

bewusst, ließ sie in Ruhe und schlief ein. Bald würde er sie aus seinem Leben<br />

entfernen müssen – und es brach ihm das Herz.<br />

40<br />

Die Familie<br />

der Verlorenen<br />

(Bronn)<br />

Tuchfühlung<br />

Helmut Krausser ist Autor von<br />

Romanen, Gedichten und Bühnenstücken.<br />

Seine Romane Der große<br />

Bagarozy und Fette Welt wurden<br />

verfilmt. Im Wintersemester<br />

2007/08 hatte er die Poetikprofessur<br />

der Ludwig-Maximilians-Universität<br />

München inne. Zuletzt<br />

erschien der Roman Die letzten<br />

schönen Tage im Dumont Buchverlag.<br />

Der Autor lebt bei Berlin.


Exklusive Haarpflege und Kosmetik.<br />

In ausgesuchten Friseur – Salons: www.labiosthetique.de


Fünf Fragen an …<br />

Juha Uusitalo<br />

Wotan — Die Walküre<br />

Der Wanderer — Siegfried<br />

Welchen Faden aus Richard Wagners Erzählung des Nibelungen-Mythos<br />

verfolgen Sie am liebsten?<br />

Mich berührt der Faden von Wotans persönlichem Weg am<br />

meisten, und wie der Ring seine Einstellung über die drei<br />

Opern, in denen er auftaucht, verändert. In Wagners einzigartiger<br />

Komposition ist dies natürlich auch musikalisch in<br />

die Figur hineingewoben, etwa in Wotans Monolog, den er an<br />

Brünnhilde richtet. Natürlich mag ich auch die Rolle des<br />

Wanderers sehr gern, sowohl musikalisch als auch als Figur<br />

(vielleicht weil ich sie öfter gesungen habe).<br />

Wer hat Ihnen an welchen Orten Geschichten erzählt?<br />

Meine Mutter und mein Vater haben mir Geschichten erzählt,<br />

als ich noch klein war, aber auch meine älteren Brüder<br />

(acht und sechs Jahre älter als ich), denen ich vollkommen<br />

ergeben war.<br />

„Lustigerweise war<br />

meine Lieblingsfigur<br />

früher die<br />

Zeichentrickfigur<br />

Donald Duck!<br />

Ich konnte es<br />

immer gar nicht<br />

erwarten, bis die<br />

Comics endlich in<br />

der Post waren.“<br />

Welche Geschichte hörten Sie in Ihrer Kindheit am liebsten?<br />

Lustigerweise war meine Lieblingsfigur früher die Zeichentrickfigur<br />

Donald Duck! Ich konnte es gar nicht erwarten,<br />

bis es endlich Dienstag oder Mittwoch war und die Comics<br />

in der Post waren.<br />

Wem erzählen Sie welche Geschichte gerne immer wieder?<br />

Ich habe früher meinen eigenen Kindern alle möglichen<br />

Geschichten erzählt – irgendetwas, damit sie einschliefen!<br />

Am liebsten waren mir die Geschichten des finnischen<br />

Autors Mauri Kunnas, vor allem seine Herra Hakkaraisen-<br />

Geschichten [auf Deutsch Herr Schnorchelmütz, d. Red.],<br />

und davon ganz besonders die, in der er schlafwandelt.<br />

Warum, glauben Sie, erzählen wir uns Geschichten?<br />

Wissen Sie, was wirklich sehr wichtig ist für Kinder, ist der<br />

Klang der Stimmen ihrer Eltern. Ich erinnere mich tatsächlich,<br />

dass ich es als Kind so beruhigend fand, sie zu hören,<br />

und gleichzeitig war es auch eine großartige Erfahrung, eine<br />

Geschichte von ihnen erzählt zu bekommen.<br />

Übersetzung Maria März<br />

Fünf Fragen an …


Fünf Fragen an … 43<br />

Nina Stemme<br />

Brünnhilde —<br />

Götterdämmerung<br />

„Meine Großmutter<br />

hat uns Schwestern<br />

gefragt, worum es<br />

in der Geschichte<br />

gehen soll, und<br />

dann wir sind in<br />

den Pausen<br />

eingesprungen und<br />

haben – nach<br />

unserer Meinung –<br />

die Geschichte<br />

besser gemacht!“<br />

ter, ihr Sterben für ein höheres Ziel –, ist dies kein Vergleich<br />

zur Entwicklung der Brünnhilde! Die Geschichte einer Göttin<br />

zu erzählen, die von ihrem Vater zur Menschlichkeit verdammt<br />

wurde und damit zu allem, was das bedeutet, Beziehungen,<br />

Liebe, Schwüre und Täuschungen, und die am Ende<br />

schließlich ihr Leben opfert in der Hoffnung auf eine bessere<br />

Welt – das ist schon etwas Besonderes.<br />

Wer hat Ihnen an welchen Orten<br />

Geschichten erzählt?<br />

Meine Großmutter hat meinen Schwestern und mir Geschichten<br />

erzählt, wenn sie uns zu Hause in Stockholm besucht<br />

hat. Sie hat uns gefragt, worum es in der Geschichte<br />

gehen soll, und hat dann mit dem Erzählen angefangen …<br />

und wir Mädchen sind in den Pausen eingesprungen und haben<br />

– nach unserer Meinung – die Geschichte besser gemacht!<br />

Und so wurde es dann oft eine Geschichte aus dem<br />

täglichen Leben, in der meine Schwestern und ich vorkamen.<br />

Welchen Faden aus Wagners Erzählung des<br />

Nibelungen-Mythos verfolgen Sie am liebsten?<br />

Ich glaube, es gibt einen Grund jenseits der stimmlichen Herausforderung,<br />

der mich von Sieglinde zu den Brünnhilden<br />

hat wechseln lassen … Obwohl ich die Wesenszüge der Sieglinde<br />

liebe – das Erwachen einer Frau, ihr Wachsen und, spä-<br />

Fünf Fragen an …<br />

Welche Geschichte hörten Sie in Ihrer<br />

Kindheit am liebsten?<br />

Ich war, und bin immer noch, sehr bewegt von Astrid Lindgrens<br />

Bröderna Lejonhjärta (Die Brüder Löwenherz). Davor<br />

habe ich gern manche der volkstümlichen Erzählungen aus<br />

Schweden gehört …<br />

Wem erzählen Sie welche Geschichte gerne<br />

immer wieder?<br />

Ich erzähle jedes Mal Geschichten, wenn ich auf die Bühne<br />

gehe und eine Oper singe, ein Lied oder sogar ein konzertantes<br />

Stück. Das reicht mir ...<br />

Warum, glauben Sie, erzählen wir uns Geschichten?<br />

Um unterschiedliche Facetten des Lebens mitzuteilen. Um<br />

die Vergangenheit mit der Zukunft zu verbinden. Und natürlich<br />

auch, um Moral, Ethik und Vernunft auf eine symbolische<br />

oder universellere Weise zu vermitteln.<br />

Übersetzung Maria März


Die Pause nach dem Dritten Akt<br />

und kein Ende<br />

von<br />

Christine Pitzke<br />

48<br />

Ob es sein könne, fragte sie, dass es nicht Vermittlung brauche zwischen den<br />

Menschen und ihrem Göttlichen, sondern Vermittlung zwischen dem Wortlosen<br />

und dem Wort? Er nickte nur. Sie wollten kleine Dinge sagen und tun und hielten<br />

sich an die Silben. Ob es sein könne, fragte sie, dass sie den Dingen unrecht<br />

getan hätten, sie seien ja nicht so abgehärmt oder todverfallen oder ausgeliefert<br />

wie die Menschen meinten, oder verstoßen oder in Eigenschaften gefangen, sondern<br />

jedes eine unbewohnte Insel, und sie stürzten die Menschen in ihre Freiheit,<br />

jedes gab Kleider und neues Unbehaustsein, Sammelstelle von weiteren<br />

Elementen. Das Grün gab von seinem schwachen Grün, die Kalkfelsen von ihrem<br />

Weiß, Bilder, die in den geschlossenen Augen noch eine Weile stehen blieben,<br />

manchmal im Kontrast. Jetzt wuchs die bewohnbare Erde wieder an, eine<br />

strenge und von einem rauen Wind durchwehte Hochfläche, und dieser Wind<br />

machte den Festkörper leicht. Unruhe, und es war auch in der Unruhe ein Wohnsitz<br />

zu finden für kurz. Dann brach etwas über Elaine herein, und sie zog dafür<br />

ihr weißes Kleid aus und war eingeordnet in diese Sekundenwelt eine Sekunde<br />

lang und verlor sich und wurde wiederhergestellt, und da war jetzt Ernst und<br />

eine klare Sonne und weit draußen ein Wolkenvorrat. Und wie sie zueinanderstanden<br />

und wie sie sich ineinanderschlossen und offen wurden davon, so offen.<br />

Sie kochten Tee mit ihrer blauen Campingkartusche, sie setzten den Topf<br />

auf die Gasflamme, das Wasser perlte lange bevor es siedete, sie warfen Teeblätter<br />

in das perlende Wasser, sie aßen Aniskekse zum Tee, es gab kein Ornament,<br />

es gab nur die nackten Dinge, die Schlüssel waren von der Sonne heiß, der<br />

Schlüssel für das ferne Haus, für das Hotelzimmer und der für das Auto hier,<br />

und die Geräte waren noch lange nach dem Teekochen heiß. Sie blieben bis in<br />

die Nacht, das Licht hatte die weißen Felsen mit neuer Unmöglichkeit bemalt<br />

und flüsterte etwas erträglich Einsames in ihr Leben hinein, und vor allem flüsterte<br />

es: weitermachen. Sie machten kleine Dinge, sie lagen nackt auf der nack-


Wir sind nur musikalisch“, gab der Beifahrer zur Antwort, als jemand<br />

gegen die Scheibe klopfte, und dann sagte auch Elaine, die sich zum<br />

Fenster hinüberbeugte: „Das müssen Sie schon verstehen.“ Das<br />

Auto war rubinrot und hatte ein weißes Dach, Elaine schloss das Schiebedach,<br />

wenn sie ihre Musik hörte, sie machte das nur noch eine Stunde am Tag und fuhr<br />

dorthin, wo sie niemanden zu stören glaubte. Der Wagen aus den 70er Jahren<br />

wackelte im Gewitter nicht und blieb auch beim Fahren in der Spur und hatte<br />

alle technischen Prüfungen bestanden. Was störte? Dass man auch hinten auf<br />

den Sitzen tief in die Polster sank? Sie könnten sich dort sogar in einem Stachel<br />

wiegen und die Gewichte neu verteilen und im Stachel unverwundbar sein.<br />

Wovor hätte Elaine sich fürchten sollen? Manchmal stellte sie ihr Auto<br />

absichtlich in den Regen, und sie blieben darin sitzen zu zweit, sodass ein<br />

Schwall über sie rollte und auf ihnen trommelte und an dem ausgebleichten<br />

Lack herunterlief, und durch den Fensterspalt lief Wasser ins Fahrzeug herein.<br />

Dann streckte sie ihren Arm und ließ das Rinnsal in ihre Achselhöhle laufen, wo<br />

es eine kleine Pfütze bildete. Sie gab davon Raymond, sie gab ihm viel, auch von<br />

dem Geruch des Regens. Er gab ihr viel, auch von der größeren Gischt. Und von<br />

außen gesehen waren die Reifen, auf denen das Auto stand, ganz schmal, und die<br />

Klippe hätte abbrechen und stürzen können, aber noch nicht an diesem Tag. Sie<br />

waren an diese fremde Küste geworfen und erkundeten das Landesinnere, und<br />

Elaine war jetzt in einem Zustand, in dem sie überall Götter vermutete, den<br />

Grashalmgott und den für die Disteln, und auch der Distelgott blieb wie immer<br />

unsichtbar und besonders unsichtbar an den Stellen, wo die Wassertropfen jetzt<br />

an den dornigen, geflügelten Stielen saßen. Sie wusste, es gab Zeigerpflanzen,<br />

aber ob diese hier zu den Zeigerpflanzen gehörten, wusste sie nicht, sie sagten<br />

nur: Schau wie schön. Und es war dafür gesorgt, dass kein Sterblicher zu lange<br />

hier bleiben durfte, deshalb gingen sie weiter. Im Widerschein der Wasserpfützen<br />

zitterten sie, und nicht nur dort, aber auch in diesem Zittern durften sie<br />

nicht lange bleiben und gingen und waren stabil, zwei Festkörper, aufrecht.<br />

49<br />

Die Pause<br />

nach dem<br />

Dritten Akt und<br />

kein Ende


50<br />

ten Erde, sie steckten ihre Finger in die Grasbüschel, und es war in diesem<br />

Augenblick nicht klar, wer wen festhielt. Elaine streckte sich, und sie streckte<br />

sich so sehr, dass sie das Gefühl hatte, sogar ihre Knochen mitzudehnen. Aber<br />

kein Mensch darf lange in einem solchen Zustand bleiben.<br />

Sie fanden eine Hütte, sie krochen nicht hinein, lehnten sich nur gegen<br />

die Außenwand, sie rochen an dem Holz und an den Rissen, sie fanden ein Stück<br />

weggeworfene Wolle und legten es unter ihre Decke, die Wolle roch nach Erde<br />

und nach Tieren und nach Farblasur. Sie konnten jederzeit zurück, ihren frischen<br />

Bademantel aus dem Hotelschrank nehmen, mit dem Lift zur Sauna fahren,<br />

sie fielen in einen kurzen Schlaf. Elaine wachte schon nach einer Stunde auf,<br />

sie hielt eine Feder vor Raymonds Nase, um zu sehen, wie er atmete, sie sagte<br />

ein Wort in sein Ohr, um zu sehen, ob er verstand, sie nahm das wilde Grün und<br />

wollte es ihm schenken, sie streifte seinen Ärmel hoch, um den Arm zu fassen.<br />

Die Dunkelheit zeigte ihre Sterne, und das war keine Mangelfläche, im Gegenteil.<br />

Ein Donner hatte eingesetzt, der aber kein Donner war, sondern ein Auftakt<br />

und dann ein Gesang, sie konnten fast jedes Wort aus diesem Gewitter<br />

verstehen. Ein paar Zikaden ganz in ihrer Nähe sangen dazwischen, auch andere<br />

nächtliche Tiere, unsichtbar. Es gab hier kein elektrisches Licht, sie hatten nur<br />

ihre Taschenlampe. Elaine leuchtete auf das nächtliche Gewebe, sie sah die Ausrufezeichen<br />

in den kleinen Dingen, in der Gabelung der Halme, im Steinmoos,<br />

in den Blättern und Gegenblättern und im ausgemergelten Stein. Sie hatten<br />

vom Gewitter den Brennpunkt noch in sich. Elaine konnte nun jeden Satz mitbuchstabieren,<br />

aber darum ging es nicht. „Sie geben schon den Dritten Akt, sie<br />

haben vielleicht erst jetzt die Fenster aufgemacht? Und die jetzt mit der Stimme<br />

spielen und mit dem Körper singen, sie sollen sich zeigen.“ Elaine sprang auf.<br />

Weil sie glaubte, im Stehen deutlicher hören zu können. Sie ging auf und ab, weil<br />

sie glaubte, im Gehen deutlicher hören zu können. Furcht hat feine Ohren, und<br />

die Furchtlosigkeit hat noch feinere Ohren, weil sie auch durchhörig ist wie eine<br />

Membran. Da war ein Straßenschild und eine Halterung, in der es befestigt war,<br />

ein helles, fast klirrendes Geräusch, und durchhörig der Kopf für die Geräusche,<br />

die alle zusammen und jedes für sich: Freude sind. Elaine hatte die aufnehmenden<br />

und weitergebenden Organe, sie blieb einen Augenblick stehen und war<br />

gezogen, die ganze Person, dorthin.<br />

Es war schön, dass in der Ferne Lichter standen, zu denen sie hinfahren<br />

konnten, und die Lichter fassten Menschen ein. Eine Stunde lang war immer<br />

wieder ein Donner in der Luft gewesen, die Musik, jetzt fuhren sie dorthin, zum<br />

Flutlicht und Scheinwerferlicht und Leuchtstoff. Eintrittskarten hatten sie<br />

nicht, aber es war jetzt die Stunde nach dem Dritten Akt, sie streiften die Reihen<br />

entlang. Die Besucher waren geblieben, manche saßen noch auf ihren Stühlen<br />

und auf den Absperrbalken, und mit ihrem Bleiben wollten sie also sagen:<br />

weitermachen. Die Stühle wurden nicht eingeklappt, die Scheinwerfer nicht abgeschaltet,<br />

ein Stück Seil lag am Bühnenrand, niemand fasste es an, manche der<br />

Besucher wischten sich die Augen, einer öffnete seinen Kragen und knöpfte das<br />

Hemd auf, aber er sagte nicht, ob die Brustsperre weiter war oder gelöst.<br />

Keine weiteren Spuren, als sei die Vorstellung nicht gewesen und so als<br />

hörte sie nicht auf. Noch immer waren die äußeren Mauern hell und die Bühne<br />

auch, kein Dach außer dem großen. Die Zugangsbewacherinnen kamen und fragten:<br />

„Worauf warten Sie?“, aber das konnte niemand sagen. Dass die Stunde<br />

nach der Musik nur die Pause zwischen den Akten sei und kein Ende darin. „Sie<br />

fangen gleich an mit dem Aufhören“, hieß es, aber wer hätte das glauben mögen.<br />

Auch hier gab es den Widerschein in Wasserpfützen und darin eine zweite Bühne.<br />

Jetzt still. Und der Stoff war noch ganz unverträumt, hier in seinen Bruchteilen.<br />

Und die Besucher machten, was man gerne macht, wenn man eine Sehnsucht<br />

hat, sie kauften etwas zu essen und zu trinken und balancierten mit gefüllten<br />

Tellern zwischen den Reihen.<br />

Nur jetzt nicht diese Fülle beleidigen. Und weil sie so leicht waren, durften<br />

sie nicht den Boden verlieren, auch dafür war das Seil hingeworfen, verges-


sen und bereitgelegt. Sie tauchten ihre nackten Füße in eine Wasserpfütze. Niemand<br />

baute die Bühne ab, aber die Musiker kamen nicht wieder, sie fuhren dann<br />

in einem offenen Jeep ganz nah an Elaine vorbei, sie hatten noch Schweiß auf<br />

der Stirn und nasse Haare, sie wirkten erschöpft wie nach einem langen Lauf,<br />

sie holten tief Luft und wollten also von der Stunde nach dem Auftritt auch<br />

selbst einen Rest einatmen. Der Jeep fuhr sehr langsam, fast aus eigener Kraft.<br />

Nur jetzt nicht die stille Stunde plündern, denn es könnte sein: Das einem unbeirrbaren<br />

Zuspruch sich hingebende Herz gab sich hin. Elaine rannte schnell<br />

davon, sodass sie nicht mehr wusste, ob sie das gesagt hatte oder nur gedacht.<br />

Dann sanken ihr die Kniegelenke ein, sie schlug mit dem Kopf an etwas Hartes.<br />

Jemand legte ihr ein kühles Tuch auf die Stirn und sagte das Wort Ohnmacht,<br />

jemand schaute sie von weit draußen mit erstaunten Augen an. Jemand legte<br />

ihre Beine auf einen Stuhl. Elaine nahm sich zusammen und stand. Sie hatte sich<br />

für einen Augenblick in die Kniekehlen zusammengezogen, hatte ihre Sprungkraft<br />

gesammelt und stand fest. Zubehör für Idylle und Gerätschaften für Idylle,<br />

aber Lücken darin, sonst hätte sie vielleicht sogar erschrecken müssen. Und<br />

dann standen sie in den Stuhlreihen und Rillen, in ihren Umarmungen, in dieser<br />

aufgewühlten Nacht, zusammengedrängt wie ein Stempel, und Menschen hineingesunken,<br />

andere hervorgestellt, und morgen würde der Stempel anders sein<br />

und übermorgen auch. Die Bäume waren nicht finster, weil es jetzt keine Finsternis<br />

gab. Aufrecht und zugeneigt suchten sie einen Haltepunkt oben, zugespitzt<br />

und biegsam, und in alle Richtungen zeigten sie mit ihren Büscheln.<br />

„Ganz klar“, sagte der Taxifahrer, „der Reifen ist zerschnitten.“ Und er<br />

stieß, wie um sich zu vergewissern, mit seinem Fuß gegen den Vorderreifen von<br />

Elaines Wagen, und obwohl sie verärgert war, sogar sehr verärgert, musste sie<br />

über diese Klarheit doch lachen. Sie ließ sich auf den Ledersitz des Taxis fallen,<br />

taumelnd oder geohrfeigt oder beides. Sie öffnete die Lippen, Luft wurde im<br />

Fahren durch das Fenster hereingeschleudert. „Eine Zumutung“, antwortete sie<br />

am nächsten Morgen im Frühstückszimmer auf die Frage, wie es gewesen war,<br />

„zuerst ein Gewitter, dann eine Ohnmacht, dann war an meinem Wagen ein Reifen<br />

kaputt. Wunderschöne Zumutung, erlitten und erlebt. Heute Abend geht es<br />

weiter, und Eintrittskarten haben wir auch.“ Dabei tupfte sie sich den Mund und<br />

blickte versonnen zum Fenster hinaus und dann fest in die Augen ihres Gegenübers.<br />

Sie lachte, und ihre Augen füllten sich mit Tränen, sie war so schwach,<br />

dass sie davon aufrecht stehen konnte. So schwach, dass sie davon kerzengerade<br />

ging. Und es war jetzt eine Sekunde lang ohrenbetäubend leise im Zimmer.<br />

51<br />

Die Pause<br />

nach dem<br />

Dritten Akt und<br />

kein Ende<br />

Christine Pitzke ist freie Autorin<br />

und lebt in München. Die Germanistin<br />

und gelernte Krankenschwester<br />

erhielt für ihr Prosadebüt Versuche,<br />

den Morgen zu beschreiben (2004)<br />

mehrere Auszeichnungen. 2010 erschien<br />

ihr dritter Roman Der<br />

Sommer, in dem Folgendes geschah.


Fünf Fragen an …<br />

Ulrich Reß<br />

Mime — Das Rheingold<br />

Welchen Faden aus Wagners Erzählung des<br />

Nibelungen-Mythos verfolgen Sie am liebsten?<br />

Durch meine Rollengestaltung des Mime liegt es natürlich<br />

nahe, dass mich dieser Faden am meisten interessiert und<br />

begeistert.<br />

Wer hat Ihnen an welchen Orten<br />

Geschichten erzählt?<br />

Die meisten Geschichten erzählte mir mein Großvater im<br />

Park beim Spazierengehen und Spielen. Er war ein sehr guter<br />

Geschichtenerzähler, denn es versammelten sich viele Kinder<br />

um ihn und hörten zu.<br />

Welche Geschichte hörten Sie in Ihrer<br />

Kindheit am liebsten?<br />

Das ist schwer zu beantworten, aber eine Geschichte, die<br />

mich begeisterte und mit der ich auch mein erstes richtiges<br />

Theatererlebnis hatte, war Peterchens Mondfahrt.<br />

Wem erzählen Sie welche Geschichte gerne<br />

immer wieder?<br />

Meinen vier Kindern erzähle ich oft Geschichten, die mich<br />

noch heute mit meinem leider viel zu früh verstorbenen Vater<br />

verbinden. Meinen Kollegen erzähle ich gerne Geschichten,<br />

die ich in der Oper erlebt habe, zum Beispiel bei Siegfried in<br />

Florenz. Ich musste zu Beginn der Vorstellung als Mime auf<br />

eine Plattform steigen und in 14 Metern Höhe auf meinen<br />

Auftritt warten. Bei einer Vorstellung gab es Feueralarm, und<br />

ich musste fast eine halbe Stunde in der Höhe ausharren, bis<br />

es endlich beginnen konnte. Obwohl ich schwindelfrei bin,<br />

war das keine leichte Aufgabe.<br />

Warum, glauben Sie, erzählen wir uns Geschichten?<br />

Ich glaube, dass es eine gute Möglichkeit ist, unseren Kindern,<br />

Freunden und Kollegen von unseren positiven und<br />

negativen Erlebnissen zu berichten. Je nachdem, was man<br />

erlebt hat, kann jeder die Geschichte nach seiner Lust und<br />

seinem Talent gestalten.<br />

Fünf Fragen an …<br />

„Meinen Kollegen<br />

erzähle ich gerne<br />

Geschichten,<br />

die ich in der Oper<br />

erlebt habe, zum<br />

Beispiel bei<br />

Siegfried in Florenz.<br />

Ich musste als<br />

Mime in 14 Metern<br />

Höhe auf meinen<br />

Auftritt warten.<br />

Einmal gab es<br />

Feueralarm, und ich<br />

musste fast eine<br />

halbe Stunde dort<br />

ausharren.“


Fünf Fragen an … 53<br />

Blindtext<br />

Catherine Naglestad<br />

Brünnhilde — Siegfried<br />

„Die Geschichten,<br />

die mir immer<br />

und immer wieder<br />

erzählt worden<br />

sind, sind heute<br />

ein Teil von mir.<br />

Wenn ich sie nur<br />

gelesen oder nur<br />

einmal gehört<br />

hätte, hätte ich sie<br />

vielleicht interessant<br />

gefunden,<br />

aber sie wären<br />

nicht Teil meiner<br />

jetzigen Identität.“<br />

Welchen Faden aus Wagners Erzählung des<br />

Nibelungen-Mythos verfolgen Sie am liebsten?<br />

Wagner webt ein verworrenes Netz aus all seinen Fäden – mir<br />

gefällt es aber, darin die Parallelen, oder Verbindungen, zu<br />

Mythen und Legenden aus anderen Kulturen und Zeiten zu<br />

entdecken.<br />

Wer hat Ihnen an welchen Orten<br />

Geschichten erzählt?<br />

Wie bei vielen Kindern hat meine Mutter mir abends vor dem<br />

Einschlafen Geschichten erzählt. Ich habe auch gern zugehört,<br />

wenn sie Familiengeschichten erzählt hat. Die Geschichten,<br />

die mir immer und immer wieder erzählt worden sind, sind<br />

heute ein Teil von mir. Wenn ich sie nur gelesen oder nur einmal<br />

gehört hätte, hätte ich sie vielleicht interessant gefunden,<br />

aber sie wären nicht Teil meiner jetzigen Identität.<br />

Welche Geschichte hörten Sie in Ihrer<br />

Kindheit am liebsten?<br />

Meine liebsten Kindergeschichten sind:<br />

The Chronicles of Narnia (C. S. Lewis)<br />

Little Women (Louisa May Alcott)<br />

The Secret Garden (Frances Hodgson Burnett)<br />

Wem erzählen Sie welche Geschichte gerne<br />

immer wieder?<br />

Ich habe die Geschichten gern, die ich beim Singen „erzähle”.<br />

Was gesprochene Geschichten angeht, ziehe ich das Zuhören<br />

vor.<br />

Fünf Fragen an …<br />

Warum, glauben Sie, erzählen wir uns Geschichten?<br />

Geschichten, Mythen und Legenden sind eine essenzielle<br />

Hilfe dabei, zu definieren, wer wir sind, woher wir kommen,<br />

und auch dabei, die universellen Wahrheiten zu finden, die<br />

uns mit uns selbst verbinden, mit einander, mit Träumen und<br />

mit dem Göttlichen. Mythen hat man in unserer Gesellschaft<br />

abgewertet als etwas von der Wahrheit Separates. Ich glaube,<br />

dass mythische Wahrheiten im Grunde die Geschichte<br />

hinter der Geschichte sind. Warum sonst existieren sie in jeder<br />

uns bekannten Kultur?<br />

Übersetzung Maria März


Mädi<br />

von Händl Klaus<br />

L<br />

utz sah zu seinem Vater auf. Gernot war<br />

die Größe selbst. In der Wohnung, die sie<br />

von den Schwiegereltern hatten, musste dieser<br />

starke Mann sich ständig ducken, um nicht anzustoßen.<br />

Dabei war sie sehr geräumig. Doch<br />

er sprengte sie beinahe, so gewaltig trat er auf.<br />

Eigentlich glitt er dahin, so geschmeidig war<br />

sein Gang. Seine Schuhe fertigte man eigens<br />

für ihn an; im Handel fand man keine, die ihm<br />

passten. Als Kollege stieg man für gewöhnlich<br />

in die Kluft des Vorgängers. Als er anfing,<br />

gab man ihm von vornherein die größte. Da<br />

krachten die Nähte, der Ausschnitt riss ein.<br />

Die Schneiderin kam und zitterte überm Gemächt,<br />

das auch viel zu groß war. Sie half ihm<br />

heraus. Er war ein Mann der Frauen. Und er<br />

war ein lustiges Haus, das ständig seine Witze<br />

riss. In der Runde bog man sich, wenn er die<br />

Kollegen parodierte. Zu ihrem Gaudium ließ<br />

er die Muskeln spielen. Die Brust konnte im<br />

Rhythmus eines Lieds, das sie erraten mussten,<br />

zucken. Er war der Schönste unter ihnen.<br />

Sie zogen ihn zwar damit auf, aber er stach sie<br />

aus. Im Polizeikalender, der sie alle halbnackt<br />

zeigte, war ihm der Dezember vorbehalten. Er<br />

war stolz auf sich, den Körper. Zuhaus warf er<br />

sich einen treuen Blick zu, wenn er durch den<br />

Flur ging, wo der Kleiderspiegel hing. Auf der<br />

Straße stutzte man, wenn man ihm begegnete.<br />

Er war ergreifend schön.


S<br />

ein Sohn, fünf Jahre alt, war zart, ein Mädchen<br />

fast, mit bleicher Haut und dünnem<br />

Haar. Er piepste, wenn er sprach. Gernot<br />

lachte fast. Die Wut war doch zu groß. Das<br />

Kind war ihm zu schwach, ein Ärgernis, das<br />

er, wo es nur ging, schroff in seine Schranken<br />

wies. Ihm schwante, dass ein Unglück seinen<br />

Lauf nahm. Heimlich liebte Lutz den ungerechten<br />

Vater, der ihn nicht verstand. Er war<br />

gebannt von Vaters weichem Mund. Er sah<br />

darin ein heimliches Versprechen. Der Vater<br />

wusste selbst nicht, was er stumm versprach,<br />

doch mit den Jahren käme es gewiss zu Zärtlichkeiten<br />

für den großen Sohn, der dann ein<br />

Professor wäre, reich genug, den Vater zu beschämen.<br />

Heute stand Lutz flennend da, weil<br />

er Fußball spielen sollte mit den groben Buben<br />

aus der Nachbarschaft. Er wollte nicht. Er<br />

hatte Angst vor ihren Tritten. Heulend stand<br />

er vor dem fassungslosen Vater. Die Mutter<br />

nahm das Kind in Schutz. „Unser Lutz singt<br />

doch so schön.“ Gernot schwieg fassungslos.<br />

Lutz spürte, dass er ihn verlor. Um ihn zu erfreuen,<br />

um ihn für sich einzunehmen, bat er<br />

seine Eltern nach dem Abendessen feierlich<br />

ins Wohnzimmer: „Zur Sportveranstaltung!“<br />

Die Mutter lächelte bereits. „Applaus!“, erbat<br />

das Kind. Gernot runzelte die Stirn. Die Mutter<br />

klatschte stürmisch in die Hände. Lutz<br />

trug die lange Unterhose für den Winter. Sie<br />

kam ihm athletisch vor. Mitten auf dem Teppich<br />

baute er sich auf. Er blickte seinen Vater<br />

zitternd an, verneigte sich, ging in die Hocke,<br />

zog die Arme an und ließ sich ängstlich nach<br />

und nach hintüber plumpsen. Mit den dünnen<br />

Beinchen ruderte er in der Luft. Er wollte eine<br />

Rolle rückwärts zeigen, doch es fehlte ihm an<br />

Schwung; so blieb er auf dem Rücken liegen,<br />

57


stemmte seine Hände in die Hüften, drückte<br />

das Becken in die Höhe und streckte halb die<br />

Beine: eine wackelige Kerze. Er stand auf.<br />

„Kerze!“, rief er schüchtern und verbeugte<br />

sich erneut. Die Mutter applaudierte. Der Vater<br />

verschränkte die Arme. Er schaute böse<br />

drein. Unverdrossen trippelte das Kind auf<br />

seiner weichen Bühne feierlich umher. Das<br />

Getrippel zeigte es als Kunst. Schließlich<br />

stand es schnaufend still und verneigte sich<br />

noch einmal. Wieder klatschte seine Mutter<br />

eifrig. Gernot schwieg. „Es war für dich, mein<br />

lieber Vater, als ein Gruß gedacht“, rief weich<br />

das Kind, „von deinem Sohn.“ Er verbeugte<br />

sich so tief, dass er das Gleichgewicht verlor<br />

und umfiel. „Sohn“, stieß Gernot aus. Das<br />

Kind stand wieder auf. Der Vater sprach sein<br />

Urteil eisig aus. „Mich hast du verloren, weibischer<br />

Bub. Es ist zum Schämen. Ein Mädchen<br />

bist du.“ Dem Kind wurde schwarz, es<br />

sank auf den Teppich. Die Mutter warf sich<br />

schluchzend darüber. „Du wolltest ein Mädchen,<br />

da hast du dein Mädchen!“, schrie Gernot.<br />

„Dein Sohn ist ein Weib.“ Sie nickte,<br />

denn er hatte recht. Gernot brauchte eine<br />

Hure, um sich zu beruhigen. Die Mutter blieb<br />

mit Lutz allein. Sie schliefen wimmernd ein.<br />

Es gab kein Halten mehr. Der Vater sprach<br />

es offen aus, als er Lutz zum Schwimmkurs<br />

brachte: „Mädi!“ Vor den andern Kindern<br />

hielt er eine kleine Rede. „Geht mir mit dem<br />

Mädi sorgsam um!“ Auch die Eltern warnte<br />

er: „Das Mädi ist empfindlich! Hört nur,<br />

wie verzagt es spricht. Gleich bricht es uns in<br />

Tränen aus, das weinerliche Ding.“ Die Nachbarn<br />

nickten mitleidig, Frau Kölbl strich dem<br />

Buben durch das dünne Haar. Lutz wurde<br />

dunkelrot vor Scham. Er war kein Bub, sie


sahen es. Es würgte den Buben. Er verging.<br />

Sein Leben hieß Mädi. Man äffte ihn nach,<br />

man piepste wie er. „Mädi, komm her. Braves<br />

Mädchen!“ Auch die Mutter gab klein bei. Es<br />

sei nicht schlimm, es sei doch schön, als Mädchen<br />

durch die Welt zu gehn, ermunterte ihn<br />

seine Lehrerin, als sie ihn einschulte. Er war<br />

ein Bub, zwar wehleidig, und ängstlich ging er<br />

durch sein zartes Leben, vorsichtig, ein Mädchen,<br />

das sich fürchtete. Er hatte dazu keinen<br />

Grund. Das Leben meinte es ja gut.<br />

59<br />

D<br />

Den Vater traf es hart. Ein Husten schoss<br />

ihm ins Kraut. Schon lag er sterbenskrank.<br />

Binnen zweier Wochen war aus dem<br />

großen Gernot ein hässlicher Alter geworden,<br />

hohlwangig und scharfkantig, eingefallen<br />

insgesamt. Das Fleisch verschwand, die<br />

Haut hing schlaff und leichengrau von seinen<br />

Knochen, leere Säcke. Sein Gesicht war<br />

wie verkohlt, von schwarzen Flecken, die auf<br />

dem hinfälligen Gewebe schmerzlos sprossen,<br />

gänzlich überwuchert. Diesen Schrecken<br />

verschwiegen sie ihm. Wer ihn sah, musste<br />

ihn für das Opfer eines Brandes halten; man<br />

stockte und belog ihn fromm: Noch immer<br />

sei er doch der schöne Mann, und nach wie<br />

vor sehe man berückt ihn an. Die Kollegen<br />

schluckten leer. Wer tapfer war, erzählte einen<br />

Witz. Draußen weinten sie. Er wollte<br />

heim. Dem gab man nach. Er sollte friedlich<br />

sterben. Ein Pflegebett stand riesenhaft im<br />

Wohnzimmer. Die Frau und das verfluchte<br />

Kind versorgten ihn, sie pflegten ihn. Sie flößten<br />

ihm die Nahrung ein und lagerten ihn um,<br />

sie schmierten seine Glieder ein, und sie redeten<br />

mit ihm, leichthin, um ihn zu beruhigen.<br />

Weil der Vater Kopfweh hatte, musste man so


leise sein, als stünde alles still. Lutz, das Mädi,<br />

musste sich auf Zehenspitzen nähern und den<br />

Vater sanft befragen. Es galt, ihm einen jeden<br />

Wunsch nach Kräften zu erfüllen. Mit seinen<br />

großen Augen, die tief in den Höhlen lagen,<br />

sah der Vater seinen Sohn flehentlich und<br />

dankbar an. Er bat um kalten Salbeitee. Der<br />

Hals war vollständig entzündet. Jetzt schämte<br />

sich der Sterbende vor seinem weichen Kind.<br />

Lutz reichte ihm die Schnabeltasse. Dankbar<br />

röchelte der Vater. Mädi nickte. War die Mutter<br />

in der Arbeit, lag es am Kind, den Vater<br />

zu pflegen. Die Mutter ermahnte noch einmal<br />

den Sohn, und Mädi hatte viel Geduld. Er war<br />

mit ihm allein. Heut sprach er nicht. Er freute<br />

sich. Sein Augenblick der Rache war gekommen.<br />

Um den Vater zu erschrecken und am<br />

Ende auszulöschen, musste er ihn spiegeln.<br />

Lutz schob einen großen Stuhl aus der Küche<br />

in den Flur. Ihn erklomm er, um den Spiegel<br />

auszulösen, hob ihn an, rüttelte dran, zog ihn<br />

aus der Verankerung und, glücklich keuchend,<br />

an den Rändern, um das Glas nicht mit den<br />

Spuren seiner schweißverklebten Hände zu<br />

beschädigen, zu sich. Sein Vater lief ihm nicht<br />

davon. Er ließ sich Zeit, und es gelang: Er<br />

schob den schweren, großen Spiegel Schritt<br />

für Schritt ins Krankenzimmer, bis er Vaters<br />

Bett erreichte. Abgewandt lag er in trügerischem<br />

Schutz; Mädi ging ums Bett und hielt<br />

ihm jetzt das Ganze vor. Ein Wort noch, piepsend:<br />

„Schau.“ Gernot öffnete die Augen. Er<br />

sah alles. Doch im Spiegel lag ein Fremder,<br />

auch ein Kranker, den der Vater nicht erkannte,<br />

wohl, weil er verbrannt war. Traurig winkte<br />

er ihm zu, der ihm traurig zuwinkte.<br />

Der österreichische Künstler<br />

Händl Klaus verfasst Theaterstücke<br />

und Opernlibretti. Seine Stücke<br />

wurden vielfach ausgezeichnet,<br />

ebenso sein erster Film März aus<br />

dem Jahr 2008. In Zusammenarbeit<br />

mit der Musicbanda Franui entsteht<br />

derzeit das Stück Meine<br />

Bienen. Eine Schneise für die Salzburger<br />

Festspiele 2012.


Fünf Fragen an … 61<br />

Catherine Wyn-Rogers<br />

Erda — Das Rheingold<br />

„Wenn die<br />

Erwachsenen sich<br />

Anekdoten<br />

erzählten, habe<br />

ich immer versucht,<br />

unsichtbar im<br />

Raum zu sein.“<br />

Welche Geschichte hörten Sie in Ihrer<br />

Kindheit am liebsten?<br />

Ein Buch namens The Gauntlet [etwa „Der Fehdehandschuh“,<br />

d. Red.] von Ronald Welch – die Geschichte eines<br />

Schuljungen aus der heutigen Zeit, der seinen Freund in<br />

Wales besucht, der im Schatten der verfallenen Burg Carreg<br />

Cennan lebt. Er schläft eines Tages am Straßenrand ein und<br />

erlebt eine Zeitreise in die Blütezeit der Burg, den Zeiten der<br />

Marcher Lords im 14. Jahrhundert, als die Waliser sich gegen<br />

die englische Herrschaft auflehnten. Es ist eine wundervoll<br />

lebhafte Wiedererschaffung dieser Zeit und spielt in einer der<br />

romantischsten Burgen von Wales – einen Ort, den ich mittlerweile<br />

besucht habe und der sehr genau das hält, was die<br />

Beschreibung im Buch verspricht.<br />

Welchen Faden aus Wagners Erzählung des<br />

Nibelungen-Mythos verfolgen Sie am liebsten?<br />

Brünnhilde – ihre Entwicklung von der dreisten jungen Kriegerin,<br />

die sich verliebt und dann diese Liebe durch Verrat<br />

verliert, bis hin zu ihrem Ritt in die Flammen von Walhall ist<br />

so kraftvoll und bewegend.<br />

Wer hat Ihnen an welchen Orten<br />

Geschichten erzählt?<br />

Meine Großeltern und Eltern haben mir immer Geschichten<br />

über sich und ihre Familien und Freunde erzählt. Wenn die Erwachsenen<br />

sich Anekdoten erzählten, habe ich immer versucht,<br />

unsichtbar im Raum zu sein, um ihnen zuhören zu können.<br />

Mein Onkel kannte lauter lustige Geschichten aus seiner<br />

Zeit in den USA, als er beim Fernsehen arbeitete, das damals<br />

noch in den Anfängen war. Die Risiken einer Liveübertragung<br />

führten zu viel unfreiwilliger Komik.<br />

Fünf Fragen an …<br />

Wem erzählen Sie welche Geschichte gerne<br />

immer wieder?<br />

Geschichten aus früheren Tagen meines Vaters und meiner<br />

Mutter, als sie Kinder waren, im Krieg, an der Universität und<br />

im Krankenhaus, in dem meine Mutter gearbeitet hat; die Lebensgeschichten<br />

meiner Großeltern – die Eltern meines Vaters<br />

kamen aus Wales, der Vater meiner Mutter aus Birmingham,<br />

und ihre Mutter war gebürtige Russin. Wem ich die<br />

Geschichten erzähle? Jedem, der mir zuhört! Und ich fürchte,<br />

ich erzähle auch gern Witze …!<br />

Warum, glauben Sie, erzählen wir uns Geschichten?<br />

Um unsere Herkunft zu vermitteln und uns selbst stärker<br />

begreiflich zu machen; um Beispiele zu geben, wie andere<br />

Leute mit Problemen oder Situationen umgehen; um zu unterhalten<br />

und zu amüsieren, natürlich. Letztlich ist es das,<br />

was wir als darstellende Künstler die ganze Zeit tun – wir<br />

erzählen die Geschichte, die den Komponisten zu der Oper<br />

inspiriert hat.<br />

Übersetzung Maria März


Eigentlich waren Frau Brodericks Töchter keine Enttäuschung, schon allein deshalb,<br />

weil man die eigenen Kinder schlecht als solche bezeichnen konnte. Erst<br />

recht nicht, wenn sie nicht drogenabhängig oder kriminell geworden und zu keiner<br />

Sekte gegangen waren. Die dreiundzwanzig Jahre alte Fricka studierte Informatik<br />

in Hamburg; die achtundzwanzigjährige Cosima war in Berlin verheiratet<br />

und bekam bereits ihr drittes Kind. Beide besuchten sie eher selten, aber sie<br />

riefen jedes Wochenende an, und dann erzählten sie pflichtgemäß aus ihrem Leben.<br />

Sie berichteten von dreidimensionalen Räumen in Computerspielen, von<br />

Speicherkapazitäten und neuen Lieblingsbars, oder von Babyschwimmen, Schulkameraden<br />

und Windpocken. Beide bezeichneten sich als glücklich. Sowohl Cosima<br />

wie auch Fricka nahmen sich wöchentlich eine Stunde Zeit, um mit ihrer<br />

Mutter zu telefonieren. Es war niemals Magda Broderick, die die Gespräche beendete,<br />

weil sie immer hoffte, es käme endlich etwas zur Sprache, das Fricka und<br />

Cosima als ihre Kinder erkennbar machte.<br />

Erfreulich war zwar, dass beide ihr monatlich eine kleine Geldsumme<br />

schickten, sodass sie sich nicht mit allzu vielen untalentierten Klavierschülern<br />

abplagen musste, aber Magda konnte sich einfach nicht mit dieser Fadheit, Angepasstheit,<br />

Durchschnittlichkeit abfinden; sie konnte nicht glauben, dass ihre stabilen,<br />

zufriedenen Kinder so einfach auf wirkliches, ekstatisches Glück verzichteten.<br />

Und darum taten sie ihr schrecklich leid. Nach der musischen und<br />

künstlerischen Erziehung, die Fricka und Cosima von klein auf genossen hatten,<br />

hätte sie doch etwas anderes erwartet. Was genau, konnte und wollte sie gar<br />

nicht sagen – etwas Gewagteres, Exzentrischeres, Spannenderes eben.<br />

Fricka rief sonntags um zehn Uhr an, Cosima um elf, pünktlich wie Linienbusse,<br />

und beide verabschiedeten sie mit zärtlichen Phrasen. Nach den Telefonaten<br />

überdachte Magda unerbittlich ihr Leben und fragte sich verzweifelt,<br />

was sie bei ihnen falsch gemacht hatte. Bereits im Mutterleib hatten Frau Brodericks<br />

Töchter anspruchsvolle Musik gehört. Zu Cosimas siebtem Geburtstag<br />

waren sie durch Neuschwanstein gewandelt, wo sich die Mädchen bei den Kinder-Tagen<br />

Kostüme und riesige Perücken im Stil von König Ludwig II. anziehen<br />

und sich mit Fächern Luft zuwedeln durften. Es gab mit Sicherheit sonst<br />

kaum Geschwister, die mit zehn Jahren den gesamten Ring in verschiedenen<br />

Inszenierungen kannten. Wenn man sie damals fragte, welcher denn der beste<br />

sei, dann antwortete Fricka „Kupfer“ und Cosima, den Zeigefinger ihrer Mutter<br />

nachahmend, „ich sage nur Knappertsbusch, musikalisch gesehen“. Und jetzt?<br />

Es war ein Trauerspiel, dass ihr Mann, der hochbegabte Wagner-Forscher E. E.<br />

Broderick, so früh hatte sterben müssen. Kurz vor seinem fünfzigsten Geburtstag<br />

lief er, verschusselt wie er war, vor ein Auto. Und das, wo er gerade Tage<br />

zuvor endlich die Doktorarbeit fertiggestellt hatte, die ihm den verdienten<br />

Durchbruch verschafft hätte. Sie hatten sich kennengelernt, als Magda von ei-<br />

Die Rheintöchter<br />

Silke Scheuermann<br />

64<br />

Die<br />

Rheintöchter<br />

von Silke<br />

Scheuermann


Eigentlich waren Frau<br />

Brodericks Töchter<br />

keine Enttäuschung, schon<br />

allein deshalb, weil<br />

man die eigenen Kinder<br />

schlecht als solche<br />

bezeichnen konnte. Erst<br />

recht nicht, wenn sie nicht<br />

drogenabhängig oder<br />

kriminell geworden und<br />

zu keiner Sekte gegangen<br />

waren.<br />

65<br />

Cosima<br />

Fricka<br />

nem Freund versetzt worden war und hilflos ohne Karte bei der Premiere des<br />

Siegfried im Foyer stand, fassungslos und vernichtet vom Kleingeist der Menschen.<br />

Er hatte als Kartenabreißer gejobbt, sich aber als ehrgeiziger Student zu<br />

erkennen gegeben, und sie waren sofort über Wagner ins Gespräch gekommen.<br />

Er mochte ihre lange, schmale Gestalt, ihre ebenso längliche, gerade Nase und<br />

die theatralische rotblonde Mähne, die sie am liebsten über ein auffällig weinrotes,<br />

selbst genähtes Samtcape ausbreitete. Seitdem hatte er sie regelmäßig<br />

umsonst in die Oper hineingeschmuggelt – und im Gegenzug hatte sie ihn in ihr<br />

Leben gelassen. Magda musste jedes Mal weinen, wenn sie an die zynische Tatsache<br />

dachte, dass sein letzter Gelegenheitsjob auf Erden ein Vortrag beim<br />

„Tag der offenen Tür“ des Nordfriedhofs gewesen war, über Wagners Ewigkeitsmotiv.<br />

Manchmal war er wütend geworden und hatte sie angeschrien, aber<br />

insgesamt war er ein hingebungsvoller Ehemann gewesen; jedes seiner Gefühle<br />

stellte für sich genommen einen tiefsinnigen Akt dar, wie einen musikalischen<br />

Kontrapunkt, den man einfach als dialektisch empfinden musste. Nun, zumindest<br />

war es ein Glück, dass er nicht mehr miterleben musste, wie seine Cosima<br />

einen Mann heiratete, der eine Rheintochter für eine Flugabwehrrakete aus<br />

dem Zweiten Weltkrieg hielt.<br />

Das Telefon noch in der Hand, sah Magda Broderick aus dem Fenster<br />

auf die malerische Bornheimer Landstraße. Das Appartement war winzig, aber<br />

sie mochte das Viertel mit seinem bohemehaften Charme. Außerdem besaß die<br />

Wohnung eine großzügige Diele, wo ihr Klavier allseits sichtbar stand, sowie<br />

ein großes Wohnzimmer, das wie gemacht war für ihre Künstlerpartys und ihr<br />

wöchentliches Zusammentreffen mit dem Hörkränzchen, wie die sechs Damen<br />

sich nannten, ironisch auf die gutbürgerliche Tradition der Lesezirkel anspielend.<br />

Heute würden sie allerdings nur zu viert sein, Lisbeth und Katharina, die<br />

sich neuerdings auch für bildende Kunst interessierten, waren bei Aquarellkursen<br />

in der Thüringischen Sommerakademie.<br />

Sie arrangierte die hohen Chrysanthemen, die sie sich geleistet hatte,<br />

weil Schönes sein musste, und setzte das Goldfischglas daneben, in dem Woglinde,<br />

Wellgunde und Floßhilde zufrieden ihre Runden drehten. Jedem, der<br />

zum ersten Mal hier war und ihre Haustiere bewunderte, erklärte sie, dass der<br />

Goldfisch als das erste Tier gelten musste, das Menschen gezüchtet hatten,<br />

ohne sich davon irgendeinen wirtschaftlichen Nutzen zu erhoffen, denn dieser<br />

Gedanke imponierte ihr irgendwie. Ihre ignoranten Töchter hatten natürlich<br />

nur gemurmelt, dass sie ja mit ihren Namen dann noch Glück gehabt hätten.<br />

Während sie Sandwiches zubereitete und die Torte in großzügige Stücke<br />

schnitt – genau wie die eingeladenen Künstler waren auch ihre Freundinnen<br />

immer sehr, sehr hungrig und durstig –, sang sie leise vor sich hin.


Russisches gewesen, weil dies das liebste Reiseland des Geburtstagskindes, Gaston<br />

Kurschner, war. Kurschner, ein Tenor, wurde sechzig Jahre alt, und obgleich das<br />

etwas alt war, um noch als „talentiert“ und „große Hoffnung“ durchzugehen, wurde<br />

er doch, rein aus Gewohnheit, von allen so bezeichnet. Auf dem Höhepunkt der<br />

Feier war Kurschner während einer Arie in Tränen ausgebrochen – und Magda<br />

hatte ihn in diesem Moment als Seelenverwandten erkannt. Sie hatte den ganzen<br />

Abend nicht von ihm abgelassen, so stark hatte ihr imponiert, dass er einerseits so<br />

mitgenommen aussah, sich andererseits aber auch mit viel Gel bemüht hatte, seine<br />

wenigen Haare über die Glatze zu kämmen. Die Nacht hatten sie bei ihr verbracht,<br />

weil er sich so das Hotel sparen konnte, wie er mit der großen Offenheit der Freigeister<br />

zugegeben hatte. Am nächsten Morgen hatte er sich fünfzig Euro geliehen,<br />

um etwas zum Frühstücken zu kaufen. Magda, die es wunderbar und exzentrisch<br />

fand, für fünfzig Euro zu frühstücken, hätte heute noch auf ihn gewartet, wenn sie<br />

nicht einen Termin zur Rückenmassage gehabt hätte. Danach hatte er sich weder<br />

bei Nelli noch bei ihr je wieder gemeldet. Ach, die Kunst war voller Exzentriker!<br />

„Da träumt sie wieder von dem hübschen Gaston!“, stichelte Nelli. „Jedenfalls<br />

soll es nicht unsere letzte Party gewesen sein. Nun, wir wollen das wiederholen,<br />

im Januar. Wenn Weihnachten vorbei ist, und alle merken, sie haben<br />

noch gar nicht richtig gefeiert!“<br />

„Was für eine hübsche Idee“, sagte Frau Raisin.<br />

„Vielleicht kann jeder von euch etwas zu trinken mitbringen? Und vielleicht<br />

was zu essen? Unser Caterer ist nicht mehr so gut wie ehedem, finde ich.“<br />

„Ja“, sagten beide gleichzeitig, und Magda Broderick überlegte, ob sie Fricka oder<br />

Cosima um eine kleine Sonderzuwendung bitten sollte. Diesmal vielleicht am<br />

besten Fricka.<br />

„Ich gehe kurz in die Küche und mache noch Kaffee“, sagte sie fröhlich und<br />

stand auf.<br />

Kaum hantierte sie in ihrer winzigen, aus Flohmarktstücken zusammengestellten<br />

Küche herum, als unvermittelt Friederike-Emilia neben ihr auftauchte –<br />

hätte Magda bemerkt, dass die Neue ihr folgte, sie hätte sie aufgehalten. Sie<br />

passten beide kaum zwischen Kühlschrank und Spüle, aber Friederike-Emilia<br />

schien das nicht zu stören.<br />

„Magda“, sagte sie mit rotem Gesicht, „entschuldige, aber das ist die einzige<br />

Gelegenheit, um kurz mit dir alleine zu reden. Ich habe gesagt, ich helfe dir<br />

beim Kaffeekochen.“<br />

Magda Broderick sah auf die brodelnde Maschine. „Nun ja, sehr viel zu helfen gibt<br />

es da nicht.“<br />

„Du hast doch auch zwei erwachsene Kinder ...“ Magda nickte unentschlossen.<br />

„Sag, hatte eines davon einmal ... psychische Probleme?“ Sie<br />

flüsterte. Magda schwieg, und Friederike-Emilia sprach heiser weiter,<br />

Die Rheintöchter<br />

Dem herrlichsten Wälsung<br />

Weis ich mein Erbe nun an<br />

Wachend wirkt<br />

Dein wissendes Kind<br />

Erlösende Weltentat<br />

Silke Scheuermann<br />

Ach, wie gerne wäre sie Sängerin geworden. Sie konnte das italienische R rollen<br />

und lernte rasch Text auswendig. Aber ihre Stimme war dünn, und auf der Bühne<br />

sah sie immer irgendwie verloren aus. Zumindest war sie hier in der Wohnung die<br />

Herrscherin, und die nächsten zwei Stunden lang war sie allerbester Laune.<br />

Die drei Freundinnen kamen kurz nacheinander herein. Die älteste war<br />

Frau Raisin, eine Halbfranzösin, die sich bemühte, trotz der vierzig in Deutschland<br />

verbrachten Jahre noch ihren Akzent beizubehalten; sie wurde traditionell von allen<br />

gesiezt. Dann klingelte Nelli, die Wortführerin der Gruppe, die mit ihrem Mann<br />

eine echte Wagner-Koryhäe in der Hinterhand hatte. (Fred hatte mehrere populäre<br />

psychoanalytische Handbücher verfasst, die Nelli abgetippt hatte und zu großen<br />

Teilen auswendig konnte.) Friederike-Emilia mit dem ständig verschreckten Ausdruck<br />

im hübschen Gesicht war die Neueste im Kränzchen.<br />

Alle drei begrüßten erst Floßhilde, Woglinde und Wellgunde, legten dann ab<br />

und traten an den herrlich gedeckten Tisch, wo sie sofort in angeregtes Geplauder<br />

verfielen.<br />

Nelli, die drei Tage wegen einer Grippe im Bett verbracht hatte, sprach als<br />

Erste: „Ich glaube, dass ich den liebeserwachenden Siegfried und die Erweckung<br />

Brünnhildes erst jetzt richtig verstehe. Ich habe nicht gelebt in den<br />

letzten Wochen, für mich war immer ‚Der Zweite Tag‘.“<br />

Und Frau Raisin fing mit glänzenden Augen, leise und in makellosem Deutsch an<br />

zu singen: „Mutter, Mutter! Gedenke mein! Dass ich selbst erwache, muss die Maid<br />

ich erwecken!“<br />

Sie war die einzige, die eine einigermaßen hübsche Stimme hatte, das mussten<br />

die anderen anerkennen. Magda Broderick bemerkte zufrieden, wie gut<br />

allen die Käsetorte schmeckte, sogar Frau Raisin, die mit Essen sehr eigen<br />

war, hatte sich noch vor der Gesangseinlage ein zweites Stück auf den Teller<br />

gelegt und ließ es während ihres Vortrags nicht aus den Augen, sodass es<br />

aussah, als sänge sie der Torte etwas vor.<br />

Nelli fragte: „Erinnert ihr euch an die Party bei uns, im August? Die wir zu Ehren<br />

von Gaston Kurschner gaben?“<br />

Alle, bis auf Friederike-Emilia, die da noch nicht zum Kränzchen gehört<br />

hatte, nickten, denn sie erinnerten sich nur zu gut. Nelli hatte sich mit dem Kaviarpumpernickel<br />

und dem Borschtsch selbst übertroffen. Das Motto war irgendetwas


Magda Broderick sagte rasch: „Naja, das ist er sicherlich nicht“, und stand dann<br />

auf, um das Rheingold-Vorspiel anzumachen, die schnelle Aufnahme von Pierre<br />

Boulez, die das Chromatische so schön herausholte.<br />

Nelli, die sich bisher noch nicht geäußert hatte, rührte, den Blick auf die<br />

Tischdecke gerichtet, in ihrem Kaffee. Wagners Eröffnung auf dem tiefen Kontra-Es<br />

war zu hören.<br />

„Psst“, machte Nelli und schloss die Augen. Wie in Trance sprach sie dann:<br />

„Das tiefe Kontra-Es. Dieses Es, das aus unendlichen Weiten herüberweht,<br />

wird ganze viereinhalb Minuten lang wie eine endlose Urweltharmonie dargeboten.<br />

Der Zuschauer sitzt im abgedunkelten Saal. Es gibt keinen Raum und<br />

keine Zeit, nur ein Strömen. Das ist ein Zustand vor der Geburt. Das ist ein<br />

Frieden, nach dem jeder sich mehr oder weniger sehnt, und dein Sohn, Friederike-Emilia“<br />

– jetzt wurde ihre Stimme feierlich – „dein Sohn sehnt sich<br />

danach. Er will grenzenlos, zeitlos und einzigartig sein – wenn er manisch ist,<br />

fühlt er sich so, ist er depressiv, wird ihm wieder bewusst, dass er in einem<br />

Irrglauben verfangen war.“<br />

Frau Raisin und Magda Broderick sahen sich an: Also wirklich, Nellis analytisches<br />

Talent war unübertroffen!<br />

„Aber wir haben eine gute, vertraute Beziehung zueinander, Bruno und ich.<br />

Er versteht sich auch gut mit seinem Vater“, sagte Friederike-Emilia leise.<br />

„Das hat nichts zu bedeuten. Guck dir die Wotansfamilie an, die sind pathologisch<br />

vertraut miteinander, wie du es nennst. Die Psychen der Familienmitglieder sind<br />

überhaupt nicht richtig voneinander abgegrenzt. Und Abgrenzung ist wichtig! Sie<br />

ist das A und O!“<br />

Nelli sah zufrieden in die Runde. Keiner wagte mehr zu widersprechen. Nelli<br />

war jetzt in Fahrt gekommen, endlich konnte sie ihre Freundinnen einmal ausgiebig<br />

über die Psychopathologie der Wotansfamilie aufklären. Als mehrfach das Wort<br />

„anal“ fiel, sahen die drei leider aus, als würden sie sich am allerliebsten augenblicklich<br />

in Luft auflösen.<br />

„... und Siegfried. Nun, Siegfried besitzt durchaus ein autonomes Selbst. Wotan<br />

könnte es jedoch vereinnahmen, indem er den Held stellvertretend für<br />

die verdrängten Separationswünsche des Großvaters auslebte, das heißt, sich<br />

stellvertretend für Wotan der Rache der sitzen gelassenen<br />

Mutter stellt. Wir haben es hier mit einer transgenerationalen<br />

Delegierung von ungelebten Individuationsimpulsen zu tun,<br />

ihr versteht?“<br />

Magda, die inzwischen den Faden verloren hatte und gar nicht<br />

mehr versuchte, den Erläuterungen zu folgen, war inzwischen völlig<br />

verärgert. Wieso konnte es nicht einmal eine ihrer Töchter sein, die<br />

Nelli zu solchen Ergüssen anregte!<br />

Woglinde<br />

Wellgunde<br />

Floßhilde<br />

hastig, als habe sie die Rede eingeübt: „Unser Sohn ist zwanzig, und wir<br />

sind sicher, das heißt, wir ... wissen es ..., dass er manisch-depressiv ist.<br />

Er muss Lithium nehmen, und das macht ihn völlig apathisch, er wird<br />

dick und bekommt richtige Brüste, und dann setzt er es ab, und es beginnt<br />

wieder eine manische Phase ... er zieht dann nächtelang durch<br />

Clubs, um Mädchen abzuschleppen. Seine WG-Mitbewohner rufen uns<br />

an, weil sie sich Sorgen machen. Und dann kommt die Depression. Nicht<br />

essen, nicht rausgehen, nichts interessiert ihn. Wir haben solche Angst<br />

um ihn!“<br />

„Hm“, sagte Magda und fragte sich, was um alles in der Welt die um einiges jüngere<br />

Frau dazu bewogen hatte, sich ausgerechnet sie für dieses Geständnis auszusuchen.<br />

Ein schwammiger junger Mann mit Brüsten war eine sehr unappetitliche<br />

Vorstellung.<br />

Von drüben war jetzt ein dumpfes Zischeln zu hören, ein deutliches Zeichen,<br />

dass sie zurückzukommen hatten. Heimlichkeiten dem Kränzchen gegenüber waren<br />

unhöflich – andererseits gab es nicht viel im Leben der Frauen, das sich zu<br />

verheimlichen gelohnt hätte.<br />

„Was ’abt ihr getuschelt?“, fragte Frau Raisin streng; die Blicke der zwei<br />

Freundinnen ruhten auf Magda, die die Kaffeekanne in der Hand trug, und<br />

auf Friederike-Emilia, die wieder rot wurde.<br />

„Ach, Probleme“, sagte Magda, achselzuckend und so beiläufig wie möglich. Friederike-Emilia<br />

setzte sich.<br />

„Keine Ge’eimnisse vor dem Kränzchen!“, rief Frau Raisin und klopfte<br />

mit der Hand auf die elegante Damastdecke, die den schäbigen Holztisch<br />

verdeckte.<br />

Alle Augen richteten sich auf die Neueste im Bunde. Friederike-Emilia<br />

schluckte zweimal und begann dann mit ersterbender Stimme von ihrem Sohn –<br />

offensichtlich hieß er Bruno – zu berichten.<br />

„Oh làlà, pauvre Brüno!“, sagte Frau Raisin daraufhin und sah angenehm<br />

erregt aus.<br />

Magda Broderick sagte unentschlossen: „Ich weiß nicht. So viele Künstler waren<br />

manisch-depressiv, ich finde das, also nicht direkt chic oder spannend, aber doch<br />

vielversprechend. Denkt mal an Mozart oder Schiller oder Stifter oder Nero – nein,<br />

stopp, der war psychotisch. Tröstet dich das nicht ein wenig, Friederike-Emilia?“<br />

Es tat Magda gut, ein wenig mit ihrer Allgemeinbildung anzugeben, nachdem<br />

sie gerade in ihrer ärmlichen Küche gestellt worden war. Im nächsten Augenblick<br />

wurde ihr bewusst, dass sie Friederike-Emilias Sohn damit eigentlich bloß<br />

interessant gemacht hatte. Verdammt. Sie biss sich auf die Unterlippe.<br />

Friederike-Emilia sagte weinerlich: „Ich will einfach, dass er ein ganz normales<br />

glückliches Kind ist. Kein Genie!“<br />

67


Er ist dann der Kleinste? Ach, ja aber das macht doch nichts! Ich habe nichts dagegen,<br />

dass mein Enkel einige Klassen überspringt ...“<br />

„Frau Broderick, es geht um die zweite Mahnung, auf die Sie auch nicht<br />

reagiert haben.“<br />

„Aber Cosima, ich habe dir doch gesagt, er ist ein kleines Genie. Als er über das<br />

Wochenende bei mir war, hat er Sonaten geklimpert, ja. Ich sage es dir doch, ja.<br />

Nein, ich habe ihm nur ein paar Griffe beigebracht.“<br />

Magda spürte, dass die drei Frauen am Kaffeetisch ihrer Spur jetzt folgten.<br />

Alle hatten die Kuchengabeln weggelegt und sahen beeindruckt zu ihr herüber;<br />

Nelli war sogar aufgestanden, um die Musik leiser zu drehen. Von wegen manischdepressiv.<br />

Genie im Kindesalter, das war es. Wie der kleine Mozart.<br />

„Ach, ja, ja! Natürlich kann ich ihn auch weiter unterrichten! Aber er wird<br />

mich bald überflügeln!“<br />

Die drei Freundinnen hielten jetzt den Atem an. Die Mitarbeiterin der Firma<br />

Madeleine hatte inzwischen aufgelegt, und Magda sprach in das Besetztzeichen<br />

hinein, was sie etwas irritierte. Sie musste die Kurve schnell kriegen, das Gespräch<br />

beenden.<br />

„Pass auf, Cosi-Schatzi, ich habe Gäste. Jetzt wein doch nicht. Ich rufe dich<br />

am Abend zurück. Keine Panik. Ich bin doch deine beste Freundin.“<br />

Zufrieden legte sie auf. Danach, endlich, wurde das Kränzchen zu ihrem,<br />

Magdas, Fest. Frau Raisin versprach, sich nach Hochbegabtenstipendien umzusehen,<br />

Nelli wollte den kleinen Jungen mit ihrem Mann bekannt machen, und Friederike-Emilia<br />

schwieg endlich.<br />

„So war es doch noch eine schöne Runde“, sagte Magda Broderick zufrieden,<br />

als sie die Gäste nach einer guten halben Stunde verabschiedete.<br />

Als sie wieder alleine war, wandte sich Magda Broderick an ihre Goldfische: „Na,<br />

meine Kleinen? Wollen wir noch die Walküre hören? Weit sind wir ja nicht gekommen<br />

heute!“<br />

Sie hatte gerade den CD-Spieler angeschaltet und räumte den Tisch ab, als<br />

das Telefon erneut klingelte.<br />

„Magda Broderick?“, fragte dieselbe Stimme wie vor einer guten Stunde. „Spreche<br />

ich mit Magda Broderick? Hier ist die Firma Madeleine ...“<br />

„Ach ja, hallo“, sagte Magda fröhlich. „Sie haben heute schon mal angerufen,<br />

stimmt’s? Wissen Sie, ich hatte einen fabelhaften Tag und ich bin praktisch<br />

sicher, dass ich die Rechnung noch diese Woche bezahlen kann.“<br />

Die Rheintöchter<br />

Villa Massimo in Rom. Sie lebt bei Frankfurt<br />

am Main. 2011 erschien ihr Roman<br />

Shanghai Performance.<br />

Silke Scheuermann debütierte 2001 mit<br />

dem Lyrikband Der Tag, an dem die Möwen<br />

zweistimmig sangen. Die Lyrikerin und<br />

Erzählerin erhielt u. a. das Stipendium der<br />

Silke Scheuermann<br />

Als Nelli einen Schluck Kaffee trank, um ihre trockene Kehle für die Fortsetzung<br />

des Vortrags vorzubereiten, sagte Frau Raisin: „Nun, wie auch immer,<br />

vielleicht könnte Brüno seine ... Zustände ... in einer Form von Kunst<br />

ausleben!“ Sie vergaß diesmal ganz unabsichtlich ihren französischen Akzent,<br />

so eilig hatte sie es, Nelli zuvorzukommen. „Kann er vielleicht Klavier<br />

spielen?“<br />

Vor Magdas innerem Auge erschien der unbekannte Bruno, wie er mit<br />

wehendem Haar, den Oberkörper nach vorne und zurück werfend, in die Tasten<br />

haute.<br />

Doch Friederike-Emilia schüttelte den Kopf. Magda atmete auf.<br />

Aber Frau Raisin gab nicht so leicht auf. „Singen?“, schlug sie nun vor. „Besser<br />

wäre natürlich komponieren.“<br />

Klar doch, dachte Magda. Komponieren.<br />

„Ja, genau. Ich denke, das könnte die Rettung sein!“, rief Frau Raisin begeistert aus.<br />

„Nein, er kann auch nicht komponieren. Er ist so gar nicht musikalisch“, sagte<br />

Friederike-Emilia. „Aber ich danke euch, lasst uns noch ein wenig Boulez<br />

hören, ja?“<br />

„Ich bin mir sicher, er hat ein geheimes Talent“, widersprach Frau Raisin stur. „Es<br />

wird sich seinen Weg bahnen!“<br />

Noch während des ganzen ersten Akts ärgerte sich Magda. Friederike-Emilia<br />

stand es nicht an, sich als die Neue dermaßen in den Vordergrund zu drängen. Warum<br />

fragte eigentlich nie jemand nach Fricka und Cosima? Und das, obwohl sie doch<br />

immer nur das Beste – beziehungsweise Erfundenes – von ihnen berichtete. Zuletzt<br />

hatte sie behauptet, Cosima hätte ihr ein ganzes Set mit Tischdecken geschenkt, das<br />

sie über und über mit den Initialen ihrer Mutter, MB, bestickt hatte. Es hatte kaum<br />

Eindruck hinterlassen, Nelli hatte lediglich bemerkt, weiße Tischdecken wären altmodisch<br />

und unpraktisch. War der Kern falsch, oder schmückte sie ihre Geschichten<br />

nicht gut genug aus?<br />

In dem Moment schrillte das Telefon, und während Nelli noch rief: „Oh nein,<br />

nicht jetzt!“, erkannte Magda schon ihre Chance. Egal, wer es war – was sie<br />

jetzt vorhatte, war die Irritation am anderen Ende der Leitung wert. Sie eilte<br />

hin und nahm ab.<br />

„Hallo?“, fragte sie atemlos, während ihr die Gedanken nur so durch den Kopf<br />

schossen.<br />

„Guten Tag, spreche ich mit Magda Broderick? Es geht um die zweite Mahnung<br />

für die Kaschmirdecke, die Sie telefonisch bei der Firma Madeleine bestellt<br />

haben ...“<br />

„Ja, aber“, schrie Magda. „Aber Cosima, welche Freude. Ja, was? Was?“<br />

„Frau Broderick? Magda Broderick? Hören Sie mich? Ihre Rechnung, also ...“<br />

„Was, Schätzchen, ach je. Noch eine Klasse überspringen? Mathematik und Musik.


EMPFIEHLT<br />

HERAUSRAGENDE<br />

CD-NEUHEITEN<br />

KLAUS FLORIAN VOGT<br />

HELDEN<br />

Er ist Bayreuths umjubelter Lohengrin<br />

und überzeugt auch auf seiner ersten<br />

Arien-CD, mit Arien aus Freischütz,<br />

Zauberflöte, Walküre, Die Meistersinger<br />

von Nürnberg und aus Lohengrin.<br />

NEUJAHRSKONZERT 2012<br />

WIENER PHILHARMONIKER<br />

MARISS JANSONS<br />

Wer nicht dabei sein konnte, kann dieses<br />

prachtvolle Konzert in Bestbesetzung<br />

auf CD, DVD und Blu-ray nacherleben.<br />

ARTHUR RUBINSTEIN<br />

THE COMPLETE<br />

ALBUM COLLECTION<br />

Diese limitierte Luxus-<br />

Edition mit 142 CDs ist<br />

etwas ganz Besonderes:<br />

alle Studio-und Live Aufnahmen<br />

von Rubinstein<br />

im Original-LP-Look. 3 CDs<br />

mit unveröffentlichten Aufnahmen<br />

aus der Carnegie<br />

Hall. 2 DVDs mit Dokumentationen<br />

und Konzertaufnahmen<br />

plus ein Hardcover-<br />

Buch mit Fotos, Essays und<br />

vollständiger Diskografie.<br />

WWW.LUDWIGBECK.DE


Fünf Fragen an …<br />

Okka von der Damerau<br />

Floßhilde — Das Rheingold,<br />

Götterdämmerung<br />

Welchen Faden aus Wagners Erzählung des<br />

Nibelungen-Mythos verfolgen Sie am liebsten?<br />

Zunächst einmal den musikalischen Faden. Wenn sich gesangliches<br />

Können mit Erzählkunst paart, ist das meiner<br />

Meinung nach sehr packend, insbesondere bei Wagner.<br />

Wer hat Ihnen an welchen Orten<br />

Geschichten erzählt?<br />

Meine Eltern haben meinen Geschwistern und mir Geschichten<br />

erzählt, meistens zum Einschlafen oder um Wartezeiten<br />

zu verkürzen, zum Beispiel auf langen Autofahrten.<br />

„Beim Geschichtenerzählen<br />

entsteht<br />

ein intimer Raum<br />

zwischen Menschen.<br />

Es ist schön, diesen<br />

Moment miteinander<br />

zu teilen.“<br />

Welche Geschichte hörten Sie in Ihrer<br />

Kindheit am liebsten?<br />

Mein Vater hat sich Geschichten ausgedacht. Ich empfinde<br />

Geschichtenerzählen als etwas sehr Persönliches, es kann<br />

dabei ein inniges Verhältnis zwischen Erzähler und Zuhörer<br />

entstehen.<br />

Wem erzählen Sie welche Geschichte gerne<br />

immer wieder?<br />

Abends erzähle ich meinem Sohn Geschichten am Bettchen.<br />

Allerdings beruhigt es ihn nicht immer, manchmal greift er<br />

ein Wort auf und beginnt selbst mitzuerzählen.<br />

Warum, glauben Sie, erzählen wir uns Geschichten?<br />

Es entsteht ein intimer Raum zwischen Menschen. Es ist<br />

schön, diesen Moment miteinander zu teilen und eine lieb<br />

gewonnene Tradition weiterzugeben.<br />

Fünf Fragen an …


Fünf Fragen an … 71<br />

Johan Reuter<br />

Wotan — Das Rheingold<br />

„Das Beste war<br />

immer die Stimme<br />

meiner Mutter,<br />

wenn sie den Wolf<br />

spielte. Es war so<br />

herrlich unheimlich!“<br />

Geschichten erzählt; es hat angefangen, als meine Eltern mir<br />

vorgelesen haben, ging weiter, als ich selbst lesen gelernt<br />

habe, und hält an bis zum heutigen Tag. Letzte Nacht, als<br />

ich nach einer Vorstellung nach Hause kam, hat Jonathan<br />

Franzen mir vor dem Einschlafen von einer fiktiven Familie<br />

im heutigen Amerika erzählt …<br />

Welche Geschichte hörten Sie in Ihrer<br />

Kindheit am liebsten?<br />

Was den bleibendsten Eindruck bei mir hinterlassen hat,<br />

war, als meine Mutter aus Dyrene i Hakkebakkeskoven von<br />

dem norwegischen Autor Thorbjørn Egner vorgelesen hat,<br />

und zwar die Stelle, als der Bäcker – ein Hase – von einem<br />

Kunden – einem Wolf – Besuch bekommt, und dieser seinen<br />

Kuchen nicht bezahlen will. Die Geschichte selbst ist großartig,<br />

aber das Beste war die Stimme meiner Mutter, wenn<br />

sie den Wolf spielte. Es war so herrlich unheimlich!<br />

Welchen Faden aus Wagners Erzählung des<br />

Nibelungen-Mythos verfolgen Sie am liebsten?<br />

Wir Menschen sind darauf festgelegt, die Welt aus unserer<br />

eigenen Perspektive zu erleben. Wir können zwar versuchen,<br />

die Sicht der anderen zu verstehen, aber in Wirklichkeit können<br />

wir nur durch unsere eigenen Augen sehen und mit unseren<br />

eigenen Gehirnen denken. Wenn ich auf der Bühne bin,<br />

dann versuche ich, alles mit den Augen und dem Verstand<br />

meiner Figur zu sehen, auch wenn das Einstudieren und Proben<br />

mir eine „Vogelperspektive“ auf das Stück gegeben<br />

haben. Aus diesem Grund bin ich darauf festgelegt, Wotans<br />

Faden zu folgen und die Geschichte aus seiner Perspektive<br />

zu sehen.<br />

Wer hat Ihnen an welchen Orten<br />

Geschichten erzählt?<br />

Die Kunst des Geschichtenerzählens stirbt aus in der westlichen<br />

Kultur. Zum Glück gibt es die Literatur. Die größten<br />

Geister der Welt haben mir schon mein ganzes Leben lang<br />

Fünf Fragen an …<br />

Wem erzählen Sie welche Geschichte gerne<br />

immer wieder?<br />

Die Geschichte, die ich am öftesten erzählt habe, ist ein<br />

dummer Witz, den zu erzählen mich meine Söhne immer wieder<br />

genötigt haben. Es geht um die drei besten Hammerwerfer<br />

der Welt – einen Amerikaner, einen Russen und einen<br />

Dänen –, die sich in einem Stadion treffen, um ein für alle<br />

Mal zu entscheiden, wer der Beste ist. Es ist die Sorte Witz,<br />

bei der man durch viele Wiederholungen und viele Erzählschleifen<br />

muss, bevor man dann zum überraschenden Höhepunkt<br />

kommt. Wenn ich darüber so nachdenke … genau wie<br />

in Wagners Ring!<br />

Warum, glauben Sie, erzählen wir uns Geschichten?<br />

Ich glaube, dass wir uns hauptsächlich aus drei Gründen Geschichten<br />

erzählen: um mehr über uns selbst zu erfahren, um<br />

mehr über die Welt zu erfahren, die uns umgibt, und um unterhalten<br />

zu werden.<br />

Übersetzung Maria März


Die AbleHnung<br />

Zeit und Ort:<br />

Gegenwart.<br />

Büro des<br />

Dramaturgen.<br />

von<br />

Robert Hültner<br />

74


DeR AuToR hATTe<br />

JAhRelAng DARAn<br />

geARbeiTeT, DAS<br />

nibelungenlieD<br />

FüR Die oPeR Zu<br />

ADAPTieRen. DeR<br />

DRAMATuRg JeDoch<br />

hälT DAS WeRK FüR<br />

unAuFFühRbAR.<br />

eR MuSS DieS DeM<br />

AuToR nuR<br />

iRgenDWie AuSeinAnDeRSeTZen.<br />

Der Autor: „Das ist nicht ihr ernst. Man lehnt ab?“<br />

Der Dramaturg: „Zu meinem größten bedauern, wie ich<br />

ihnen versichere. Wie ich ihnen ebenfalls versichern darf,<br />

dass ihr Projekt im haus ausführlichst diskutiert wurde.“<br />

„Verbindlichsten Dank für diese Selbstverständlichkeit.<br />

Wo standen Sie dabei?“<br />

„Sagen wir: ich war hin- und hergerissen. nicht zuletzt<br />

deshalb, weil wir beide uns schließlich bereits<br />

seit vielen Jahren kennen und Sie unserem hause<br />

schon viele großartige erfolge beschert haben.“<br />

„Was – Sie verzeihen – ein Argument für Krämerseelen ist.<br />

Dem ich entnehmen muss, dass auch Sie in dieser expertenrunde<br />

alles andere als eine flammende Verteidigung abliefern<br />

konnten, richtig?“<br />

„Wenn Sie auf ‚flammend‘ bestehen, muss ich es bejahen. ich<br />

habe für eine gründliche bearbeitung plädiert, konnte mich<br />

aber leider nicht durchsetzen.“<br />

„nun, dann habe ich wohl Anspruch auf eine ausführliche<br />

begründung.“<br />

„Selbstverständlich. bevor ich auf die Details komme:<br />

Die entscheidenden Vorbehalte beziehen sich<br />

sowohl auf Form und Dramaturgie wie auf eine gewisse<br />

philosophische Prämisse ihres Werks. Kritische<br />

Anmerkungen gab es darüber hinaus zur Plausibilität<br />

der handlungsmotive, kurz zur Psychologie<br />

einzelner Figuren.“<br />

„Mit anderen Worten, auf alles! – Sagen Sie: hatte ich in<br />

meinen exposés nicht unmissverständlich darauf hingewiesen,<br />

dass ich ein experiment plane? nämlich jenes, das nibelungenlied,<br />

einen der ältesten Stoffe unserer literatur, zu<br />

adaptieren? Woraus sich fast zwangsläufig ergibt, dass einige<br />

gewissheiten der klassischen Dramaturgie infrage gestellt<br />

werden müssen.“<br />

„Das mag sein, aber es muss doch zumindest reflektiert werden,<br />

was, warum und wie in welcher epoche erzählt wird.“<br />

RobeRT hülTneR<br />

75<br />

Die Ablehnung<br />

„Wir sollen uns anmaßen, einen der bedeutendsten<br />

Stoffe unserer literatur nach der Maßgabe heutiger<br />

Moden zu bewerten? ihm womöglich eine billige<br />

hollywood-Rezeptur überstülpen?“<br />

„ich bitte Sie, ja? – ich meine lediglich, dass wir<br />

nicht das, was Sie als ‚heutige Mode‘ bezeichnen, als<br />

zeitgeistigen Müll abqualifizieren sollten. Auch eine<br />

erzählung, die erst in diesem Moment die Druckerei<br />

verlässt, kann von epochaler Qualität sein.“<br />

„ich widerspreche nicht. Aber wenn Sie jetzt bitte zu den<br />

Details kämen?“<br />

„gleich. Man muss sich doch bei diesem Vorhaben zunächst<br />

den Stoff vor Augen führen, den Sie als grundlage<br />

verwenden. er geht bekanntlich auf ein historisches geschehen<br />

aus den Wirren der Völkerwanderung zurück. es<br />

handelt sich also zunächst um etwas, was wir heute flapsig<br />

als Reportage bezeichnen würden. um einen von unzähligen<br />

berichten, die mit den damaligen instrumentarien der<br />

sozialen Kommunikation – Memorierung und mündliche<br />

Weitergabe – Verbreitung fanden. Mit wachsendem zeitlichen<br />

Abstand wandelte er sich zur Parabel, die sich den<br />

gesellschaftlichen Veränderungen anpassen musste. Die<br />

erzählung durchlief dabei umgewichtungen, ergänzungen,<br />

sie integrierte neue personale und politische Konstellationen,<br />

wurde mit anderen tradierten Stoffen verwoben.<br />

Kurz gesagt: Was da im hochmittelalter schließlich zur<br />

Schriftform fand, ist bereits weitgehend Kompilation. Darüber,<br />

was den unbekannten Dichter damals bewogen hat,<br />

den Stoff so zu gestalten, wie er es getan hat, warum er<br />

etwa gerade diese und nicht andere heroen illuminiert,<br />

können wir nur spekulieren. haben seine entscheidungen<br />

unter anderem vielleicht auch damit zu tun, dass sich das<br />

christliche europa zu dieser Zeit mit der islamischen expansion<br />

konfrontiert sieht? und dies nicht nur unter dem<br />

Aspekt einer politisch-wirtschaftlichen, sondern auch einer<br />

religiös-weltanschaulichen Konkurrenz? Wird so beispielsweise<br />

hagens ‚Trutz‘, der ja eher hilfloser Trotz ist,<br />

verständlicher? ich weiß es nicht.“<br />

„Sie springen viel zu kurz. Der Stoff ist wesentlich<br />

älter.“<br />

„bekannt. Aber warum schlummert er erst Jahrhunderte<br />

vor sich hin, wird noch im 18. Jahrhundert<br />

mancherorts als unverständlicher Schund abgekanzelt,<br />

um dann im 1ß. Jahrhundert plötzlich<br />

zum deutschesten aller deutschen epen erhoben<br />

zu werden?“<br />

„Vielleicht, weil wir es hier tatsächlich mit einer universellen<br />

Substanz zu tun haben?“<br />

„Der erkenntnis etwa, dass sich gewinnstreben und liebe<br />

gegenseitig aufzehren müssen?“<br />

„beispielsweise.“<br />

„Das – Pardon – wäre weder eine nagelneue noch


originelle erkenntnis. und als Weisheit ungefähr so<br />

tiefschürfend wie ein naiver Appell à la make love,<br />

not war. Möglicherweise sogar eine insofern platte,<br />

als sie nicht immer zutrifft. Auch der nach Macht<br />

und gewinn Strebende kann lieben. und stellt sich<br />

vermutlich dabei nicht geschickter oder ungeschickter<br />

an als jener, der nicht von Machtwillen getrieben<br />

wird. Vor allem aber frage ich mich, ob es genügt, in<br />

einem Werk eine – wie Sie es nennen – universelle<br />

Substanz wahrzunehmen. Sie ist schließlich in jeder<br />

ernsthaften kulturellen äußerung enthalten. Der<br />

Kern meiner Frage war vielmehr, warum sie einmal<br />

wahrgenommen wird, dann wieder nicht. ist dieser<br />

scheinbar monumentale Stoff möglicherweise nur<br />

durch eine Reihe glücklicher Zufälle auf uns gekommen?<br />

Wir können davon ausgehen, dass es in dieser<br />

epoche eine Fülle derartiger Stoffe gab, von denen<br />

nur wenige überhaupt zur Schriftform gelangten.<br />

und auch davon ist nur ein kleiner Teil übrig geblieben,<br />

das meiste ist opfer von Kriegen, von kulturellen<br />

Verwüstungen oder schlichten materialen Verderbens<br />

geworden. Worauf ich hinaus möchte ist: Wir<br />

„Was ist daran verwerflich,<br />

überwältigen zu wollen?<br />

ich will herz und Sinne<br />

packen.“ — Der Autor<br />

sollten das Alte nicht allein deshalb vergotten, weil<br />

es alt ist. Wie es neue geschichten gibt, die uns einmal<br />

mehr, einmal weniger berühren und interessieren,<br />

so gilt das auch für alte. Aber, natürlich, müssen<br />

wir unser urteil jeweils begründen.“<br />

„Wovon ich aber bisher noch wenig gehört habe.“<br />

„Dann will ich bei der Dramaturgie beginnen. ich vermisse<br />

ein Zentrum in ihrem Werk.“<br />

„und wenn das Wesen meines experiments gewesen<br />

wäre, weder klassische Dramaturgie noch epik zu<br />

bedienen? Wenn ich stattdessen versucht hätte, das<br />

erzählen nicht auf ein mechanisches Strickmuster<br />

von informationsvermittlung zu reduzieren? Sondern<br />

künstlerische Praxis wieder auf das zurückführen<br />

wollte, was sie im Kern ist, nämlich eine kultische<br />

handlung?“<br />

„gewagt.“<br />

„Sie haben etwas gegen Wagnisse?“<br />

„Keineswegs. ich bin nur nicht davon überzeugt, dass es dieser<br />

Rückführung überhaupt bedarf. ob Kunst nicht nach<br />

wie vor eine Kategorie des Kultes ist und sie sich heute nur<br />

anderer Formen bedient.“<br />

„Die dann nicht mehr überprüft und nicht mehr infrage<br />

gestellt werden dürfen?“<br />

ich VeRMiSSe ein ZenTRuM ...<br />

„Das dürfen sie nicht nur, sondern müssen es sogar.<br />

Sie müssen aber auch berücksichtigen, dass es heutzutage<br />

zwischen Künstler und Konsument einen gewissen<br />

Kontrakt gibt, der sich mit einem – sagen wir einmal<br />

– eher kultisch-liturgisch konzipierten Ansatz<br />

beißt. Außerdem werden Sie mir zustimmen, dass der<br />

begriff ‚Kult‘ noch nichts über die inhaltliche Qualität<br />

dessen aussagt, was er jeweils zelebriert. Auch die nazis<br />

ummäntelten schließlich ihre Ziele mit kultischtheatralischem<br />

Firlefanz, und das mit erfolg.“<br />

„ich bemühe mich, ihnen zu folgen.“<br />

„nun seien Sie nicht gekränkt. ich wollte lediglich darauf<br />

hinaus, dass Form und inhalt zwar in beziehung zueinander<br />

stehen, trotzdem aber zwei Paar Stiefel sind. Jeder Kult, so<br />

rauschhaft und weihrauchvernebelt er sich uns auch darstellen<br />

mag, verfolgte stets sehr konkrete, sehr nachvollziehbare<br />

lebenspraktische Zwecke. Daraus folgt meine Frage, was Sie<br />

als ihren Zweck benennen würden.“<br />

„Den, den alles erzählen hat, und damit Punkt. – Sie<br />

deuteten an, dass es kritische Anmerkungen zur Dramatik<br />

gab?“<br />

„So ist es. Sie wählten die Form der Parabel, überfrachten<br />

diese aber am ende mit Metaphorik.“<br />

„Wo bitte steht geschrieben, dass das unzulässig ist?“<br />

„natürlich nirgends. Aber auch wenn sich eine erzählung<br />

unterschiedlicher Formen bedient, so sollte sie sich doch<br />

für eine tragfähige und durchgängige Architektur entscheiden.<br />

es sollte erspürbar sein, was gerüst ist, und was Auskleidung.“<br />

„ich behaupte, diese Forderung sehr wohl eingelöst<br />

zu haben. – Sie erwähnten eingangs auch das Stichwort<br />

Psychologie?“<br />

„Damit ist gemeint, dass sich ihre Figuren statisch<br />

darstellen, dass haltungen und Motive gesetzt und<br />

behauptet sind, sie nicht wirklich geschichte, geschweige<br />

denn Wandlung haben. Dass ich auf Zuschreibungen<br />

von Titanismus und ähnlich pathostriefenden<br />

überhöhungen eher allergisch reagiere,<br />

mag meine Sache sein –“<br />

„Ach! Sie wollen die helden auch einmal pinkeln sehen?“<br />

„Das nun gerade nicht. Mich lassen lediglich die wie in<br />

Marmor gemeißelten Konturen ihres Siegfried, ihres hagen,<br />

ihrer brünnhilde und anderer eher kalt. Aber zugegeben:<br />

Wie Sie ihre Figuren modellieren, ist für eine Parabel<br />

sogar konsequent entschieden. Allerdings erzeugt es einen<br />

Mangel an Dynamik.“<br />

„in ihrem persönlichen empfinden.“<br />

„Richtig. So wie ich auch empfinde, dass diesem Mangel<br />

eine geradezu überbordende Fülle von beeindruckenden,<br />

zuweilen gar rauschhaften Szenerien gegenübersteht.<br />

Die aber, bei aller bewunderung, bei mir einen<br />

gewissen Abwehrimpuls auslöst. Welchem der Verdacht<br />

folgt, dass Sie mit der Wucht, dem getöse ihrer<br />

bilder und Aktionen nur überwältigen wollen.“<br />

„Was ist daran verwerflich? ich will herz und Sinne packen,<br />

keinen drögen Diskurs veranstalten. – ein sehr, sehr deutscher<br />

impuls übrigens, der sich da bei ihnen manifestiert.“


„ist ‚Feuer‘ wirklich<br />

erlösend, reinigend? Die<br />

bewohner von<br />

guernica, von hamburg<br />

und Dresden oder<br />

hiroshima werden zu<br />

einem anderen ergebnis<br />

kommen als ein<br />

ernst Jünger, der, das<br />

champagnerglas<br />

schwenkend, sich an der<br />

Feuersbrunst einer<br />

bombardierten französischen<br />

Stadt delektiert.“<br />

— Der Dramaturg<br />

„interessant. Was wäre denn ein nicht-deutscher?“<br />

„einer, der keine Angst vor der Möglichkeit einer<br />

überwältigung und Verführung hat, sie vielleicht sogar<br />

begrüßt und ersehnt. ich sage nicht, dass diese<br />

Angst gerade vor dem hintergrund unserer geschichte<br />

nicht auch ihre berechtigung hätte. Aber sie<br />

richtet ihr Augenmerk nur auf ein vermeintlich<br />

zwangsläufiges Verderben, das der überwältigung folgen<br />

muss. Aber gibt es nicht auch eine Verführung zu<br />

etwas, das uns bereichert? Zu etwas, was wir bisher<br />

nicht zu denken wagten? Was uns die Sinne öffnet,<br />

hemmnisse und Verstockungen beiseite fegt, Mut<br />

und neue Perspektive schenkt? Warum versperren<br />

wir uns dem schon von vorneherein? Diese als Skepsis<br />

getarnte Furcht ist verhängnisvoll. es mag eine<br />

Weile funktionieren, die existenz eigener untiefen zu<br />

ignorieren. Aber irgendwann kommen wir nicht mehr<br />

umhin, uns ihnen zu stellen.“<br />

„ich widerspreche nicht. Aber wir sind uns doch darüber<br />

einig, dass umso entscheidender ist, welche<br />

Prämissen einer Verführung zugrunde liegen, nicht<br />

wahr?“<br />

„Völlig d’accord. und welche Prämisse ist es, die Sie glauben<br />

ausmachen zu können?“<br />

„nun, lassen Sie mich dem so nähern: ihr Werk bietet eine<br />

Anordnung von Personen und dramatischen Konstellationen<br />

auf. Sie tun dies aber nicht, weil Sie an diesen Personen<br />

interessiert sind, sondern weil Sie damit ihre Sicht auf entscheidende<br />

Probleme und Konflikte unserer gesellschaft illustrieren<br />

möchten. um es auf die kürzestmögliche Formel<br />

zu bringen, konstatieren Sie dabei ‚entfremdung‘ als letzte<br />

ursache zunehmender sozialer, politischer und psychischer<br />

... in ihReM WeRK<br />

77<br />

Die Ablehnung<br />

Wirrnis, unter der lust zu gier verkümmern muss, Treue<br />

zu todbringender beharrung, leidenschaft zu tollwütigem<br />

eklat. Darum geht es ihnen. nicht um ihre Figuren. Was<br />

sie sind, was sie begehren, erstickt völlig unter ihrem Wollen,<br />

das aus jedem Wort, aus jeder bewegung, jeder Szenik<br />

quillt. Sie zeigen nicht, Sie behaupten. und Sie wollen belehren.<br />

ihr Drama ist eines der ideen, nicht das des lebens,<br />

der Körper, der gefühle. nur folgerichtig ist, wenn<br />

Sie sich bei nur wenigen Figuren länger aufhalten und auch<br />

sie sofort verlassen, wenn diese abgeliefert haben, wozu sie<br />

ins Spiel gestellt wurden. Darüber könnte man noch diskutieren.<br />

Wenn mich auch die Kälte frösteln macht, mit der<br />

Sie ihre Fäden dabei ziehen. Wenn aber, wie Sie vorhin<br />

erwähnten, das erzählen für Sie ein kultisches ereignis zu<br />

sein hat, so frage ich Sie noch einmal, was im Falle ihres<br />

Werks zelebriert und gewonnen wird. erzeugt es Weisheit?<br />

neue erkenntnis? gar gedankliches Material, um den dargestellten<br />

gesellschaftlichen Missstand lebenspraktisch zu<br />

überwinden?“<br />

„Verstehe. Sie vermissen die gebrauchsanleitung zur<br />

Verbesserung der Welt. eine empfehlung, Attac beizutreten<br />

oder die Wall Street zu okkupieren.“<br />

„Sie machen Scherze.“<br />

„Danach ist mir eigentlich nicht zumute.“<br />

„Dann haben Sie mich gründlich missverstanden. Weshalb<br />

ich es ihnen so erklären will: Was Sie in ihrem Werk thematisieren,<br />

ist leider weder neu noch originell. Schon der junge<br />

Marx hat das Problem der entfremdung benannt, ihren ursprung<br />

und ihre Auswirkungen analysiert. Sie dagegen analysieren<br />

nicht, sondern belassen es beim großen lamento.<br />

und sehnen sich, als wären Sie ein Autor des Fin de siècle,<br />

nach der großen ‚Reinigung‘, der Rückkehr des vermeintlich<br />

‚elementaren‘. Wie er machen Sie es sich in einem Atavismus<br />

bequem, für den seit je billiger beifall einzuheimsen<br />

war. Weil sich derart melancholische Posen folgenlos schlürfen<br />

lassen und niemandem wehtun. Damit aber wird jede<br />

Kunst zur neckischen girlande, mit der umso geist- und<br />

kunstloseres Agieren in der gesellschaftlichen Praxis kaschiert<br />

werden soll.“<br />

„Das Totschlagargument des Atavismus musste ja<br />

kommen. An dem, was Sie damit andeuten möchten,<br />

stimmt lediglich, dass ich tatsächlich einer Rückbesinnung<br />

auf die elementaren Konditionen menschlicher<br />

existenz das Wort rede. Auf die, wenn Sie so<br />

wollen, ‚Tatsachen des lebens‘.“<br />

„Das gestehe ich ihnen wie jedem ernsthaften Autor<br />

zu. Auch der grundton des lamentos wäre<br />

für mich noch akzeptabel, wenn dies nun einmal<br />

Weltsicht und Temperament des Autors entsprechen<br />

sollte. nein, der Punkt ist, auf welche gedankliche<br />

und ästhetische conclusio ihre haltung zusteuert.<br />

Alles mündet in ein apokalytisches Finale, das


nicht nur dramatische Auflösung sein soll, sondern<br />

sogar letztliche ‚erlösung‘. eine Art endgerichtlich<br />

strafender und damit reinigender Vorgang als Voraussetzung<br />

eines Paradieses. Verzeihen Sie – aber damit<br />

landen Sie, der als Kritiker der Moderne startete, im<br />

Mief eines vormodernen Messianismus.“<br />

„nun öden Sie mich auch noch mit nietzsche an! hören<br />

Sie: ich setze dieses Finale nicht, weil mich die Welt zum<br />

sauertöpfischen Frömmler gemacht hätte. Sondern weil<br />

das Publikum dadurch erkennen soll, welches Denken und<br />

handeln zu bestimmten Konsequenzen führt, ja führen<br />

muss. Denunzieren Sie das ruhig als volkserzieherische Attitüde.<br />

Jedes erzählen erzieht, nicht zuletzt den Autor. es<br />

ist also legitim, was ich tue.“<br />

„natürlich ist es das. Aber dabei bleiben Sie eben nicht. Alles<br />

in diesem Finale feiert den Tod, atmet den Seufzer ‚Dem<br />

himmel sei Dank, es ist überstanden‘. Sie sprechen in ihrem<br />

Text unmissverständlich von ‚erlösung‘. Warum nicht<br />

gleich: ‚es ist vollbracht?‘ Doch können Vernichtung und<br />

Tod erlösen? – ich weiß, was ihnen auf der Zunge liegt. Der<br />

Mann, werden Sie denken, hat weder das Wesen einer gedanklichen<br />

Abstraktion noch das einer Metapher begriffen.“<br />

„Verstehe. Sie vermissen<br />

die gebrauchsanleitung<br />

zur Verbesserung der<br />

Welt. eine empfehlung,<br />

Attac beizutreten oder<br />

die Wall Street zu okkupieren.“<br />

— Der Autor<br />

schlicht zu unbesonnt, zu todesverliebt, zu freudlos.<br />

Womit ich bei meinem letzten einwand angekommen<br />

wäre: ihr Werk hat keinen Witz.“<br />

„Sie beginnen wirklich, mich zu ermüden.“<br />

„Der ‚Witzige‘ zeigt uns die Welt, wie sie ist, und nicht, wie<br />

sie sein sollte. er lotet das Komische im Tragischen aus und<br />

umgekehrt, unterläuft Pathos und Pose. und nur diese – im<br />

ursprünglichen Sinn des Worts kluge, weise – Sicht ermöglicht<br />

uns, in die gestaltung unserer, der wirklichen Welt<br />

eingreifen zu können. Was, um wieder darauf zurückzukommen,<br />

Zweck jeder kultischen handlung war und ist.“<br />

„ich fürchte, dass wir uns allmählich im Kreise drehen.<br />

Sie nicht?“<br />

„eigentlich nicht. Aber wie Sie meinen. – Dass ich Sie<br />

zu meiner Sichtweise nicht verführen, geschweige<br />

überwältigen konnte, sehe ich ihnen an. Aber habe<br />

ich Sie wenigstens partiell überzeugen können?“<br />

„Vor allem davon, dass mein Werk nach ihrer Meinung<br />

im Papierkorb zu landen hat. Das also bleibt von jahrelanger<br />

Arbeit?“<br />

„nicht doch. ich bin mir sicher, dass man sie ihnen andernorts<br />

aus den händen reißen wird. Vor allem bleibt, was eben<br />

geschehen ist. Denn auch wenn ich und andere sich gegen ihr<br />

Werk ausgesprochen haben – gewirkt hat es bereits jetzt.“<br />

„Soll das ein Trost sein?“<br />

„nein. eine Tatsache.“<br />

Robert Hültner ist Autor von<br />

Romanen, Theaterstücken, Hörspielen<br />

und Drehbüchern, darunter<br />

die preisgekrönten Kriminalromane<br />

um Inspektor Kajetan.<br />

Die Verfilmung seines Romans<br />

Der Sommer der Gaukler über das<br />

Leben von Emanuel Schikaneder<br />

läuft derzeit im Kino. Der Autor<br />

lebt in München und den französischen<br />

Cevennen.<br />

„einen ähnlichen Verdacht habe ich tatsächlich.“<br />

„ich bezweifle schlicht die Stimmigkeit ihres bildes!<br />

ist ‚Feuer‘ wirklich erlösend, reinigend? Von welcher<br />

Warte aus definieren wir eigentlich, ob es erschreckende<br />

Destruktion, überwältigend ästhetisches geschehen<br />

oder eben erlösung ist? Die bewohner von<br />

guernica, von hamburg und Dresden oder hiroshima<br />

werden zu einem anderen ergebnis kommen als<br />

ein ernst Jünger, der, das champagnerglas schwenkend,<br />

sich an der Feuersbrunst einer bombardierten<br />

französischen Stadt delektiert. Kurz: ich behaupte,<br />

dass dieses bild wenig brauchbar ist, weil zu unpräzise.<br />

es sei denn, Sie wären tatsächlich der überzeugung,<br />

dass materielle Vernichtung die Voraussetzung<br />

für wahrhaftes existieren wäre. gegen derartig idealistische<br />

und religiöse Schwurbeleien sperrt sich alles<br />

in mir, der ich es eher mit jener indischen Weisheit<br />

halte, die besagt: ‚es gibt nur eine gottheit, und ihr<br />

name ist leben.‘ ihre Weisheit dagegen ist mir<br />

Die Ablehnung


OSTERFESTSPIELE<br />

SALZBURg 2012<br />

31. März — 9. April<br />

Künstlerische Leitung: Sir Simon Rattle<br />

Berliner Philharmoniker<br />

OPER<br />

Georges Bizet • Carmen<br />

Sir Simon Rattle Musikalische Leitung<br />

Aletta Collins Regie & Choreographie<br />

Magdalena Kožená Carmen<br />

Jonas Kaufmann Don José<br />

Kostas Smoriginas Escamillo<br />

Genia Kühmeier Micaëla<br />

Konzertvereinigung Wiener <strong>Staatsoper</strong>nchor<br />

ORCHESTER- UND CHORKONZERTE<br />

Sir Simon Rattle • Zubin Mehta<br />

Emanuel Ax • Christian Gerhaher • Jonas Kaufmann<br />

Murray Perahia • Kate Royal • Anne Sofie von Otter<br />

Rundfunkchor Berlin<br />

KAMMERMUSIKREIHE KONTRAPUNKTE<br />

Emanuel Ax • Magdalena Kožená<br />

Scharoun Ensemble Berlin<br />

Mitglieder der Berliner Philharmoniker<br />

© Lucien Clergue/getty images•<br />

VORSCHAU<br />

Osterfestspiele Salzburg 2013 • 23. März — 1. April<br />

Künstlerische Leitung: Christian Thielemann<br />

Sächsische Staatskapelle Dresden<br />

OPER Richard Wagner • Parsifal<br />

Christian Thielemann • Regie: Michael Schulz • Titelrolle: Johan Botha<br />

ORCHESTER- UND CHORKONZERTE<br />

Christian Thielemann • Myung-Whun Chung<br />

KONZERT FÜR SALZBURG<br />

KAMMERKONZERTE<br />

Stand Dezember 2011<br />

Änderungen vorbehalten<br />

OSTERFESTSPIELE SALZBURG . Herbert-von-Karajan-Platz 9 . 5020 Salzburg . Austria<br />

Tel. +43/662/80 45-361, -362 . Fax DW -790 . karten@ofs-sbg.at . www.osterfestspiele-salzburg.at


Giovanni Simone Mayr:<br />

Medea in Corinto<br />

Erhältlich auf DVD und Blu-ray<br />

und am 1. und 5. Juli 2012 auf<br />

dem Spielplan der Münchner<br />

Opernfestspiele.<br />

Photo © Wilfried Hösl<br />

MUSIC TO WATCH<br />

Erleben Sie mit UNITEL CLASSICA die schönsten Aufführungen der <strong>Bayerische</strong>n<br />

<strong>Staatsoper</strong> und weitere erstklassige Opernaufführungen und Konzerte in HD-Qualität<br />

und mit Surround Sound.<br />

Im Fernsehen …<br />

UNITEL CLASSICA ist der weltweite Fernsehsender für klassische Musik. In Deutschland<br />

können Sie UNITEL CLASSICA in HD-Qualität und mit Surround Sound über<br />

Telekom Entertain, Unitymedia, Kabel BW und NetCologne sowie in gewohnter Fernsehqualität<br />

über Sky empfangen.<br />

... und auf DVD & Blu-ray<br />

Erfahren Sie mehr zum Abonnement und den DVD- und<br />

Blu-ray-Veröffentlichungen von UNITEL CLASSICA unter:<br />

www.unitelclassica.com<br />

UNITEL CLASSICA empfangen Sie weltweit in folgenden Ländern: Deutschland • Österreich • Schweiz • Frankreich<br />

Italien • Spanien • Tschechische Republik • Slowakei • Bulgarien • Luxemburg • Malta • Japan • Korea • Taiwan • Südafrika


Fünf Fragen an … 83<br />

Eri Nakamura<br />

Woglinde — Das Rheingold,<br />

Götterdämmerung<br />

Welchen Faden aus Wagners Erzählung des<br />

Nibelungen-Mythos verfolgen Sie am liebsten?<br />

An Götterdämmerung fasziniert mich besonders, dass hier<br />

die Götter überhaupt nicht mehr vorkommen, sondern fast<br />

nur Menschen auf der Bühne zu erleben sind, mit all ihren<br />

Schwächen, Geheimnissen und Gemeinheiten.<br />

Wer hat Ihnen an welchen Orten<br />

Geschichten erzählt?<br />

Meine Mutter erzählte mir zwar Geschichten, aber die meisten<br />

habe ich selbst kennengelernt, weil ich schon sehr früh<br />

vom Lesen begeistert war und seit meinem vierten Lebensjahr<br />

ein Buch nach dem anderen verschlungen habe.<br />

„Kinder bekommen<br />

durch Geschichten<br />

die Vorstellungskraft,<br />

um ihr<br />

anschließendes<br />

Leben fantasievoll<br />

zu meistern.“<br />

Welche Geschichte hörten Sie in Ihrer<br />

Kindheit am liebsten?<br />

Ich habe in meiner japanischen Heimat zwar auch Märchen<br />

wie Rotkäppchen oder Hänsel und Gretel gelesen, vor allem<br />

aber japanische Geschichten. Ich erinnere mich besonders<br />

an die Geschichte von Momotaro, der aus einem riesigen<br />

Pfirsich schlüpft, sehr stark wird und beschließt, den bösen<br />

Oger zu bekämpfen, der die Menschen bestiehlt. Von seinen<br />

Zieheltern bekommt er Kuchen, den er mit einem Vogel, einem<br />

Hund und einem Affen teilt, und sie so als Kampfgenossen<br />

gewinnt. Gemeinsam bezwingen sie den Oger und geben<br />

den Menschen ihre Reichtümer zurück.<br />

Wem erzählen Sie welche Geschichte gerne<br />

immer wieder?<br />

Ich erzähle Kindern am liebsten die Geschichten, die mich<br />

selbst sehr beeindruckt haben, wie das Märchen Momotaro.<br />

Warum, glauben Sie, erzählen wir uns Geschichten?<br />

Vor allem Kinder werden mit Geschichten auf sanftem Weg<br />

vertraut mit universellen Themen wie Liebe, Natur, Glauben,<br />

Zuneigung der Familie, aber auch Verrat, und bekommen dadurch<br />

auch die Vorstellungskraft, um ihr anschließendes<br />

Leben fantasievoll zu meistern.<br />

Fünf Fragen an …


Sigurds Rettung<br />

von<br />

Yusuf Özgüney<br />

Eine Fortsetzung der Kinderoper<br />

Sigurd der Drachentöter<br />

von Yusuf Özgüney, Klasse 6a<br />

der Mittelschule Garching<br />

Der junge Sigurd wächst bei dem Schmied Regin auf, der<br />

ihn aber einzig und allein ausnutzen will: Mit seiner Hilfe<br />

will er seinen Bruder Fafner besiegen, um an den Nibelungenschatz<br />

zu gelangen. Der Komponist Andy Pape hat mit<br />

der Oper Sigurd der Drachentöter eine einstündige Version<br />

des jungen Siegfried-Helden für Kinder geschaffen, die im<br />

Dezember 2011 auf dem Spielplan der <strong>Bayerische</strong>n <strong>Staatsoper</strong><br />

stand. Kinder ab neun Jahren konnten erleben, wie<br />

sich Sigurd mithilfe eines Raben von seinem Ziehvater Regin<br />

löst, ihn und Fafner tötet und an den Goldschatz gelangt.<br />

Anschließend waren die Kinder eingeladen, sich eine<br />

Fortsetzung der Geschichte auszudenken und an die <strong>Bayerische</strong><br />

<strong>Staatsoper</strong> zu schicken. Die schönste stammt von Yusuf<br />

Özgüney und ist auf der folgenden Seite zu lesen.<br />

Illustration Patrick Widmer


85<br />

N<br />

achdem Sigurds Stiefvater<br />

gestorben war, hatte<br />

er nur noch den Raben bei<br />

sich. Der Rabe wurde ein<br />

Mensch und wurde Sigurds<br />

Freundin. Es war ein Mädchen.<br />

Sie hatten viel Gold und<br />

fuhren in ihre Heimat und<br />

fingen ein neues Leben an.<br />

Sie fanden Freunde. Sie lebten<br />

fröhlich und sie hatten<br />

viel Spaß. Schon bald hatte<br />

Sigurd angefangen zur Arbeit<br />

zu gehen und verdiente Geld.<br />

In dieser Zeit war Regin<br />

doch nicht gestorben, weil<br />

Sigurd mit dem Mund die<br />

Flasche berührt hatte. Regin<br />

hatte so Drachenblut geleckt.<br />

Deswegen hatte er sich in<br />

einen Drachen verwandelt.<br />

Er wollte Sigurd und seine<br />

Freundin töten und das ganze<br />

Gold nehmen. Regin lief<br />

umher und traf am Ufer eines<br />

Baches auf ein Orakel. Regin<br />

lief hin und fragte: „Wo ist<br />

Sigurd, der Wälsung?“ Das<br />

Orakel antwortete ihm, dass<br />

Sigurd in seiner Heimat wäre,<br />

und verschwand.<br />

Regin flog nach Spanien,<br />

die Heimat von Sigurd. Sigurd<br />

und seine Freundin waren an<br />

einem schönen Tag auf einem<br />

Feld. Sie spielten Spiele, sie<br />

liefen herum, doch dann kam<br />

ein kräftiger Sturm.<br />

Sie sagte: „Sigurd? Wo bist<br />

du?“ Sigurd schrie: „Hier!“<br />

Regin erblickte Sigurd und<br />

landete auf dem Feld. Der<br />

Drache fragte Sigurd: „Weißt<br />

du, wer ich bin? Ich bin Regin!“<br />

„Nein!“ „Dank dir lebe<br />

ich noch! Jetzt aber nehme<br />

ich Rache an euch und werde<br />

euch umbringen und euer<br />

Gold nehmen!“<br />

Regin kam immer näher<br />

und näher. Gerade als er Sigurd<br />

auffressen wollte, flog<br />

ein Wurfspeer in Regins Kehle.<br />

Regin flog auf den Boden<br />

und bekam keine Luft.<br />

Sigurd überlegte, wer das<br />

gewesen sein könnte. Da kam<br />

der berühmte Krieger herbei,<br />

Sigurds Vater. Sigurd lief zu<br />

seinem Vater und umarmte<br />

ihn. „Wo warst du so lange?“,<br />

fragte Sigurd. Sein Vater gab<br />

ihm keine Antwort. „Gehen<br />

wir nach Hause“, schlug Sigurd<br />

vor, und sie gingen fröhlich<br />

heim. Und niemand konnte<br />

sie trennen.


Fünf Fragen an …<br />

Sophie Koch<br />

Fricka — Das Rheingold,<br />

Die Walküre<br />

Welchen Faden aus Wagners Erzählung des<br />

Nibelungen-Mythos verfolgen Sie am liebsten?<br />

Alles, was mit Liebe und Verlangen zu tun hat, wie etwa in<br />

der Szene der Götterdämmerung, wenn Brünnhilde gegenüber<br />

Waltraute ihre Liebe zu Siegfried bekennt.<br />

Wer hat Ihnen an welchen Orten<br />

Geschichten erzählt?<br />

Meine Mutter hat mir vor dem Einschlafen immer Geschichten<br />

erzählt, und ich habe auch sehr viele aufgezeichnete,<br />

mit Musik unterlegte Geschichten angehört.<br />

Welche Geschichte hörten Sie in Ihrer<br />

Kindheit am liebsten?<br />

Eine meiner Lieblingsgeschichten ist aus Tausendundeiner<br />

Nacht: Ali Baba und die vierzig Räuber. Am spannendsten<br />

fand ich die Stelle, als Ali Baba den Zauberspruch „Sesam,<br />

öffne dich“ ausspricht und sich vor ihm die Höhle mit all den<br />

versteckten Schätzen der vierzig Räuber öffnet.<br />

„Am spannendsten<br />

fand ich die Stelle,<br />

als Ali Baba den<br />

Zauberspruch<br />

‚Sesam, öffne dich’<br />

ausspricht und sich<br />

vor ihm die Höhle<br />

mit all den versteckten<br />

Schätzen<br />

öffnet.“<br />

Wem erzählen Sie welche Geschichte gerne<br />

immer wieder?<br />

Ich erzähle meiner Tochter Geschichten, ein paar Klassiker<br />

(Aschenputtel, Hänsel und Gretel) und ganz viele erfundene!<br />

Warum, glauben Sie, erzählen wir uns Geschichten?<br />

Wir erzählen uns Geschichten, weil wir mehr über die Menschen<br />

erfahren und ihre Seele verstehen wollen. Der Nibelungen-Mythos,<br />

glaube ich, will uns sagen, dass die Menschen<br />

klüger sein und nicht immer nach noch mehr Macht<br />

streben sollen, weil dies zur Katastrophe führt.<br />

Fünf Fragen an …


Fünf Fragen an … 87<br />

Stephen Gould<br />

Siegfried —<br />

Götterdämmerung<br />

„Ich erfreue die<br />

Leute mit Geschichten<br />

darüber, wie ich<br />

versuchte, Deutsch<br />

(Hochdeutsch) zu<br />

lernen – in meinen<br />

ersten Jahren in<br />

Oberösterreich.“<br />

Welchen Faden aus Wagners Erzählung des<br />

Nibelungen-Mythos verfolgen Sie am liebsten?<br />

Obwohl ich die Partien des Siegmund und der beiden Siegfrieds<br />

singe, ist für mich das Motiv von Wotans Willen der<br />

interessanteste Aspekt des Ring. Dieser doppelte Faden aus<br />

Verlangen nach Macht, Kontrolle und Wissen und seiner nihilistischen<br />

Reise auf der Suche nach ewigem Frieden ist<br />

unglaublich fesselnd.<br />

Wer hat Ihnen an welchen Orten<br />

Geschichten erzählt?<br />

Die meisten Geschichten aus meiner Kindheit habe ich natürlich<br />

von meinen Eltern und auch Großeltern gehört. Meine<br />

Schwester und ich haben beide ganz viele Geschichten<br />

mit biblischen Gestalten und klassische griechische Mythen<br />

gehört. Das war natürlich das Ergebnis davon, mit einem<br />

methodistischen Pfarrer als Vater und einer Mutter, die<br />

Lehrerin für Literatur war, aufzuwachsen.<br />

Fünf Fragen an …<br />

Welche Geschichte hörten Sie in Ihrer<br />

Kindheit am liebsten?<br />

Nun, die meisten Geschichten, die mit „und sie lebten glücklich<br />

bis an ihr Lebensende“ aufhörten, waren natürlich sehr<br />

beruhigend, als Kind. Seltsamerweise mochte ich immer den<br />

Mythos des Sisyphos sehr, des Königs, der von den Göttern<br />

dazu verdammt wurde, fortwährend den Felsbrocken den Hügel<br />

hinaufzurollen, nur um ihn dann wieder herunterrollen zu<br />

sehen. Es mag darin hauptsächlich um die Tragödie und<br />

Sinnlosigkeit des Ganzen gehen, aber ich habe immer eher<br />

das heroische Element gesehen, das darin besteht, immer<br />

gegen das schier Unmögliche anzukämpfen. Vielleicht ist es<br />

das, was mich eigentlich zu Wagner geführt hat ...<br />

Wem erzählen Sie welche Geschichte gerne<br />

immer wieder?<br />

Ich erzähle keine Geschichten in epischer Breite. Ich bringe<br />

die Leute gern zum Lachen, meistens jedenfalls, also erfreue<br />

ich sie mit Geschichten darüber, wie ich versuchte, Deutsch<br />

(Hochdeutsch) zu lernen – in meinen ersten Jahren in Oberösterreich.<br />

Das ist immer ein großer Lacher.<br />

Warum, glauben Sie, erzählen wir uns Geschichten?<br />

Über Geschichten können wir nicht nur erfahren, was es im<br />

Kern heißt, menschlich zu sein, sondern wir können auch einen<br />

kleinen Teil unserer eigenen menschlichen Reise mit<br />

anderen teilen. So etwas schafft man nicht mit „Tweets”.<br />

Übersetzung Maria März


Hofbräu, mein München<br />

Das Theateralphabet...<br />

der Auftakt.


AgendA<br />

Spielplan<br />

90<br />

Plakatkünstler<br />

96<br />

Vorschau<br />

100


SpielplAn<br />

24.01.12<br />

bis<br />

10.04.12<br />

Soweit nicht anders angegeben, finden alle Veranstaltungen im Nationaltheater statt.<br />

T 089 – 21 85 19 20<br />

Karten<br />

Tageskasse der <strong>Bayerische</strong>n <strong>Staatsoper</strong><br />

Marstallplatz 5<br />

80539 München<br />

tickets@st-oper.bayern.de<br />

www.staatsoper.de


Oper<br />

Giuseppe Verdi<br />

Don Carlo<br />

Musikalische Leitung Asher Fisch<br />

Inszenierung Jürgen Rose<br />

rené Pape, Jonas Kaufmann, Mariusz Kwiecien, eric Halfvarson,<br />

Diogenes randes, anja Harteros, anna Smirnova, Laura tatulescu,<br />

Francesco Petrozzi, Kenneth roberson, evgeniya Sotnikova,<br />

tim Kuyers, Peter Mazalán, Levente Molnár, Christian rieger,<br />

Christoph Stephinger, rüdiger trebes<br />

Do 26.01.12 18:00 Uhr<br />

So 29.01.12 17:00 Uhr<br />

Gaetano Donizetti<br />

roberto Devereux<br />

Musikalische Leitung Friedrich Haider<br />

Inszenierung Christof Loy<br />

edita Gruberova, Fabio Maria Capitanucci, Carmen Oprisanu 01./05.02.,<br />

Sonia Ganassi 09./13.02., Joseph Calleja, Francesco Petrozzi, Goran<br />

Jurić, John Chest<br />

Mi 01.02.12 19:00 Uhr<br />

So 05.02.12 17:00 Uhr<br />

Do 09.02.12 19:00 Uhr<br />

Mo 13.02.12 19:30 Uhr<br />

Richard Wagner<br />

Das rheingold<br />

Musikalische Leitung Kent Nagano<br />

Inszenierung Andreas Kriegenburg<br />

Johan reuter, Levente Molnár, thomas Blondelle, Stefan Margita,<br />

Wolfgang Koch, Ulrich reß, Diogenes randes, Phillip ens, Sophie Koch,<br />

aga Mikolaj, Catherine Wyn-rogers, eri nakamura, angela Brower,<br />

Okka von der Damerau<br />

Giuseppe Verdi<br />

La traviata<br />

Musikalische Leitung Henrik Nánási<br />

Inszenierung Günter Krämer<br />

Marina Poplavskaya, Heike Grötzinger, Silvia Hauer, James Valenti, Leo<br />

nucci, Francesco Petrozzi, Christian rieger, Peter Mazalán, Christoph<br />

Stephinger, Dean Power, tim Kuyers, tareq nazmi<br />

Di 14.02.12 19:30 Uhr<br />

Fr 17.02.12 19:30 Uhr<br />

Mi 22.02.12 19:30 Uhr<br />

So 26.02.12 18:00 Uhr<br />

Giacomo Puccini<br />

Madama Butterfly<br />

Musikalische Leitung Stefano Ranzani<br />

Inszenierung Wolf Busse<br />

Svetla Vassileva, Okka von der Damerau, roberto alagna, Silvia Hauer,<br />

Franco Vassallo, Ulrich reß, Christian rieger, Goran Juri,<br />

tareq nazmi, Peter Mazalán<br />

Sa 18.02.12 19:00 Uhr<br />

Di 21.02.12 19:00 Uhr<br />

Sa 25.02.12 19:00 Uhr<br />

Do 01.03.12 19:00 Uhr<br />

Gioachino Rossini<br />

Il barbiere di Siviglia<br />

Musikalische Leitung Karel Mark Chichon<br />

Inszenierung Ferruccio Soleri<br />

antonino Siragusa, Donato Di Stefano, tara erraught, Fabio Maria Capitanucci,<br />

Lorenzo regazzo, tim Kuyers, rüdiger trebes, evgeniya<br />

Sotnikova, Kenneth roberson<br />

So 04.03.12 19:00 Uhr<br />

Mi 07.03.12 19:00 Uhr<br />

Fr 09.03.12 19:00 Uhr<br />

Di 13.03.12 19:00 Uhr<br />

Sa 04.02.12 19:00 Uhr<br />

Mi 08.02.12 19:30 Uhr<br />

So 12.02.12 16:00 Uhr<br />

sponsored by<br />

Premiere<br />

Richard Wagner<br />

Die Walküre<br />

Musikalische Leitung Kent Nagano<br />

Inszenierung Andreas Kriegenburg<br />

Klaus Florian Vogt, ain anger, Juha Uusitalo, anja Kampe, Katarina<br />

Dalayman, Sophie Koch, erika Wueschner, Danielle Halbwachs, Golda<br />

Schultz, Heike Grötzinger, roswitha C. Müller, alexandra Petersamer,<br />

Okka von der Damerau, anaïk Morel<br />

So 11.03.12 16:00 Uhr<br />

Do 15.03.12 17:00 Uhr<br />

So 18.03.12 16:00 Uhr<br />

So 25.03.12 16:00 Uhr<br />

Premiere<br />

sponsored by<br />

aGenDa 91


Giuseppe Verdi<br />

Macbeth<br />

Musikalische Leitung Teodor Currentzis<br />

Inszenierung Martin Kušej<br />

Franco Vassallo, Christof Fischesser, tatiana Serjan, evgeniya Sotnikova,<br />

Francesco Demuro, Fabrizio Mercurio, Christoph Stephinger, rüdiger<br />

trebes, Christian rieger, tareq nazmi, Iulia Maria Dan, Solist des<br />

tölzer Knabenchors<br />

Mi 14.03.12 19:00 Uhr<br />

Sa 17.03.12 19:00 Uhr<br />

Di 20.03.12 19:00 Uhr<br />

Fr 23.03.12 19:00 Uhr<br />

BALLett<br />

John Neumeier<br />

Der Nussknacker<br />

Musik Peter I. Tschaikowsky<br />

Solisten und ensemble des <strong>Bayerische</strong>n Staatsballetts<br />

Musikalische Leitung Valery Ovsianikov<br />

Sa 28.01.12 19:30 Uhr<br />

Peter I. Tschaikowsky<br />

eugen Onegin<br />

Musikalische Leitung Pietari Inkinen<br />

Inszenierung Krzysztof Warlikowski<br />

Heike Grötzinger, ekaterina Scherbachenko, alisa Kolosova, elena Zilio,<br />

Simon Keenlyside, Pavol Breslik, ain anger, Ulrich reß<br />

Mi 21.03.12 19:00 Uhr<br />

Sa 24.03.12 19:00 Uhr<br />

Mi 28.03.12 19:00 Uhr<br />

Simone Sandroni / Russell Maliphant / Kenneth MacMillan<br />

Das Mädchen und der<br />

Messerwerfer / AfterLight /<br />

Broken Falls / Las Hermanas<br />

Musik 48nord / Eric Satie / Frank Martin<br />

Solisten und ensemble des <strong>Bayerische</strong>n Staatsballetts<br />

Giuseppe Verdi<br />

Otello<br />

Musikalische Leitung Karel Mark Chichon<br />

Inszenierung Francesca Zambello<br />

Peter Seiffert, Juha Uusitalo, Pavol Breslik, Francesco Petrozzi, Diogenes<br />

randes, Goran Juri, Peter Mazalán, Krassimira Stoyanova<br />

Sa 31.03.12 19:00 Uhr<br />

Di 03.04.12 19:00 Uhr<br />

Sa 07.04.12 19:00 Uhr<br />

Di 10.04.12 19:00 Uhr<br />

Richard Wagner<br />

parsifal<br />

Musikalische Leitung Kent Nagano<br />

Inszenierung Peter Konwitschny<br />

Michael Volle, Diogenes randes, Stephen Milling, Christopher Ventris,<br />

Gerd Grochowski, Waltraud Meier, Kevin Conners, Levente Molnár, Solist<br />

des tölzer Knabenchors, Ulrich reß, Kenneth roberson, anna Virovlansky,<br />

Laura tatulescu, tara erraught, eri nakamura, angela Brower,<br />

Okka von der Damerau<br />

Starke Stücke –<br />

Zur Premiere von Das Mädchen und der Messer werfer<br />

ein Mädchen, „nicht einmal jung“,<br />

wie es in den Versen des Gedichtzyklus<br />

Das Mädchen und der<br />

Messerwerfer von Wolf Wondratschek<br />

heißt. es hat keinen<br />

namen, scheint verwandt mit den<br />

Figuren aus Carson McCullers<br />

romanen über die Mädchen, die<br />

ein Junge sein wollten: Sie haben<br />

gemeinsam, dass sie sich nicht<br />

wohl in ihrer Haut fühlen, verloren,<br />

allein, einsam. akribisch<br />

beobachten sie Menschen und<br />

Umgebung, ungnädig, unversöhnlich.<br />

Das Mädchen geht durch<br />

das Leben, ohne Verbindung<br />

aufzunehmen, ohne dazuzugehören,<br />

sich trotzig behauptend. „alle<br />

auf der Bühne sind allein“, schreibt<br />

der autor, „das Mädchen sollte<br />

das Herzstück sein, fragil, verletzbar,<br />

geheimnisvoll.“ Der Choreograph<br />

Sandroni erzählt diese<br />

Geschichte in seiner wilden, leisen,<br />

dynamischen tanzsprache, mit<br />

der Kanadierin emma Barrowman<br />

in der Hauptpartie.<br />

Mo 30.01.12 19:30 Uhr Prinzregententheater<br />

Di 31.01.12 19:30 Uhr Prinzregententheater<br />

Mi 01.02.12 19:30 Uhr Prinzregententheater<br />

Do 02.02.12 19:30 Uhr Prinzregententheater<br />

Folgen wird mit Las Hermanas<br />

eine klassische erzählung der<br />

1960er Jahre, nach dem Drama<br />

Bernarda Albas Haus von<br />

Federico García Lorca und nach<br />

der Choreographie von Kenneth<br />

MacMillan, einem der großen<br />

englischen erzähler auf der Ballettbühne,<br />

psychologisch sezierend,<br />

leidenschaftlich, expressiv. Der<br />

Link zwischen beiden traditionen<br />

ist russell Maliphant, royal<br />

Ballet School-absolvent und ehemals<br />

tänzer am royal Ballet London.<br />

er kommt mit zwei herausragenden<br />

preisgekrönten Stücken,<br />

seinem Solo AfterLight und<br />

dem trio Broken Falls, ursprünglich<br />

geschaffen für Sylvie Guillem<br />

und die Ballet Boyz, in München<br />

interpretiert von ekaterina<br />

Petina, erik Murzagaliyev und<br />

Marlon Dino. Zeitgenössische englische<br />

Choreographie vom Feinsten.<br />

–bwb<br />

Premiere<br />

Do 05.04.12 17:00 Uhr<br />

So 08.04.12 17:00 Uhr<br />

aGenDa 92


Nacho Duato<br />

Vielfältigkeit. Formen von<br />

Stille und Leere<br />

Musik Johann Sebastian Bach<br />

Solisten und ensemble des <strong>Bayerische</strong>n Staatsballetts<br />

Mo 06.02.12 19:30 Uhr<br />

Di 07.02.12 19:30 Uhr<br />

Frederick Ashton / Kenneth MacMillan<br />

Steps & times<br />

Scènes de ballet / Five Brahms Waltzes in the Manner of Isadora Duncan<br />

/ Frühlingsstimmen / Das Lied von der erde<br />

Musik Igor Strawinsky, Johannes Brahms, Johann Strauß, Gustav<br />

Mahler<br />

Solisten und ensemble des <strong>Bayerische</strong>n Staatsballetts<br />

Musikalische Leitung Ryusuke Numajiri<br />

Do 29.03.12 19:30 Uhr<br />

Fr 30.03.12 19:30 Uhr<br />

So 01.04.12 18:00 Uhr<br />

Jörg Mannes / Terence Kohler<br />

Mein ravel: Wohin er auch<br />

blickt ... /<br />

Daphnis und Chloé<br />

Musik Maurice Ravel<br />

Ballett extra<br />

Der Choreograph Frederick ashton<br />

Sa 17.03.12 20:00 Uhr Ballettprobenhaus, Platzl 7<br />

Der Choreograph Kenneth MacMillan<br />

Sa 24.03.12 20:00 Uhr Ballettprobenhaus, Platzl 7<br />

Solisten und ensemble des <strong>Bayerische</strong>n Staatsballetts<br />

Musikalische Leitung Michael Schmidtsdorff<br />

Fr 10.02.12 19:30 Uhr<br />

Sa 11.02.12 19:30 Uhr<br />

Mi 15.02.12 19:30 Uhr<br />

Do 16.02.12 19:30 Uhr<br />

Fr 24.02.12 19:30 Uhr<br />

Marius Petipa<br />

Dornröschen<br />

Musik Peter I. Tschaikowsky<br />

Inszenierung und neue Choreographie Ivan Liška<br />

Solisten und ensemble des <strong>Bayerische</strong>n Staatsballetts<br />

Musikalische Leitung Myron Romanul<br />

So 19.02.12 17:00 Uhr<br />

Mo 20.02.12 19:30 Uhr<br />

Fr 02.03.12 19:30 Uhr<br />

Sa 03.03.12 19:30 Uhr<br />

Mi 04.04.12 19:30 Uhr<br />

Mo 09.04.12 18:00 Uhr<br />

John Neumeier<br />

Illusionen – wie Schwanensee<br />

Musik Peter I. Tschaikowsky<br />

Solisten und ensemble des <strong>Bayerische</strong>n Staatsballetts<br />

Musikalische Leitung Michael Schmidtsdorff<br />

Sa 10.03.12 19:00 Uhr<br />

Mo 12.03.12 19:00 Uhr<br />

Fr 16.03.12 19:00 Uhr<br />

Mo 19.03.12 19:00 Uhr<br />

Do 22.03.12 19:00 Uhr<br />

aGenDa 93


KONzerte<br />

PARTNER DES BAyERISCHEN STAATSORCHESTERS<br />

LIeDerABeND<br />

Liederabend<br />

thomas Quasthoff<br />

Carl Loewe, robert Schumann, richard Strauss, Gustav Mahler<br />

3. Kammerkonzert<br />

Joseph Haydn, Gheorghe Mustea, Dmitri Schostakowitsch<br />

Violine Rita Rózsa, Immanuel Drißner<br />

Viola Adrian Mustea<br />

Violoncello Rupert Buchner<br />

Di 24.01.12 20:00 Uhr Allerheiligen Hofkirche<br />

Faschingskammerkonzert<br />

Wolfgang amadeus Mozart<br />

Christoph Well liest Bäsle-Briefe<br />

Flöte Andrea Ikker<br />

Violine Ulrike Collins<br />

Viola Wolfgang Berg<br />

Violoncello yves Savary<br />

Di 14.02.12 20:00 Uhr Allerheiligen Hofkirche<br />

4. Kammerkonzert<br />

Joseph Haydn, Louise Farrenc, George Crumb, Carl Maria von Weber<br />

Bassbariton Thomas Quasthoff<br />

Klavier Justus Zeyen<br />

Fr 03.02.12 20:00 Uhr<br />

rUND UM DeN rING –<br />

DAS BeGLeItprOGrAMM<br />

rInGSeMInar: DaS rHeInGOLD<br />

So 12.02.12 09:00 Uhr Capriccio-Saal<br />

Mo 13.02.12 18:00 Uhr Capriccio-Saal<br />

rInG-MatInee 2: arBeIt<br />

So 26.02.12 11:00 Uhr<br />

rInG-MatInee 3: MaCHt<br />

So 04.03.12 11:00 Uhr Senatssaal des <strong>Bayerische</strong>n Landtags,<br />

Maximilianeum<br />

rInG-SeMInar: DIe WaLKüre<br />

So 18.03.12 09:00 Uhr Capriccio-Saal<br />

Mo 19.03.12 18:00 Uhr Capriccio-Saal<br />

Flöte Katharina Kutnewsky<br />

Violoncello Anja Fabricius<br />

Klavier Fritz Schwinghammer<br />

So 04.03.12 11:00 Uhr Allerheiligen Hofkirche<br />

Di 06.03.12 20:00 Uhr Allerheiligen Hofkirche<br />

4. Akademiekonzert<br />

nikolai rimsky-Korsakov, Paul Dukas, richard Strauss<br />

Musikalische Leitung Kurt Masur<br />

Mo 26.03.12 20:00 Uhr<br />

Di 27.03.12 20:00 Uhr<br />

aGenDa 94


CAMpUS<br />

Sitzkissenkonzert:<br />

Hänsel und Gretel<br />

engelbert Humperdinck / Frank rudhardt<br />

Sa 28.01.12 14:30 Uhr Parkett, Garderobe<br />

Spiel Ballett:<br />

es war einmal und ist noch<br />

nicht vorbei …<br />

Sa 18.02.12 14:00 Uhr Ballettprobenhaus, Platzl 7<br />

Sa 25.02.12 14:00 Uhr Ballettprobenhaus, Platzl 7<br />

Sitzkissenkonzert:<br />

Die Kinderstube<br />

Modest Mussorgsky<br />

Sa 10.03.12 14:30 Uhr Parkett, Garderobe<br />

Sa 17.03.12 14:30 Uhr Parkett, Garderobe<br />

Wovon erzählt uns<br />

richard Wagner?<br />

Fr 16.03.12 15:00 Uhr Treffpunkt: Seitlicher Eingang<br />

an der Maximilianstraße<br />

passionskonzert<br />

Sprecher Dr. Günther Beckstein, Ministerpräsident a.D.<br />

Do 29.03.12 19:30 Uhr Allerheiligen Hofkirche<br />

Der Vorverkauf erfolgt über die Freunde des nationaltheaters e.V.:<br />

t 089 – 53 10 48 oder freunde-des-nationaltheaters@t-online.de<br />

HAUPTSPONSOR DER ORCHESTERAKADEMIE<br />

Illustration Gian Gisiger, Bureau Mirko Borsche aGenDa 95


Der Berliner Künstler Dennis Rudolph, Jahrgang 1979,<br />

gestaltet die Plakatserien für den Ring des Nibelungen<br />

in der Spielzeit 2011/12. Dennis Rudolph arbeitet in<br />

verschiedensten künstlerischen Medien wie Malerei,<br />

experimentelle Druckgrafik, Zeichnung und Fotografie.<br />

Dabei sind es immer die historischen Dimensionen, die<br />

ihn interessieren und die er mit zeitgenössischem Stil<br />

und zeitgenössischem Denken überlagert und ins Heute<br />

spielt. Auf diese Weise tragen uns seine Arbeiten mitten<br />

in die Auseinandersetzung.


klassik inspiriert *<br />

* Vlado Milunić & Frank Gehry: „Das tanzende Haus“<br />

www.br-klassik.de<br />

Foto: Wikimedia Creative Commons, 2008 Dino Quinzani


LEIDENSCHAFT<br />

VERBINDET.<br />

Als eines der weltweit führenden Gase- und Engineeringunternehmen<br />

wissen wir: Technik, Erfahrung und Präzision sind die Voraussetzung für<br />

höchste Qualität. So auch in der Musik. Wir freuen uns, die <strong>Bayerische</strong><br />

<strong>Staatsoper</strong> als Spielzeitpartner zu begleiten. Wir teilen den Anspruch,<br />

kontinuierlich neue Maßstäbe zu setzen. Ob musikalisch oder technologisch<br />

– hinter jeder hervorragenden Leistung stehen Menschen mit<br />

Ambition.

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!