PDF-Download - Bayerische Staatsoper
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MAX JOSEPH<br />
Neu in szenier ung<br />
Der Ring des<br />
Nibelungen<br />
Andreas<br />
Kriegenburg<br />
Kent Nagano<br />
Erzählungen von<br />
Händl Klaus<br />
Christine Pitzke<br />
Helmut Krausser<br />
Ann Cotten<br />
Robert Hültner<br />
Vom<br />
Ring<br />
erzählen
<strong>Bayerische</strong><br />
staatsoper<br />
Max Joseph 2 2011–2012<br />
Das Magazin der <strong>Bayerische</strong>n <strong>Staatsoper</strong>
13 Künstler erzählen ihren Ring
Editorial 3<br />
Das Erzählen ist ein ungeheuerlicher Vorgang. Etwas erweckt unsere Aufmerksamkeit,<br />
eine Figur, eine Begebenheit, vielleicht auch die Stimme eines Erzählers.<br />
Folgen wir diesem Reiz, erwacht eine ganz eigene Landschaft, in der wir, den roten<br />
Faden des Erzählers ertastend, Bewohner neuer Welten werden. Zugleich sind wir<br />
selbst oft Erzähler, um zu unterhalten, zu überzeugen, um etwas preiszugeben von<br />
uns oder um Geschehenem einen Sinn zu verleihen.<br />
Im kommenden Halbjahr wird die <strong>Bayerische</strong> <strong>Staatsoper</strong> Richard Wagners<br />
Ring des Nibelungen neu auf die Bühne bringen. Für Regisseur Andreas Kriegenburg<br />
ist die gemeinschaftliche Erzählung dieses Mythos der zentrale Denkansatz.<br />
Daher haben wir für diese Ausgabe von MAX JOSEPH Literaten gebeten, uns<br />
eine Geschichte zu erzählen, deren Ausgangspunkt im Kosmos des Ring liegt, an<br />
deren Ende aber etwas völlig Neues steht. Entstanden sind Erzählungen in den<br />
unterschiedlichsten Farben, jede mit ihrer eigenen fantastischen Welt. Um die ruhende<br />
Waffe des Vaters etwa spinnt Helmut Krausser seine Erzählung, um ein<br />
Rinnsal aus Wasser, das in eine Achselhöhle laufen darf, Christine Pitzke ihre.<br />
Händl Klaus setzt an bei einem Vater, zu groß für eine Wohnung, und die Lyrikerin<br />
Ann Cotten bei einer Wette um das eigene Haupt.<br />
Die Bilder zwischen diesen Erzählungen haben internationale Künstler entworfen,<br />
die ebenfalls ganz eigene Darstellungen für bekannte Gestalten aus dem<br />
Ring gefunden haben. Anmutig und doch bedrohlich tritt bei Alex Simpson der<br />
Rhein über die Ufer, und Thais Beltrame lässt am Ende Siegfried von einem Leichenzug<br />
aus Kindern zu Grabe tragen.<br />
Zunächst aber kommen die Hauptpersonen der Ring-Inszenierung zu<br />
Wort. Andreas Kriegenburg spricht ausführlich über den zentralen Gedanken des<br />
Lagerfeuers, und Kent Nagano erzählt von seiner eigenen Erfahrung mit Erzählung<br />
und der Sprache der Musik. Solisten auf der Bühne schließlich verraten uns<br />
in überraschenden und oft berührenden Antworten, was sie persönlich mit dem<br />
Erzählen verbinden.<br />
Was in all diesen Facetten des Erzählens deutlich wird, ist der Reichtum<br />
einer guten Geschichte. Wir möchten Ihnen Lust machen, sich auf jede einzelne<br />
Erzählung einzulassen wie auch auf jene große, die alle Kräfte der <strong>Bayerische</strong>n<br />
<strong>Staatsoper</strong> mit Andreas Kriegenburg neu erzählen werden.<br />
Nikolaus Bachler, Staatsintendant<br />
Black Light (For Ten Performers), 2010-2011<br />
Photograph by Nina Canell & Robin Watkins
Zur NeuiNsZeNieruNg<br />
Der Ring des Nibelungen<br />
8<br />
Das Vergnügen am irrationalen<br />
Regisseur Andreas Kriegenburg<br />
über seinen Zugang zu Wagners<br />
Ring<br />
16<br />
Den Worten nachspüren<br />
Generalmusikdirektor Kent<br />
Nagano über die Sprache der<br />
Musik<br />
ErzählungEn<br />
von Literaten zu einem Motiv aus dem Kosmos des Ring<br />
Ann Cotten – Willkür<br />
Von einer Wette um das eigene Haupt,<br />
wenn es nicht gelänge, sechs jungen Männern<br />
Spaß zu bringen<br />
helmut Krausser – Die Familie<br />
der Verlorenen (Bronn)<br />
Von einer liegen gebliebenen Waffe<br />
des Vaters, die Bronn gebraucht, um<br />
sich Lust zu verschaffen<br />
Christine Pitzke<br />
Die Pause nach dem Dritten<br />
Akt und kein Ende<br />
26<br />
36<br />
Von einem so rauschhaften wie poetischen Musikerlebnis 48<br />
händl Klaus – Mädi<br />
Von der Rache des Sohnes an seinem zu großen Vater<br />
56<br />
Zum Cover<br />
Der amerikanische<br />
Fotograf Blake<br />
Andrews ist<br />
Auto didakt. Ausgerüstet<br />
mit einer<br />
Kleinbildkamera<br />
fängt er täglich das<br />
ein, was ihm<br />
direkt in den Blick<br />
kommt. Das Kind<br />
auf dem Foto ist<br />
sein jüngster Sohn<br />
Emmett, aufgenommen<br />
im Alter<br />
von drei Jahren,<br />
als er den zauberwald<br />
in Salem /<br />
Oregon besuchte<br />
(www.blakeandrews.<br />
blogspot.com).<br />
Silke Scheuermann<br />
Die Rheintöchter<br />
Von Magda, die an der Gewöhnlichkeit<br />
ihrer Töchter leidet, und eines Tages doch<br />
ihr Hörkränzchen beeindruckt<br />
robert hültner – Die Ablehnung<br />
Von einer fiktiven Erklärung des<br />
Dramaturgen an den Autor, der die Vertonung<br />
des Nibelungenliedes eingereicht hat<br />
Als ZugAbe<br />
Yusuf Özgüney (12 Jahre)<br />
Sigurds Rettung<br />
Vom weiteren Schicksal Sigurds,<br />
dem Helden aus der<br />
Kinderoper Sigurd der Drachentöter<br />
64<br />
74<br />
84
BilDEr<br />
gestaltet von Künstlern, inspiriert von Szenen aus dem Ring<br />
säNger<br />
antworten auf Fragen zum Erzählen<br />
Elsa Voß (9 Jahre)<br />
Wie Fafner sich in einen Drachen verwandelt,<br />
und mehr (Filzstift) 22<br />
Brecht Vandenbroucke<br />
Wie die Riesen Freia rauben<br />
(Schwarzstift, CMYK-Colorierung)<br />
Alex Simpson<br />
Wie die Rheintöchter das Gold wiedererlangen und wie<br />
Siegfried die Stimme des Vögleins versteht (Aquarellfarbe)<br />
lili Scratchy<br />
Wie Fafner Fasolt erschlägt und wie die Rheitöchter<br />
sich unter Wasser vergnügen (Filzstift)<br />
Thais Beltrame<br />
Wie Siegfried zu Grabe getragen wird<br />
(Chinatinte und Pinsel)<br />
Elvis Studio<br />
Wie man den Ring in jeder Welt finden kann<br />
(Buntstift)<br />
32<br />
44<br />
54<br />
62<br />
72<br />
80<br />
Klaus Florian Vogt 34<br />
Siegmund<br />
Juha uusitalo 42<br />
Wotan, Der Wanderer<br />
Nina stemme 43<br />
Brünnhilde<br />
ulrich reß 52<br />
Mime<br />
Catherine Naglestad 53<br />
Brünnhilde<br />
Catherine Wyn-rogers 61<br />
Erda<br />
Okka von der Damerau 70<br />
Floßhilde<br />
Johan reuter 71<br />
Wotan<br />
eri Nakamura 83<br />
Woglinde<br />
sophie Koch 86<br />
Fricka<br />
stephen gould 87<br />
Siegfried<br />
Seite 2<br />
FOTOArBEiT<br />
von nina Canell & robin Watkins<br />
Seite 3<br />
EDiTOriAl<br />
von nikolaus Bachler<br />
Seite 6<br />
BilDKünSTlEr / imPrESSum<br />
Seite 89<br />
AgEnDA<br />
Seite 90<br />
SPiElPlAn<br />
Seite 96<br />
PlAKATKünSTlEr<br />
Collage von Dennis rudolph<br />
Seite 100<br />
VOrSChAu
Impressum<br />
Die Bildkünstler<br />
die diese MAX JOSEPH -Ausgabe gestaltet haben<br />
magazin der<br />
<strong>Bayerische</strong>n staatsoper<br />
www.staatsoper.de/maxjoseph<br />
max-Joseph-platz 2 / 80539 münchen<br />
T 089 – 21 85 10 20<br />
F 089 – 21 85 10 23<br />
www.staatsoper.de<br />
E-Mail<br />
maxjoseph@staatsoper.de<br />
Alex Simpson<br />
Seite 44<br />
Brecht Vandenbroucke<br />
Seite 32<br />
Elsa Voß (9 Jahre)<br />
Seite 22<br />
Herausgeber<br />
staatsintendant Nikolaus Bachler<br />
(V.i.s.d.p.)<br />
Redaktionsleitung<br />
maria märz<br />
Gesamtkoordination<br />
Christoph Koch<br />
Redaktion<br />
miron Hakenbeck, rainer Karlitschek,<br />
Olaf A. schmitt, Andrea schönhofer, martina<br />
stütz, Bettina Wagner-Bergelt<br />
Bildredaktion<br />
Yvonne Gebauer, Julia schmitt<br />
Gestaltung<br />
Bureau mirko Borsche<br />
mirko Borsche, Johannes von Gross,<br />
reinhard schmidt, Felix Wetzel<br />
Autoren<br />
Jörg Böckem, Ann Cotten, Händl Klaus, robert<br />
Hültner, Helmut Krausser, Yusuf Özgüney,<br />
Christine pitzke, silke scheuermann<br />
Fotografen & Illustratoren<br />
Blake Andrews, Thais Beltrame, Nadja<br />
Bournonville, Nina Canell & robin Watkins<br />
(mit bestem Dank an die Galerie Barbara<br />
Wien), elvis studio, Gian Gisiger, Till Janz,<br />
Jörg Koopmann, Dennis rudolph, Lili<br />
scratchy, Alex simpson, Brecht<br />
Vandenbroucke, elsa Voß, patrick Widmer<br />
Aquarelle sind das Herzstück<br />
der Arbeit der Londoner<br />
Künstlerin Alex Simpson.<br />
Sie lädt das Ungezwungene<br />
und Spontane dazu ein, ihre<br />
feingliedrigen Figuren in<br />
verwässerte Tinte ausbluten<br />
zu lassen. Für diese Ausgabe<br />
hat sie eindrucksvoll<br />
Siegfried diesen Weg gehen<br />
lassen, als er plötzlich die<br />
Sprache des Vögleins<br />
verstehen kann, und den<br />
mächtigen Moment, als der<br />
Rhein über die Ufer tritt und<br />
die Rheintöchter den Ring<br />
zurückgewinnen. Ab S. 44.<br />
Bunt, laut, roh und farbenfroh<br />
sind die Arbeiten des<br />
belgischen Künstlers Brecht<br />
Vandenbroucke. Der frisch<br />
diplomierte Illustrator<br />
gestaltet auch Plattencover<br />
und Plakate, veröffentlicht<br />
in Magazinen und Ausstellungen<br />
und zeichnet Comics.<br />
Entsprechend spannend ist<br />
das Bild des Moments, als<br />
Wotan mit der Bezahlung<br />
zögert, und daraufhin die<br />
Riesen Freia rauben und<br />
noch vor Sonnenuntergang<br />
Bezahlung verlangen.<br />
Zu sehen auf S. 32/33.<br />
Elsa geht in die Klasse 4f<br />
der Münchner Astrid-Lindgren-Grundschule.<br />
Sie malt<br />
sehr gern und denkt sich<br />
selbst Geschichten aus, die<br />
sie entweder aufschreibt<br />
oder zeichnet. Ihre eigenartigen<br />
und besonderen Welten<br />
beschäftigen sie oft wochenlang.<br />
Wer Mühe hat, sich im<br />
Geflecht der Wagner’schen<br />
Figuren zurechtzufinden,<br />
dem seien Elsas Zeichnungen<br />
empfohlen, die erstaunliche<br />
Klarheit darüber<br />
bringen, was wirklich zählt<br />
im Ring. Ab S. 22.<br />
Marketing<br />
Laura schieferle<br />
T 089 – 21 85 10 27 / F 089 – 21 85 10 33<br />
marketing@staatsoper.de<br />
Schlussredaktion<br />
Christiane Fritsche<br />
Verlag<br />
HOFFmANN uND CAmpe VerLAG GmbH,<br />
ein unternehmen der GANsKe<br />
VerLAGsGruppe<br />
Harvestehuder Weg 42 / 20149 Hamburg<br />
T 040 – 44 18 8-457 / F 040 – 44 18 8-236<br />
cp@hoca.de<br />
www.hocacp.de<br />
Lili Scratchy<br />
Seiten ß4/6ã<br />
Thais Beltrame<br />
Seite 72<br />
Elvis Studio<br />
Seite 80<br />
Anzeigenleitung<br />
<strong>Bayerische</strong> staatsoper:<br />
Imogen Lenhart<br />
T 089 – 21 85 10 06 / anzeigen@staatsoper.de<br />
Verlag:<br />
Doris Bielstein<br />
T 040 – 27 17 20 95 / doris.bielstein@jalag.de<br />
Vertrieb Zeitschriftenhandel<br />
premium sales Germany GmbH<br />
poßmoorweg 2-6 / 22301 Hamburg<br />
T 040 – 27 17-23 43<br />
Lithografie<br />
mXm Digital service, münchen<br />
Druck<br />
Gotteswinter, münchen<br />
ISSN<br />
1867-3260<br />
Nachdruck nur nach vorheriger einwilligung<br />
Alle rechte vorbehalten<br />
Ihr Pseudonym hat die<br />
Französin Lili Scratchy als<br />
Hommage an Die Simpsons<br />
im Jahr 199ß ausgewählt, als<br />
ihr erstes Kinderbuch Lulu<br />
Magazine veröffentlicht<br />
wurde. Ihre Arbeit – in<br />
Illustrationen, in Comics, in<br />
ihrem Laden in Paris –<br />
strahlt einen fröhlichen und<br />
lauten Optimismus aus. Ist<br />
dieser bei der Darstellung<br />
der Rheintöchter (S. 6ã/63)<br />
noch gut vorstellbar, wirkt<br />
er verblüffenderweise auch<br />
im Bild der kämpfenden<br />
Riesen Fafner und Fasolt<br />
(S. ß4/ßß).<br />
Thais Beltrame hat schon<br />
als Kind Buntstifte gehasst<br />
und stattdessen mit<br />
Kugelschreibern endlose<br />
Linien und Muster gezeichnet.<br />
Mittlerweile schafft die<br />
in São Paolo lebende<br />
Künstlerin daraus Schwarz-<br />
Weiß-Zeichnungen zu<br />
existenziellen Themen, die<br />
das Dunkle in unseren<br />
Kindheitserinnerungen<br />
wachrufen, aber auch die<br />
glühende Entdeckerfreude<br />
darin. Für diese Ausgabe<br />
sind die gezeichneten<br />
Linien zu Siegfrieds Leichenzug<br />
geworden (S. 7ã/73).<br />
Helge Reumann und Xavier<br />
Robel arbeiten als Elvis<br />
Studio seit 1998 in Genf.<br />
Ihre Zeichnungen quellen<br />
über vor tausenderlei bunten<br />
Figuren, Widersprüchen<br />
und Wesen, einer Vielfalt am<br />
Rande des Wahnsinns. Ihr<br />
Bilderkosmos entsteht,<br />
indem jeder Künstler<br />
abwechselnd ein neues<br />
Fragment hinzufügt, dem<br />
Eigenleben ihrer Figuren<br />
folgend. Hier liegt nicht die<br />
Schönheit, sondern die<br />
Geschichte im Auge des<br />
Betrachters. Zu erfahren<br />
auf S. 80/81.<br />
Foto Beltrame: Adalberto rossette
München<br />
Residenzstrasse 6<br />
089 238 88 50 00<br />
Düsseldorf<br />
Kö-Center/<br />
Martin-Luther-Platz 32<br />
0211 135 40 92<br />
Frankfurt<br />
Goethestrasse/<br />
Grosse Bockenheimer-Str. 13<br />
069 219 96 700<br />
Hamburg<br />
Neuer Wall 39<br />
040 430 94 90<br />
Wien<br />
Am Kohlmarkt 4<br />
01 535 30 53<br />
www.akris.ch
Das Vergnügen am Irrationalen
Eine Gesellschaft<br />
sitzt um ein<br />
Lagerfeuer und<br />
erzählt sich vom<br />
Verschwinden<br />
der Götter und wie<br />
sie Macht‐ und<br />
materielle Gier<br />
über wunden hat –<br />
welch Utopie.<br />
Regisseur Andreas<br />
Kriegenburg<br />
erläutert für<br />
MAX JOSEPH<br />
den zentralen<br />
Denkansatz<br />
seiner Neuinszenierung<br />
von<br />
Richard Wagners<br />
Ring des<br />
Nibelungen.<br />
Links: Andreas Kriegenburg,<br />
Regisseur des<br />
neuen Ring an der<br />
<strong>Bayerische</strong>n <strong>Staatsoper</strong><br />
Fotografie Till Janz<br />
Richard Wagner hat<br />
mit dem Ring des Nibelungen versucht,<br />
aus mehreren mythologischen<br />
Quellen und zeitgenössischen<br />
Einflüssen ein in sich geschlossenes<br />
Weltgebäude zu errichten, in dem<br />
alles miteinander in Beziehung steht.<br />
Was reizt daran, dieses Weltgebäude<br />
neu zu errichten, oder was ist daran<br />
auch suspekt?<br />
Wagner<br />
hat sicherlich versucht, ein musikalisches,<br />
gedankliches, ästhetisches<br />
Werk mit einer großen Geschlossenheit<br />
und Wucht zu schaffen. Ob seine<br />
Intention tatsächlich dahin ging,<br />
eine Welt zu miniaturisieren, um sie<br />
dann innerhalb eines Bühnenkontextes<br />
wiedergeben zu können, weiß ich<br />
nicht. Das wäre mir vom Gedanken<br />
auch zu groß. Unser Ansatz in der<br />
Neuinszenierung wird sein, nicht zu<br />
versuchen, Welt abzubilden, sondern<br />
das Motiv der Entstehung von Welt<br />
durch Erzählung wiederzugeben.<br />
Diese Erzählung ist bei Wagner<br />
unglaublich komplex, wodurch der<br />
Eindruck einer großen Realität<br />
entsteht. Über die Verwerfungen, die<br />
Ausfransungen, über die Unwahrscheinlichkeiten<br />
wird es merkwürdigerweise<br />
wahrscheinlicher, dass sie<br />
eine ganze Welt abbilden soll. Ich<br />
glaube, dass man Wagner und sich<br />
selbst zu sehr unter Druck setzt,<br />
wenn man sagt: Ich muss eine oder<br />
gar seine Welt abbilden. Deshalb<br />
auch unser Versuch, den Interpretationsballast<br />
herunterzubrechen<br />
und sich auf das soziale Motiv des<br />
Erzählens zu konzentrieren.<br />
Die Figuren des Ring erzählen<br />
immer wieder, und das aus den<br />
unterschiedlichsten Gründen: um an<br />
Informationen zu kommen, um die<br />
Vergangenheit zu erinnern. Was aber<br />
meint Erzählen als soziales Motiv?<br />
Das Erzählen ist auch der<br />
Ausgangspunkt Wagners. Er unterscheidet<br />
nicht strukturell zwischen<br />
Erzählung und Kunstwerk, zwischen<br />
Rezitativ und Arie, die sich letztlich<br />
wie ein Zeitloch in die Handlung<br />
Interview Miron Hakenbeck und Olaf A. Schmitt<br />
9<br />
drückt. Ich glaube, es gibt Werke,<br />
die mehr oder weniger stark erzählend<br />
sind, ein Werk von Mozart oder<br />
Händel ist sicher weniger erzählend.<br />
Die Behauptung von Erzählung<br />
funktioniert dort nur als Vehikel: auf<br />
der einen Seite für die Ausstellung<br />
von Kunstfertigkeiten und auf der<br />
anderen Seite zur Widerspiegelung<br />
von inneren Zuständen. Manche<br />
Erzählungen geben nur vor, Erzählung<br />
zu sein, sind aber Traum oder<br />
Angstvision. Sie bewegen sich<br />
nirgendwohin und haben keine<br />
Interaktion mit der Wirklichkeit. Da<br />
entsteht ein dramatischer Moment<br />
auf der Bühne, und man bewegt sich<br />
lange um ihn herum – mit Arien und<br />
Koloraturen. Das ist beim Ring ganz<br />
anders. Die Intention zu erzählen ist<br />
ein wesentlicher Motor für die<br />
Geschichte. Wagner ist hier viel<br />
unerbittlicher, drängender, treibender,<br />
ist auch musikalisch fortlaufend<br />
am Erzählen, mit Ahnungen und<br />
Deutungen, die sich überschneiden.<br />
Er gibt den Figuren untereinander<br />
viel Zeit und Raum, etwas von sich<br />
preiszugeben, Rätselhaftes als<br />
rätselhaft zu bemerken und eben<br />
nicht entschlüsseln zu können.<br />
Merkwürdigerweise hat man auf der<br />
anderen Seite das Gefühl, dass<br />
gleichzeitig die Geschichte in<br />
gigantischem Tempo auf die nächstmögliche<br />
schlimme Wendung zurast.<br />
Vor allem aber wollen wir versuchen,<br />
den Ring wieder als eine unsere<br />
Kultur stiftende Erzählung zu<br />
verstehen und als ein soziales<br />
Ereignis: Man teilt einander Gewusstes,<br />
Erlebtes oder auch Erfundenes<br />
mit.<br />
Und wer erzählt da wem etwas?<br />
Wenn man es ganz utopisch<br />
formuliert, dann erzählt die Gesellschaft<br />
sich selber etwas. Es gibt<br />
nicht den einen Erzähler, sondern<br />
der gesamte Apparat der Oper<br />
fungiert als Erzähler, bündelt die<br />
Fantasiekräfte. Weniger um ein<br />
ästhetisches Überrumpelungswerk<br />
zu entwerfen, sondern vielmehr setzt
sich die Gesellschaft mit ihren<br />
Wurzeln auseinander, indem sie<br />
sich von ihnen erzählt.<br />
Welche Funktion hat eine solche<br />
kollektive Erzählung? Definiert oder<br />
erschafft sich diese Gesellschaft<br />
damit neu?<br />
Vielleicht schafft sie sich sogar<br />
neu, aber in einem fortwährenden<br />
Prozess, indem sie sich ihrer Wurzeln<br />
versichert. Kollektive Erinnerung<br />
stiftet immer Identität. Das ist eine<br />
der wesentlichsten Aufforderungen,<br />
die uns die Zeit stellt: Bleibt starrsinnig<br />
im euch Erinnern! Auch in der<br />
Auseinandersetzung mit Wagner<br />
taucht die Aufforderung auf, sich an<br />
ihn, sein Werk, aber auch an das zu<br />
erinnern, was mit ihm manipulativ<br />
geschehen ist. Für mich ist allerdings<br />
das soziale Ereignis wichtiger als der<br />
Nebeneffekt, dass eine kulturelle<br />
Identität entsteht oder sich bestätigt.<br />
Wo setzt die Erzählung dann an?<br />
Wir haben es ja mit einem doppelten<br />
Mythos zu tun. Da ist einerseits das<br />
scheinbar Ursprüngliche, das<br />
„Urgewand“, wie Wagner es nennt:<br />
mehrere Stoffe, die im 19. Jahrhundert<br />
überhaupt erst wieder auftauchten<br />
– die Nibelungensaga, die Edda<br />
usw. Dann gibt es Wagners spezifische<br />
Erzählweise. Sie haben sich mit<br />
dem Nibelungenstoff in der Inszenierung<br />
von Friedrich Hebbels Version<br />
Der Regisseur Andreas Kriegenburg<br />
begann seine Theaterarbeit als Tischler<br />
und Techniker am Theater seines Geburtsortes<br />
Magdeburg. Nach ersten Inszenierungen<br />
in Frankfurt/Oder wurde er Anfang<br />
der 1990er Jahre Hausregisseur an der<br />
Volksbühne Berlin. Später inszenierte er<br />
regelmäßig am Staatstheater Hannover<br />
und am Burgtheater Wien, von 2001 bis<br />
2009 als Oberspielleiter am Thalia Theater<br />
Hamburg und seit 2009 am Deutschen<br />
Theater Berlin. Immer wieder kehrt er<br />
auch an die Münchner Kammerspiele zurück,<br />
wo er über Jahre hinweg eindrucksvolle<br />
Inszenierungen schuf. Schon für die<br />
Münchner Inszenierung von Friedrich<br />
Hebbels Die Nibelungen beschäftigte er<br />
sich mit jenem Mythos, der Richard<br />
Wagner als Ausgangspunkt für seine<br />
Ring‐Tetralogie diente. Diese wie auch<br />
zahlreiche andere Inszenierungen Kriegenburgs<br />
wurden zum Berliner Theatertreffen<br />
eingeladen. Mit Alban Bergs<br />
Wozzeck gab er 2008 sein bemerkenswertes<br />
Debüt an der <strong>Bayerische</strong>n <strong>Staatsoper</strong>.<br />
Hier bringt er nun mit seinem Team in<br />
einer Spielzeit alle vier Teile von Richard<br />
Wagners Der Ring des Nibelungen auf<br />
die Bühne. In seiner theaterfreien Zeit<br />
tanzt der selbsterklärte Utopist Tango<br />
und fährt leidenschaftlich gern Motorrad.<br />
Andreas Kriegenburg<br />
an den Münchner Kammerspielen<br />
schon auseinandergesetzt. Liegt nun<br />
der Ansatzpunkt zu dieser Erzählung<br />
nur bei Wagner, oder wollen Sie<br />
durch Wagner auch zu den Quellen<br />
stoßen?<br />
Vielleicht führt uns Wagner selbst<br />
zu den Quellen. Mein Gedanke ist,<br />
die Geschichte von ihrem Ende her,<br />
aus einer Perspektive nach der<br />
Götterdämmerung zu erzählen. Ich<br />
bin jemand, der starrsinnig nach<br />
Utopien sucht und bis zum Selbstwiderspruch<br />
an diesen Utopien<br />
festhält. Wir versuchen, die Behauptung<br />
aufzustellen, dass es nach dem<br />
Niedergang der in der Götterdämmerung<br />
beschriebenen Gesellschaft<br />
eine neue Gesellschaft gab, die ihren<br />
Ursprungsmythos lebendig hält und<br />
ihn sich immer wieder erzählt. Es gibt<br />
von uns aus die Projektion einer<br />
friedlichen, sich ihrer selbst bewussten<br />
Gesellschaft, die sich immer<br />
wieder trifft, um diesen Mythos des<br />
Verschwindens der Götter, der<br />
Machtgier und der materiellen Gier<br />
zu erleben.<br />
Wenn sich viele Menschen<br />
gemeinsam ihre Geschichte erzählen,<br />
dann müsste es auf diese<br />
Geschichte auch viele Perspektiven<br />
geben, die alle wahr sind. Wie kann<br />
es funktionieren, dass Erzählen eine<br />
Gemeinschaft stiftet, wenn man<br />
akzeptieren muss, dass es die eine<br />
Wahrheit der Geschichte nicht gibt?<br />
Ich glaube, dass man sich im<br />
philosophischen Sinne vom Ziel des<br />
Findens verabschieden muss.<br />
Gleichzeitig stellt einem die gemeinsame<br />
Suche auch bestimmte Fragen<br />
wie: Warum ist trotz unserer sich<br />
stets wiederholenden Erfahrungen<br />
die Sehnsucht nach Liebe größer als<br />
die Sehnsucht nach Geld? Warum ist<br />
die Sehnsucht nach Gerechtigkeit<br />
größer als der Egoismus? Warum,<br />
trotz aller Unwahrscheinlichkeit,<br />
sind wir Menschen zur Humanität<br />
fähig? Diese Fragen sind für mich<br />
sinnstiftender als die Antworten. Und<br />
in dieser Vielstimmigkeit der Suche<br />
spiegelt sich wider, dass nicht das<br />
gemeinsame Finden einer gültigen<br />
Antwort das Ziel ist, sondern die<br />
Gemeinsamkeit als solche.<br />
Das Vergnügen am Irrationalen<br />
„Warum, trotz<br />
aller Unwahrscheinlichkeit,<br />
sind wir<br />
Menschen zur<br />
Humanität<br />
fähig? Diese<br />
Fragen sind<br />
für mich sinnstiftender<br />
als<br />
die Antworten.”<br />
Findet sich diese Offenheit in<br />
Wagners Werk auch? Über 100 Jahre<br />
Rezeption hinweg wurde er immer<br />
wieder kategorisch ausgelegt, bis hin<br />
zur Demagogie.<br />
Das kann ich nur sehr persönlich<br />
beantworten. In den letzten zwei<br />
Jahren musste ich mir eine Nähe zu<br />
Wagner mehr oder weniger mühsam<br />
erhören. Er ist mir in seiner musikalischen<br />
Vehemenz eher fremd. Indem<br />
er mir aber über seine fast manische<br />
Dringlichkeit abstruseste Begegnungen<br />
mit einer unglaublich hohen<br />
Leidenschaftlichkeit vor den Latz<br />
knallt – ob das Betrug oder Begierde<br />
ist, ob Inzest –, konfrontiert er mich<br />
mit Kategorien, die meinen alltäglichen<br />
Horizont sprengen, und zwingt<br />
mich zu einer persönlichen Auseinandersetzung.<br />
Wagner zwingt mich<br />
stärker als andere Komponisten,<br />
denen ich mich näher fühle – eine<br />
Vorbereitung zu einer Händel‐Oper<br />
fällt mir scheinbar leichter –, in ganz<br />
andere Denkkonsequenzen. Ich muss<br />
mich mit der Zeit der Komposition,<br />
mit der vielfältigen Interpretationsgeschichte<br />
auseinandersetzen, auch<br />
der Zeit des Nationalsozialismus. Er<br />
zwingt mich auch zu einer Auseinandersetzung<br />
mit den Wurzeln meines<br />
Liebesbegriffs, meines Humanitätsbegriffs,<br />
bis dahin, dass er mich<br />
auffordert, darüber nachzudenken,<br />
welche Art von Ereignistheater ich<br />
denn eigentlich kreieren und selber<br />
erleben möchte. Was setzt man höher
Jeder erlebt seinen eigenen Drachen 11<br />
an: das „Spektakel Wagner“, die<br />
unglaublich provozierend potente<br />
Geste, oder das Schicksal der<br />
Figuren, das Berührende der Begegnung?<br />
Seinen Theaterbegriff überdenken<br />
– das hat Wagner permanent<br />
getan. Er hat den Stoff in seinem<br />
Kosmos erweitert und dabei letztlich<br />
bemerkt, dass er ihn an einem<br />
normalen Opernhaus nicht aufführen<br />
kann und sein eigenes Theater bauen<br />
muss. Das Werk ist von einem<br />
zeitlichen Ausmaß, das es bis dato<br />
nicht gab. Fordert dieser Stoff in<br />
seinen in vielerlei Hinsicht überbordenden<br />
Ausmaßen dazu auf, das<br />
Theater zu sprengen?<br />
Wagner lässt einen für sich selber<br />
wieder wachrufen, dass Theater<br />
immer anmaßend sein muss, dass<br />
Theater immer als eines seiner Ziele<br />
formulieren muss: Ich lasse mich<br />
nicht einsperren, nicht in meinem<br />
Denken, nicht in meiner Fantasie und<br />
auch nicht in meiner Ökonomie,<br />
weder in der finanziellen noch in der<br />
Kondition der Zuschauer. Ich folge<br />
dem eigenen Impuls, meinetwegen<br />
auch dem genialischen Impuls.<br />
Wagner bringt mich an den Punkt,<br />
mich auch meinem eigenen Wunsch<br />
nach Maßlosigkeit zu stellen.<br />
Gleichzeitig möchte ich mich nicht<br />
mit ihm in Konkurrenz begeben. Es<br />
war eine der ersten Entscheidungen<br />
des Teams, Wagner nicht noch einmal<br />
zu vergrößern. Nicht zu versuchen,<br />
„Die Götter sind<br />
letztlich in<br />
sich moralisch,<br />
aber den<br />
Menschen<br />
unserer Welt<br />
gegenüber<br />
total moralfrei.”<br />
der Rezeptionsgeschichte einen noch<br />
größeren Wagner hinzuzufügen, und<br />
das Theater mit sich selber prahlen<br />
zu lassen. Wir versuchen, Wagner vor<br />
allem über die Maßlosigkeit seiner<br />
Leidenschaft zu verstehen. Indem wir<br />
die Intensität des Erlebens nicht an<br />
der Dauer und der Lautstärke der<br />
Musik und Szenen messen, sondern<br />
daran, wie er Menschen einander<br />
begegnen lässt und sie in größte<br />
Verwirrung und Ängste stürzt. Und<br />
diese unglaublich kraftvolle, manische<br />
Dimension, die Dringlichkeit<br />
und Schmerzhaftigkeit von Szenen<br />
erlebbar zu machen, ist mir als<br />
Neuorientierung wichtiger als eine<br />
gigantische Materialschlacht.<br />
Hinter sehr vielen Begegnungen<br />
im Ring tauchen also archetypische<br />
Erfahrungen auf. Wie kann man<br />
einerseits eine Identifikation mit<br />
Figuren und Situationen stiften und<br />
andererseits in dieser Haltung<br />
bleiben – „wir sind eigentlich dabei,<br />
uns gemeinschaftlich etwas Größeres<br />
zu erzählen“?<br />
Das ist in der Tat im Theater in<br />
vielen Stücken strukturell widersprüchlich.<br />
Auch im Ring erleben wir<br />
Figuren auf der Bühne, die sich<br />
unserer Realität entziehen. Nicht nur,<br />
weil sie Opernfiguren, sondern weil<br />
sie Götter sind. Das heißt, wir haben<br />
einerseits immer die Aufgabe, sie zu<br />
vermenschlichen, sie absurderweise<br />
zu psychologisieren, damit wir uns<br />
emotional an sie binden können.<br />
Gleichzeitig müssen wir sie aber auch<br />
von uns distanzieren, das heißt, wir<br />
müssen Insignien von Macht finden,<br />
die keinem Menschen zustehen. Die<br />
Gewalt über andere Menschen<br />
beispielsweise, die sich im Motiv des<br />
Gottes widerspiegelt. Die Götter sind<br />
letztlich in sich moralisch, aber den<br />
Menschen unserer Welt gegenüber<br />
total moralfrei. Ich kann nicht sagen<br />
amoralisch, weil wir uns gar nicht als<br />
ihnen ebenbürtig wahrnehmen. Das<br />
auszubalancieren ist letztendlich<br />
auch eine Form, mit dem eigenen<br />
Sadismus und natürlich auch mit der<br />
eigenen Liebesbedürftigkeit umzugehen.<br />
Welche Motive lassen mich<br />
einen Wotan, der mit einer mir<br />
fremden Macht ausgestattet ist, in<br />
seiner Gefangenheit miterleben, und<br />
welche Motive zeigen mir andererseits<br />
diese unglaubliche Ferne seiner<br />
Macht? Seinen permanenten selbstverständlichen<br />
Übergriff auf die<br />
körperliche Autonomie des anderen?<br />
Mit Wagners Ideengeber Ludwig<br />
Feuerbach kann man sagen: Es gibt ja<br />
doch keine Götter, sondern sie sind<br />
von Menschen gemacht. Wenn ich an<br />
den Göttern eine menschliche Seite<br />
zeige und dann die übersteigert<br />
götterhafte, ist die götterhafte dann<br />
die Darstellung von etwas fast<br />
Unvorstellbarem, wovon der Mensch<br />
dennoch weiß, dass er selbst dazu<br />
fähig ist? Steigert der Mensch sein<br />
Wesen in der Erzählung noch einmal,<br />
um es sich so zu vergegenwärtigen?<br />
Wir kommen da mit Feuerbach<br />
nicht weiter, weil wir uns in der<br />
Autonomie einer Aufführung bewegen<br />
und darin Verwirrungen schaffen,<br />
die sich quasi nur über das<br />
Göttliche erklären lassen: Verhaltensmechanismen,<br />
in die wir das<br />
Motiv des Göttlichen, also des uns<br />
Fremden einlagern. Natürlich<br />
können wir aus unserer Perspektive<br />
der Vernunft sagen, dass es keine<br />
Götter gibt, aber in der Mechanik<br />
der Aufführung gibt es sie. Und<br />
innerhalb dieser Mechanik funktioniert<br />
es auch nicht, das Göttliche in<br />
den Figuren zu ignorieren und zu<br />
sagen: Das sind halt Industrielle!<br />
Weil man sich dann innerhalb der<br />
Logik des Stücks fragt, was der<br />
Industrielle mit dem Speer will. Das<br />
erfordert auf der einen Seite, eine<br />
Psychologie zu ermöglichen, indem<br />
ich den dort oben auf der Bühne für<br />
mich als Zuschauer nacherlebbar<br />
mache, dabei aber nicht völlig in der<br />
psychologischen Erkennbarmachung<br />
der Figur versinke. Er ist kein<br />
Mensch. Es offenbaren sich in ihm<br />
aber Zwänge, Prozesse, Ängste und<br />
Verwerfungen, die ich auch kenne.
13<br />
„Wir versuchen,<br />
Wagner über<br />
die Maßlosigkeit<br />
seiner<br />
Leidenschaft<br />
zu verstehen.“
Könnten wir heute so eine<br />
mythische Erzählform auf der Bühne<br />
auch mit neuen Stoffen kreieren?<br />
Natürlich. Es gibt Wunschkonstellationen,<br />
die sich in uns nicht verändert<br />
haben. Der Wunsch nach Gerechtigkeit:<br />
Wenn wir Dinge sehen, in<br />
denen dieser Wunsch angegriffen und<br />
der Angriff abgewehrt wird oder<br />
meinetwegen auch auf tragische<br />
Weise siegreich ist – das sind Geschichten,<br />
die man auch heute noch<br />
erfinden kann oder im Alltag findet.<br />
Ob im kleinen Kontext der Familie<br />
oder global: Kontinente können im<br />
Prinzip Götterpositionen einnehmen,<br />
wenn der eine Kontinent den anderen<br />
dominiert, bis dieser den Unterdrücker<br />
niederwirft. Ich glaube, dass<br />
Theater als Ort sozialer Realität<br />
unsere Sehnsucht nach Empathie<br />
nicht gerade befriedigt, aber doch<br />
immer wieder anspricht. Das ist vom<br />
Lagerfeuer bis zu modernen Formen<br />
des Lagerfeuers erhalten geblieben.<br />
Unser Dilemma ist nur, dass das<br />
Theater immer stärker Markt‐ und<br />
Beschleunigungsmechanismen<br />
unterworfen ist und die Künstler<br />
demgegenüber zynisch reagieren,<br />
indem sie die Erzählung verweigern.<br />
Wenn es diese Zeiträume für Erzählung<br />
und für die Nähe von Bühne und<br />
Zuschauerraum nicht mehr gibt, läuft<br />
das Theater Gefahr, nur noch eine<br />
Bestätigungsmaschine für Gewiss‐<br />
„Das Tolle am<br />
Theater ist, dass<br />
es in seiner<br />
tiefsten Struktur<br />
ein soziales<br />
Ereignis ist,<br />
aber trotzdem<br />
jeder Einzelne<br />
die Geschichte<br />
hört und<br />
durch seine Fantasie<br />
ergänzt.”<br />
Andreas Kriegenburg<br />
heiten zu sein: „Die Wirtschaft läuft<br />
schlecht, die Banken sind böse,<br />
keiner liebt mehr den anderen.“ Aber<br />
die Bestätigung von Gewissheiten<br />
stiftet überhaupt keine Gemeinschaft,<br />
sondern zermürbt Identität, weil man<br />
nur darin bestätigt wird, dass alle<br />
gleich denken und alles in einen<br />
starren und unkreativen Zustand<br />
gerät.<br />
Sie haben gerade vom Lagerfeuer<br />
gesprochen ...<br />
Für mich ist das Lagerfeuer der<br />
zentrale Denkansatz für den Ring.<br />
... und von seinen modernen<br />
Formen. Funktioniert das Prinzip<br />
Lagerfeuer noch heute, oder gibt es<br />
diese kollektive Form des Erzählens<br />
in einer ausdifferenzierten Gesellschaft<br />
nicht mehr?<br />
Natürlich gibt es auch außerhalb<br />
des Theaters Rituale der sozialen<br />
Organisation, in denen sich das<br />
Gemeinsame ausdrückt, angefangen<br />
vom Clubabend bis hin zum Tango‐<br />
Tanzen. Für mich ist aber das, was im<br />
Theater an Kraft aus Gemeinschaftlichkeit<br />
sowohl auf der Probe als<br />
auch im Ereignis der Aufführung<br />
entsteht, fast mit nichts vergleichbar.<br />
Auch Großveranstaltungen, von den<br />
Gladiatorenkämpfen bis zum Fußballspiel<br />
oder den Kirchentagen, agieren<br />
mit den Ritualen des Theaters.<br />
Eigentlich spiegelt sich darin nur die<br />
Sehnsucht der Menschen nach der<br />
Bedeutung eines Momentes wider,<br />
der über sich selbst und die Trivialität<br />
des eigenen Daseins hinausweist<br />
– Überwältigung!<br />
Wagner überwältigt uns auch<br />
heute noch mit ganz einfachen<br />
Bildern. Warum hat etwa ein Drache<br />
als Zeichen immer noch eine solche<br />
Kraft?<br />
Weil wir in einem bestimmten<br />
Zeitraum unseres Lebens, gerade in<br />
der Jugend, innerhalb einer Kultur<br />
determinierend erzogen wurden.<br />
Bestimmte mythologische Figuren<br />
tauchen in ganz vielen Kulturen auf:<br />
das geschuppte Wesen, das hinkende<br />
Wesen oder das gehörnte Wesen.<br />
Mythen begegnen uns und der<br />
nächsten Generation wieder, weil sie<br />
eine so starke emotionalisierende<br />
Kraft haben. Das Faszinierende daran<br />
Das Vergnügen am Irrationalen<br />
„Mein Gedanke<br />
ist, die Geschichte<br />
aus einer Perspektive<br />
nach<br />
der Götterdämmerung<br />
zu<br />
erzählen. Ich<br />
bin jemand, der<br />
starrsinnig<br />
nach Utopien<br />
sucht und bis<br />
zum Selbstwiderspruch<br />
daran<br />
festhält. Wir<br />
versuchen, die<br />
Behauptung<br />
aufzustellen,<br />
dass es nach<br />
dem Niedergang<br />
in der Götterdämmerung<br />
eine<br />
neue Gesellschaft<br />
gab, die<br />
ihren Ursprungsmythos<br />
lebendig<br />
hält und ihn<br />
sich immer<br />
wieder erzählt.“<br />
ist, dass sie sich nie erklären müssen.<br />
Kein Kind fragt danach, woher<br />
der Drache kommt. Es zeigt sich eine<br />
Grundangst und gleichzeitig eine<br />
Sehnsucht, dieser Angst zu begegnen,<br />
sodass ich sie an keinem Punkt<br />
rationalisieren muss. Ähnlich die<br />
Engel: Jedes Kind freut sich in einem<br />
bestimmten Alter, Engelsfiguren an<br />
der Wand zu haben. Das sind Dinge,<br />
die sich nie rationalisieren, als<br />
würden die Menschen einen Teil von
Jeder erlebt seinen eigenen Drachen 15<br />
sich, das Irrationale, beschützen<br />
wollen. Bestimmte Fragen werden<br />
ganz konsequent verweigert, was<br />
Hollywood auch aufnimmt. Filme, in<br />
denen Drachen auftauchen, liefern<br />
nur ganz fadenscheinige Gründe für<br />
deren Existenz, hauptsächlich<br />
spielen sie mit dem Motiv des<br />
Erlebens von Angst.<br />
Nun hat aber Hollywood die<br />
Potenz zu einer perfekten Illusion,<br />
die keine Bühne darstellen kann und<br />
vielleicht auch nicht will.<br />
Aber das ist doch toll, dass ich im<br />
Kino davon erlöst bin, mir selber mein<br />
Bild zu machen. Dass ich die verdinglichte<br />
Adaption meiner Angst erleben<br />
muss, verlangt das Theater von mir.<br />
Das ist mitunter viel intensiver, weil<br />
sich nicht das Abbild, sondern das<br />
innere Wesen dieser Angst zeigt. Das<br />
Theater darf nicht die Hülle des<br />
Drachens darstellen, sondern es<br />
muss einen Überrumpelungsmoment<br />
erfinden, der mich in einer ähnlichen<br />
Weise emotional bedrängt, und sei es<br />
mit Ekel. Es lässt mich etwas, wovon<br />
ich weiß, dass ich seit meiner<br />
Kindheit davor Angst habe, noch<br />
einmal genussvoll erleben.<br />
Aber es wirft mich auch wieder<br />
auf meine Angst und meinen Ekel<br />
zurück, vollkommen irrational, denn<br />
ich weiß ja, dass es keine Drachen<br />
gibt.<br />
Das Tolle am Theater ist, dass es<br />
in seiner tiefsten Struktur ein<br />
soziales Ereignis ist, aber trotzdem<br />
jeder Einzelne die Geschichte hört<br />
und durch seine Fantasie ergänzt.<br />
Das zeigt sich auch im Drachen:<br />
Jeder erlebt seinen eigenen Drachen.<br />
Bei dem einen ist der Ekel gegenüber<br />
dem Blut, das von dessen Gesicht<br />
heruntertropft, größer als bei dem<br />
anderen, der daran vielleicht sogar<br />
ein Vergnügen hat, weil er eine Lust<br />
verspürt, sich mit dieser Angst<br />
auseinanderzusetzen. Das Vergnügen<br />
am Irrationalen! Es ist spannend<br />
zu fragen, warum Wagner diese<br />
vielen unglaublich naiven Momente<br />
benutzt. Er hat einerseits große Lust<br />
an der Vehemenz der theatralen<br />
Geste, andererseits traut er sich, in<br />
eine Szenerie größter Bedrängnis<br />
Märchenmotive einzubauen. Der<br />
Trick Wotans im Rheingold, Alberich<br />
zu überrumpeln, hätte auch raffinierter<br />
und gewalttätiger sein können.<br />
Warum tauchen hier Schlange und<br />
Kröte auf? Warum traut sich Wagner,<br />
diese scheinbar fernliegenden<br />
Momente zu verknüpfen? Warum<br />
verweist er in diesem Punkt, der in<br />
sich so grausam ist, auf eine ganz<br />
bestimmte Naivität der Erzählung?<br />
Wenn man genauer hinsieht, verweist<br />
dies aber genau darauf, dass sich<br />
diese Erzählung auch in unserem<br />
persönlichen Ursprung wiederfindet.<br />
Die Höhle, die Dunkelheit, die<br />
Gefahr, die Zauberei und der Trick<br />
des Schlauen gegenüber dem<br />
Dummen – mit all dem schafft Wagner<br />
einen Verweis auf die für ihn so<br />
wichtige Naivität für das Wahrnehmen<br />
der Szene und seiner Musik.<br />
Wir wollen johlen, wenn der Gute<br />
den Bösen überwindet. Jedes Kind,<br />
jeder Erwachsene will irgendwann<br />
einmal verschwinden oder sich<br />
kleinmachen, jeder hat einmal Angst<br />
vor einem Unwesen. Und diese Dinge<br />
benutzt Wagner sehr affirmativ. Er<br />
fährt alle textlichen, musikalischen<br />
und szenischen Mittel auf, um diesen<br />
irrationalen Moment im größtmöglichen<br />
Ausmaß zu erzeugen.<br />
Und in der größtmöglichen<br />
visuellen und akustischen Bildhaftigkeit!<br />
Er schafft eine Möglichkeit<br />
des höchst Unwahrscheinlichen: der<br />
Verwandlung eines Wesens in ein<br />
anderes oder des Wunsches danach,<br />
unsichtbar oder unverwundbar zu<br />
werden. Er stellt sich nie infrage oder<br />
sichert sich ironisch ab, sondern<br />
nimmt diesen Bereich einfach als Teil<br />
der Erzählung an und gestaltet ihn<br />
musikalisch ungeheuer kraftvoll.<br />
Unterscheidet sich die theatrale<br />
kollektive Erzählung von der persönlichen<br />
Erzählung, die ich beispielsweise<br />
meinem Kind vorlese? Die Großmutter<br />
sitzt am Bett und schlüpft für<br />
einen Moment in die Rolle des Wolfs.<br />
Das Kind weiß, dass es sich etwas<br />
erzählen lässt, aber für den Moment<br />
akzeptiert es, dass die Großmutter<br />
das Monster ist, das ihm den Schreck<br />
einjagt.<br />
Ja, wenn man diesen Gedanken<br />
zu Ende denkt, dann funktioniert das<br />
über das Vergnügen der Großmutter,<br />
diese Geschichte für das Enkelkind<br />
zu theatralisieren. Ein gemeinsames<br />
Vergnügen, bestimmten Emotionen<br />
ausgesetzt zu sein!<br />
Der Ring des Nibelungen<br />
Bühnenfestspiel für drei<br />
Tage und einen Vorabend<br />
von Richard Wagner<br />
— Das Rheingold<br />
Premiere am Samstag, 4. Februar 2012<br />
— Die Walküre<br />
Premiere am Sonntag, 11. März 2012<br />
— Siegfried<br />
Premiere am Sonntag, 27. Mai 2012<br />
— Götterdämmerung<br />
Premiere am Samstag, 30. Juni 2012<br />
Vorstellungen jeweils<br />
im Nationaltheater<br />
Weitere Termine im Spielplan<br />
ab S. 90
Den Worten nachspüren<br />
Generalmusikdirektor<br />
Kent<br />
Nagano wird<br />
die Neuproduktion<br />
des Ring<br />
des Nibelungen<br />
dirigieren.<br />
Im Interview<br />
mit Jörg Böckem<br />
spricht er<br />
über die Erzähltradition<br />
in<br />
seiner Familie<br />
und das<br />
faszinierende<br />
Verhältnis<br />
zwischen<br />
Sprache und<br />
Musik.<br />
Der fünfte Stock im Ver waltungsgebäude<br />
der <strong>Bayerische</strong>n <strong>Staatsoper</strong><br />
in München. Ein geräumiges<br />
Büro, gedämpftes Licht, weiche<br />
Ledersessel. Vor Kurzem hat Kent<br />
Nagano seinen 60. Geburtstag<br />
gefeiert. Der Generalmusikdirektor<br />
der <strong>Bayerische</strong>n <strong>Staatsoper</strong> ist<br />
höflich und konzentriert. Er wägt<br />
seine Worte genau, beugt den Kopf<br />
zur Seite, hängt den Fragen und<br />
Gedanken nach. Er sucht nach den<br />
richtigen Antworten. Manchmal<br />
auch nach solchen, die nicht zu viel<br />
preisgeben.<br />
Fotografie Jörg Koopmann<br />
MAX JOSEPH Herr Nagano, hat<br />
der Ring uns heute noch etwas zu<br />
erzählen, über den Menschen, die<br />
Gesellschaft und über uns?<br />
KENt NAGANO Sicher. Wagner ist<br />
es mit dem Ring gelungen, eine neue<br />
Perspektive für die Oper aufzuzeigen<br />
und gleichzeitig eine Referenz<br />
an traditionelle Erzählformen zu<br />
schaffen. Legenden und Mythen<br />
sind mehr als schöne Geschichten.<br />
Früher wurden sie von Mund zu<br />
Mund weitergegeben – wohl die<br />
stärkste Erzählform. Sie erzählen<br />
von den Wurzeln einer Gesellschaft,<br />
ihrer Struktur, verhandeln soziale<br />
Regeln und tabus. Woran glauben<br />
wir, welche Werte haben wir,<br />
wie gehen wir miteinander um?<br />
Wir brauchen eine Vorstellung<br />
von der Vergangenheit für unser<br />
Selbstverständnis, unsere Identität.<br />
Wagner verbindet im Mythos des<br />
Ring Vergangenheit und Gegenwart<br />
und weist schicksalhaft in die<br />
Zukunft. Deshalb ist er so bedeutend<br />
für die Gesellschaft, bis heute.<br />
MJ Wie kann man mit Musik<br />
erzählen? Ist sie eher eine Art<br />
Hintergrundgemälde, das Stimmung<br />
und Emotionen, vielleicht<br />
psychische Zustände illustriert,<br />
oder kann Musik eine eigenständige<br />
Erzählebene neben den Worten und<br />
Bildern bieten?<br />
KN Das ist nicht so einfach zu<br />
beantworten. Wir wissen, dass Musik<br />
die Fähigkeit hat, im Kopf Bilder,<br />
Vorstellungen und Stimmungen<br />
zu erzeugen. Deshalb waren<br />
Stummfilme auch nicht still, sondern<br />
wurden mit Musik begleitet. Auch<br />
im Ring ist die Erzählebene der<br />
Musik oft sehr direkt – wir hören<br />
das Fauchen des Drachen, fühlen<br />
in der Musik das Gewicht der<br />
gigantischen Brüder. Da ist Wagner<br />
sehr programmatisch. Doch ihm<br />
gelingt viel mehr. Seine Motive sind<br />
mit den Charakteren verbunden.<br />
Die Idee ist nicht neu, aber Wagner<br />
benutzt sie auf besondere Weise.<br />
Interview Jörg Böckem<br />
Die Motive werden wiederholt, wie<br />
im Fluss, aber diese Wiederholung<br />
ist nie gleich, immer ist das Motiv<br />
leicht verändert, gekürzt, entwickelt,<br />
in einer anderen Reihenfolge oder<br />
tonalität oder Dynamik. Jede<br />
dieser Veränderungen in der Musik<br />
ist auch eine Veränderung in der<br />
Geschichte der Figuren. Die Musik<br />
transportiert das Außerzeitliche,<br />
das Ewige und Schicksalhafte der<br />
Erzählung – ewige Entwicklung<br />
statt Wiederholung. Die wörtliche<br />
Erzählung ist von der musikalischen<br />
Substanz nicht zu trennen.<br />
MJ Die großen Erzählungen und<br />
Mythen der Moderne werden seit<br />
Jahrzehnten im Fernsehen und Kino<br />
verhandelt, den Lagerfeuern der<br />
Neuzeit. Sie sind ohne Fernsehen<br />
und Kino aufgewachsen.<br />
KN Ja, das ist wahr – aber ich habe<br />
natürlich trotzdem ferngesehen, bei<br />
Freunden zum Beispiel, und ich war<br />
auch ab und an in L.A. im Kino, ich<br />
bin kein völliger Barbar!<br />
Kent Nagano lacht, zum ersten Mal<br />
in diesem Gespräch. Ein lautes,<br />
ansteckendes und herzliches<br />
Lachen, das seinen ganzen Körper in<br />
Bewegung versetzt. Minuten vorher<br />
hat er noch in der für ihn typischen<br />
Art in sich selbst versunken<br />
dagesessen, mit geschlossenen<br />
Augen den Worten nachgespürt. Eine<br />
Art Tempo- und Temperaturwechsel,<br />
der sich durch das gesamte Gespräch<br />
ziehen wird.<br />
MJ Welche Erzählformen haben Ihre<br />
Kindheitsgeschichten geprägt?<br />
KN Unser Leben auf dem Land war<br />
nicht vom Fernsehen beeinflusst,<br />
eher von der Natur. tatsächlich<br />
haben wir oft beisammen gesessen<br />
und Geschichten erzählt. Manchmal<br />
fiktive und auch japanische und<br />
sogar amerikanische Legenden. Aber<br />
oft war es auch eine Art mündliche<br />
Familiengeschichtsstunde: Meine<br />
Großeltern haben erzählt, wie sie
Kent Nagano<br />
Der Generalmusikdirektor vor der elektronischen<br />
Orgel der <strong>Bayerische</strong>n <strong>Staatsoper</strong>. Der Monitor<br />
stellt den Kontakt zwischen dem Dirigenten im<br />
Orchestergraben und dem Spieler am Orgeltisch her.<br />
17
Im mündlichen Gespräch durchziehen<br />
tempi- und temperaturwechsel die<br />
Sprache von Kent Nagano. Während er<br />
oft mit geschlossenen Augen nach den<br />
Antworten sucht, lacht er an anderer<br />
Stelle laut, herzlich und ansteckend.<br />
Ende des 19. Jahrhunderts aus<br />
Japan nach Amerika gekommen sind,<br />
ohne Geld und Sprachkenntnisse.<br />
Wie es war, mit einem asiatischen<br />
Gesicht im Wilden Westen zu leben,<br />
Amerika war damals zu weiten teilen<br />
noch cowboy country. Meine Eltern<br />
haben erzählt, wie sie im Zweiten<br />
Weltkrieg nach dem Angriff auf Pearl<br />
Harbor verhaftet und eingesperrt<br />
worden sind, nur weil sie Japaner<br />
waren. Für uns Kinder war das<br />
toll! So haben wir eine Idee davon<br />
bekommen, wo wir herkamen, neben<br />
der tatsache, dass wir auch typische<br />
US-Kids der 1960er Jahre waren. Für<br />
uns war das keine Geschichtslektion<br />
wie in der Schule, es war tolle<br />
Unterhaltung, ein großer Spaß!<br />
Die Begeisterung ist noch heute zu<br />
spüren. Seine Stimme wird lauter<br />
und lebhafter, er unterstreicht seine<br />
Worte mit den Händen. Es ist, als<br />
könne man den neugierigen Jungen,<br />
der atemlos seinen Großeltern<br />
lauscht, in seinem Gesicht erkennen.<br />
MJ Haben Sie diese Erzähltradition<br />
mit Ihrer tochter weitergeführt?<br />
KN Ja, sogar ziemlich intensiv,<br />
zumindest als sie noch kleiner<br />
war. Heute ist sie 13, da ist es<br />
schwieriger. Vor allem meiner Frau<br />
war das sehr wichtig. Sie entstammt<br />
Kent Nagano<br />
zwei traditionellen Familien mit<br />
einer Generationen überspannenden<br />
Geschichte. Meine Frau hat die<br />
Familiengeschichten hauptsächlich<br />
von ihrer Urgroßmutter erzählt<br />
bekommen, und genauso war es<br />
dann auch bei unserer tochter.<br />
Seltsamerweise hatte ich den<br />
Eindruck, dass vor allem meine Frau<br />
und ich davon besonders profitiert<br />
haben. Die Geschichten noch einmal<br />
erzählt zu bekommen, hat den<br />
Eindruck immens vertieft.<br />
Kent Nagano ist dafür bekannt, sich<br />
sehr intensiv mit den Komponisten,<br />
deren Werke er auf die Bühne<br />
bringt, zu beschäftigen, mit deren<br />
Lebensumfeld und deren Sprache.<br />
Er spricht neben Japanisch<br />
und Englisch auch Deutsch,<br />
Französisch, Italienisch und etwas<br />
Russisch.<br />
MJ Sie sind Musiker, beschäftigen<br />
sich aber intensiv mit Sprache.<br />
Warum?<br />
KN Es ist kein Geheimnis, dass<br />
Sprache Grundlage jeder Kultur<br />
ist. Kunst wird von der jeweiligen<br />
Kultur gespeist, in der sie entsteht.<br />
Also ist Sprache untrennbar mit<br />
Kunst, mit Musik verbunden. Das gilt<br />
besonders in der Oper: Wenn man<br />
die Sprache des Komponisten nicht<br />
Den Worten nachspüren<br />
„Kann man in<br />
der Sprache der<br />
Musik lügen?“<br />
— MAX JOSEPH<br />
„Man kann die<br />
Wahrheit<br />
verschleiern.<br />
Dann wird es<br />
artifiziell oder<br />
manieriert.<br />
Das spürt jeder<br />
Musiker sofort.“<br />
— Kent Nagano
Den Worten nachspüren 19<br />
spricht, entsteht Distanz, die Arbeit<br />
kann schnell artifiziell werden.<br />
Für meinen Entwicklungsprozess<br />
als Musiker ist es wichtig, die<br />
jeweilige Sprache zu lernen und<br />
in mein Denken zu integrieren.<br />
Sprache schafft einen Kontext,<br />
der hilft, das Wesen der Musik zu<br />
verstehen. Das klingt so abgehoben<br />
und intellektuell, ist es aber nicht.<br />
Es geht auch um ganz praktische<br />
Dinge: den Atemrhythmus, die<br />
Sprechgeschwindigkeit, die<br />
Satzmelodie. All das hat etwas mit<br />
Musik zu tun.<br />
MJ Können Sie ein Beispiel nennen?<br />
KN Ich habe vor Jahren die West<br />
Side Story gehört, gespielt von<br />
einem sehr guten europäischen<br />
Orchester, technisch perfekt,<br />
wunderbar ausgeführt. Aber für<br />
mich war ganz klar zu hören, dass<br />
die Musiker nicht Amerikanisch<br />
sprachen. Es klang nicht wie der<br />
Leonard Bernstein, den wir in den<br />
USA kennen. Das ist legitim, aber<br />
es repräsentiert nicht die Kultur,<br />
aus der es stammt. Ein anderes<br />
Beispiel: In Kalifornien haben<br />
wir zu Schulzeiten im Orchester<br />
bayerische Volksmusik gespielt,<br />
mein Musikprofessor stammte aus<br />
Bayern. Als ich dann das erste Mal<br />
auf dem Oktoberfest war und diese<br />
Lieder dort gehört habe, war ganz<br />
deutlich, dass wir in Kalifornien<br />
weit davon entfernt gewesen waren,<br />
diese Stücke auf die ursprüngliche<br />
bayerische Art zu spielen. Deshalb<br />
habe ich den Auftrag eines sehr<br />
bekannten Komponisten aus Indien<br />
abgelehnt. Aus technischer Sicht<br />
wäre es kein Problem gewesen. Aber<br />
es ist bedeutungslos, nur die töne<br />
in der richtigen Zeit, dem richtigen<br />
tempo und der richtigen Intonation<br />
zu spielen. Die Frage ist doch, was<br />
liegt dahinter?<br />
MJ Welche Sprache sprechen Sie in<br />
Ihrer Familie?<br />
KN Wir sprechen meist Deutsch,<br />
Englisch oder Französisch. Mein<br />
Japanisch ist nicht besonders gut,<br />
und meine Frau ist im Italienischen<br />
nicht so zu Hause. Ich muss<br />
zugeben, dass wir oft von einer<br />
Sprache in die andere wechseln.<br />
Wahrscheinlich, weil wir nicht<br />
diszipliniert genug sind. Empfehlen<br />
würde ich das niemandem!<br />
MJ Ist die Sprache, die Sie<br />
benutzen, abhängig vom Inhalt des<br />
Gesprächs oder der Stimmung des<br />
Sprechenden?<br />
KN Nicht unbedingt. Es gibt<br />
verschiedene Faktoren für<br />
Sprachwechsel. Einmal spielt<br />
natürlich die Umgebung eine Rolle<br />
– wenn wir in München sind, ist<br />
die Chance sehr hoch, dass wir<br />
überwiegend Deutsch sprechen.<br />
Zum anderen liegt es wohl daran,<br />
dass meine Frau und ich zwar viele<br />
Sprachen sprechen, aber in keiner<br />
wirklich sicher sind. Der Hauptgrund<br />
ist, dass ein bestimmter Sachverhalt,<br />
ein Zustand oder eine Idee oft in<br />
einer bestimmten Sprache leichter<br />
oder effizienter auszudrücken ist<br />
als in einer anderen. Zum Beispiel<br />
gibt es im Englischen keine exakte<br />
Entsprechung für „gemütlich“.<br />
„Relaxed“ und „comfortable“<br />
meinen nicht dasselbe. „Presto!“<br />
hat eine andere Bedeutung, einen<br />
anderen Charakter als „Schnell!“<br />
oder „Sofort!“. Vielleicht haben die<br />
Sprachwechsel auch damit zu tun,<br />
das wir eine musikalische Familie<br />
sind, wir sind nicht so gut darin, mit<br />
Worten zu kommunizieren.<br />
Auch im Interview spricht Kent<br />
Nagano so. Immer wieder mischt<br />
er englische Worte in seine Sätze,<br />
manchmal auch französische oder<br />
italienische. Trotzdem keine Spur von<br />
babylonischer Sprachverwirrung,<br />
Nagano spricht klar, überlegt<br />
und verständlich. Das Bemühen,<br />
verstanden werden zu wollen, ist<br />
deutlich zu spüren.<br />
MJ Welche Rolle spielt die<br />
Kommunikation über die Musik in<br />
Ihrer Familie?<br />
KN Eine sehr große. Meine Frau und<br />
meine tochter sind Pianistinnen, wir<br />
arbeiten zusammen, unterstützen,<br />
kritisieren einander und diskutieren<br />
über die Musik.<br />
MJ Das heißt, die Musik schafft<br />
in Ihrer Familie emotionale<br />
Verbundenheit?<br />
KN Ja. In dem Klischee, dass wir<br />
Menschen uns näherkommen,<br />
je besser wir miteinander<br />
kommunizieren, uns austauschen<br />
können, liegt Wahrheit. Musik ist<br />
eine direkte Art zu kommunizieren,<br />
eine universelle Sprache. Wieder<br />
ein Klischee, aber auch das trifft zu.<br />
Wenn ein Baby nicht schlafen kann,<br />
sagt die Mutter nicht „Schlaf ein!“,<br />
sie singt ihm ein Wiegenlied vor.<br />
Musik kommuniziert oft mehr als die<br />
Worte. Sie ist eng mit demjenigen<br />
verbunden, der sie spielt. Ich fühle<br />
es, wenn etwas nicht stimmt, nicht<br />
von innen kommt.<br />
MJ Kann man in dieser Sprache lügen?<br />
KN Man kann die Wahrheit verschleiern.<br />
Dann wird es artifiziell<br />
oder manieriert: Wenn ich versuche,<br />
etwas zu sein, was ich nicht bin,<br />
etwas vorzuspielen, das nicht aus<br />
mir kommt. Das spürt jeder Musiker<br />
sofort.<br />
MJ In welcher Sprache träumen Sie?<br />
KN Bis vor ungefähr zehn Jahren<br />
habe ich auf Englisch geträumt,<br />
heute träume ich in allen Sprachen,<br />
die ich spreche. Das weiß ich, weil<br />
ich manchmal im traum laut rede.<br />
Letzte Woche zum Beispiel war ich<br />
im traum in eine hitzige Diskussion<br />
verwickelt, ich war sehr echauffiert<br />
und habe in einem sehr aufgeregten,<br />
lauten Italienisch gesprochen.<br />
Davon bin ich aufgewacht. Das war<br />
sehr lustig!<br />
MJ Was, denken Sie, ist der Grund für<br />
die Mehrsprachigkeit Ihrer träume?<br />
KN Vielleicht, dass ich jetzt so<br />
lange in Europa lebe und diese<br />
Sprachen so häufig benutze.<br />
Oder es liegt daran, dass sich<br />
das amerikanische Englisch in<br />
den letzten Jahrzehnten sehr
verändert hat. Das Vokabular ist<br />
immer kleiner geworden. Vielleicht<br />
auch ein Grund dafür, dass ich<br />
im Gespräch oft in einer anderen<br />
Sprache Zuflucht suche. Wenn in<br />
einer Sprache immer weniger Worte<br />
benutzt werden, ist es schwierig,<br />
komplexe Inhalte auszudrücken.<br />
Diese Frustration, starke Emotionen<br />
zu spüren, die nach außen drängen,<br />
sie aber nicht in Worte fassen zu<br />
können, erlebe ich häufig gerade<br />
bei jungen Menschen.<br />
MJ Wenn Sie ein tier auswählen<br />
müssten, das Sie repräsentiert,<br />
welches würden Sie wählen?<br />
KN Im asiatischen Denken ist<br />
der Unterschied zwischen tieren<br />
und Menschen nicht so groß.<br />
Die tradition, Menschen tiere<br />
zuzuordnen, ist im Schintoismus<br />
weitverbreitet. Viele alte Legenden<br />
handeln von tieren, die sich<br />
in Menschen verwandeln und<br />
umgekehrt. Meine Großmutter<br />
war Buddhistin, sie hat mich von<br />
klein an einen Seeotter genannt.<br />
Im Norden Kaliforniens, wo wir<br />
gelebt haben, gibt es ein großes<br />
Seeotter-Habitat. Als Junge habe<br />
ich das Wasser geliebt, ich war<br />
ständig im Meer, in Flüssen oder<br />
Seen. Meine Großmutter glaubte an<br />
Wiedergeburt, für sie war klar, dass<br />
ich in einem vorherigen Leben ein<br />
Seeotter ge wesen bin.<br />
MJ Sehen Sie selbst sich denn<br />
auch als Seeotter?<br />
KN Darüber habe ich noch nie<br />
nachgedacht. Seeotter sind sehr<br />
interessante tiere – sie sind in<br />
verschiedenen Umgebungen zu<br />
Hause, an Land, im Wasser, sie<br />
gelten als kreativ und lernfähig,<br />
da sie zu den wenigen tieren<br />
gehören, die zu problemlösendem<br />
Denken fähig sind und Werkzeuge<br />
einsetzen, um an ihre Nahrung<br />
zu gelangen. Und sie lieben es zu<br />
spielen, nur zum Vergnügen, das<br />
tun nicht alle tiere. Ja, vielleicht<br />
hatte meine Großmutter recht.<br />
MJ Und wenn Sie eine Figur aus<br />
der Ring-Welt auswählen müssten,<br />
welche wäre Ihnen da am nächsten?<br />
KN Das ist unmöglich zu<br />
sagen, darin liegt ja gerade<br />
Wagners Genie: Die gesamten<br />
Personen dieser langen,<br />
weitverzweigten Geschichte, all<br />
diese verschiedenen Charaktere<br />
machen uns Menschen aus, sie<br />
alle sind teil von uns – Siegfried,<br />
Brünnhilde, Freia, Hagen, sogar<br />
Fafner. Wagner ist es gelungen,<br />
die verschiedenen Aspekte des<br />
Menschen in einzelne Figuren zu<br />
gießen. Nur in der Summe sehen<br />
wir uns selbst.<br />
Wie kann man mit Musik erzählen?<br />
Jörg Böckem ist Journalist und Autor in<br />
Hamburg. Er veröffentlichte u. a. die Bücher<br />
Lass mich die Nacht überleben und<br />
Freitags Gift.<br />
Der Ring des Nibelungen<br />
Bühnenfestspiel für drei<br />
Tage und einen Vorabend<br />
von Richard Wagner<br />
– Das Rheingold<br />
Premiere am Samstag, 4. Februar 2012<br />
– Die Walküre<br />
Premiere am Sonntag, 11. März 2012<br />
– Siegfried<br />
Premiere am Sonntag, 27. Mai 2012<br />
– Götterdämmerung<br />
Premiere am Samstag, 30. Juni 2012<br />
Vorstellungen jeweils<br />
im Nationaltheater<br />
Weitere termine im Spielplan ab S. 90
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Willkür<br />
von Ann Cotten<br />
Wie ich, Mime, die Welt umdrehen wollte, mir alles aneignend,<br />
von dem mir gesagt wurde, du kannst es nicht führen,<br />
und den Fehler machte, dies im Rahmen eines Auftrags zu tun,<br />
was mir nur Häme einbrachte, und meine Gefühle<br />
so unbehaust ließ wie zuvor<br />
Jetzt wo es wieder kalt wird, tragen die jungen Männer<br />
schwarze kurze Mäntel. Sie stehen, ungeschmiedetes Eisen,<br />
pig iron, wie wir sagen, und warten auf Grün,<br />
gehen dann über die Ampel und verschwinden in dem Gebäude, wo sie wohnen.<br />
Musen, steht mir bei.<br />
Sechs von diesen Männern – sechs ist eine Zahl,<br />
die ihnen irgendwie entspricht wie ein sechstüriger Wagen<br />
(obsolet und großspurig zugleich,<br />
anmaßend einfallslos und total verloren) –<br />
umstanden mich an einem dieser Abende,<br />
wo ich eine Kneipe suchte und nur Ecken fand.<br />
Musen, steht mir bei! Dass ich euer nicht vergesse!<br />
Euer Parfum leite mich! Lasst mich, durch euren Liebreiz,<br />
die Schritte, die ich tue, nicht spüren!<br />
Sie drücken mich später im Rücken<br />
als Erschütterungen.<br />
„Männer,“ sagte ich, blickte zu ihnen auf.<br />
Kleine blaue Augen blickten unter den Rändern ihrer Mützen hervor.<br />
Musen, lacht mir und tänzelt! Ich brauche eure schwebenden Waden,<br />
sie sind das Bild des Schwerts, zu dem meine Zunge<br />
schmelzen soll – weswegen ich schreibe.<br />
26<br />
Ich also: „Männer,“ sag ich, „wo finde ich hier in der Gegend den Spaß?“<br />
Von den sechsen vier feixten und machten Gegrinse,<br />
einer, der Kleinste, schwieg, der letzte aber hatte<br />
die Weisheit mit Löffeln gefressen und sagte:<br />
„Wo du bist, ist der Spaß – vorausgesetzt, freilich, du machst ihn.“<br />
„Freilich machte ich ihn,“ so ich pikiert,<br />
„hätte ich dazu die Mittel.“ „Was meinst du? Geld?“<br />
„Ja, Geld.“ „Davon haben wir dicke.“
Sagt nun, ihr Musen, die ihr da steht<br />
und lächelt, und in die Brise kuckt,<br />
was hättet ihr an meiner Stelle gefühlt und getan?<br />
Ich sage euch, was ich fühlte: unwiderstehliche Lust<br />
diese sechs gestopften Langweiler beim Wort zu nehmen.<br />
„Was wollt ihr mir geben, verschaffe ich euch den größten, den schönsten<br />
Spaß eures Lebens?“ „Das ... wirst du dann sehen.<br />
Unvergesslich sei dein Werk, desto länger bleibst du im Gedächtnis.“<br />
„Zahlt ihr mir alle bei der Beschaffung des Spaßes anfallenden Spesen?“<br />
„Alles zahlen wir, solang es nur spaßt,“ sagte der Kleinste konzentriert.<br />
„Wenn das so ist,“ so ich, „habe ich nur noch eine Bedingung,<br />
diese aber müsst ihr mit Eiden mir schwören zu erfüllen:<br />
Wenn, was ich mache, euch nicht gefällt, wenn ihr<br />
den Spaß vor der Zeit beenden wollt, weil er nicht spaßt, wenn ihr<br />
meinem Sinn für Schönheit und meinen Fähigkeiten<br />
nicht mehr vertraut, müsst ihr mich töten. Schwört es!“<br />
Willkür<br />
„Töten? Was soll das? Warum dich töten?“<br />
„Ihr guten jungen Männer, hört und ich erklärs.<br />
Es unterscheidet sich heutzutage das Leben<br />
des schönen von dem des vernünftigen Geschlechts<br />
durch Taten und Wünsche, weniger mehr durch die Geburt.<br />
Und zwar die Taten entstehen vor allem<br />
durch Messer im Rücken und Hingabe ohne Zurück.<br />
Wenn ich scheitere, müsst ihr mich also töten.“<br />
„Nein, das können wir nicht machen. Nicht möglich.“<br />
„Hört mal: Ich habe keine Verwandte.<br />
Vater und Mutter bin ich mir selbst. Ohne Spaß bin ich nichts.<br />
Wenn ihr mich gut verscharrt, wird euch niemand behelligen.“<br />
Sie nicken und beruhigen sich. Ich, Mime, bestelle für den Anfang,<br />
um mich an die selbst bestimmte Arbeit zu gewöhnen,<br />
mehrere Schläuche Wein, einen Heizpilz für die Kreuzung,<br />
einen Eimer mit bestem Wisky und acht Huren auf Fahrrädern.<br />
Eine davon kam auf Rollschuhen, ich sagte, das wäre ok.<br />
Dann Samtvorhänge, die ich über die Kreuzung spannen ließ<br />
von drei Bauarbeitern aus Polen und einem Dichter aus Split.<br />
Die Achtschaft Polizei, die kam, konnte ich überreden, den Huren zu zeigen,<br />
wie sie goldene Sicheln beim Fahren über ihre Häupter schwingen können.<br />
Die Huren kannten ein Lied, das sie uns alle bald lehrten.<br />
Darin ging es um Helden im Krieg, um Mütter und um Serbien.<br />
Zwei Königskinder wandelten darin trunken einher<br />
und entschliefen gegen Ende des Liedes, beim Einsatz des Pathos.<br />
Fünf Zymbale, eine Tuba und eine Bassbalalaika<br />
versammelten sich um das Lied herum, und als es schloss,<br />
spielten sie lauter, umfassten die Kreuzung, wie Wolken von einem Brand<br />
eines staats- oder für die Kultur wichtigen Gebäudes in einer großen Stadt<br />
die Leute, die frisch aus dem Theater kommen, umschließen.<br />
Bald wünschten zwei der Huren, ihre Fricsen dabeizuhaben,<br />
ich schickte sie daher in die Oranienburger Straße und auch<br />
zum Spätkauf, denn andere riefen bereits nach mehr Wein.<br />
Nur die sechs dunkelblassen Männer standen und traten<br />
von einem Bein auf das andere und wollten lieber Bier.<br />
Musen, seid ehrlich, was hättet ihr hier an meiner Stelle getan?<br />
Ich war kurz ratlos, aber dann kam, wie mir schien, mir der rettende Einfall.<br />
„Hört alle her!“, rief ich. „Wir brauchen eine Geliebte!“<br />
27
Die Huren sagten, sie kennten eine, sie arbeite<br />
in einem Bistro auf der Touristenmeile, und gingen sie holen.<br />
Von hinter der Volksbühne radelten modische Leute vorbei und hielten<br />
auf ihren Rennrädern, mit ihren Bärten und Kleidern aus Baumwollstoff,<br />
Gitarren, verstimmten Klavieren, hauchenden, demokratischen Stimmen.<br />
Sie sprachen in Metaphern aus der Wühlkiste ihrer kapitalistischen Seelen,<br />
hauptsächlich von Plüschanimalia, Moral und psychologischem Verhalten.<br />
Sie fuhren, als wären sie gefährlich und elegant zugleich,<br />
wie schwere Moskitos, die den Malariavirus tragen und geben,<br />
um uns herum, versprühten „Like“s und jungenhaftes Grinsen,<br />
das so aussah wie Wimpernzucken, das Spiegel zerbrechen kann.<br />
Sie hungerten, es grollten in ihnen nordisch anmutende Horizonte.<br />
So geistig schien uns ihr Hunger, dass wir ihnen ihr eigenes Klavier<br />
zum Fraß anboten, dessen monotonische Melancholie uns störte.<br />
Sie verkohlten das Elfenbein ihrer Tastaturen als Geste, die denen<br />
der südamerikanischen Surrealisten nachgedichtet war.<br />
Die Sterne gingen auf, und Bären kamen hervor.<br />
Sie aßen die Hipster, die Animalia und die Reste der Klaviere.<br />
Die Saiten in ihnen trugen ihre Sehnsucht nun weit über ihre Heimat hinaus.<br />
Sie stießen die Fixies, die ja Übersetzung ablehnen, von ihren einfachen Rädern,<br />
das Design nutzte ihnen nichts. Nun hatten die Bären die Räder.<br />
Bei den Bären aber trugen die Bären die Räder.<br />
All dies betrachtete ich schon mit Verwunderung.<br />
Ungefähr zu dieser Zeit überquerte ein Idiot auf einem großen Dreirad<br />
die Kreuzung. Das war das letzte<br />
der selbstangetriebenen Fahrzeuge. Dann kamen die Huren<br />
mit der Geliebten zurück. Sie leuchtete. Es war tatsächlich der Frühling,<br />
den sie als seidenen Schal sich um die Schultern geschmissen.<br />
Ihre Augen flogen, wie Schwäne, die stöhnen,<br />
während sie fliegen, unter den kleinen Gesichtern<br />
der Männer und ihren Mützen umher, der Panik nahe.<br />
Nie hatte sie ein so sinnloses Beginnen gesehen wie meines hier.<br />
Am Arm der Geliebten war der Scherzer. Er war<br />
das Feuer und der sich ins Feuer legte, der sang und das Singen vergaß.<br />
Er lebte nicht selbst, er lebte an anderen, und sein Protest<br />
war seine Seele, ein Knüppel aus hellem Holz.<br />
Er kam zu den Leuten, um ihnen zu zeigen, wo sie<br />
Idioten waren, und ging, den Schwanz noch heil zwischen den Beinen.<br />
Allein das war schon ein Wunder, es folgten darauf aber<br />
Veränderungen in den Leuten, an ihren idiotischen Stellen.<br />
Dem Scherzer folgte ein Schwarm von Vögeln, die nichts kosteten<br />
und alles rühmten. Sie begrüßten fortwährend,<br />
so dunkel es werden wollte, den kommenden Tag.<br />
Oder sie machten ihre eigenen, teils kollektiven Flugwitze.<br />
Einzig die sechs bekappten jungen Männer standen und schienen<br />
in ihren Taschen nach etwas zu suchen, und fanden<br />
weder Kleingeld noch Freigang noch Melancholie.<br />
28<br />
Darauf sagte ich: „Ihr holt, um euch voller zu fühlen,<br />
am besten so schnell es geht aus der Pfalz eure Mütter herbei.“<br />
Es kamen in einem kleinen Flieger bald sechs fünfzigjährige Frauen an.<br />
Sieben davon waren seit kurzem Malerinnen und fingen unverlegen zu malen an.<br />
Heiter, gerührt, und immer wacher werdend malten sie<br />
Porträts von den Bauarbeitern und Karikaturen von den Huren.<br />
Die Kinder der Huren, Hippies und zwei Bettler aus Gran Canaria<br />
hatten die Sensen und die Fahrräder, die an die Apotheke gelehnt waren, gefunden,<br />
und während die letzte Hure noch immer ihre Kreise auf Rollschuhen drehte,<br />
verstand es ein leutseliger Kfz-Mechaniker, die Sicheln<br />
an die Naben der Fahrräder perpendikular zu befestigen.<br />
„Sehr gut! Wir brauchen Blut!“, sagte ich, „nur nicht zu viel gleich am Anfang.“<br />
Die sechs jungen Mützen standen noch immer auf dem Bordstein<br />
und schienen auf etwas zu warten. Ihre Mütter waren schon längst<br />
ein Teil der Szenerie geworden und konnten ihnen keinen Blick mehr schenken.
Ungefähr zu dieser Zeit erwischte mich ein Blick meiner selbst in der Spiegelung<br />
der Auslage der Apotheke, und ich versuchte, die Situation zu erfassen.<br />
Der Gedanke und der Versuch stürzten ringend in die Tiefe<br />
des Abgrunds, der klafft, wenn ein Autor sich selbst erblickt. Ich sah<br />
mein blondes Haar, Krönung eines absurden Leibs, seine humoristische Fahne;<br />
ich sah die Stummel meiner schnellen, abgebrochenen Bewegungen,<br />
die ins Freie gehen wie ein wildes Tier am Rand einer Lichtung erscheint,<br />
stehen bleibt, erschrickt, und verschwindet.<br />
Ganz Vampir-bei-Tag, wäre ich eben gern davongeschlichen, hätte mich ganz<br />
mit Hautcreme bedeckt, allein die Szenerie, die unter meiner fehlenden Kontrolle<br />
sich zusammenbraute, begann mich doch mehr und mehr zu interessieren,<br />
je mehr konfligierende Entwicklungen die Teile sehen ließen.<br />
Nicht wollte ich mit dem Kopf den Algorithmus der Veränderungen finden,<br />
hingegeben wie an eine Melodie folgte ich geneigt ihren Spuren.<br />
Willkür<br />
Angelockt vom Blut, drängten sich immer mehr Künstler heran,<br />
Feuerschlucker, Flaschensammler und ein Bildhauer,<br />
der von Maurern eine ziemlich gute Tribüne nach seinen Entwürfen<br />
errichten ließ, voll Falltüren und idyllischer Ecken.<br />
Auch ein einsamer Wanderer näherte sich, einer von jenen<br />
mit Hut, die nur darauf warten, um eine Kippladung modriger Maximen<br />
loszulassen, die erklären, warum sie so schweigsam sind.<br />
Er klopfte misstrauisch auf den Putz und entfernte sich,<br />
da niemand ihn sonderlich beachtete.<br />
„Musik!“, rief ich nun, denn die Kreuzung drohte zu verstummen.<br />
Wie abgemagerte Prinzen hingen die Samtvorhänge schlaff auf den Asphalt.<br />
Der Himmel ging nun auf und auch die Salsiccieria,<br />
und die Musiker hatten sich gestärkt und wussten nun mehr auswendig als zuvor.<br />
Strahlende Fließbänder flossen wie Öl,<br />
und die goldene Sichel halbierte<br />
drei Stunden später 300 ermüdete Philharmoniker,<br />
Hobbymusiker, Stradivaris, Oboen, Kantinen und Harfen.<br />
Die halben Instrumente, mit Pick-ups versehen, konnte<br />
ein Tonmeister in seine Kabelsalate speisen und spielen lassen<br />
die bezaubernden Interferenzen, wo die Vermutungen sich schönen<br />
wie Lippen im Lippenstift, wie Wüstenmäuse in Sinustönen.<br />
Und es ertönte in zierlicher Übersetzung der Herzschlag der Stadt,<br />
die blaue Dämmerung kratzte weiche Gefühle auf, der Zweifel der Halben<br />
vibrierte und sang. Und der Gesang formierte aus seinen Kreuzungen<br />
ein Federballnetz und zwei Gladiatoren, und die russische Armee,<br />
die so gut spielen kann, und ein Schwimmerteam, lauter Schwestern,<br />
kam und verlangte nach sehr viel Wasser auf einmal. Also fuhren wir ans Meer.<br />
„Für die jungen Männer eine Sänfte!“, rief ich, denn sie standen<br />
an der Ecke und tuschelten unentschieden vor sich hin.<br />
Zwei sollten drinnen sitzen und die anderen vier tragen,<br />
als ob sie bald heiraten könnten. Ich dachte, das taugte ihnen.<br />
Ich spazierte zum Meer Arm in Arm mit der Geliebten und ihrem Verlobten,<br />
wir kamen hin, und ich vergaß meine Sorgen und befahl aus Spaß,<br />
die sechs Männer bis zum Nabel im Sand zu begraben.<br />
Die Huren bewegten sich und gruben, Sand auf den Wangen,<br />
Sand auf der Oberfläche ihrer Korsette, im Nabel und<br />
auf den Schenkeln. Die Schuhe hatten sie am Rand des Strandes<br />
vergessen, sie dienten streunenden Hunden als Schlafstätte oder Pissoir.<br />
Hinter den Dünen erschienen auch Indigene mit Federn,<br />
Perlen, Windhunden und einem Kürbis, voll trüber Bowle aus Kräutern,<br />
der herumgereicht wurde. Auf der Bowle schwamm ein Feuer,<br />
es war ein vergangenes Feuer, und wer hineinsah,<br />
erkannte in sich selbst nur mehr seine Ahnen wieder.<br />
Schläuche kamen aus den Wolken, wo in Zeppelinen<br />
längst verstorben geglaubte Industrielle und Bohemiens<br />
saßen und den Saft aus den Kürbissen inhalierten. Sie atmeten auch aus.<br />
So strömten Liebe und Ordnung, muffig riechend,<br />
in die Atmosphäre über unserem Strand, und das Meer<br />
29
ließ davon ab, die Geistespest davonzuspülen oder mit Winden<br />
von seiner großen Oberfläche her pustend zu verscheuchen.<br />
Ich rief: „Gedichte!“ Denn gegen solch irrealen Dünste<br />
kannte ich nicht die wenigsten Waffen. War ich mir bei der<br />
Herstellung von Atmosphären unsicher, konnte bei deren Klärung<br />
keiner schneller als ich einen Horizont durch die Szene ziehen.<br />
„Gedichte!“, rief ich also, um die verbliebenen Kräfte zu konzentrieren.<br />
Außerdem war ich überzeugt, dass die sechs jungen Männer schliefen.<br />
Es kamen Nobelpreisträger, versiffte Gewissen und junge Ambitionierte,<br />
alle schleppten ihre Horizonte. Bei jeder Berührung<br />
wippten die Horizonte wie Florette, glühten wie Abendrot.<br />
Bei Abgesängen trafen sich diese Dichter selbst in die Brust,<br />
und sinnloses Blut durchtränkte den Strand, bis alle verstanden,<br />
was los war, was Freude bedeutete, was Sinken war. Die Toten<br />
zogen Blusen und Hemden aus, sangen mit bloßem Oberkörper,<br />
was sie zu singen wagten, und rezitierten den Rest in Versen,<br />
umschlossen von brennenden Hulareifen, gehalten von den Huren,<br />
sicher und professionell, bis ihnen die Hände, verkohlt,<br />
abfielen. Es kamen, das Schauspiel zu sehen, noch mehr: zutrauliche<br />
Flamingos, Wasserbüffel, kleine Krebse und Scharen von Quallen,<br />
die immer trockener wurden, obwohl ich manche in den Wisky tat.<br />
Erdwürmer steckten ihre augenlosen Häupter aus dem Gebüsch<br />
und teilten sich selbst, um vor der Ewigkeit für die Dichter<br />
deren misslungenen Verse zu büßen.<br />
Die jungen Männer schliefen wirklich,<br />
begraben in ihren sandigen schwarzen Mänteln.<br />
Dunkel wurden die Himmel, längst war der Mond weg, die Sterne verschwanden,<br />
doch statt des Lichts des Morgens kam über das Meer<br />
ein größeres Dunkel, und die Flamingos begannen<br />
zu stöhnen, und knickten ein, ihre Knie verschwanden und sie<br />
flogen in Panik davon. Die unteren Teile ihrer Beine ließen sie<br />
im Sand stecken, die Beine blickten auf,<br />
den verhallenden Geräuschen der Flamingos nach.<br />
„Flaschendrehen!“, riefen die einen aufgeregt,<br />
vor Aufregung „Fischen!“ und „Ficken!“ die anderen,<br />
„Blutsbruderschaft!“ und „Eine andere Musik!“<br />
Bauern kamen mit einem Anwalt und errichteten eine Diskothek, Humanisten<br />
kamen und strichen sie mit Bildern an, die verblichen, Schlosser kamen<br />
und legten Techno auf, die Münder aufzusperren, in welche<br />
die Feuerschlucker und Garnelen Feuer und Erbsen legten,<br />
Erdbeeren und Schwerter. Es war Karaokezeit.<br />
Die Lieder kamen vom Himmel – die Erzengel zeigten Tafeln,<br />
die eine Schneiderin getreu auf Kartone abschrieb.<br />
Sie träumte von einem guten Diktierprogramm und war<br />
an der Entwicklung eines alternativen Systems<br />
beteiligt gewesen, doch nach der Wende<br />
wurde das Programm abgewickelt, sie umgeschult.<br />
Es erfüllte sie mit einem geheimen, tragischen Schmerz,<br />
die Arbeit manuell zu verrichten, die ihr Programm<br />
gemacht hätte, und mit schaurigem Genuss<br />
schrieb sie den Stoff der Trauer, als bauschte sie singend die Hände,<br />
im Schimmer der Stimme badend, in minusbestirntem blauem Samt.<br />
Das muss die Zeitumkehr bewirkt haben. Denn bald ging der Mond wieder auf,<br />
den wir endgültig gesunken wähnten, und am Himmel<br />
zeichneten sich die Umrisse von gläsernen Papageien,<br />
Hotelketten, Kettenläden und gekauften Riesen<br />
ab, Hinterseiten von Schildern und falsche Palmen.<br />
Wölfe rissen die Papageien, Blauwale die Wölfe,<br />
als ob sie die Kleinen rächten – eine Tat, der die Kleinen liebend gedachten.<br />
Und Zebras zogen durch, die Bäuche voll Nadelöhren,<br />
und Flugzeuge flogen tief, und Helikopter stahlen sich davon.<br />
Meine Fantasie wogte gegen die Trauer. Vergessen waren die Männer,<br />
der Spaß und mein Tod am Ende dieser Geschichte.<br />
30<br />
Nun, da ich sie schreibe, zieht sich die Verzweiflung zurück<br />
und lässt mich mit meiner Vernunft an diesem grauen Strand<br />
zurück. Ich scheine mir ganz alleine, und wie zum Hohn<br />
blinkt mir der Mond zwischen falschen Palmen hindurch, zitiert Heine.<br />
Alleine? Nein! Sechs Männer dösen noch immer im Dunklen,<br />
scharren in ihrem Gefängnis und quengeln im Schlaf. Und ich sehe,
wie sich das Meer in die jüngere und immer fernere<br />
Geschichte zurückzieht. Ich sehe Bismarck am Horizont,<br />
eine Schar von Todesvögeln, neuerfunden, mit glänzenden Flügeln<br />
und unerbittlichen Schnäbeln in Schönkurrent formulieren,<br />
dann sehe ich schon die schweren Stifte der Legionen,<br />
die spitzen Winkel dreimeterlanger Lanzen, die die Schweizer beinahe<br />
unter Kontrolle haben, Todesquadrate, deren Gewicht aus dem Bewusstsein<br />
seiner Bestandteile besteht, dass sie keinen Ausweg haben. Napoleons<br />
kleine besorgte Fresse, und sterbende Pferde, und Frauen voll Schweiß.<br />
(In ihnen stecken die schlichten Frisuren von Renaissancegelehrten,<br />
mit Tinte schreibend, von Sorgfalt lebend, ein Blümlein zwischen den Fingern,<br />
einem einzigen Rausch bereit sich hinzugeben mit bebender Seele<br />
((wie eine Jungfrau die Blüten im Frühling, unter dem Schnee<br />
dürftiger Sprache bleibend, mit Schaudern interpretiert)).)<br />
Ich bin erschreckt von der Zerstreutheit, in der<br />
meine Ahnungen erscheinen, mich selbst nur streifend.<br />
Der Horizont unterstreicht mein Streifen, er seufzt,<br />
erweicht sich und wird wieder heller und wird Abend.<br />
Willkür<br />
Die Zeit hat begonnen, sich rückwärts zusammenzurollen,<br />
sie zieht sich von unserer Welt zurück und lässt mich nackt,<br />
Erinnerungen und Gedanken sind nur mehr getrennte Gespenster.<br />
Ich schreie und will einen Busen, besinne mich und werde still.<br />
Größeres Grauen habe ich noch nie gekannt als meine Entscheidung,<br />
zu verstummen, doch es wird sofort übertönt von mehr Grauen,<br />
der Fortsetzung des Grauens in seinen Anfang hinein. Es wird heller und heller,<br />
und ich sehe uns klar, betrunkene Flamingos, wie Herbstzeitlosen<br />
über den Sand gespleizt, das verschmutzte, verschaumte Meer,<br />
sarkastische Kommentare murmelnd, während es ebbt<br />
und lustlos flutet. Ich sehe die Quallen leiden. Die Kormorane,<br />
aus Sehnsucht und Knochen bestehend, immer halb im anderen Element,<br />
tauchend mit Luft nach Fisch, den sie nicht wollen.<br />
Ich möchte mich nicht mehr rühren, bis ich erfriere,<br />
denn ich meine, ich habe genug Unfug gemacht.<br />
Doch eine graue Sonne, deren Schwingungen<br />
alles nicht älter, sondern dümmer machen, geht auf<br />
im Westen, und meine Moleküle bewegen sich<br />
immer schneller, immer mehr wie die forcierten<br />
Kinderzeichnungen von reichen Fauvisten, immer weniger<br />
imstande, mich durch ihre Vernunft am Leben zu halten, doch noch<br />
weniger imstande, mich in Ruhe zu lassen.<br />
Sterben, merke ich, wäre nur ein Traum.<br />
Plötzlich rühren sich hinter mir die jungen Männer,<br />
und unter der feuchten Mütze eines von ihnen<br />
schlängelt sich ein verquollener Blick hervor und trifft meinen.<br />
Er sagt: „Du kannst ja genauso wenig feiern wie wir.“<br />
„Was?“, schrie ich. „Sind doch alles Behauptungen!“<br />
„Du reagierst auf Behauptungen. Mit Behauptungen.“<br />
„Schlag mir den Kopf ab. Du hast recht. So will ich nicht leben.“<br />
„Noch nicht.“ „Ihr spinnt!“ „Wir spinnen nicht mehr.<br />
Wir suchen den Faden.“ „Und ich soll ihn haben.“<br />
„Du musst ihn machen.“ „O eine Axt! Eine Axt!<br />
Bei Gott, ich will eine Axt! Keinen Faden!“ Und ich begrub<br />
mein Haupt in den sandigen Sand der Dünen<br />
zwischen den verlorenen Messergriffen und den Schalen<br />
von Generationen von toten Muscheln.<br />
31<br />
Ann Cotten, geboren 1982 in Iowa, lebt seit 1987 in Wien, seit 2006 in Berlin. Zuletzt veröffentlichte sie die<br />
Sammlung Florida-Räume im Suhrkamp Verlag.
Fünf Fragen an …<br />
Klaus Florian Vogt<br />
Siegmund — Die Walküre<br />
Welchen Faden aus Wagners Erzählung des<br />
Nibelungen-Mythos verfolgen Sie am liebsten?<br />
Die Geschichte um Siegmund und Sieglinde finde ich besonders<br />
spannend. Sie ist konkret, lässt aber viel Raum für<br />
Fantasie. Die Figuren handeln menschlich und sind deshalb<br />
nachvollziehbar. Ich freue mich sehr darauf, den Siegmund<br />
zu singen und zu spielen.<br />
Wer hat Ihnen an welchen Orten<br />
Geschichten erzählt?<br />
Am besten erinnern kann ich mich an meine Großtante, die<br />
mir abends am Bett vorgelesen hat.<br />
Welche Geschichte hörten Sie in Ihrer<br />
Kindheit am liebsten?<br />
Märchen fand ich immer toll, spannende Geschichten mit<br />
einem gutem Ende.<br />
„Meinen Kindern<br />
erzähle ich oft,<br />
wie ich nach<br />
einem Verwandtenbesuch<br />
in der<br />
DDR einen Wellensittich<br />
in der<br />
Provianttasche über<br />
die Grenze geschmuggelt<br />
habe.“<br />
Wem erzählen Sie welche Geschichte gerne<br />
immer wieder?<br />
Meinen Kindern erzähle ich oft, wie ich mit meiner Mutter<br />
und meiner Schwester nach einem Verwandtenbesuch in der<br />
DDR einen Wellensittich in der Provianttasche über die<br />
Grenze zurück in den Westen geschmuggelt habe.<br />
Warum, glauben Sie, erzählen wir uns Geschichten?<br />
Weil wir damit eine Verbindung zu unserem Gegenüber herstellen.<br />
Die erzählte Geschichte wird durch die Fantasie des<br />
Zuhörers auch zu seiner eigenen, es ist also ein sehr persönlicher<br />
Vorgang.<br />
Fünf Fragen an …
Seit 1841<br />
Möbel aus eigener Werkstatt und von ausgesuchten Herstellern,<br />
Stoffe, gewebte Teppiche, Glas, Geschirr<br />
und besondere Mode…<br />
F. Radspieler & Comp. Nachf.<br />
Hackenstraße 7 · 80331 München<br />
Telefon 089/235098-0 · Fax 089/264217<br />
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36<br />
Küchenmatrosenfresse<br />
Die<br />
Familie<br />
der<br />
Verlorenen<br />
(Bronn)<br />
von Helmut<br />
Krausser
Bronn hatte keine Lust, sich zu erschießen, wusste spontan aber auch nichts Besseres<br />
mit sich und dem Nachmittag anzufangen. Als ob eine Pflicht erfüllt sein<br />
müsste, selbst noch das Merkwürdigste an- und weiterzudenken, dachte er kurz<br />
darüber nach, während er die Pistole betrachtete, die er im Offizierskoffer seines<br />
Vaters auf dem Dachboden gefunden hatte. Das lag nun schon etliche Jahre zurück,<br />
und oft seither hatte er die Waffe ausprobieren wollen; jedes Mal hatte ihn<br />
eine kindlich zu nennende Scheu daran gehindert. Seine Furcht galt nicht der<br />
Waffe an sich. Er konnte Pistolen und Revolvern viel abgewinnen, registrierte<br />
sogar eine fast erotische Affinität zu deren Mechaniken, insbesondere zu den<br />
Klicklauten, die solche Mechaniken hervorrufen. Eher fürchtete Bronn sich davor,<br />
etwas, das so eindeutig mit seinem Vater verbunden war, in die Hand zu nehmen,<br />
also sah er die Waffe nur an, stundenlang an, als könne sie durch präzise Betrachtung<br />
von der Aura des Vorbesitzers gereinigt werden.<br />
Mein Vater, der Gedanke war ihm in der gestrigen Nacht zum ersten Mal<br />
gekommen, hat mir diese Pistole nicht ohne Absicht hinterlassen, ganz sicher<br />
nicht, nein, ihn trieb die Hoffnung, dass ich sie brauchen könnte und irgendwann<br />
gebrauchen würde. Er wollte, dachte Bronn, gleichermaßen von der Willkür seines<br />
Gedankengangs wie von dessen drastischer Logik erschrocken, dass ich mir<br />
ihre Mündung an den Kopf halte und mit einem Projektil, seinem Projektil, seinem<br />
letzten und unvollendeten Projekt, einen Schlussstrich durch mein Gehirn<br />
ziehe. Der wohl niederträchtigste Versuch, doch noch einmal, nach so langer Zeit,<br />
Besitz von mir zu ergreifen. Es würde seine späte, raffiniert konstruierte Rache<br />
dafür sein, dass ich ihm fünfzehn Jahre lang entkommen konnte. Er soll meinen<br />
Namen auf dem Sterbebett gerufen haben. Seine Frau, sein dressierter Gebärkanal,<br />
meine Erlebnisrutsche ins Leben, hätte mir die Information auch vorenthalten,<br />
sprich: ersparen können.<br />
Bronn hatte kein Schuldgefühl gehabt. Erst jetzt, mit dem zeitlichen Abstand<br />
eines halben Jahrzehnts, stellte sich etwas, wenn auch nur sehr entfernt,<br />
Ähnliches ein. Sentimentale Selbstrelativierungen, die eine Midlife-Crisis oft begleiten,<br />
eine Art vorausgreifende Aussöhnung mit dem Kosmos, hin zur allumfassenden<br />
Vergebung. Urbi et Orbi. Requiescant in pace. Wenn er darüber nachdachte,<br />
bekam die Angelegenheit schnell etwas Zotig-Lächerliches. So vieles zu<br />
verzeihen, dafür ist jeder Mensch zu klein. Das Ende des Zorns ist das Ende des<br />
Lebens. Jeder vergibt sich selbst, und damit gut.<br />
Warum rief mein Vater meinen Namen auf dem Sterbebett? Er wusste<br />
doch, dass ich nicht kommen würde. Aber seine Gattin sollte die Anklage protokollieren<br />
und an mich weiterreichen.<br />
So der Plan. Das ist nicht eben versöhnlich gedacht für einen verröchelnden<br />
Vater. Ich hätte in die Klinik fahren und ihn mit einem Schuss<br />
aus dieser seiner Waffe abknallen sollen. Das wäre überraschend und logisch<br />
gewesen. Stil- und würdevoll. Etwas pathetisch, aber mit Verve. Womöglich hätte<br />
er es sogar begrüßt. Als aufgebauschte Form von Anteilnahme.<br />
Wie anders sähen die Biografien vieler Menschen aus, ohne all die Hemmschwellen,<br />
die aus dem bloßen Wissen von der Existenz der Gefängnisse entstehen.<br />
Dabei sind Gefängnisse so banal. Wir leben zivilisiert, wir leben in Angst.<br />
Leben banal. Dauernd hemmen uns Ängste vor einer verfrühten Vollendung. Vor<br />
irgendeiner verfrühten Vollendung, als gäbe es jene eine, die zur rechten Zeit zu<br />
uns käme – und richtiger wäre. Wir zögern hinaus, mit allen Mitteln, das Einzige,<br />
was an uns nicht banal ist: aufhören zu können mit dem Sein.<br />
37<br />
Die Familie<br />
der Verlorenen<br />
(Bronn)<br />
Waffe<br />
Endlich nahm Bronn die Pistole in die Hand. Sie fühlte sich nicht an wie etwas<br />
Böses, war ein willig handzahmes Ding, das fortan dem gehörte, der es nahm<br />
und benutzte. Zweckgebundene Materie. Eine Nutte von Ding. Sein Vater<br />
schrie und starb in diesem Moment ein zweites Mal, auf weit höherer Ebene.<br />
Bronn wollte feiern. Gern ging er nachmittags durch die luxussanierte Markthalle<br />
am Marheinekeplatz, betrachtete ein Boule-Spiel oder aß ein Hühnerbein.<br />
Viele schreckliche Mensch-Komparsen saßen auf den Bänken und tranken Bier.
Neben dem Spielplatz verkauften Trödler knallbunte Tücher, Strohhüte, Gürtel,<br />
altes Geschirr und sonstigen Plunder, auch gestohlene, zerlegte und neu zusammengesetzte<br />
Fahrräder. Bei einer Gelegenheit wie dieser hatte er Elisabeth zwischen<br />
den Ständen erblickt, das war nun auch schon wieder fast vier Jahre her.<br />
Sie war aus den Himmeln gekommen, saß da, in einem cremefarbenen Kleid, mit<br />
baumelnden Beinen, das Kinn auf ihren rechten Handrücken gestützt. Bronn sah<br />
nicht irgendein Mädchen, er sah Elisabeth. Denn das war der Name, den er dem<br />
Wesen gegeben hatte, lange, bevor er es zum ersten Mal zu Gesicht bekam.<br />
Für Mitte Oktober war es recht warm. Ein klarer, sonniger Tag ging zu Ende.<br />
Bronn mochte die Stunde, sehr früh am Abend, wenn es noch nicht ganz dunkel<br />
ist, wenn der Flüsterteer schimmert und die Stimmung auf den urbanen Alleen<br />
etwas Traumhaft-Jenseitiges gewinnt. Stunde, da die Farbpracht der Bäume<br />
letztmals ins Bewusstsein tritt, bevor sie in die Nacht hinein versickert. Wenige<br />
Farben konkurrieren: ein tiefes, selbstbewusstes Mittelblau, ein zart verwaschenes<br />
Rosa, und, weit hinten, der untergehenden Sonne entgegen, Flecken von<br />
kränklichem Schwefelgelb. Herbstluft zeichnet Konturen schärfer und härter gegen<br />
den Himmel. Zum Aufflackern der Straßenlaternen fehlen nur Sekunden,<br />
während das letzte Licht am Horizont sich zwischen Tag und Nacht noch immer<br />
nicht entscheiden will.<br />
Bronn betrat, melancholisch bewegt, seine Fünfzimmerwohnung, ließ in<br />
der Küche die Jalousien herab, floh vor der Jahreszeit unter ein Zelt aus dimmfähigen<br />
Lichtquellen. Er suchte sich von der Schwere seiner Gedanken, die an<br />
Herbstabenden fast ausschließlich der Vergänglichkeit galten, der eigenen besonders,<br />
abzulenken, blätterte mit der Fernbedienung im Teletext nach neuen Schlagzeilen<br />
und kochte, um einer Erkältung vorzubeugen, Hühnersuppe in einem verkrusteten,<br />
täglich benutzten Topf. Den regelmäßig zu reinigen, hielt er nicht für<br />
nötig; die Flüssigkeit, auf hundert Grad erhitzt, müsste alle darin enthaltenen<br />
Keime, dachte Bronn, abtöten. Danach legte er sich kurz zu Elisabeth und als er<br />
gekommen war, nahm er ein Bad.<br />
Seine oft bis übers Nagelbett hinaus abgebissenen Fingernägel spielten mit<br />
dem Schaum, ließen schillernde Blasen platzen, und dass dabei kein Knall ertönte,<br />
wertete Bronn als Unvermögen seiner seit Tausenden von Jahren schamlos<br />
verkümmerten Ohren.<br />
Alles Unvollkommene muss sterben.<br />
Er rasierte seine Hoden und Achselhöhlen, betrachtete sich im Spiegel.<br />
Mein Antaios, dachte Bronn, ist schön, einer der schönsten, ich kann stolz auf ihn<br />
sein, sogar Elisabeth empfindet ihn inzwischen, und ihr fehlt doch jeder Vergleich,<br />
als angenehm und wohlgestalt. Bronn griff nach einem Handtuch, entstieg der<br />
Wanne, stolz auf die kleine Pfütze, die sich um seine Füße in den Teppich grub.<br />
Jetzt und hier ist alles da, eins zu eins, noch fern aller Legenden, ist wahr und am<br />
Leben, ist echt, bis hin zur verschrumpelten Haut der aufgeweichten Zehen.<br />
Bronn war begeistert. Ach, flöge nur ein großer Vogel von mir fort, aus meiner<br />
Stirn heraus, mit allem, was ich denke, in ein geschütztes Nest, ein Reservat.<br />
Er zog sich an, sehr langsam, verlieh sich jedes Kleidungsstück wie einen<br />
Orden. Seine Gesten schienen selbst ihm bald kapriziös, übertrieben bewusst.<br />
Über den Besitz einer gut gefertigten Socke ehrliche Freude empfinden zu können<br />
– wann war das zuletzt möglich? Dazu benötigt es Kriege, dachte Bronn.<br />
Verlorene Kriege. Ehrgeizige Völker müssen um verlorene Kriege dankbar sein,<br />
nur in ihnen erfinden sie sich von Grund auf neu.<br />
Kurz vor einundzwanzig Uhr flanierte er in einem beigefarbenen Leinenanzug<br />
zur nächstgelegenen U-Bahn-Station. Das Transportmittel widerstrebte<br />
ihm; zu viel Tuchfühlung mit Gesindel wurde riskiert. Regelmäßiges Taxifahren<br />
konnte er sich nicht leisten, er war kein vermögender Mensch, ging keiner Arbeit<br />
nach. Was er an Ererbtem besaß, würde ihm, sparsam eingeteilt, noch etwa sieben<br />
Jahre lang ein Auskommen sichern. Dann, an seinem fünfzigsten Geburtstag,<br />
wollte er Selbstmord begehen, hatte sich dazu bereits die nötigen Narkotika<br />
Aufflackern
esorgt. Sie konnten bis dahin an Wirkung eingebüßt haben, gewiss. Sah man es<br />
so, war ihr Kauf voreilig gewesen. Doch besser, beruhigender ist es, sagte sich<br />
Bronn, dergleichen im Haus zu haben. Sieben Jahre noch existieren. Und manchmal<br />
so leben, wie es mir zusteht.<br />
Niemandem steht irgendetwas zu auf dieser Welt, dachte Bronn. Aber alles<br />
steht offen und bereit für den, der sich davon zu nehmen wagt. Er begriff sich<br />
als einen Mann der Tat. Wo andere viele Worte machten, um mit ihrem Leben<br />
ins Reine zu kommen, bevorzugte Bronn, und es kam ihm selbst oft kindisch<br />
aufbegehrend vor, die Tat, gleichermaßen als Mutprobe und definitive Stellungnahme,<br />
als letztmöglichen Ausweg aus der grassierenden Unverbindlichkeit. Bedenken<br />
will ich, was ich tu – der Satz des Feuergottes Loge, aus dem letzten Bild<br />
der Oper Rheingold, wurde für Bronn oft zum lose gemurmelten Mantra. Ging<br />
über in Tun will ich dann, was ich bedacht hab.<br />
Lüge ist, wenn mein Denken sich vom Körper zu weit entfernt. Wir müssen<br />
dieser an Äußerlichkeiten festgezurrten Welt mit unseren Körpern begegnen, nicht<br />
mit unserem Denken. Wie lächerlich sind Sandkörner, die sich in einem Getriebe<br />
einnisten, um fortan knirschend, wichtigtuerisch an Stimme zu gewinnen. Sie erzählen<br />
das ewige Lied doch nur – er machte Pause und suchte nach Worten – mit<br />
der gequälten Stimme der Maschine.<br />
All diese Sätze sprach Bronn flüsternd in sein Diktafon. Er schrieb sie<br />
selten auf.<br />
Wir, die Familie der Verlorenen, sind Körper, die Geschichten zerstören,<br />
um neue zu erfinden.<br />
Bronn bemerkte, dass einige der Menschen im Abteil ihn, während er<br />
sprach, anstarrten, wozu sie keinerlei Recht besaßen. Doch wussten sie davon<br />
nichts, und man musste ihnen verzeihen. Öffentlichkeit zwingt zu Kompromissen.<br />
An der Haltestelle Kleistpark verließ Bronn den Zug, hetzte zur Rolltreppe,<br />
angeekelt von Blicken, deren Interesse offenkundig, oder nur wenig verstellt,<br />
seiner Vernichtung galt.<br />
Von der frischen kühlen Luft beruhigt, ging er hundertachtundsechzig<br />
Schritte nach Norden, zu einem Etablissement in der Goebenstraße, ein, wie er<br />
selbst fand, widerlich versiffter Schuppen, der im Parterre DVDs, Dildos und<br />
Pornohefte verkaufte und im ersten Stock ein Pornokino und Videokabinen betrieb.<br />
Jener Bereich wurde von Kameras nur teilweise überwacht, wie sich Bronn<br />
bei vorherigen Besuchen vergewissert hatte. Der Eingang zum Kino bildete, in<br />
diesem Sinne, eine Gefahrenzone. Da musste man durch, was aber kein großes<br />
Risiko war, es gab keine Aufzeichnungen.<br />
Ein wovon auch immer klebriger Boden entlockte den Sohlen seiner Turnschuhe<br />
bei jedem Schritt ekelhafte Ploppgeräusche. Der überheizte Raum mit<br />
den neun Videokabinen schien menschenleer. Bronn fühlte sich zu seiner Schande<br />
mehr erleichtert als enttäuscht. Auch seine Lust hielt sich in Grenzen. Eine<br />
angelehnte Tür schwang auf.<br />
Der junge Mann mit den kurzen weißblonden Haaren sah Bronn freundlich<br />
lächelnd an. Ein hagerer Mensch, kaum zwanzig Jahre alt, in Jeans und gelbem<br />
Polohemd. Sein Gesicht war einigermaßen hübsch, doch wenig interessant, es hatte<br />
noch einen weiten Weg vor sich. Smutjegesicht. Eine bleiche, der Akne längst<br />
noch nicht entwöhnte Küchenmatrosenfresse. Bronn hob die rechte Hand zum<br />
Gruß. Der junge Mann blinzelte ihm zu, und sein lasziver Griff in den eigenen<br />
Schritt, verbunden mit einem auffordernd eindeutigen Grinsen, erregte Bronn. Er<br />
tat ein paar Schritte auf den Jungen zu, lächelte, betrat die Kabine, schloss hinter<br />
sich ab, öffnete Gürtel und Reißverschluss seiner Hose, schob sie mitsamt dem<br />
Slip bis zu den Knien hinab. Bronn fühlte sich verehrt und sehr korrekt behandelt,<br />
streichelte die Ohren seines Wohltäters mit beiden Zeigefingerspitzen und wartete,<br />
bis seine Erektion sich verfestigt hatte. Der blonde junge Mensch war unerfahren,<br />
wenngleich er sich Mühe gab, mit den Zähnen die Haut nicht zu berühren.<br />
Bronn stieß ihm sein Glied heftig in den Rachen, der Blondjunge schnaubte, seine<br />
Nase klang verstopft und verursachte ein unangenehm rasselndes Geräusch.<br />
39<br />
Die Familie<br />
der Verlorenen<br />
(Bronn)<br />
Ploppgeräusche
Das Projektil, das in sein rechtes Ohr eindrang, verließ sein zerwühltes Gehirn<br />
durchs linke und blieb in der Wand stecken. Als sei es ein Gedanke gewesen, dem<br />
man nur mit halber Aufmerksamkeit zugehört hatte. Der Schalldämpfer ist zweifellos<br />
eine der zärtlichsten Erfindungen der Menschheit. Dachte Bronn, der große<br />
Erregung daraus zog, dass die Kugel sich nur Zentimeter über seiner Eichel durch<br />
die gallertartige Masse fremder Gedanken hindurchgebohrt hatte.<br />
Der helle Anzug war eine zu kühne bis absurde Farbwahl gewesen, das<br />
gestand er sich jetzt. Mit einem Taschenmesser pulte Bronn das kaum verformte<br />
Projektil aus der Plastikwand. Roch daran. Steckte es in die Innentasche seines<br />
Jacketts. Danach schob er den toten Körper mit Fußtritten unter den Sitz. Bronn<br />
öffnete die Tür der Videokabine einen Spalt, sah sich um. Schnell glitt er zur Tür<br />
hinaus und schloss sie von außen, hielt sich eine Hand vors Gesicht, als er den<br />
Eingangsbereich zum Kino durchschreiten musste, ging, froh um die kühle<br />
Abendluft, gemächlichen Schrittes die Potsdamer Straße entlang, fühlte sich derangiert,<br />
wegen der wichtigtuerischen Blutspritzer auf seiner Hose. Er stoppte,<br />
ausnahmsweise, ein Taxi, nahm im Rückraum Platz. Der Fahrer würde sicher<br />
nichts bemerken. Agone? Hoc age! Um mit den römischen Priestern zu reden.<br />
Tun, was bedacht ist.<br />
Bronns Glied, der Begriff Antaios, den er selbst dafür gebrauchte, enthielt<br />
eine Spur von Ironie, blieb während der Heimfahrt ständig steif. Er freute sich<br />
sehr darauf, vor dem Fortdämmern noch einmal zu Elisabeth kriechen zu können.<br />
Sieben große Jahre liegen vor mir, dachte er. Bevor die Welt von mir Abschied<br />
nehmen muss. Eine Träne rollte ihm die Wange hinab. So glücklich, dachte Bronn,<br />
bin ich schon lang nicht mehr gewesen.<br />
Die Hoffnung, rechtzeitig vor meinem Tod unglücklich und depressiv zu<br />
werden, gar vielleicht gerne zu sterben, scheint entmutigend unrealistisch. Ich<br />
will aber auch nicht feig sein oder bequemlich. Nein.<br />
Zu viel von allem ist zu viel. Marienkäfer sind niedlich. Millionen von Marienkäfern<br />
sind eklig. Es gibt Milliarden von Menschen. Zu Hause fand er Elisabeth<br />
schlafend vor. Nicht vom hellsten Licht erwachte sie auch nicht, als er ihren<br />
Rücken mit Küssen liebkoste. Er legte sich neben das Mädchen, atmete ruhig und<br />
bewusst, ließ sie in Ruhe und schlief ein. Bald würde er sie aus seinem Leben<br />
entfernen müssen – und es brach ihm das Herz.<br />
40<br />
Die Familie<br />
der Verlorenen<br />
(Bronn)<br />
Tuchfühlung<br />
Helmut Krausser ist Autor von<br />
Romanen, Gedichten und Bühnenstücken.<br />
Seine Romane Der große<br />
Bagarozy und Fette Welt wurden<br />
verfilmt. Im Wintersemester<br />
2007/08 hatte er die Poetikprofessur<br />
der Ludwig-Maximilians-Universität<br />
München inne. Zuletzt<br />
erschien der Roman Die letzten<br />
schönen Tage im Dumont Buchverlag.<br />
Der Autor lebt bei Berlin.
Exklusive Haarpflege und Kosmetik.<br />
In ausgesuchten Friseur – Salons: www.labiosthetique.de
Fünf Fragen an …<br />
Juha Uusitalo<br />
Wotan — Die Walküre<br />
Der Wanderer — Siegfried<br />
Welchen Faden aus Richard Wagners Erzählung des Nibelungen-Mythos<br />
verfolgen Sie am liebsten?<br />
Mich berührt der Faden von Wotans persönlichem Weg am<br />
meisten, und wie der Ring seine Einstellung über die drei<br />
Opern, in denen er auftaucht, verändert. In Wagners einzigartiger<br />
Komposition ist dies natürlich auch musikalisch in<br />
die Figur hineingewoben, etwa in Wotans Monolog, den er an<br />
Brünnhilde richtet. Natürlich mag ich auch die Rolle des<br />
Wanderers sehr gern, sowohl musikalisch als auch als Figur<br />
(vielleicht weil ich sie öfter gesungen habe).<br />
Wer hat Ihnen an welchen Orten Geschichten erzählt?<br />
Meine Mutter und mein Vater haben mir Geschichten erzählt,<br />
als ich noch klein war, aber auch meine älteren Brüder<br />
(acht und sechs Jahre älter als ich), denen ich vollkommen<br />
ergeben war.<br />
„Lustigerweise war<br />
meine Lieblingsfigur<br />
früher die<br />
Zeichentrickfigur<br />
Donald Duck!<br />
Ich konnte es<br />
immer gar nicht<br />
erwarten, bis die<br />
Comics endlich in<br />
der Post waren.“<br />
Welche Geschichte hörten Sie in Ihrer Kindheit am liebsten?<br />
Lustigerweise war meine Lieblingsfigur früher die Zeichentrickfigur<br />
Donald Duck! Ich konnte es gar nicht erwarten,<br />
bis es endlich Dienstag oder Mittwoch war und die Comics<br />
in der Post waren.<br />
Wem erzählen Sie welche Geschichte gerne immer wieder?<br />
Ich habe früher meinen eigenen Kindern alle möglichen<br />
Geschichten erzählt – irgendetwas, damit sie einschliefen!<br />
Am liebsten waren mir die Geschichten des finnischen<br />
Autors Mauri Kunnas, vor allem seine Herra Hakkaraisen-<br />
Geschichten [auf Deutsch Herr Schnorchelmütz, d. Red.],<br />
und davon ganz besonders die, in der er schlafwandelt.<br />
Warum, glauben Sie, erzählen wir uns Geschichten?<br />
Wissen Sie, was wirklich sehr wichtig ist für Kinder, ist der<br />
Klang der Stimmen ihrer Eltern. Ich erinnere mich tatsächlich,<br />
dass ich es als Kind so beruhigend fand, sie zu hören,<br />
und gleichzeitig war es auch eine großartige Erfahrung, eine<br />
Geschichte von ihnen erzählt zu bekommen.<br />
Übersetzung Maria März<br />
Fünf Fragen an …
Fünf Fragen an … 43<br />
Nina Stemme<br />
Brünnhilde —<br />
Götterdämmerung<br />
„Meine Großmutter<br />
hat uns Schwestern<br />
gefragt, worum es<br />
in der Geschichte<br />
gehen soll, und<br />
dann wir sind in<br />
den Pausen<br />
eingesprungen und<br />
haben – nach<br />
unserer Meinung –<br />
die Geschichte<br />
besser gemacht!“<br />
ter, ihr Sterben für ein höheres Ziel –, ist dies kein Vergleich<br />
zur Entwicklung der Brünnhilde! Die Geschichte einer Göttin<br />
zu erzählen, die von ihrem Vater zur Menschlichkeit verdammt<br />
wurde und damit zu allem, was das bedeutet, Beziehungen,<br />
Liebe, Schwüre und Täuschungen, und die am Ende<br />
schließlich ihr Leben opfert in der Hoffnung auf eine bessere<br />
Welt – das ist schon etwas Besonderes.<br />
Wer hat Ihnen an welchen Orten<br />
Geschichten erzählt?<br />
Meine Großmutter hat meinen Schwestern und mir Geschichten<br />
erzählt, wenn sie uns zu Hause in Stockholm besucht<br />
hat. Sie hat uns gefragt, worum es in der Geschichte<br />
gehen soll, und hat dann mit dem Erzählen angefangen …<br />
und wir Mädchen sind in den Pausen eingesprungen und haben<br />
– nach unserer Meinung – die Geschichte besser gemacht!<br />
Und so wurde es dann oft eine Geschichte aus dem<br />
täglichen Leben, in der meine Schwestern und ich vorkamen.<br />
Welchen Faden aus Wagners Erzählung des<br />
Nibelungen-Mythos verfolgen Sie am liebsten?<br />
Ich glaube, es gibt einen Grund jenseits der stimmlichen Herausforderung,<br />
der mich von Sieglinde zu den Brünnhilden<br />
hat wechseln lassen … Obwohl ich die Wesenszüge der Sieglinde<br />
liebe – das Erwachen einer Frau, ihr Wachsen und, spä-<br />
Fünf Fragen an …<br />
Welche Geschichte hörten Sie in Ihrer<br />
Kindheit am liebsten?<br />
Ich war, und bin immer noch, sehr bewegt von Astrid Lindgrens<br />
Bröderna Lejonhjärta (Die Brüder Löwenherz). Davor<br />
habe ich gern manche der volkstümlichen Erzählungen aus<br />
Schweden gehört …<br />
Wem erzählen Sie welche Geschichte gerne<br />
immer wieder?<br />
Ich erzähle jedes Mal Geschichten, wenn ich auf die Bühne<br />
gehe und eine Oper singe, ein Lied oder sogar ein konzertantes<br />
Stück. Das reicht mir ...<br />
Warum, glauben Sie, erzählen wir uns Geschichten?<br />
Um unterschiedliche Facetten des Lebens mitzuteilen. Um<br />
die Vergangenheit mit der Zukunft zu verbinden. Und natürlich<br />
auch, um Moral, Ethik und Vernunft auf eine symbolische<br />
oder universellere Weise zu vermitteln.<br />
Übersetzung Maria März
Die Pause nach dem Dritten Akt<br />
und kein Ende<br />
von<br />
Christine Pitzke<br />
48<br />
Ob es sein könne, fragte sie, dass es nicht Vermittlung brauche zwischen den<br />
Menschen und ihrem Göttlichen, sondern Vermittlung zwischen dem Wortlosen<br />
und dem Wort? Er nickte nur. Sie wollten kleine Dinge sagen und tun und hielten<br />
sich an die Silben. Ob es sein könne, fragte sie, dass sie den Dingen unrecht<br />
getan hätten, sie seien ja nicht so abgehärmt oder todverfallen oder ausgeliefert<br />
wie die Menschen meinten, oder verstoßen oder in Eigenschaften gefangen, sondern<br />
jedes eine unbewohnte Insel, und sie stürzten die Menschen in ihre Freiheit,<br />
jedes gab Kleider und neues Unbehaustsein, Sammelstelle von weiteren<br />
Elementen. Das Grün gab von seinem schwachen Grün, die Kalkfelsen von ihrem<br />
Weiß, Bilder, die in den geschlossenen Augen noch eine Weile stehen blieben,<br />
manchmal im Kontrast. Jetzt wuchs die bewohnbare Erde wieder an, eine<br />
strenge und von einem rauen Wind durchwehte Hochfläche, und dieser Wind<br />
machte den Festkörper leicht. Unruhe, und es war auch in der Unruhe ein Wohnsitz<br />
zu finden für kurz. Dann brach etwas über Elaine herein, und sie zog dafür<br />
ihr weißes Kleid aus und war eingeordnet in diese Sekundenwelt eine Sekunde<br />
lang und verlor sich und wurde wiederhergestellt, und da war jetzt Ernst und<br />
eine klare Sonne und weit draußen ein Wolkenvorrat. Und wie sie zueinanderstanden<br />
und wie sie sich ineinanderschlossen und offen wurden davon, so offen.<br />
Sie kochten Tee mit ihrer blauen Campingkartusche, sie setzten den Topf<br />
auf die Gasflamme, das Wasser perlte lange bevor es siedete, sie warfen Teeblätter<br />
in das perlende Wasser, sie aßen Aniskekse zum Tee, es gab kein Ornament,<br />
es gab nur die nackten Dinge, die Schlüssel waren von der Sonne heiß, der<br />
Schlüssel für das ferne Haus, für das Hotelzimmer und der für das Auto hier,<br />
und die Geräte waren noch lange nach dem Teekochen heiß. Sie blieben bis in<br />
die Nacht, das Licht hatte die weißen Felsen mit neuer Unmöglichkeit bemalt<br />
und flüsterte etwas erträglich Einsames in ihr Leben hinein, und vor allem flüsterte<br />
es: weitermachen. Sie machten kleine Dinge, sie lagen nackt auf der nack-
Wir sind nur musikalisch“, gab der Beifahrer zur Antwort, als jemand<br />
gegen die Scheibe klopfte, und dann sagte auch Elaine, die sich zum<br />
Fenster hinüberbeugte: „Das müssen Sie schon verstehen.“ Das<br />
Auto war rubinrot und hatte ein weißes Dach, Elaine schloss das Schiebedach,<br />
wenn sie ihre Musik hörte, sie machte das nur noch eine Stunde am Tag und fuhr<br />
dorthin, wo sie niemanden zu stören glaubte. Der Wagen aus den 70er Jahren<br />
wackelte im Gewitter nicht und blieb auch beim Fahren in der Spur und hatte<br />
alle technischen Prüfungen bestanden. Was störte? Dass man auch hinten auf<br />
den Sitzen tief in die Polster sank? Sie könnten sich dort sogar in einem Stachel<br />
wiegen und die Gewichte neu verteilen und im Stachel unverwundbar sein.<br />
Wovor hätte Elaine sich fürchten sollen? Manchmal stellte sie ihr Auto<br />
absichtlich in den Regen, und sie blieben darin sitzen zu zweit, sodass ein<br />
Schwall über sie rollte und auf ihnen trommelte und an dem ausgebleichten<br />
Lack herunterlief, und durch den Fensterspalt lief Wasser ins Fahrzeug herein.<br />
Dann streckte sie ihren Arm und ließ das Rinnsal in ihre Achselhöhle laufen, wo<br />
es eine kleine Pfütze bildete. Sie gab davon Raymond, sie gab ihm viel, auch von<br />
dem Geruch des Regens. Er gab ihr viel, auch von der größeren Gischt. Und von<br />
außen gesehen waren die Reifen, auf denen das Auto stand, ganz schmal, und die<br />
Klippe hätte abbrechen und stürzen können, aber noch nicht an diesem Tag. Sie<br />
waren an diese fremde Küste geworfen und erkundeten das Landesinnere, und<br />
Elaine war jetzt in einem Zustand, in dem sie überall Götter vermutete, den<br />
Grashalmgott und den für die Disteln, und auch der Distelgott blieb wie immer<br />
unsichtbar und besonders unsichtbar an den Stellen, wo die Wassertropfen jetzt<br />
an den dornigen, geflügelten Stielen saßen. Sie wusste, es gab Zeigerpflanzen,<br />
aber ob diese hier zu den Zeigerpflanzen gehörten, wusste sie nicht, sie sagten<br />
nur: Schau wie schön. Und es war dafür gesorgt, dass kein Sterblicher zu lange<br />
hier bleiben durfte, deshalb gingen sie weiter. Im Widerschein der Wasserpfützen<br />
zitterten sie, und nicht nur dort, aber auch in diesem Zittern durften sie<br />
nicht lange bleiben und gingen und waren stabil, zwei Festkörper, aufrecht.<br />
49<br />
Die Pause<br />
nach dem<br />
Dritten Akt und<br />
kein Ende
50<br />
ten Erde, sie steckten ihre Finger in die Grasbüschel, und es war in diesem<br />
Augenblick nicht klar, wer wen festhielt. Elaine streckte sich, und sie streckte<br />
sich so sehr, dass sie das Gefühl hatte, sogar ihre Knochen mitzudehnen. Aber<br />
kein Mensch darf lange in einem solchen Zustand bleiben.<br />
Sie fanden eine Hütte, sie krochen nicht hinein, lehnten sich nur gegen<br />
die Außenwand, sie rochen an dem Holz und an den Rissen, sie fanden ein Stück<br />
weggeworfene Wolle und legten es unter ihre Decke, die Wolle roch nach Erde<br />
und nach Tieren und nach Farblasur. Sie konnten jederzeit zurück, ihren frischen<br />
Bademantel aus dem Hotelschrank nehmen, mit dem Lift zur Sauna fahren,<br />
sie fielen in einen kurzen Schlaf. Elaine wachte schon nach einer Stunde auf,<br />
sie hielt eine Feder vor Raymonds Nase, um zu sehen, wie er atmete, sie sagte<br />
ein Wort in sein Ohr, um zu sehen, ob er verstand, sie nahm das wilde Grün und<br />
wollte es ihm schenken, sie streifte seinen Ärmel hoch, um den Arm zu fassen.<br />
Die Dunkelheit zeigte ihre Sterne, und das war keine Mangelfläche, im Gegenteil.<br />
Ein Donner hatte eingesetzt, der aber kein Donner war, sondern ein Auftakt<br />
und dann ein Gesang, sie konnten fast jedes Wort aus diesem Gewitter<br />
verstehen. Ein paar Zikaden ganz in ihrer Nähe sangen dazwischen, auch andere<br />
nächtliche Tiere, unsichtbar. Es gab hier kein elektrisches Licht, sie hatten nur<br />
ihre Taschenlampe. Elaine leuchtete auf das nächtliche Gewebe, sie sah die Ausrufezeichen<br />
in den kleinen Dingen, in der Gabelung der Halme, im Steinmoos,<br />
in den Blättern und Gegenblättern und im ausgemergelten Stein. Sie hatten<br />
vom Gewitter den Brennpunkt noch in sich. Elaine konnte nun jeden Satz mitbuchstabieren,<br />
aber darum ging es nicht. „Sie geben schon den Dritten Akt, sie<br />
haben vielleicht erst jetzt die Fenster aufgemacht? Und die jetzt mit der Stimme<br />
spielen und mit dem Körper singen, sie sollen sich zeigen.“ Elaine sprang auf.<br />
Weil sie glaubte, im Stehen deutlicher hören zu können. Sie ging auf und ab, weil<br />
sie glaubte, im Gehen deutlicher hören zu können. Furcht hat feine Ohren, und<br />
die Furchtlosigkeit hat noch feinere Ohren, weil sie auch durchhörig ist wie eine<br />
Membran. Da war ein Straßenschild und eine Halterung, in der es befestigt war,<br />
ein helles, fast klirrendes Geräusch, und durchhörig der Kopf für die Geräusche,<br />
die alle zusammen und jedes für sich: Freude sind. Elaine hatte die aufnehmenden<br />
und weitergebenden Organe, sie blieb einen Augenblick stehen und war<br />
gezogen, die ganze Person, dorthin.<br />
Es war schön, dass in der Ferne Lichter standen, zu denen sie hinfahren<br />
konnten, und die Lichter fassten Menschen ein. Eine Stunde lang war immer<br />
wieder ein Donner in der Luft gewesen, die Musik, jetzt fuhren sie dorthin, zum<br />
Flutlicht und Scheinwerferlicht und Leuchtstoff. Eintrittskarten hatten sie<br />
nicht, aber es war jetzt die Stunde nach dem Dritten Akt, sie streiften die Reihen<br />
entlang. Die Besucher waren geblieben, manche saßen noch auf ihren Stühlen<br />
und auf den Absperrbalken, und mit ihrem Bleiben wollten sie also sagen:<br />
weitermachen. Die Stühle wurden nicht eingeklappt, die Scheinwerfer nicht abgeschaltet,<br />
ein Stück Seil lag am Bühnenrand, niemand fasste es an, manche der<br />
Besucher wischten sich die Augen, einer öffnete seinen Kragen und knöpfte das<br />
Hemd auf, aber er sagte nicht, ob die Brustsperre weiter war oder gelöst.<br />
Keine weiteren Spuren, als sei die Vorstellung nicht gewesen und so als<br />
hörte sie nicht auf. Noch immer waren die äußeren Mauern hell und die Bühne<br />
auch, kein Dach außer dem großen. Die Zugangsbewacherinnen kamen und fragten:<br />
„Worauf warten Sie?“, aber das konnte niemand sagen. Dass die Stunde<br />
nach der Musik nur die Pause zwischen den Akten sei und kein Ende darin. „Sie<br />
fangen gleich an mit dem Aufhören“, hieß es, aber wer hätte das glauben mögen.<br />
Auch hier gab es den Widerschein in Wasserpfützen und darin eine zweite Bühne.<br />
Jetzt still. Und der Stoff war noch ganz unverträumt, hier in seinen Bruchteilen.<br />
Und die Besucher machten, was man gerne macht, wenn man eine Sehnsucht<br />
hat, sie kauften etwas zu essen und zu trinken und balancierten mit gefüllten<br />
Tellern zwischen den Reihen.<br />
Nur jetzt nicht diese Fülle beleidigen. Und weil sie so leicht waren, durften<br />
sie nicht den Boden verlieren, auch dafür war das Seil hingeworfen, verges-
sen und bereitgelegt. Sie tauchten ihre nackten Füße in eine Wasserpfütze. Niemand<br />
baute die Bühne ab, aber die Musiker kamen nicht wieder, sie fuhren dann<br />
in einem offenen Jeep ganz nah an Elaine vorbei, sie hatten noch Schweiß auf<br />
der Stirn und nasse Haare, sie wirkten erschöpft wie nach einem langen Lauf,<br />
sie holten tief Luft und wollten also von der Stunde nach dem Auftritt auch<br />
selbst einen Rest einatmen. Der Jeep fuhr sehr langsam, fast aus eigener Kraft.<br />
Nur jetzt nicht die stille Stunde plündern, denn es könnte sein: Das einem unbeirrbaren<br />
Zuspruch sich hingebende Herz gab sich hin. Elaine rannte schnell<br />
davon, sodass sie nicht mehr wusste, ob sie das gesagt hatte oder nur gedacht.<br />
Dann sanken ihr die Kniegelenke ein, sie schlug mit dem Kopf an etwas Hartes.<br />
Jemand legte ihr ein kühles Tuch auf die Stirn und sagte das Wort Ohnmacht,<br />
jemand schaute sie von weit draußen mit erstaunten Augen an. Jemand legte<br />
ihre Beine auf einen Stuhl. Elaine nahm sich zusammen und stand. Sie hatte sich<br />
für einen Augenblick in die Kniekehlen zusammengezogen, hatte ihre Sprungkraft<br />
gesammelt und stand fest. Zubehör für Idylle und Gerätschaften für Idylle,<br />
aber Lücken darin, sonst hätte sie vielleicht sogar erschrecken müssen. Und<br />
dann standen sie in den Stuhlreihen und Rillen, in ihren Umarmungen, in dieser<br />
aufgewühlten Nacht, zusammengedrängt wie ein Stempel, und Menschen hineingesunken,<br />
andere hervorgestellt, und morgen würde der Stempel anders sein<br />
und übermorgen auch. Die Bäume waren nicht finster, weil es jetzt keine Finsternis<br />
gab. Aufrecht und zugeneigt suchten sie einen Haltepunkt oben, zugespitzt<br />
und biegsam, und in alle Richtungen zeigten sie mit ihren Büscheln.<br />
„Ganz klar“, sagte der Taxifahrer, „der Reifen ist zerschnitten.“ Und er<br />
stieß, wie um sich zu vergewissern, mit seinem Fuß gegen den Vorderreifen von<br />
Elaines Wagen, und obwohl sie verärgert war, sogar sehr verärgert, musste sie<br />
über diese Klarheit doch lachen. Sie ließ sich auf den Ledersitz des Taxis fallen,<br />
taumelnd oder geohrfeigt oder beides. Sie öffnete die Lippen, Luft wurde im<br />
Fahren durch das Fenster hereingeschleudert. „Eine Zumutung“, antwortete sie<br />
am nächsten Morgen im Frühstückszimmer auf die Frage, wie es gewesen war,<br />
„zuerst ein Gewitter, dann eine Ohnmacht, dann war an meinem Wagen ein Reifen<br />
kaputt. Wunderschöne Zumutung, erlitten und erlebt. Heute Abend geht es<br />
weiter, und Eintrittskarten haben wir auch.“ Dabei tupfte sie sich den Mund und<br />
blickte versonnen zum Fenster hinaus und dann fest in die Augen ihres Gegenübers.<br />
Sie lachte, und ihre Augen füllten sich mit Tränen, sie war so schwach,<br />
dass sie davon aufrecht stehen konnte. So schwach, dass sie davon kerzengerade<br />
ging. Und es war jetzt eine Sekunde lang ohrenbetäubend leise im Zimmer.<br />
51<br />
Die Pause<br />
nach dem<br />
Dritten Akt und<br />
kein Ende<br />
Christine Pitzke ist freie Autorin<br />
und lebt in München. Die Germanistin<br />
und gelernte Krankenschwester<br />
erhielt für ihr Prosadebüt Versuche,<br />
den Morgen zu beschreiben (2004)<br />
mehrere Auszeichnungen. 2010 erschien<br />
ihr dritter Roman Der<br />
Sommer, in dem Folgendes geschah.
Fünf Fragen an …<br />
Ulrich Reß<br />
Mime — Das Rheingold<br />
Welchen Faden aus Wagners Erzählung des<br />
Nibelungen-Mythos verfolgen Sie am liebsten?<br />
Durch meine Rollengestaltung des Mime liegt es natürlich<br />
nahe, dass mich dieser Faden am meisten interessiert und<br />
begeistert.<br />
Wer hat Ihnen an welchen Orten<br />
Geschichten erzählt?<br />
Die meisten Geschichten erzählte mir mein Großvater im<br />
Park beim Spazierengehen und Spielen. Er war ein sehr guter<br />
Geschichtenerzähler, denn es versammelten sich viele Kinder<br />
um ihn und hörten zu.<br />
Welche Geschichte hörten Sie in Ihrer<br />
Kindheit am liebsten?<br />
Das ist schwer zu beantworten, aber eine Geschichte, die<br />
mich begeisterte und mit der ich auch mein erstes richtiges<br />
Theatererlebnis hatte, war Peterchens Mondfahrt.<br />
Wem erzählen Sie welche Geschichte gerne<br />
immer wieder?<br />
Meinen vier Kindern erzähle ich oft Geschichten, die mich<br />
noch heute mit meinem leider viel zu früh verstorbenen Vater<br />
verbinden. Meinen Kollegen erzähle ich gerne Geschichten,<br />
die ich in der Oper erlebt habe, zum Beispiel bei Siegfried in<br />
Florenz. Ich musste zu Beginn der Vorstellung als Mime auf<br />
eine Plattform steigen und in 14 Metern Höhe auf meinen<br />
Auftritt warten. Bei einer Vorstellung gab es Feueralarm, und<br />
ich musste fast eine halbe Stunde in der Höhe ausharren, bis<br />
es endlich beginnen konnte. Obwohl ich schwindelfrei bin,<br />
war das keine leichte Aufgabe.<br />
Warum, glauben Sie, erzählen wir uns Geschichten?<br />
Ich glaube, dass es eine gute Möglichkeit ist, unseren Kindern,<br />
Freunden und Kollegen von unseren positiven und<br />
negativen Erlebnissen zu berichten. Je nachdem, was man<br />
erlebt hat, kann jeder die Geschichte nach seiner Lust und<br />
seinem Talent gestalten.<br />
Fünf Fragen an …<br />
„Meinen Kollegen<br />
erzähle ich gerne<br />
Geschichten,<br />
die ich in der Oper<br />
erlebt habe, zum<br />
Beispiel bei<br />
Siegfried in Florenz.<br />
Ich musste als<br />
Mime in 14 Metern<br />
Höhe auf meinen<br />
Auftritt warten.<br />
Einmal gab es<br />
Feueralarm, und ich<br />
musste fast eine<br />
halbe Stunde dort<br />
ausharren.“
Fünf Fragen an … 53<br />
Blindtext<br />
Catherine Naglestad<br />
Brünnhilde — Siegfried<br />
„Die Geschichten,<br />
die mir immer<br />
und immer wieder<br />
erzählt worden<br />
sind, sind heute<br />
ein Teil von mir.<br />
Wenn ich sie nur<br />
gelesen oder nur<br />
einmal gehört<br />
hätte, hätte ich sie<br />
vielleicht interessant<br />
gefunden,<br />
aber sie wären<br />
nicht Teil meiner<br />
jetzigen Identität.“<br />
Welchen Faden aus Wagners Erzählung des<br />
Nibelungen-Mythos verfolgen Sie am liebsten?<br />
Wagner webt ein verworrenes Netz aus all seinen Fäden – mir<br />
gefällt es aber, darin die Parallelen, oder Verbindungen, zu<br />
Mythen und Legenden aus anderen Kulturen und Zeiten zu<br />
entdecken.<br />
Wer hat Ihnen an welchen Orten<br />
Geschichten erzählt?<br />
Wie bei vielen Kindern hat meine Mutter mir abends vor dem<br />
Einschlafen Geschichten erzählt. Ich habe auch gern zugehört,<br />
wenn sie Familiengeschichten erzählt hat. Die Geschichten,<br />
die mir immer und immer wieder erzählt worden sind, sind<br />
heute ein Teil von mir. Wenn ich sie nur gelesen oder nur einmal<br />
gehört hätte, hätte ich sie vielleicht interessant gefunden,<br />
aber sie wären nicht Teil meiner jetzigen Identität.<br />
Welche Geschichte hörten Sie in Ihrer<br />
Kindheit am liebsten?<br />
Meine liebsten Kindergeschichten sind:<br />
The Chronicles of Narnia (C. S. Lewis)<br />
Little Women (Louisa May Alcott)<br />
The Secret Garden (Frances Hodgson Burnett)<br />
Wem erzählen Sie welche Geschichte gerne<br />
immer wieder?<br />
Ich habe die Geschichten gern, die ich beim Singen „erzähle”.<br />
Was gesprochene Geschichten angeht, ziehe ich das Zuhören<br />
vor.<br />
Fünf Fragen an …<br />
Warum, glauben Sie, erzählen wir uns Geschichten?<br />
Geschichten, Mythen und Legenden sind eine essenzielle<br />
Hilfe dabei, zu definieren, wer wir sind, woher wir kommen,<br />
und auch dabei, die universellen Wahrheiten zu finden, die<br />
uns mit uns selbst verbinden, mit einander, mit Träumen und<br />
mit dem Göttlichen. Mythen hat man in unserer Gesellschaft<br />
abgewertet als etwas von der Wahrheit Separates. Ich glaube,<br />
dass mythische Wahrheiten im Grunde die Geschichte<br />
hinter der Geschichte sind. Warum sonst existieren sie in jeder<br />
uns bekannten Kultur?<br />
Übersetzung Maria März
Mädi<br />
von Händl Klaus<br />
L<br />
utz sah zu seinem Vater auf. Gernot war<br />
die Größe selbst. In der Wohnung, die sie<br />
von den Schwiegereltern hatten, musste dieser<br />
starke Mann sich ständig ducken, um nicht anzustoßen.<br />
Dabei war sie sehr geräumig. Doch<br />
er sprengte sie beinahe, so gewaltig trat er auf.<br />
Eigentlich glitt er dahin, so geschmeidig war<br />
sein Gang. Seine Schuhe fertigte man eigens<br />
für ihn an; im Handel fand man keine, die ihm<br />
passten. Als Kollege stieg man für gewöhnlich<br />
in die Kluft des Vorgängers. Als er anfing,<br />
gab man ihm von vornherein die größte. Da<br />
krachten die Nähte, der Ausschnitt riss ein.<br />
Die Schneiderin kam und zitterte überm Gemächt,<br />
das auch viel zu groß war. Sie half ihm<br />
heraus. Er war ein Mann der Frauen. Und er<br />
war ein lustiges Haus, das ständig seine Witze<br />
riss. In der Runde bog man sich, wenn er die<br />
Kollegen parodierte. Zu ihrem Gaudium ließ<br />
er die Muskeln spielen. Die Brust konnte im<br />
Rhythmus eines Lieds, das sie erraten mussten,<br />
zucken. Er war der Schönste unter ihnen.<br />
Sie zogen ihn zwar damit auf, aber er stach sie<br />
aus. Im Polizeikalender, der sie alle halbnackt<br />
zeigte, war ihm der Dezember vorbehalten. Er<br />
war stolz auf sich, den Körper. Zuhaus warf er<br />
sich einen treuen Blick zu, wenn er durch den<br />
Flur ging, wo der Kleiderspiegel hing. Auf der<br />
Straße stutzte man, wenn man ihm begegnete.<br />
Er war ergreifend schön.
S<br />
ein Sohn, fünf Jahre alt, war zart, ein Mädchen<br />
fast, mit bleicher Haut und dünnem<br />
Haar. Er piepste, wenn er sprach. Gernot<br />
lachte fast. Die Wut war doch zu groß. Das<br />
Kind war ihm zu schwach, ein Ärgernis, das<br />
er, wo es nur ging, schroff in seine Schranken<br />
wies. Ihm schwante, dass ein Unglück seinen<br />
Lauf nahm. Heimlich liebte Lutz den ungerechten<br />
Vater, der ihn nicht verstand. Er war<br />
gebannt von Vaters weichem Mund. Er sah<br />
darin ein heimliches Versprechen. Der Vater<br />
wusste selbst nicht, was er stumm versprach,<br />
doch mit den Jahren käme es gewiss zu Zärtlichkeiten<br />
für den großen Sohn, der dann ein<br />
Professor wäre, reich genug, den Vater zu beschämen.<br />
Heute stand Lutz flennend da, weil<br />
er Fußball spielen sollte mit den groben Buben<br />
aus der Nachbarschaft. Er wollte nicht. Er<br />
hatte Angst vor ihren Tritten. Heulend stand<br />
er vor dem fassungslosen Vater. Die Mutter<br />
nahm das Kind in Schutz. „Unser Lutz singt<br />
doch so schön.“ Gernot schwieg fassungslos.<br />
Lutz spürte, dass er ihn verlor. Um ihn zu erfreuen,<br />
um ihn für sich einzunehmen, bat er<br />
seine Eltern nach dem Abendessen feierlich<br />
ins Wohnzimmer: „Zur Sportveranstaltung!“<br />
Die Mutter lächelte bereits. „Applaus!“, erbat<br />
das Kind. Gernot runzelte die Stirn. Die Mutter<br />
klatschte stürmisch in die Hände. Lutz<br />
trug die lange Unterhose für den Winter. Sie<br />
kam ihm athletisch vor. Mitten auf dem Teppich<br />
baute er sich auf. Er blickte seinen Vater<br />
zitternd an, verneigte sich, ging in die Hocke,<br />
zog die Arme an und ließ sich ängstlich nach<br />
und nach hintüber plumpsen. Mit den dünnen<br />
Beinchen ruderte er in der Luft. Er wollte eine<br />
Rolle rückwärts zeigen, doch es fehlte ihm an<br />
Schwung; so blieb er auf dem Rücken liegen,<br />
57
stemmte seine Hände in die Hüften, drückte<br />
das Becken in die Höhe und streckte halb die<br />
Beine: eine wackelige Kerze. Er stand auf.<br />
„Kerze!“, rief er schüchtern und verbeugte<br />
sich erneut. Die Mutter applaudierte. Der Vater<br />
verschränkte die Arme. Er schaute böse<br />
drein. Unverdrossen trippelte das Kind auf<br />
seiner weichen Bühne feierlich umher. Das<br />
Getrippel zeigte es als Kunst. Schließlich<br />
stand es schnaufend still und verneigte sich<br />
noch einmal. Wieder klatschte seine Mutter<br />
eifrig. Gernot schwieg. „Es war für dich, mein<br />
lieber Vater, als ein Gruß gedacht“, rief weich<br />
das Kind, „von deinem Sohn.“ Er verbeugte<br />
sich so tief, dass er das Gleichgewicht verlor<br />
und umfiel. „Sohn“, stieß Gernot aus. Das<br />
Kind stand wieder auf. Der Vater sprach sein<br />
Urteil eisig aus. „Mich hast du verloren, weibischer<br />
Bub. Es ist zum Schämen. Ein Mädchen<br />
bist du.“ Dem Kind wurde schwarz, es<br />
sank auf den Teppich. Die Mutter warf sich<br />
schluchzend darüber. „Du wolltest ein Mädchen,<br />
da hast du dein Mädchen!“, schrie Gernot.<br />
„Dein Sohn ist ein Weib.“ Sie nickte,<br />
denn er hatte recht. Gernot brauchte eine<br />
Hure, um sich zu beruhigen. Die Mutter blieb<br />
mit Lutz allein. Sie schliefen wimmernd ein.<br />
Es gab kein Halten mehr. Der Vater sprach<br />
es offen aus, als er Lutz zum Schwimmkurs<br />
brachte: „Mädi!“ Vor den andern Kindern<br />
hielt er eine kleine Rede. „Geht mir mit dem<br />
Mädi sorgsam um!“ Auch die Eltern warnte<br />
er: „Das Mädi ist empfindlich! Hört nur,<br />
wie verzagt es spricht. Gleich bricht es uns in<br />
Tränen aus, das weinerliche Ding.“ Die Nachbarn<br />
nickten mitleidig, Frau Kölbl strich dem<br />
Buben durch das dünne Haar. Lutz wurde<br />
dunkelrot vor Scham. Er war kein Bub, sie
sahen es. Es würgte den Buben. Er verging.<br />
Sein Leben hieß Mädi. Man äffte ihn nach,<br />
man piepste wie er. „Mädi, komm her. Braves<br />
Mädchen!“ Auch die Mutter gab klein bei. Es<br />
sei nicht schlimm, es sei doch schön, als Mädchen<br />
durch die Welt zu gehn, ermunterte ihn<br />
seine Lehrerin, als sie ihn einschulte. Er war<br />
ein Bub, zwar wehleidig, und ängstlich ging er<br />
durch sein zartes Leben, vorsichtig, ein Mädchen,<br />
das sich fürchtete. Er hatte dazu keinen<br />
Grund. Das Leben meinte es ja gut.<br />
59<br />
D<br />
Den Vater traf es hart. Ein Husten schoss<br />
ihm ins Kraut. Schon lag er sterbenskrank.<br />
Binnen zweier Wochen war aus dem<br />
großen Gernot ein hässlicher Alter geworden,<br />
hohlwangig und scharfkantig, eingefallen<br />
insgesamt. Das Fleisch verschwand, die<br />
Haut hing schlaff und leichengrau von seinen<br />
Knochen, leere Säcke. Sein Gesicht war<br />
wie verkohlt, von schwarzen Flecken, die auf<br />
dem hinfälligen Gewebe schmerzlos sprossen,<br />
gänzlich überwuchert. Diesen Schrecken<br />
verschwiegen sie ihm. Wer ihn sah, musste<br />
ihn für das Opfer eines Brandes halten; man<br />
stockte und belog ihn fromm: Noch immer<br />
sei er doch der schöne Mann, und nach wie<br />
vor sehe man berückt ihn an. Die Kollegen<br />
schluckten leer. Wer tapfer war, erzählte einen<br />
Witz. Draußen weinten sie. Er wollte<br />
heim. Dem gab man nach. Er sollte friedlich<br />
sterben. Ein Pflegebett stand riesenhaft im<br />
Wohnzimmer. Die Frau und das verfluchte<br />
Kind versorgten ihn, sie pflegten ihn. Sie flößten<br />
ihm die Nahrung ein und lagerten ihn um,<br />
sie schmierten seine Glieder ein, und sie redeten<br />
mit ihm, leichthin, um ihn zu beruhigen.<br />
Weil der Vater Kopfweh hatte, musste man so
leise sein, als stünde alles still. Lutz, das Mädi,<br />
musste sich auf Zehenspitzen nähern und den<br />
Vater sanft befragen. Es galt, ihm einen jeden<br />
Wunsch nach Kräften zu erfüllen. Mit seinen<br />
großen Augen, die tief in den Höhlen lagen,<br />
sah der Vater seinen Sohn flehentlich und<br />
dankbar an. Er bat um kalten Salbeitee. Der<br />
Hals war vollständig entzündet. Jetzt schämte<br />
sich der Sterbende vor seinem weichen Kind.<br />
Lutz reichte ihm die Schnabeltasse. Dankbar<br />
röchelte der Vater. Mädi nickte. War die Mutter<br />
in der Arbeit, lag es am Kind, den Vater<br />
zu pflegen. Die Mutter ermahnte noch einmal<br />
den Sohn, und Mädi hatte viel Geduld. Er war<br />
mit ihm allein. Heut sprach er nicht. Er freute<br />
sich. Sein Augenblick der Rache war gekommen.<br />
Um den Vater zu erschrecken und am<br />
Ende auszulöschen, musste er ihn spiegeln.<br />
Lutz schob einen großen Stuhl aus der Küche<br />
in den Flur. Ihn erklomm er, um den Spiegel<br />
auszulösen, hob ihn an, rüttelte dran, zog ihn<br />
aus der Verankerung und, glücklich keuchend,<br />
an den Rändern, um das Glas nicht mit den<br />
Spuren seiner schweißverklebten Hände zu<br />
beschädigen, zu sich. Sein Vater lief ihm nicht<br />
davon. Er ließ sich Zeit, und es gelang: Er<br />
schob den schweren, großen Spiegel Schritt<br />
für Schritt ins Krankenzimmer, bis er Vaters<br />
Bett erreichte. Abgewandt lag er in trügerischem<br />
Schutz; Mädi ging ums Bett und hielt<br />
ihm jetzt das Ganze vor. Ein Wort noch, piepsend:<br />
„Schau.“ Gernot öffnete die Augen. Er<br />
sah alles. Doch im Spiegel lag ein Fremder,<br />
auch ein Kranker, den der Vater nicht erkannte,<br />
wohl, weil er verbrannt war. Traurig winkte<br />
er ihm zu, der ihm traurig zuwinkte.<br />
Der österreichische Künstler<br />
Händl Klaus verfasst Theaterstücke<br />
und Opernlibretti. Seine Stücke<br />
wurden vielfach ausgezeichnet,<br />
ebenso sein erster Film März aus<br />
dem Jahr 2008. In Zusammenarbeit<br />
mit der Musicbanda Franui entsteht<br />
derzeit das Stück Meine<br />
Bienen. Eine Schneise für die Salzburger<br />
Festspiele 2012.
Fünf Fragen an … 61<br />
Catherine Wyn-Rogers<br />
Erda — Das Rheingold<br />
„Wenn die<br />
Erwachsenen sich<br />
Anekdoten<br />
erzählten, habe<br />
ich immer versucht,<br />
unsichtbar im<br />
Raum zu sein.“<br />
Welche Geschichte hörten Sie in Ihrer<br />
Kindheit am liebsten?<br />
Ein Buch namens The Gauntlet [etwa „Der Fehdehandschuh“,<br />
d. Red.] von Ronald Welch – die Geschichte eines<br />
Schuljungen aus der heutigen Zeit, der seinen Freund in<br />
Wales besucht, der im Schatten der verfallenen Burg Carreg<br />
Cennan lebt. Er schläft eines Tages am Straßenrand ein und<br />
erlebt eine Zeitreise in die Blütezeit der Burg, den Zeiten der<br />
Marcher Lords im 14. Jahrhundert, als die Waliser sich gegen<br />
die englische Herrschaft auflehnten. Es ist eine wundervoll<br />
lebhafte Wiedererschaffung dieser Zeit und spielt in einer der<br />
romantischsten Burgen von Wales – einen Ort, den ich mittlerweile<br />
besucht habe und der sehr genau das hält, was die<br />
Beschreibung im Buch verspricht.<br />
Welchen Faden aus Wagners Erzählung des<br />
Nibelungen-Mythos verfolgen Sie am liebsten?<br />
Brünnhilde – ihre Entwicklung von der dreisten jungen Kriegerin,<br />
die sich verliebt und dann diese Liebe durch Verrat<br />
verliert, bis hin zu ihrem Ritt in die Flammen von Walhall ist<br />
so kraftvoll und bewegend.<br />
Wer hat Ihnen an welchen Orten<br />
Geschichten erzählt?<br />
Meine Großeltern und Eltern haben mir immer Geschichten<br />
über sich und ihre Familien und Freunde erzählt. Wenn die Erwachsenen<br />
sich Anekdoten erzählten, habe ich immer versucht,<br />
unsichtbar im Raum zu sein, um ihnen zuhören zu können.<br />
Mein Onkel kannte lauter lustige Geschichten aus seiner<br />
Zeit in den USA, als er beim Fernsehen arbeitete, das damals<br />
noch in den Anfängen war. Die Risiken einer Liveübertragung<br />
führten zu viel unfreiwilliger Komik.<br />
Fünf Fragen an …<br />
Wem erzählen Sie welche Geschichte gerne<br />
immer wieder?<br />
Geschichten aus früheren Tagen meines Vaters und meiner<br />
Mutter, als sie Kinder waren, im Krieg, an der Universität und<br />
im Krankenhaus, in dem meine Mutter gearbeitet hat; die Lebensgeschichten<br />
meiner Großeltern – die Eltern meines Vaters<br />
kamen aus Wales, der Vater meiner Mutter aus Birmingham,<br />
und ihre Mutter war gebürtige Russin. Wem ich die<br />
Geschichten erzähle? Jedem, der mir zuhört! Und ich fürchte,<br />
ich erzähle auch gern Witze …!<br />
Warum, glauben Sie, erzählen wir uns Geschichten?<br />
Um unsere Herkunft zu vermitteln und uns selbst stärker<br />
begreiflich zu machen; um Beispiele zu geben, wie andere<br />
Leute mit Problemen oder Situationen umgehen; um zu unterhalten<br />
und zu amüsieren, natürlich. Letztlich ist es das,<br />
was wir als darstellende Künstler die ganze Zeit tun – wir<br />
erzählen die Geschichte, die den Komponisten zu der Oper<br />
inspiriert hat.<br />
Übersetzung Maria März
Eigentlich waren Frau Brodericks Töchter keine Enttäuschung, schon allein deshalb,<br />
weil man die eigenen Kinder schlecht als solche bezeichnen konnte. Erst<br />
recht nicht, wenn sie nicht drogenabhängig oder kriminell geworden und zu keiner<br />
Sekte gegangen waren. Die dreiundzwanzig Jahre alte Fricka studierte Informatik<br />
in Hamburg; die achtundzwanzigjährige Cosima war in Berlin verheiratet<br />
und bekam bereits ihr drittes Kind. Beide besuchten sie eher selten, aber sie<br />
riefen jedes Wochenende an, und dann erzählten sie pflichtgemäß aus ihrem Leben.<br />
Sie berichteten von dreidimensionalen Räumen in Computerspielen, von<br />
Speicherkapazitäten und neuen Lieblingsbars, oder von Babyschwimmen, Schulkameraden<br />
und Windpocken. Beide bezeichneten sich als glücklich. Sowohl Cosima<br />
wie auch Fricka nahmen sich wöchentlich eine Stunde Zeit, um mit ihrer<br />
Mutter zu telefonieren. Es war niemals Magda Broderick, die die Gespräche beendete,<br />
weil sie immer hoffte, es käme endlich etwas zur Sprache, das Fricka und<br />
Cosima als ihre Kinder erkennbar machte.<br />
Erfreulich war zwar, dass beide ihr monatlich eine kleine Geldsumme<br />
schickten, sodass sie sich nicht mit allzu vielen untalentierten Klavierschülern<br />
abplagen musste, aber Magda konnte sich einfach nicht mit dieser Fadheit, Angepasstheit,<br />
Durchschnittlichkeit abfinden; sie konnte nicht glauben, dass ihre stabilen,<br />
zufriedenen Kinder so einfach auf wirkliches, ekstatisches Glück verzichteten.<br />
Und darum taten sie ihr schrecklich leid. Nach der musischen und<br />
künstlerischen Erziehung, die Fricka und Cosima von klein auf genossen hatten,<br />
hätte sie doch etwas anderes erwartet. Was genau, konnte und wollte sie gar<br />
nicht sagen – etwas Gewagteres, Exzentrischeres, Spannenderes eben.<br />
Fricka rief sonntags um zehn Uhr an, Cosima um elf, pünktlich wie Linienbusse,<br />
und beide verabschiedeten sie mit zärtlichen Phrasen. Nach den Telefonaten<br />
überdachte Magda unerbittlich ihr Leben und fragte sich verzweifelt,<br />
was sie bei ihnen falsch gemacht hatte. Bereits im Mutterleib hatten Frau Brodericks<br />
Töchter anspruchsvolle Musik gehört. Zu Cosimas siebtem Geburtstag<br />
waren sie durch Neuschwanstein gewandelt, wo sich die Mädchen bei den Kinder-Tagen<br />
Kostüme und riesige Perücken im Stil von König Ludwig II. anziehen<br />
und sich mit Fächern Luft zuwedeln durften. Es gab mit Sicherheit sonst<br />
kaum Geschwister, die mit zehn Jahren den gesamten Ring in verschiedenen<br />
Inszenierungen kannten. Wenn man sie damals fragte, welcher denn der beste<br />
sei, dann antwortete Fricka „Kupfer“ und Cosima, den Zeigefinger ihrer Mutter<br />
nachahmend, „ich sage nur Knappertsbusch, musikalisch gesehen“. Und jetzt?<br />
Es war ein Trauerspiel, dass ihr Mann, der hochbegabte Wagner-Forscher E. E.<br />
Broderick, so früh hatte sterben müssen. Kurz vor seinem fünfzigsten Geburtstag<br />
lief er, verschusselt wie er war, vor ein Auto. Und das, wo er gerade Tage<br />
zuvor endlich die Doktorarbeit fertiggestellt hatte, die ihm den verdienten<br />
Durchbruch verschafft hätte. Sie hatten sich kennengelernt, als Magda von ei-<br />
Die Rheintöchter<br />
Silke Scheuermann<br />
64<br />
Die<br />
Rheintöchter<br />
von Silke<br />
Scheuermann
Eigentlich waren Frau<br />
Brodericks Töchter<br />
keine Enttäuschung, schon<br />
allein deshalb, weil<br />
man die eigenen Kinder<br />
schlecht als solche<br />
bezeichnen konnte. Erst<br />
recht nicht, wenn sie nicht<br />
drogenabhängig oder<br />
kriminell geworden und<br />
zu keiner Sekte gegangen<br />
waren.<br />
65<br />
Cosima<br />
Fricka<br />
nem Freund versetzt worden war und hilflos ohne Karte bei der Premiere des<br />
Siegfried im Foyer stand, fassungslos und vernichtet vom Kleingeist der Menschen.<br />
Er hatte als Kartenabreißer gejobbt, sich aber als ehrgeiziger Student zu<br />
erkennen gegeben, und sie waren sofort über Wagner ins Gespräch gekommen.<br />
Er mochte ihre lange, schmale Gestalt, ihre ebenso längliche, gerade Nase und<br />
die theatralische rotblonde Mähne, die sie am liebsten über ein auffällig weinrotes,<br />
selbst genähtes Samtcape ausbreitete. Seitdem hatte er sie regelmäßig<br />
umsonst in die Oper hineingeschmuggelt – und im Gegenzug hatte sie ihn in ihr<br />
Leben gelassen. Magda musste jedes Mal weinen, wenn sie an die zynische Tatsache<br />
dachte, dass sein letzter Gelegenheitsjob auf Erden ein Vortrag beim<br />
„Tag der offenen Tür“ des Nordfriedhofs gewesen war, über Wagners Ewigkeitsmotiv.<br />
Manchmal war er wütend geworden und hatte sie angeschrien, aber<br />
insgesamt war er ein hingebungsvoller Ehemann gewesen; jedes seiner Gefühle<br />
stellte für sich genommen einen tiefsinnigen Akt dar, wie einen musikalischen<br />
Kontrapunkt, den man einfach als dialektisch empfinden musste. Nun, zumindest<br />
war es ein Glück, dass er nicht mehr miterleben musste, wie seine Cosima<br />
einen Mann heiratete, der eine Rheintochter für eine Flugabwehrrakete aus<br />
dem Zweiten Weltkrieg hielt.<br />
Das Telefon noch in der Hand, sah Magda Broderick aus dem Fenster<br />
auf die malerische Bornheimer Landstraße. Das Appartement war winzig, aber<br />
sie mochte das Viertel mit seinem bohemehaften Charme. Außerdem besaß die<br />
Wohnung eine großzügige Diele, wo ihr Klavier allseits sichtbar stand, sowie<br />
ein großes Wohnzimmer, das wie gemacht war für ihre Künstlerpartys und ihr<br />
wöchentliches Zusammentreffen mit dem Hörkränzchen, wie die sechs Damen<br />
sich nannten, ironisch auf die gutbürgerliche Tradition der Lesezirkel anspielend.<br />
Heute würden sie allerdings nur zu viert sein, Lisbeth und Katharina, die<br />
sich neuerdings auch für bildende Kunst interessierten, waren bei Aquarellkursen<br />
in der Thüringischen Sommerakademie.<br />
Sie arrangierte die hohen Chrysanthemen, die sie sich geleistet hatte,<br />
weil Schönes sein musste, und setzte das Goldfischglas daneben, in dem Woglinde,<br />
Wellgunde und Floßhilde zufrieden ihre Runden drehten. Jedem, der<br />
zum ersten Mal hier war und ihre Haustiere bewunderte, erklärte sie, dass der<br />
Goldfisch als das erste Tier gelten musste, das Menschen gezüchtet hatten,<br />
ohne sich davon irgendeinen wirtschaftlichen Nutzen zu erhoffen, denn dieser<br />
Gedanke imponierte ihr irgendwie. Ihre ignoranten Töchter hatten natürlich<br />
nur gemurmelt, dass sie ja mit ihren Namen dann noch Glück gehabt hätten.<br />
Während sie Sandwiches zubereitete und die Torte in großzügige Stücke<br />
schnitt – genau wie die eingeladenen Künstler waren auch ihre Freundinnen<br />
immer sehr, sehr hungrig und durstig –, sang sie leise vor sich hin.
Russisches gewesen, weil dies das liebste Reiseland des Geburtstagskindes, Gaston<br />
Kurschner, war. Kurschner, ein Tenor, wurde sechzig Jahre alt, und obgleich das<br />
etwas alt war, um noch als „talentiert“ und „große Hoffnung“ durchzugehen, wurde<br />
er doch, rein aus Gewohnheit, von allen so bezeichnet. Auf dem Höhepunkt der<br />
Feier war Kurschner während einer Arie in Tränen ausgebrochen – und Magda<br />
hatte ihn in diesem Moment als Seelenverwandten erkannt. Sie hatte den ganzen<br />
Abend nicht von ihm abgelassen, so stark hatte ihr imponiert, dass er einerseits so<br />
mitgenommen aussah, sich andererseits aber auch mit viel Gel bemüht hatte, seine<br />
wenigen Haare über die Glatze zu kämmen. Die Nacht hatten sie bei ihr verbracht,<br />
weil er sich so das Hotel sparen konnte, wie er mit der großen Offenheit der Freigeister<br />
zugegeben hatte. Am nächsten Morgen hatte er sich fünfzig Euro geliehen,<br />
um etwas zum Frühstücken zu kaufen. Magda, die es wunderbar und exzentrisch<br />
fand, für fünfzig Euro zu frühstücken, hätte heute noch auf ihn gewartet, wenn sie<br />
nicht einen Termin zur Rückenmassage gehabt hätte. Danach hatte er sich weder<br />
bei Nelli noch bei ihr je wieder gemeldet. Ach, die Kunst war voller Exzentriker!<br />
„Da träumt sie wieder von dem hübschen Gaston!“, stichelte Nelli. „Jedenfalls<br />
soll es nicht unsere letzte Party gewesen sein. Nun, wir wollen das wiederholen,<br />
im Januar. Wenn Weihnachten vorbei ist, und alle merken, sie haben<br />
noch gar nicht richtig gefeiert!“<br />
„Was für eine hübsche Idee“, sagte Frau Raisin.<br />
„Vielleicht kann jeder von euch etwas zu trinken mitbringen? Und vielleicht<br />
was zu essen? Unser Caterer ist nicht mehr so gut wie ehedem, finde ich.“<br />
„Ja“, sagten beide gleichzeitig, und Magda Broderick überlegte, ob sie Fricka oder<br />
Cosima um eine kleine Sonderzuwendung bitten sollte. Diesmal vielleicht am<br />
besten Fricka.<br />
„Ich gehe kurz in die Küche und mache noch Kaffee“, sagte sie fröhlich und<br />
stand auf.<br />
Kaum hantierte sie in ihrer winzigen, aus Flohmarktstücken zusammengestellten<br />
Küche herum, als unvermittelt Friederike-Emilia neben ihr auftauchte –<br />
hätte Magda bemerkt, dass die Neue ihr folgte, sie hätte sie aufgehalten. Sie<br />
passten beide kaum zwischen Kühlschrank und Spüle, aber Friederike-Emilia<br />
schien das nicht zu stören.<br />
„Magda“, sagte sie mit rotem Gesicht, „entschuldige, aber das ist die einzige<br />
Gelegenheit, um kurz mit dir alleine zu reden. Ich habe gesagt, ich helfe dir<br />
beim Kaffeekochen.“<br />
Magda Broderick sah auf die brodelnde Maschine. „Nun ja, sehr viel zu helfen gibt<br />
es da nicht.“<br />
„Du hast doch auch zwei erwachsene Kinder ...“ Magda nickte unentschlossen.<br />
„Sag, hatte eines davon einmal ... psychische Probleme?“ Sie<br />
flüsterte. Magda schwieg, und Friederike-Emilia sprach heiser weiter,<br />
Die Rheintöchter<br />
Dem herrlichsten Wälsung<br />
Weis ich mein Erbe nun an<br />
Wachend wirkt<br />
Dein wissendes Kind<br />
Erlösende Weltentat<br />
Silke Scheuermann<br />
Ach, wie gerne wäre sie Sängerin geworden. Sie konnte das italienische R rollen<br />
und lernte rasch Text auswendig. Aber ihre Stimme war dünn, und auf der Bühne<br />
sah sie immer irgendwie verloren aus. Zumindest war sie hier in der Wohnung die<br />
Herrscherin, und die nächsten zwei Stunden lang war sie allerbester Laune.<br />
Die drei Freundinnen kamen kurz nacheinander herein. Die älteste war<br />
Frau Raisin, eine Halbfranzösin, die sich bemühte, trotz der vierzig in Deutschland<br />
verbrachten Jahre noch ihren Akzent beizubehalten; sie wurde traditionell von allen<br />
gesiezt. Dann klingelte Nelli, die Wortführerin der Gruppe, die mit ihrem Mann<br />
eine echte Wagner-Koryhäe in der Hinterhand hatte. (Fred hatte mehrere populäre<br />
psychoanalytische Handbücher verfasst, die Nelli abgetippt hatte und zu großen<br />
Teilen auswendig konnte.) Friederike-Emilia mit dem ständig verschreckten Ausdruck<br />
im hübschen Gesicht war die Neueste im Kränzchen.<br />
Alle drei begrüßten erst Floßhilde, Woglinde und Wellgunde, legten dann ab<br />
und traten an den herrlich gedeckten Tisch, wo sie sofort in angeregtes Geplauder<br />
verfielen.<br />
Nelli, die drei Tage wegen einer Grippe im Bett verbracht hatte, sprach als<br />
Erste: „Ich glaube, dass ich den liebeserwachenden Siegfried und die Erweckung<br />
Brünnhildes erst jetzt richtig verstehe. Ich habe nicht gelebt in den<br />
letzten Wochen, für mich war immer ‚Der Zweite Tag‘.“<br />
Und Frau Raisin fing mit glänzenden Augen, leise und in makellosem Deutsch an<br />
zu singen: „Mutter, Mutter! Gedenke mein! Dass ich selbst erwache, muss die Maid<br />
ich erwecken!“<br />
Sie war die einzige, die eine einigermaßen hübsche Stimme hatte, das mussten<br />
die anderen anerkennen. Magda Broderick bemerkte zufrieden, wie gut<br />
allen die Käsetorte schmeckte, sogar Frau Raisin, die mit Essen sehr eigen<br />
war, hatte sich noch vor der Gesangseinlage ein zweites Stück auf den Teller<br />
gelegt und ließ es während ihres Vortrags nicht aus den Augen, sodass es<br />
aussah, als sänge sie der Torte etwas vor.<br />
Nelli fragte: „Erinnert ihr euch an die Party bei uns, im August? Die wir zu Ehren<br />
von Gaston Kurschner gaben?“<br />
Alle, bis auf Friederike-Emilia, die da noch nicht zum Kränzchen gehört<br />
hatte, nickten, denn sie erinnerten sich nur zu gut. Nelli hatte sich mit dem Kaviarpumpernickel<br />
und dem Borschtsch selbst übertroffen. Das Motto war irgendetwas
Magda Broderick sagte rasch: „Naja, das ist er sicherlich nicht“, und stand dann<br />
auf, um das Rheingold-Vorspiel anzumachen, die schnelle Aufnahme von Pierre<br />
Boulez, die das Chromatische so schön herausholte.<br />
Nelli, die sich bisher noch nicht geäußert hatte, rührte, den Blick auf die<br />
Tischdecke gerichtet, in ihrem Kaffee. Wagners Eröffnung auf dem tiefen Kontra-Es<br />
war zu hören.<br />
„Psst“, machte Nelli und schloss die Augen. Wie in Trance sprach sie dann:<br />
„Das tiefe Kontra-Es. Dieses Es, das aus unendlichen Weiten herüberweht,<br />
wird ganze viereinhalb Minuten lang wie eine endlose Urweltharmonie dargeboten.<br />
Der Zuschauer sitzt im abgedunkelten Saal. Es gibt keinen Raum und<br />
keine Zeit, nur ein Strömen. Das ist ein Zustand vor der Geburt. Das ist ein<br />
Frieden, nach dem jeder sich mehr oder weniger sehnt, und dein Sohn, Friederike-Emilia“<br />
– jetzt wurde ihre Stimme feierlich – „dein Sohn sehnt sich<br />
danach. Er will grenzenlos, zeitlos und einzigartig sein – wenn er manisch ist,<br />
fühlt er sich so, ist er depressiv, wird ihm wieder bewusst, dass er in einem<br />
Irrglauben verfangen war.“<br />
Frau Raisin und Magda Broderick sahen sich an: Also wirklich, Nellis analytisches<br />
Talent war unübertroffen!<br />
„Aber wir haben eine gute, vertraute Beziehung zueinander, Bruno und ich.<br />
Er versteht sich auch gut mit seinem Vater“, sagte Friederike-Emilia leise.<br />
„Das hat nichts zu bedeuten. Guck dir die Wotansfamilie an, die sind pathologisch<br />
vertraut miteinander, wie du es nennst. Die Psychen der Familienmitglieder sind<br />
überhaupt nicht richtig voneinander abgegrenzt. Und Abgrenzung ist wichtig! Sie<br />
ist das A und O!“<br />
Nelli sah zufrieden in die Runde. Keiner wagte mehr zu widersprechen. Nelli<br />
war jetzt in Fahrt gekommen, endlich konnte sie ihre Freundinnen einmal ausgiebig<br />
über die Psychopathologie der Wotansfamilie aufklären. Als mehrfach das Wort<br />
„anal“ fiel, sahen die drei leider aus, als würden sie sich am allerliebsten augenblicklich<br />
in Luft auflösen.<br />
„... und Siegfried. Nun, Siegfried besitzt durchaus ein autonomes Selbst. Wotan<br />
könnte es jedoch vereinnahmen, indem er den Held stellvertretend für<br />
die verdrängten Separationswünsche des Großvaters auslebte, das heißt, sich<br />
stellvertretend für Wotan der Rache der sitzen gelassenen<br />
Mutter stellt. Wir haben es hier mit einer transgenerationalen<br />
Delegierung von ungelebten Individuationsimpulsen zu tun,<br />
ihr versteht?“<br />
Magda, die inzwischen den Faden verloren hatte und gar nicht<br />
mehr versuchte, den Erläuterungen zu folgen, war inzwischen völlig<br />
verärgert. Wieso konnte es nicht einmal eine ihrer Töchter sein, die<br />
Nelli zu solchen Ergüssen anregte!<br />
Woglinde<br />
Wellgunde<br />
Floßhilde<br />
hastig, als habe sie die Rede eingeübt: „Unser Sohn ist zwanzig, und wir<br />
sind sicher, das heißt, wir ... wissen es ..., dass er manisch-depressiv ist.<br />
Er muss Lithium nehmen, und das macht ihn völlig apathisch, er wird<br />
dick und bekommt richtige Brüste, und dann setzt er es ab, und es beginnt<br />
wieder eine manische Phase ... er zieht dann nächtelang durch<br />
Clubs, um Mädchen abzuschleppen. Seine WG-Mitbewohner rufen uns<br />
an, weil sie sich Sorgen machen. Und dann kommt die Depression. Nicht<br />
essen, nicht rausgehen, nichts interessiert ihn. Wir haben solche Angst<br />
um ihn!“<br />
„Hm“, sagte Magda und fragte sich, was um alles in der Welt die um einiges jüngere<br />
Frau dazu bewogen hatte, sich ausgerechnet sie für dieses Geständnis auszusuchen.<br />
Ein schwammiger junger Mann mit Brüsten war eine sehr unappetitliche<br />
Vorstellung.<br />
Von drüben war jetzt ein dumpfes Zischeln zu hören, ein deutliches Zeichen,<br />
dass sie zurückzukommen hatten. Heimlichkeiten dem Kränzchen gegenüber waren<br />
unhöflich – andererseits gab es nicht viel im Leben der Frauen, das sich zu<br />
verheimlichen gelohnt hätte.<br />
„Was ’abt ihr getuschelt?“, fragte Frau Raisin streng; die Blicke der zwei<br />
Freundinnen ruhten auf Magda, die die Kaffeekanne in der Hand trug, und<br />
auf Friederike-Emilia, die wieder rot wurde.<br />
„Ach, Probleme“, sagte Magda, achselzuckend und so beiläufig wie möglich. Friederike-Emilia<br />
setzte sich.<br />
„Keine Ge’eimnisse vor dem Kränzchen!“, rief Frau Raisin und klopfte<br />
mit der Hand auf die elegante Damastdecke, die den schäbigen Holztisch<br />
verdeckte.<br />
Alle Augen richteten sich auf die Neueste im Bunde. Friederike-Emilia<br />
schluckte zweimal und begann dann mit ersterbender Stimme von ihrem Sohn –<br />
offensichtlich hieß er Bruno – zu berichten.<br />
„Oh làlà, pauvre Brüno!“, sagte Frau Raisin daraufhin und sah angenehm<br />
erregt aus.<br />
Magda Broderick sagte unentschlossen: „Ich weiß nicht. So viele Künstler waren<br />
manisch-depressiv, ich finde das, also nicht direkt chic oder spannend, aber doch<br />
vielversprechend. Denkt mal an Mozart oder Schiller oder Stifter oder Nero – nein,<br />
stopp, der war psychotisch. Tröstet dich das nicht ein wenig, Friederike-Emilia?“<br />
Es tat Magda gut, ein wenig mit ihrer Allgemeinbildung anzugeben, nachdem<br />
sie gerade in ihrer ärmlichen Küche gestellt worden war. Im nächsten Augenblick<br />
wurde ihr bewusst, dass sie Friederike-Emilias Sohn damit eigentlich bloß<br />
interessant gemacht hatte. Verdammt. Sie biss sich auf die Unterlippe.<br />
Friederike-Emilia sagte weinerlich: „Ich will einfach, dass er ein ganz normales<br />
glückliches Kind ist. Kein Genie!“<br />
67
Er ist dann der Kleinste? Ach, ja aber das macht doch nichts! Ich habe nichts dagegen,<br />
dass mein Enkel einige Klassen überspringt ...“<br />
„Frau Broderick, es geht um die zweite Mahnung, auf die Sie auch nicht<br />
reagiert haben.“<br />
„Aber Cosima, ich habe dir doch gesagt, er ist ein kleines Genie. Als er über das<br />
Wochenende bei mir war, hat er Sonaten geklimpert, ja. Ich sage es dir doch, ja.<br />
Nein, ich habe ihm nur ein paar Griffe beigebracht.“<br />
Magda spürte, dass die drei Frauen am Kaffeetisch ihrer Spur jetzt folgten.<br />
Alle hatten die Kuchengabeln weggelegt und sahen beeindruckt zu ihr herüber;<br />
Nelli war sogar aufgestanden, um die Musik leiser zu drehen. Von wegen manischdepressiv.<br />
Genie im Kindesalter, das war es. Wie der kleine Mozart.<br />
„Ach, ja, ja! Natürlich kann ich ihn auch weiter unterrichten! Aber er wird<br />
mich bald überflügeln!“<br />
Die drei Freundinnen hielten jetzt den Atem an. Die Mitarbeiterin der Firma<br />
Madeleine hatte inzwischen aufgelegt, und Magda sprach in das Besetztzeichen<br />
hinein, was sie etwas irritierte. Sie musste die Kurve schnell kriegen, das Gespräch<br />
beenden.<br />
„Pass auf, Cosi-Schatzi, ich habe Gäste. Jetzt wein doch nicht. Ich rufe dich<br />
am Abend zurück. Keine Panik. Ich bin doch deine beste Freundin.“<br />
Zufrieden legte sie auf. Danach, endlich, wurde das Kränzchen zu ihrem,<br />
Magdas, Fest. Frau Raisin versprach, sich nach Hochbegabtenstipendien umzusehen,<br />
Nelli wollte den kleinen Jungen mit ihrem Mann bekannt machen, und Friederike-Emilia<br />
schwieg endlich.<br />
„So war es doch noch eine schöne Runde“, sagte Magda Broderick zufrieden,<br />
als sie die Gäste nach einer guten halben Stunde verabschiedete.<br />
Als sie wieder alleine war, wandte sich Magda Broderick an ihre Goldfische: „Na,<br />
meine Kleinen? Wollen wir noch die Walküre hören? Weit sind wir ja nicht gekommen<br />
heute!“<br />
Sie hatte gerade den CD-Spieler angeschaltet und räumte den Tisch ab, als<br />
das Telefon erneut klingelte.<br />
„Magda Broderick?“, fragte dieselbe Stimme wie vor einer guten Stunde. „Spreche<br />
ich mit Magda Broderick? Hier ist die Firma Madeleine ...“<br />
„Ach ja, hallo“, sagte Magda fröhlich. „Sie haben heute schon mal angerufen,<br />
stimmt’s? Wissen Sie, ich hatte einen fabelhaften Tag und ich bin praktisch<br />
sicher, dass ich die Rechnung noch diese Woche bezahlen kann.“<br />
Die Rheintöchter<br />
Villa Massimo in Rom. Sie lebt bei Frankfurt<br />
am Main. 2011 erschien ihr Roman<br />
Shanghai Performance.<br />
Silke Scheuermann debütierte 2001 mit<br />
dem Lyrikband Der Tag, an dem die Möwen<br />
zweistimmig sangen. Die Lyrikerin und<br />
Erzählerin erhielt u. a. das Stipendium der<br />
Silke Scheuermann<br />
Als Nelli einen Schluck Kaffee trank, um ihre trockene Kehle für die Fortsetzung<br />
des Vortrags vorzubereiten, sagte Frau Raisin: „Nun, wie auch immer,<br />
vielleicht könnte Brüno seine ... Zustände ... in einer Form von Kunst<br />
ausleben!“ Sie vergaß diesmal ganz unabsichtlich ihren französischen Akzent,<br />
so eilig hatte sie es, Nelli zuvorzukommen. „Kann er vielleicht Klavier<br />
spielen?“<br />
Vor Magdas innerem Auge erschien der unbekannte Bruno, wie er mit<br />
wehendem Haar, den Oberkörper nach vorne und zurück werfend, in die Tasten<br />
haute.<br />
Doch Friederike-Emilia schüttelte den Kopf. Magda atmete auf.<br />
Aber Frau Raisin gab nicht so leicht auf. „Singen?“, schlug sie nun vor. „Besser<br />
wäre natürlich komponieren.“<br />
Klar doch, dachte Magda. Komponieren.<br />
„Ja, genau. Ich denke, das könnte die Rettung sein!“, rief Frau Raisin begeistert aus.<br />
„Nein, er kann auch nicht komponieren. Er ist so gar nicht musikalisch“, sagte<br />
Friederike-Emilia. „Aber ich danke euch, lasst uns noch ein wenig Boulez<br />
hören, ja?“<br />
„Ich bin mir sicher, er hat ein geheimes Talent“, widersprach Frau Raisin stur. „Es<br />
wird sich seinen Weg bahnen!“<br />
Noch während des ganzen ersten Akts ärgerte sich Magda. Friederike-Emilia<br />
stand es nicht an, sich als die Neue dermaßen in den Vordergrund zu drängen. Warum<br />
fragte eigentlich nie jemand nach Fricka und Cosima? Und das, obwohl sie doch<br />
immer nur das Beste – beziehungsweise Erfundenes – von ihnen berichtete. Zuletzt<br />
hatte sie behauptet, Cosima hätte ihr ein ganzes Set mit Tischdecken geschenkt, das<br />
sie über und über mit den Initialen ihrer Mutter, MB, bestickt hatte. Es hatte kaum<br />
Eindruck hinterlassen, Nelli hatte lediglich bemerkt, weiße Tischdecken wären altmodisch<br />
und unpraktisch. War der Kern falsch, oder schmückte sie ihre Geschichten<br />
nicht gut genug aus?<br />
In dem Moment schrillte das Telefon, und während Nelli noch rief: „Oh nein,<br />
nicht jetzt!“, erkannte Magda schon ihre Chance. Egal, wer es war – was sie<br />
jetzt vorhatte, war die Irritation am anderen Ende der Leitung wert. Sie eilte<br />
hin und nahm ab.<br />
„Hallo?“, fragte sie atemlos, während ihr die Gedanken nur so durch den Kopf<br />
schossen.<br />
„Guten Tag, spreche ich mit Magda Broderick? Es geht um die zweite Mahnung<br />
für die Kaschmirdecke, die Sie telefonisch bei der Firma Madeleine bestellt<br />
haben ...“<br />
„Ja, aber“, schrie Magda. „Aber Cosima, welche Freude. Ja, was? Was?“<br />
„Frau Broderick? Magda Broderick? Hören Sie mich? Ihre Rechnung, also ...“<br />
„Was, Schätzchen, ach je. Noch eine Klasse überspringen? Mathematik und Musik.
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Fünf Fragen an …<br />
Okka von der Damerau<br />
Floßhilde — Das Rheingold,<br />
Götterdämmerung<br />
Welchen Faden aus Wagners Erzählung des<br />
Nibelungen-Mythos verfolgen Sie am liebsten?<br />
Zunächst einmal den musikalischen Faden. Wenn sich gesangliches<br />
Können mit Erzählkunst paart, ist das meiner<br />
Meinung nach sehr packend, insbesondere bei Wagner.<br />
Wer hat Ihnen an welchen Orten<br />
Geschichten erzählt?<br />
Meine Eltern haben meinen Geschwistern und mir Geschichten<br />
erzählt, meistens zum Einschlafen oder um Wartezeiten<br />
zu verkürzen, zum Beispiel auf langen Autofahrten.<br />
„Beim Geschichtenerzählen<br />
entsteht<br />
ein intimer Raum<br />
zwischen Menschen.<br />
Es ist schön, diesen<br />
Moment miteinander<br />
zu teilen.“<br />
Welche Geschichte hörten Sie in Ihrer<br />
Kindheit am liebsten?<br />
Mein Vater hat sich Geschichten ausgedacht. Ich empfinde<br />
Geschichtenerzählen als etwas sehr Persönliches, es kann<br />
dabei ein inniges Verhältnis zwischen Erzähler und Zuhörer<br />
entstehen.<br />
Wem erzählen Sie welche Geschichte gerne<br />
immer wieder?<br />
Abends erzähle ich meinem Sohn Geschichten am Bettchen.<br />
Allerdings beruhigt es ihn nicht immer, manchmal greift er<br />
ein Wort auf und beginnt selbst mitzuerzählen.<br />
Warum, glauben Sie, erzählen wir uns Geschichten?<br />
Es entsteht ein intimer Raum zwischen Menschen. Es ist<br />
schön, diesen Moment miteinander zu teilen und eine lieb<br />
gewonnene Tradition weiterzugeben.<br />
Fünf Fragen an …
Fünf Fragen an … 71<br />
Johan Reuter<br />
Wotan — Das Rheingold<br />
„Das Beste war<br />
immer die Stimme<br />
meiner Mutter,<br />
wenn sie den Wolf<br />
spielte. Es war so<br />
herrlich unheimlich!“<br />
Geschichten erzählt; es hat angefangen, als meine Eltern mir<br />
vorgelesen haben, ging weiter, als ich selbst lesen gelernt<br />
habe, und hält an bis zum heutigen Tag. Letzte Nacht, als<br />
ich nach einer Vorstellung nach Hause kam, hat Jonathan<br />
Franzen mir vor dem Einschlafen von einer fiktiven Familie<br />
im heutigen Amerika erzählt …<br />
Welche Geschichte hörten Sie in Ihrer<br />
Kindheit am liebsten?<br />
Was den bleibendsten Eindruck bei mir hinterlassen hat,<br />
war, als meine Mutter aus Dyrene i Hakkebakkeskoven von<br />
dem norwegischen Autor Thorbjørn Egner vorgelesen hat,<br />
und zwar die Stelle, als der Bäcker – ein Hase – von einem<br />
Kunden – einem Wolf – Besuch bekommt, und dieser seinen<br />
Kuchen nicht bezahlen will. Die Geschichte selbst ist großartig,<br />
aber das Beste war die Stimme meiner Mutter, wenn<br />
sie den Wolf spielte. Es war so herrlich unheimlich!<br />
Welchen Faden aus Wagners Erzählung des<br />
Nibelungen-Mythos verfolgen Sie am liebsten?<br />
Wir Menschen sind darauf festgelegt, die Welt aus unserer<br />
eigenen Perspektive zu erleben. Wir können zwar versuchen,<br />
die Sicht der anderen zu verstehen, aber in Wirklichkeit können<br />
wir nur durch unsere eigenen Augen sehen und mit unseren<br />
eigenen Gehirnen denken. Wenn ich auf der Bühne bin,<br />
dann versuche ich, alles mit den Augen und dem Verstand<br />
meiner Figur zu sehen, auch wenn das Einstudieren und Proben<br />
mir eine „Vogelperspektive“ auf das Stück gegeben<br />
haben. Aus diesem Grund bin ich darauf festgelegt, Wotans<br />
Faden zu folgen und die Geschichte aus seiner Perspektive<br />
zu sehen.<br />
Wer hat Ihnen an welchen Orten<br />
Geschichten erzählt?<br />
Die Kunst des Geschichtenerzählens stirbt aus in der westlichen<br />
Kultur. Zum Glück gibt es die Literatur. Die größten<br />
Geister der Welt haben mir schon mein ganzes Leben lang<br />
Fünf Fragen an …<br />
Wem erzählen Sie welche Geschichte gerne<br />
immer wieder?<br />
Die Geschichte, die ich am öftesten erzählt habe, ist ein<br />
dummer Witz, den zu erzählen mich meine Söhne immer wieder<br />
genötigt haben. Es geht um die drei besten Hammerwerfer<br />
der Welt – einen Amerikaner, einen Russen und einen<br />
Dänen –, die sich in einem Stadion treffen, um ein für alle<br />
Mal zu entscheiden, wer der Beste ist. Es ist die Sorte Witz,<br />
bei der man durch viele Wiederholungen und viele Erzählschleifen<br />
muss, bevor man dann zum überraschenden Höhepunkt<br />
kommt. Wenn ich darüber so nachdenke … genau wie<br />
in Wagners Ring!<br />
Warum, glauben Sie, erzählen wir uns Geschichten?<br />
Ich glaube, dass wir uns hauptsächlich aus drei Gründen Geschichten<br />
erzählen: um mehr über uns selbst zu erfahren, um<br />
mehr über die Welt zu erfahren, die uns umgibt, und um unterhalten<br />
zu werden.<br />
Übersetzung Maria März
Die AbleHnung<br />
Zeit und Ort:<br />
Gegenwart.<br />
Büro des<br />
Dramaturgen.<br />
von<br />
Robert Hültner<br />
74
DeR AuToR hATTe<br />
JAhRelAng DARAn<br />
geARbeiTeT, DAS<br />
nibelungenlieD<br />
FüR Die oPeR Zu<br />
ADAPTieRen. DeR<br />
DRAMATuRg JeDoch<br />
hälT DAS WeRK FüR<br />
unAuFFühRbAR.<br />
eR MuSS DieS DeM<br />
AuToR nuR<br />
iRgenDWie AuSeinAnDeRSeTZen.<br />
Der Autor: „Das ist nicht ihr ernst. Man lehnt ab?“<br />
Der Dramaturg: „Zu meinem größten bedauern, wie ich<br />
ihnen versichere. Wie ich ihnen ebenfalls versichern darf,<br />
dass ihr Projekt im haus ausführlichst diskutiert wurde.“<br />
„Verbindlichsten Dank für diese Selbstverständlichkeit.<br />
Wo standen Sie dabei?“<br />
„Sagen wir: ich war hin- und hergerissen. nicht zuletzt<br />
deshalb, weil wir beide uns schließlich bereits<br />
seit vielen Jahren kennen und Sie unserem hause<br />
schon viele großartige erfolge beschert haben.“<br />
„Was – Sie verzeihen – ein Argument für Krämerseelen ist.<br />
Dem ich entnehmen muss, dass auch Sie in dieser expertenrunde<br />
alles andere als eine flammende Verteidigung abliefern<br />
konnten, richtig?“<br />
„Wenn Sie auf ‚flammend‘ bestehen, muss ich es bejahen. ich<br />
habe für eine gründliche bearbeitung plädiert, konnte mich<br />
aber leider nicht durchsetzen.“<br />
„nun, dann habe ich wohl Anspruch auf eine ausführliche<br />
begründung.“<br />
„Selbstverständlich. bevor ich auf die Details komme:<br />
Die entscheidenden Vorbehalte beziehen sich<br />
sowohl auf Form und Dramaturgie wie auf eine gewisse<br />
philosophische Prämisse ihres Werks. Kritische<br />
Anmerkungen gab es darüber hinaus zur Plausibilität<br />
der handlungsmotive, kurz zur Psychologie<br />
einzelner Figuren.“<br />
„Mit anderen Worten, auf alles! – Sagen Sie: hatte ich in<br />
meinen exposés nicht unmissverständlich darauf hingewiesen,<br />
dass ich ein experiment plane? nämlich jenes, das nibelungenlied,<br />
einen der ältesten Stoffe unserer literatur, zu<br />
adaptieren? Woraus sich fast zwangsläufig ergibt, dass einige<br />
gewissheiten der klassischen Dramaturgie infrage gestellt<br />
werden müssen.“<br />
„Das mag sein, aber es muss doch zumindest reflektiert werden,<br />
was, warum und wie in welcher epoche erzählt wird.“<br />
RobeRT hülTneR<br />
75<br />
Die Ablehnung<br />
„Wir sollen uns anmaßen, einen der bedeutendsten<br />
Stoffe unserer literatur nach der Maßgabe heutiger<br />
Moden zu bewerten? ihm womöglich eine billige<br />
hollywood-Rezeptur überstülpen?“<br />
„ich bitte Sie, ja? – ich meine lediglich, dass wir<br />
nicht das, was Sie als ‚heutige Mode‘ bezeichnen, als<br />
zeitgeistigen Müll abqualifizieren sollten. Auch eine<br />
erzählung, die erst in diesem Moment die Druckerei<br />
verlässt, kann von epochaler Qualität sein.“<br />
„ich widerspreche nicht. Aber wenn Sie jetzt bitte zu den<br />
Details kämen?“<br />
„gleich. Man muss sich doch bei diesem Vorhaben zunächst<br />
den Stoff vor Augen führen, den Sie als grundlage<br />
verwenden. er geht bekanntlich auf ein historisches geschehen<br />
aus den Wirren der Völkerwanderung zurück. es<br />
handelt sich also zunächst um etwas, was wir heute flapsig<br />
als Reportage bezeichnen würden. um einen von unzähligen<br />
berichten, die mit den damaligen instrumentarien der<br />
sozialen Kommunikation – Memorierung und mündliche<br />
Weitergabe – Verbreitung fanden. Mit wachsendem zeitlichen<br />
Abstand wandelte er sich zur Parabel, die sich den<br />
gesellschaftlichen Veränderungen anpassen musste. Die<br />
erzählung durchlief dabei umgewichtungen, ergänzungen,<br />
sie integrierte neue personale und politische Konstellationen,<br />
wurde mit anderen tradierten Stoffen verwoben.<br />
Kurz gesagt: Was da im hochmittelalter schließlich zur<br />
Schriftform fand, ist bereits weitgehend Kompilation. Darüber,<br />
was den unbekannten Dichter damals bewogen hat,<br />
den Stoff so zu gestalten, wie er es getan hat, warum er<br />
etwa gerade diese und nicht andere heroen illuminiert,<br />
können wir nur spekulieren. haben seine entscheidungen<br />
unter anderem vielleicht auch damit zu tun, dass sich das<br />
christliche europa zu dieser Zeit mit der islamischen expansion<br />
konfrontiert sieht? und dies nicht nur unter dem<br />
Aspekt einer politisch-wirtschaftlichen, sondern auch einer<br />
religiös-weltanschaulichen Konkurrenz? Wird so beispielsweise<br />
hagens ‚Trutz‘, der ja eher hilfloser Trotz ist,<br />
verständlicher? ich weiß es nicht.“<br />
„Sie springen viel zu kurz. Der Stoff ist wesentlich<br />
älter.“<br />
„bekannt. Aber warum schlummert er erst Jahrhunderte<br />
vor sich hin, wird noch im 18. Jahrhundert<br />
mancherorts als unverständlicher Schund abgekanzelt,<br />
um dann im 1ß. Jahrhundert plötzlich<br />
zum deutschesten aller deutschen epen erhoben<br />
zu werden?“<br />
„Vielleicht, weil wir es hier tatsächlich mit einer universellen<br />
Substanz zu tun haben?“<br />
„Der erkenntnis etwa, dass sich gewinnstreben und liebe<br />
gegenseitig aufzehren müssen?“<br />
„beispielsweise.“<br />
„Das – Pardon – wäre weder eine nagelneue noch
originelle erkenntnis. und als Weisheit ungefähr so<br />
tiefschürfend wie ein naiver Appell à la make love,<br />
not war. Möglicherweise sogar eine insofern platte,<br />
als sie nicht immer zutrifft. Auch der nach Macht<br />
und gewinn Strebende kann lieben. und stellt sich<br />
vermutlich dabei nicht geschickter oder ungeschickter<br />
an als jener, der nicht von Machtwillen getrieben<br />
wird. Vor allem aber frage ich mich, ob es genügt, in<br />
einem Werk eine – wie Sie es nennen – universelle<br />
Substanz wahrzunehmen. Sie ist schließlich in jeder<br />
ernsthaften kulturellen äußerung enthalten. Der<br />
Kern meiner Frage war vielmehr, warum sie einmal<br />
wahrgenommen wird, dann wieder nicht. ist dieser<br />
scheinbar monumentale Stoff möglicherweise nur<br />
durch eine Reihe glücklicher Zufälle auf uns gekommen?<br />
Wir können davon ausgehen, dass es in dieser<br />
epoche eine Fülle derartiger Stoffe gab, von denen<br />
nur wenige überhaupt zur Schriftform gelangten.<br />
und auch davon ist nur ein kleiner Teil übrig geblieben,<br />
das meiste ist opfer von Kriegen, von kulturellen<br />
Verwüstungen oder schlichten materialen Verderbens<br />
geworden. Worauf ich hinaus möchte ist: Wir<br />
„Was ist daran verwerflich,<br />
überwältigen zu wollen?<br />
ich will herz und Sinne<br />
packen.“ — Der Autor<br />
sollten das Alte nicht allein deshalb vergotten, weil<br />
es alt ist. Wie es neue geschichten gibt, die uns einmal<br />
mehr, einmal weniger berühren und interessieren,<br />
so gilt das auch für alte. Aber, natürlich, müssen<br />
wir unser urteil jeweils begründen.“<br />
„Wovon ich aber bisher noch wenig gehört habe.“<br />
„Dann will ich bei der Dramaturgie beginnen. ich vermisse<br />
ein Zentrum in ihrem Werk.“<br />
„und wenn das Wesen meines experiments gewesen<br />
wäre, weder klassische Dramaturgie noch epik zu<br />
bedienen? Wenn ich stattdessen versucht hätte, das<br />
erzählen nicht auf ein mechanisches Strickmuster<br />
von informationsvermittlung zu reduzieren? Sondern<br />
künstlerische Praxis wieder auf das zurückführen<br />
wollte, was sie im Kern ist, nämlich eine kultische<br />
handlung?“<br />
„gewagt.“<br />
„Sie haben etwas gegen Wagnisse?“<br />
„Keineswegs. ich bin nur nicht davon überzeugt, dass es dieser<br />
Rückführung überhaupt bedarf. ob Kunst nicht nach<br />
wie vor eine Kategorie des Kultes ist und sie sich heute nur<br />
anderer Formen bedient.“<br />
„Die dann nicht mehr überprüft und nicht mehr infrage<br />
gestellt werden dürfen?“<br />
ich VeRMiSSe ein ZenTRuM ...<br />
„Das dürfen sie nicht nur, sondern müssen es sogar.<br />
Sie müssen aber auch berücksichtigen, dass es heutzutage<br />
zwischen Künstler und Konsument einen gewissen<br />
Kontrakt gibt, der sich mit einem – sagen wir einmal<br />
– eher kultisch-liturgisch konzipierten Ansatz<br />
beißt. Außerdem werden Sie mir zustimmen, dass der<br />
begriff ‚Kult‘ noch nichts über die inhaltliche Qualität<br />
dessen aussagt, was er jeweils zelebriert. Auch die nazis<br />
ummäntelten schließlich ihre Ziele mit kultischtheatralischem<br />
Firlefanz, und das mit erfolg.“<br />
„ich bemühe mich, ihnen zu folgen.“<br />
„nun seien Sie nicht gekränkt. ich wollte lediglich darauf<br />
hinaus, dass Form und inhalt zwar in beziehung zueinander<br />
stehen, trotzdem aber zwei Paar Stiefel sind. Jeder Kult, so<br />
rauschhaft und weihrauchvernebelt er sich uns auch darstellen<br />
mag, verfolgte stets sehr konkrete, sehr nachvollziehbare<br />
lebenspraktische Zwecke. Daraus folgt meine Frage, was Sie<br />
als ihren Zweck benennen würden.“<br />
„Den, den alles erzählen hat, und damit Punkt. – Sie<br />
deuteten an, dass es kritische Anmerkungen zur Dramatik<br />
gab?“<br />
„So ist es. Sie wählten die Form der Parabel, überfrachten<br />
diese aber am ende mit Metaphorik.“<br />
„Wo bitte steht geschrieben, dass das unzulässig ist?“<br />
„natürlich nirgends. Aber auch wenn sich eine erzählung<br />
unterschiedlicher Formen bedient, so sollte sie sich doch<br />
für eine tragfähige und durchgängige Architektur entscheiden.<br />
es sollte erspürbar sein, was gerüst ist, und was Auskleidung.“<br />
„ich behaupte, diese Forderung sehr wohl eingelöst<br />
zu haben. – Sie erwähnten eingangs auch das Stichwort<br />
Psychologie?“<br />
„Damit ist gemeint, dass sich ihre Figuren statisch<br />
darstellen, dass haltungen und Motive gesetzt und<br />
behauptet sind, sie nicht wirklich geschichte, geschweige<br />
denn Wandlung haben. Dass ich auf Zuschreibungen<br />
von Titanismus und ähnlich pathostriefenden<br />
überhöhungen eher allergisch reagiere,<br />
mag meine Sache sein –“<br />
„Ach! Sie wollen die helden auch einmal pinkeln sehen?“<br />
„Das nun gerade nicht. Mich lassen lediglich die wie in<br />
Marmor gemeißelten Konturen ihres Siegfried, ihres hagen,<br />
ihrer brünnhilde und anderer eher kalt. Aber zugegeben:<br />
Wie Sie ihre Figuren modellieren, ist für eine Parabel<br />
sogar konsequent entschieden. Allerdings erzeugt es einen<br />
Mangel an Dynamik.“<br />
„in ihrem persönlichen empfinden.“<br />
„Richtig. So wie ich auch empfinde, dass diesem Mangel<br />
eine geradezu überbordende Fülle von beeindruckenden,<br />
zuweilen gar rauschhaften Szenerien gegenübersteht.<br />
Die aber, bei aller bewunderung, bei mir einen<br />
gewissen Abwehrimpuls auslöst. Welchem der Verdacht<br />
folgt, dass Sie mit der Wucht, dem getöse ihrer<br />
bilder und Aktionen nur überwältigen wollen.“<br />
„Was ist daran verwerflich? ich will herz und Sinne packen,<br />
keinen drögen Diskurs veranstalten. – ein sehr, sehr deutscher<br />
impuls übrigens, der sich da bei ihnen manifestiert.“
„ist ‚Feuer‘ wirklich<br />
erlösend, reinigend? Die<br />
bewohner von<br />
guernica, von hamburg<br />
und Dresden oder<br />
hiroshima werden zu<br />
einem anderen ergebnis<br />
kommen als ein<br />
ernst Jünger, der, das<br />
champagnerglas<br />
schwenkend, sich an der<br />
Feuersbrunst einer<br />
bombardierten französischen<br />
Stadt delektiert.“<br />
— Der Dramaturg<br />
„interessant. Was wäre denn ein nicht-deutscher?“<br />
„einer, der keine Angst vor der Möglichkeit einer<br />
überwältigung und Verführung hat, sie vielleicht sogar<br />
begrüßt und ersehnt. ich sage nicht, dass diese<br />
Angst gerade vor dem hintergrund unserer geschichte<br />
nicht auch ihre berechtigung hätte. Aber sie<br />
richtet ihr Augenmerk nur auf ein vermeintlich<br />
zwangsläufiges Verderben, das der überwältigung folgen<br />
muss. Aber gibt es nicht auch eine Verführung zu<br />
etwas, das uns bereichert? Zu etwas, was wir bisher<br />
nicht zu denken wagten? Was uns die Sinne öffnet,<br />
hemmnisse und Verstockungen beiseite fegt, Mut<br />
und neue Perspektive schenkt? Warum versperren<br />
wir uns dem schon von vorneherein? Diese als Skepsis<br />
getarnte Furcht ist verhängnisvoll. es mag eine<br />
Weile funktionieren, die existenz eigener untiefen zu<br />
ignorieren. Aber irgendwann kommen wir nicht mehr<br />
umhin, uns ihnen zu stellen.“<br />
„ich widerspreche nicht. Aber wir sind uns doch darüber<br />
einig, dass umso entscheidender ist, welche<br />
Prämissen einer Verführung zugrunde liegen, nicht<br />
wahr?“<br />
„Völlig d’accord. und welche Prämisse ist es, die Sie glauben<br />
ausmachen zu können?“<br />
„nun, lassen Sie mich dem so nähern: ihr Werk bietet eine<br />
Anordnung von Personen und dramatischen Konstellationen<br />
auf. Sie tun dies aber nicht, weil Sie an diesen Personen<br />
interessiert sind, sondern weil Sie damit ihre Sicht auf entscheidende<br />
Probleme und Konflikte unserer gesellschaft illustrieren<br />
möchten. um es auf die kürzestmögliche Formel<br />
zu bringen, konstatieren Sie dabei ‚entfremdung‘ als letzte<br />
ursache zunehmender sozialer, politischer und psychischer<br />
... in ihReM WeRK<br />
77<br />
Die Ablehnung<br />
Wirrnis, unter der lust zu gier verkümmern muss, Treue<br />
zu todbringender beharrung, leidenschaft zu tollwütigem<br />
eklat. Darum geht es ihnen. nicht um ihre Figuren. Was<br />
sie sind, was sie begehren, erstickt völlig unter ihrem Wollen,<br />
das aus jedem Wort, aus jeder bewegung, jeder Szenik<br />
quillt. Sie zeigen nicht, Sie behaupten. und Sie wollen belehren.<br />
ihr Drama ist eines der ideen, nicht das des lebens,<br />
der Körper, der gefühle. nur folgerichtig ist, wenn<br />
Sie sich bei nur wenigen Figuren länger aufhalten und auch<br />
sie sofort verlassen, wenn diese abgeliefert haben, wozu sie<br />
ins Spiel gestellt wurden. Darüber könnte man noch diskutieren.<br />
Wenn mich auch die Kälte frösteln macht, mit der<br />
Sie ihre Fäden dabei ziehen. Wenn aber, wie Sie vorhin<br />
erwähnten, das erzählen für Sie ein kultisches ereignis zu<br />
sein hat, so frage ich Sie noch einmal, was im Falle ihres<br />
Werks zelebriert und gewonnen wird. erzeugt es Weisheit?<br />
neue erkenntnis? gar gedankliches Material, um den dargestellten<br />
gesellschaftlichen Missstand lebenspraktisch zu<br />
überwinden?“<br />
„Verstehe. Sie vermissen die gebrauchsanleitung zur<br />
Verbesserung der Welt. eine empfehlung, Attac beizutreten<br />
oder die Wall Street zu okkupieren.“<br />
„Sie machen Scherze.“<br />
„Danach ist mir eigentlich nicht zumute.“<br />
„Dann haben Sie mich gründlich missverstanden. Weshalb<br />
ich es ihnen so erklären will: Was Sie in ihrem Werk thematisieren,<br />
ist leider weder neu noch originell. Schon der junge<br />
Marx hat das Problem der entfremdung benannt, ihren ursprung<br />
und ihre Auswirkungen analysiert. Sie dagegen analysieren<br />
nicht, sondern belassen es beim großen lamento.<br />
und sehnen sich, als wären Sie ein Autor des Fin de siècle,<br />
nach der großen ‚Reinigung‘, der Rückkehr des vermeintlich<br />
‚elementaren‘. Wie er machen Sie es sich in einem Atavismus<br />
bequem, für den seit je billiger beifall einzuheimsen<br />
war. Weil sich derart melancholische Posen folgenlos schlürfen<br />
lassen und niemandem wehtun. Damit aber wird jede<br />
Kunst zur neckischen girlande, mit der umso geist- und<br />
kunstloseres Agieren in der gesellschaftlichen Praxis kaschiert<br />
werden soll.“<br />
„Das Totschlagargument des Atavismus musste ja<br />
kommen. An dem, was Sie damit andeuten möchten,<br />
stimmt lediglich, dass ich tatsächlich einer Rückbesinnung<br />
auf die elementaren Konditionen menschlicher<br />
existenz das Wort rede. Auf die, wenn Sie so<br />
wollen, ‚Tatsachen des lebens‘.“<br />
„Das gestehe ich ihnen wie jedem ernsthaften Autor<br />
zu. Auch der grundton des lamentos wäre<br />
für mich noch akzeptabel, wenn dies nun einmal<br />
Weltsicht und Temperament des Autors entsprechen<br />
sollte. nein, der Punkt ist, auf welche gedankliche<br />
und ästhetische conclusio ihre haltung zusteuert.<br />
Alles mündet in ein apokalytisches Finale, das
nicht nur dramatische Auflösung sein soll, sondern<br />
sogar letztliche ‚erlösung‘. eine Art endgerichtlich<br />
strafender und damit reinigender Vorgang als Voraussetzung<br />
eines Paradieses. Verzeihen Sie – aber damit<br />
landen Sie, der als Kritiker der Moderne startete, im<br />
Mief eines vormodernen Messianismus.“<br />
„nun öden Sie mich auch noch mit nietzsche an! hören<br />
Sie: ich setze dieses Finale nicht, weil mich die Welt zum<br />
sauertöpfischen Frömmler gemacht hätte. Sondern weil<br />
das Publikum dadurch erkennen soll, welches Denken und<br />
handeln zu bestimmten Konsequenzen führt, ja führen<br />
muss. Denunzieren Sie das ruhig als volkserzieherische Attitüde.<br />
Jedes erzählen erzieht, nicht zuletzt den Autor. es<br />
ist also legitim, was ich tue.“<br />
„natürlich ist es das. Aber dabei bleiben Sie eben nicht. Alles<br />
in diesem Finale feiert den Tod, atmet den Seufzer ‚Dem<br />
himmel sei Dank, es ist überstanden‘. Sie sprechen in ihrem<br />
Text unmissverständlich von ‚erlösung‘. Warum nicht<br />
gleich: ‚es ist vollbracht?‘ Doch können Vernichtung und<br />
Tod erlösen? – ich weiß, was ihnen auf der Zunge liegt. Der<br />
Mann, werden Sie denken, hat weder das Wesen einer gedanklichen<br />
Abstraktion noch das einer Metapher begriffen.“<br />
„Verstehe. Sie vermissen<br />
die gebrauchsanleitung<br />
zur Verbesserung der<br />
Welt. eine empfehlung,<br />
Attac beizutreten oder<br />
die Wall Street zu okkupieren.“<br />
— Der Autor<br />
schlicht zu unbesonnt, zu todesverliebt, zu freudlos.<br />
Womit ich bei meinem letzten einwand angekommen<br />
wäre: ihr Werk hat keinen Witz.“<br />
„Sie beginnen wirklich, mich zu ermüden.“<br />
„Der ‚Witzige‘ zeigt uns die Welt, wie sie ist, und nicht, wie<br />
sie sein sollte. er lotet das Komische im Tragischen aus und<br />
umgekehrt, unterläuft Pathos und Pose. und nur diese – im<br />
ursprünglichen Sinn des Worts kluge, weise – Sicht ermöglicht<br />
uns, in die gestaltung unserer, der wirklichen Welt<br />
eingreifen zu können. Was, um wieder darauf zurückzukommen,<br />
Zweck jeder kultischen handlung war und ist.“<br />
„ich fürchte, dass wir uns allmählich im Kreise drehen.<br />
Sie nicht?“<br />
„eigentlich nicht. Aber wie Sie meinen. – Dass ich Sie<br />
zu meiner Sichtweise nicht verführen, geschweige<br />
überwältigen konnte, sehe ich ihnen an. Aber habe<br />
ich Sie wenigstens partiell überzeugen können?“<br />
„Vor allem davon, dass mein Werk nach ihrer Meinung<br />
im Papierkorb zu landen hat. Das also bleibt von jahrelanger<br />
Arbeit?“<br />
„nicht doch. ich bin mir sicher, dass man sie ihnen andernorts<br />
aus den händen reißen wird. Vor allem bleibt, was eben<br />
geschehen ist. Denn auch wenn ich und andere sich gegen ihr<br />
Werk ausgesprochen haben – gewirkt hat es bereits jetzt.“<br />
„Soll das ein Trost sein?“<br />
„nein. eine Tatsache.“<br />
Robert Hültner ist Autor von<br />
Romanen, Theaterstücken, Hörspielen<br />
und Drehbüchern, darunter<br />
die preisgekrönten Kriminalromane<br />
um Inspektor Kajetan.<br />
Die Verfilmung seines Romans<br />
Der Sommer der Gaukler über das<br />
Leben von Emanuel Schikaneder<br />
läuft derzeit im Kino. Der Autor<br />
lebt in München und den französischen<br />
Cevennen.<br />
„einen ähnlichen Verdacht habe ich tatsächlich.“<br />
„ich bezweifle schlicht die Stimmigkeit ihres bildes!<br />
ist ‚Feuer‘ wirklich erlösend, reinigend? Von welcher<br />
Warte aus definieren wir eigentlich, ob es erschreckende<br />
Destruktion, überwältigend ästhetisches geschehen<br />
oder eben erlösung ist? Die bewohner von<br />
guernica, von hamburg und Dresden oder hiroshima<br />
werden zu einem anderen ergebnis kommen als<br />
ein ernst Jünger, der, das champagnerglas schwenkend,<br />
sich an der Feuersbrunst einer bombardierten<br />
französischen Stadt delektiert. Kurz: ich behaupte,<br />
dass dieses bild wenig brauchbar ist, weil zu unpräzise.<br />
es sei denn, Sie wären tatsächlich der überzeugung,<br />
dass materielle Vernichtung die Voraussetzung<br />
für wahrhaftes existieren wäre. gegen derartig idealistische<br />
und religiöse Schwurbeleien sperrt sich alles<br />
in mir, der ich es eher mit jener indischen Weisheit<br />
halte, die besagt: ‚es gibt nur eine gottheit, und ihr<br />
name ist leben.‘ ihre Weisheit dagegen ist mir<br />
Die Ablehnung
OSTERFESTSPIELE<br />
SALZBURg 2012<br />
31. März — 9. April<br />
Künstlerische Leitung: Sir Simon Rattle<br />
Berliner Philharmoniker<br />
OPER<br />
Georges Bizet • Carmen<br />
Sir Simon Rattle Musikalische Leitung<br />
Aletta Collins Regie & Choreographie<br />
Magdalena Kožená Carmen<br />
Jonas Kaufmann Don José<br />
Kostas Smoriginas Escamillo<br />
Genia Kühmeier Micaëla<br />
Konzertvereinigung Wiener <strong>Staatsoper</strong>nchor<br />
ORCHESTER- UND CHORKONZERTE<br />
Sir Simon Rattle • Zubin Mehta<br />
Emanuel Ax • Christian Gerhaher • Jonas Kaufmann<br />
Murray Perahia • Kate Royal • Anne Sofie von Otter<br />
Rundfunkchor Berlin<br />
KAMMERMUSIKREIHE KONTRAPUNKTE<br />
Emanuel Ax • Magdalena Kožená<br />
Scharoun Ensemble Berlin<br />
Mitglieder der Berliner Philharmoniker<br />
© Lucien Clergue/getty images•<br />
VORSCHAU<br />
Osterfestspiele Salzburg 2013 • 23. März — 1. April<br />
Künstlerische Leitung: Christian Thielemann<br />
Sächsische Staatskapelle Dresden<br />
OPER Richard Wagner • Parsifal<br />
Christian Thielemann • Regie: Michael Schulz • Titelrolle: Johan Botha<br />
ORCHESTER- UND CHORKONZERTE<br />
Christian Thielemann • Myung-Whun Chung<br />
KONZERT FÜR SALZBURG<br />
KAMMERKONZERTE<br />
Stand Dezember 2011<br />
Änderungen vorbehalten<br />
OSTERFESTSPIELE SALZBURG . Herbert-von-Karajan-Platz 9 . 5020 Salzburg . Austria<br />
Tel. +43/662/80 45-361, -362 . Fax DW -790 . karten@ofs-sbg.at . www.osterfestspiele-salzburg.at
Giovanni Simone Mayr:<br />
Medea in Corinto<br />
Erhältlich auf DVD und Blu-ray<br />
und am 1. und 5. Juli 2012 auf<br />
dem Spielplan der Münchner<br />
Opernfestspiele.<br />
Photo © Wilfried Hösl<br />
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Im Fernsehen …<br />
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Fünf Fragen an … 83<br />
Eri Nakamura<br />
Woglinde — Das Rheingold,<br />
Götterdämmerung<br />
Welchen Faden aus Wagners Erzählung des<br />
Nibelungen-Mythos verfolgen Sie am liebsten?<br />
An Götterdämmerung fasziniert mich besonders, dass hier<br />
die Götter überhaupt nicht mehr vorkommen, sondern fast<br />
nur Menschen auf der Bühne zu erleben sind, mit all ihren<br />
Schwächen, Geheimnissen und Gemeinheiten.<br />
Wer hat Ihnen an welchen Orten<br />
Geschichten erzählt?<br />
Meine Mutter erzählte mir zwar Geschichten, aber die meisten<br />
habe ich selbst kennengelernt, weil ich schon sehr früh<br />
vom Lesen begeistert war und seit meinem vierten Lebensjahr<br />
ein Buch nach dem anderen verschlungen habe.<br />
„Kinder bekommen<br />
durch Geschichten<br />
die Vorstellungskraft,<br />
um ihr<br />
anschließendes<br />
Leben fantasievoll<br />
zu meistern.“<br />
Welche Geschichte hörten Sie in Ihrer<br />
Kindheit am liebsten?<br />
Ich habe in meiner japanischen Heimat zwar auch Märchen<br />
wie Rotkäppchen oder Hänsel und Gretel gelesen, vor allem<br />
aber japanische Geschichten. Ich erinnere mich besonders<br />
an die Geschichte von Momotaro, der aus einem riesigen<br />
Pfirsich schlüpft, sehr stark wird und beschließt, den bösen<br />
Oger zu bekämpfen, der die Menschen bestiehlt. Von seinen<br />
Zieheltern bekommt er Kuchen, den er mit einem Vogel, einem<br />
Hund und einem Affen teilt, und sie so als Kampfgenossen<br />
gewinnt. Gemeinsam bezwingen sie den Oger und geben<br />
den Menschen ihre Reichtümer zurück.<br />
Wem erzählen Sie welche Geschichte gerne<br />
immer wieder?<br />
Ich erzähle Kindern am liebsten die Geschichten, die mich<br />
selbst sehr beeindruckt haben, wie das Märchen Momotaro.<br />
Warum, glauben Sie, erzählen wir uns Geschichten?<br />
Vor allem Kinder werden mit Geschichten auf sanftem Weg<br />
vertraut mit universellen Themen wie Liebe, Natur, Glauben,<br />
Zuneigung der Familie, aber auch Verrat, und bekommen dadurch<br />
auch die Vorstellungskraft, um ihr anschließendes<br />
Leben fantasievoll zu meistern.<br />
Fünf Fragen an …
Sigurds Rettung<br />
von<br />
Yusuf Özgüney<br />
Eine Fortsetzung der Kinderoper<br />
Sigurd der Drachentöter<br />
von Yusuf Özgüney, Klasse 6a<br />
der Mittelschule Garching<br />
Der junge Sigurd wächst bei dem Schmied Regin auf, der<br />
ihn aber einzig und allein ausnutzen will: Mit seiner Hilfe<br />
will er seinen Bruder Fafner besiegen, um an den Nibelungenschatz<br />
zu gelangen. Der Komponist Andy Pape hat mit<br />
der Oper Sigurd der Drachentöter eine einstündige Version<br />
des jungen Siegfried-Helden für Kinder geschaffen, die im<br />
Dezember 2011 auf dem Spielplan der <strong>Bayerische</strong>n <strong>Staatsoper</strong><br />
stand. Kinder ab neun Jahren konnten erleben, wie<br />
sich Sigurd mithilfe eines Raben von seinem Ziehvater Regin<br />
löst, ihn und Fafner tötet und an den Goldschatz gelangt.<br />
Anschließend waren die Kinder eingeladen, sich eine<br />
Fortsetzung der Geschichte auszudenken und an die <strong>Bayerische</strong><br />
<strong>Staatsoper</strong> zu schicken. Die schönste stammt von Yusuf<br />
Özgüney und ist auf der folgenden Seite zu lesen.<br />
Illustration Patrick Widmer
85<br />
N<br />
achdem Sigurds Stiefvater<br />
gestorben war, hatte<br />
er nur noch den Raben bei<br />
sich. Der Rabe wurde ein<br />
Mensch und wurde Sigurds<br />
Freundin. Es war ein Mädchen.<br />
Sie hatten viel Gold und<br />
fuhren in ihre Heimat und<br />
fingen ein neues Leben an.<br />
Sie fanden Freunde. Sie lebten<br />
fröhlich und sie hatten<br />
viel Spaß. Schon bald hatte<br />
Sigurd angefangen zur Arbeit<br />
zu gehen und verdiente Geld.<br />
In dieser Zeit war Regin<br />
doch nicht gestorben, weil<br />
Sigurd mit dem Mund die<br />
Flasche berührt hatte. Regin<br />
hatte so Drachenblut geleckt.<br />
Deswegen hatte er sich in<br />
einen Drachen verwandelt.<br />
Er wollte Sigurd und seine<br />
Freundin töten und das ganze<br />
Gold nehmen. Regin lief<br />
umher und traf am Ufer eines<br />
Baches auf ein Orakel. Regin<br />
lief hin und fragte: „Wo ist<br />
Sigurd, der Wälsung?“ Das<br />
Orakel antwortete ihm, dass<br />
Sigurd in seiner Heimat wäre,<br />
und verschwand.<br />
Regin flog nach Spanien,<br />
die Heimat von Sigurd. Sigurd<br />
und seine Freundin waren an<br />
einem schönen Tag auf einem<br />
Feld. Sie spielten Spiele, sie<br />
liefen herum, doch dann kam<br />
ein kräftiger Sturm.<br />
Sie sagte: „Sigurd? Wo bist<br />
du?“ Sigurd schrie: „Hier!“<br />
Regin erblickte Sigurd und<br />
landete auf dem Feld. Der<br />
Drache fragte Sigurd: „Weißt<br />
du, wer ich bin? Ich bin Regin!“<br />
„Nein!“ „Dank dir lebe<br />
ich noch! Jetzt aber nehme<br />
ich Rache an euch und werde<br />
euch umbringen und euer<br />
Gold nehmen!“<br />
Regin kam immer näher<br />
und näher. Gerade als er Sigurd<br />
auffressen wollte, flog<br />
ein Wurfspeer in Regins Kehle.<br />
Regin flog auf den Boden<br />
und bekam keine Luft.<br />
Sigurd überlegte, wer das<br />
gewesen sein könnte. Da kam<br />
der berühmte Krieger herbei,<br />
Sigurds Vater. Sigurd lief zu<br />
seinem Vater und umarmte<br />
ihn. „Wo warst du so lange?“,<br />
fragte Sigurd. Sein Vater gab<br />
ihm keine Antwort. „Gehen<br />
wir nach Hause“, schlug Sigurd<br />
vor, und sie gingen fröhlich<br />
heim. Und niemand konnte<br />
sie trennen.
Fünf Fragen an …<br />
Sophie Koch<br />
Fricka — Das Rheingold,<br />
Die Walküre<br />
Welchen Faden aus Wagners Erzählung des<br />
Nibelungen-Mythos verfolgen Sie am liebsten?<br />
Alles, was mit Liebe und Verlangen zu tun hat, wie etwa in<br />
der Szene der Götterdämmerung, wenn Brünnhilde gegenüber<br />
Waltraute ihre Liebe zu Siegfried bekennt.<br />
Wer hat Ihnen an welchen Orten<br />
Geschichten erzählt?<br />
Meine Mutter hat mir vor dem Einschlafen immer Geschichten<br />
erzählt, und ich habe auch sehr viele aufgezeichnete,<br />
mit Musik unterlegte Geschichten angehört.<br />
Welche Geschichte hörten Sie in Ihrer<br />
Kindheit am liebsten?<br />
Eine meiner Lieblingsgeschichten ist aus Tausendundeiner<br />
Nacht: Ali Baba und die vierzig Räuber. Am spannendsten<br />
fand ich die Stelle, als Ali Baba den Zauberspruch „Sesam,<br />
öffne dich“ ausspricht und sich vor ihm die Höhle mit all den<br />
versteckten Schätzen der vierzig Räuber öffnet.<br />
„Am spannendsten<br />
fand ich die Stelle,<br />
als Ali Baba den<br />
Zauberspruch<br />
‚Sesam, öffne dich’<br />
ausspricht und sich<br />
vor ihm die Höhle<br />
mit all den versteckten<br />
Schätzen<br />
öffnet.“<br />
Wem erzählen Sie welche Geschichte gerne<br />
immer wieder?<br />
Ich erzähle meiner Tochter Geschichten, ein paar Klassiker<br />
(Aschenputtel, Hänsel und Gretel) und ganz viele erfundene!<br />
Warum, glauben Sie, erzählen wir uns Geschichten?<br />
Wir erzählen uns Geschichten, weil wir mehr über die Menschen<br />
erfahren und ihre Seele verstehen wollen. Der Nibelungen-Mythos,<br />
glaube ich, will uns sagen, dass die Menschen<br />
klüger sein und nicht immer nach noch mehr Macht<br />
streben sollen, weil dies zur Katastrophe führt.<br />
Fünf Fragen an …
Fünf Fragen an … 87<br />
Stephen Gould<br />
Siegfried —<br />
Götterdämmerung<br />
„Ich erfreue die<br />
Leute mit Geschichten<br />
darüber, wie ich<br />
versuchte, Deutsch<br />
(Hochdeutsch) zu<br />
lernen – in meinen<br />
ersten Jahren in<br />
Oberösterreich.“<br />
Welchen Faden aus Wagners Erzählung des<br />
Nibelungen-Mythos verfolgen Sie am liebsten?<br />
Obwohl ich die Partien des Siegmund und der beiden Siegfrieds<br />
singe, ist für mich das Motiv von Wotans Willen der<br />
interessanteste Aspekt des Ring. Dieser doppelte Faden aus<br />
Verlangen nach Macht, Kontrolle und Wissen und seiner nihilistischen<br />
Reise auf der Suche nach ewigem Frieden ist<br />
unglaublich fesselnd.<br />
Wer hat Ihnen an welchen Orten<br />
Geschichten erzählt?<br />
Die meisten Geschichten aus meiner Kindheit habe ich natürlich<br />
von meinen Eltern und auch Großeltern gehört. Meine<br />
Schwester und ich haben beide ganz viele Geschichten<br />
mit biblischen Gestalten und klassische griechische Mythen<br />
gehört. Das war natürlich das Ergebnis davon, mit einem<br />
methodistischen Pfarrer als Vater und einer Mutter, die<br />
Lehrerin für Literatur war, aufzuwachsen.<br />
Fünf Fragen an …<br />
Welche Geschichte hörten Sie in Ihrer<br />
Kindheit am liebsten?<br />
Nun, die meisten Geschichten, die mit „und sie lebten glücklich<br />
bis an ihr Lebensende“ aufhörten, waren natürlich sehr<br />
beruhigend, als Kind. Seltsamerweise mochte ich immer den<br />
Mythos des Sisyphos sehr, des Königs, der von den Göttern<br />
dazu verdammt wurde, fortwährend den Felsbrocken den Hügel<br />
hinaufzurollen, nur um ihn dann wieder herunterrollen zu<br />
sehen. Es mag darin hauptsächlich um die Tragödie und<br />
Sinnlosigkeit des Ganzen gehen, aber ich habe immer eher<br />
das heroische Element gesehen, das darin besteht, immer<br />
gegen das schier Unmögliche anzukämpfen. Vielleicht ist es<br />
das, was mich eigentlich zu Wagner geführt hat ...<br />
Wem erzählen Sie welche Geschichte gerne<br />
immer wieder?<br />
Ich erzähle keine Geschichten in epischer Breite. Ich bringe<br />
die Leute gern zum Lachen, meistens jedenfalls, also erfreue<br />
ich sie mit Geschichten darüber, wie ich versuchte, Deutsch<br />
(Hochdeutsch) zu lernen – in meinen ersten Jahren in Oberösterreich.<br />
Das ist immer ein großer Lacher.<br />
Warum, glauben Sie, erzählen wir uns Geschichten?<br />
Über Geschichten können wir nicht nur erfahren, was es im<br />
Kern heißt, menschlich zu sein, sondern wir können auch einen<br />
kleinen Teil unserer eigenen menschlichen Reise mit<br />
anderen teilen. So etwas schafft man nicht mit „Tweets”.<br />
Übersetzung Maria März
Hofbräu, mein München<br />
Das Theateralphabet...<br />
der Auftakt.
AgendA<br />
Spielplan<br />
90<br />
Plakatkünstler<br />
96<br />
Vorschau<br />
100
SpielplAn<br />
24.01.12<br />
bis<br />
10.04.12<br />
Soweit nicht anders angegeben, finden alle Veranstaltungen im Nationaltheater statt.<br />
T 089 – 21 85 19 20<br />
Karten<br />
Tageskasse der <strong>Bayerische</strong>n <strong>Staatsoper</strong><br />
Marstallplatz 5<br />
80539 München<br />
tickets@st-oper.bayern.de<br />
www.staatsoper.de
Oper<br />
Giuseppe Verdi<br />
Don Carlo<br />
Musikalische Leitung Asher Fisch<br />
Inszenierung Jürgen Rose<br />
rené Pape, Jonas Kaufmann, Mariusz Kwiecien, eric Halfvarson,<br />
Diogenes randes, anja Harteros, anna Smirnova, Laura tatulescu,<br />
Francesco Petrozzi, Kenneth roberson, evgeniya Sotnikova,<br />
tim Kuyers, Peter Mazalán, Levente Molnár, Christian rieger,<br />
Christoph Stephinger, rüdiger trebes<br />
Do 26.01.12 18:00 Uhr<br />
So 29.01.12 17:00 Uhr<br />
Gaetano Donizetti<br />
roberto Devereux<br />
Musikalische Leitung Friedrich Haider<br />
Inszenierung Christof Loy<br />
edita Gruberova, Fabio Maria Capitanucci, Carmen Oprisanu 01./05.02.,<br />
Sonia Ganassi 09./13.02., Joseph Calleja, Francesco Petrozzi, Goran<br />
Jurić, John Chest<br />
Mi 01.02.12 19:00 Uhr<br />
So 05.02.12 17:00 Uhr<br />
Do 09.02.12 19:00 Uhr<br />
Mo 13.02.12 19:30 Uhr<br />
Richard Wagner<br />
Das rheingold<br />
Musikalische Leitung Kent Nagano<br />
Inszenierung Andreas Kriegenburg<br />
Johan reuter, Levente Molnár, thomas Blondelle, Stefan Margita,<br />
Wolfgang Koch, Ulrich reß, Diogenes randes, Phillip ens, Sophie Koch,<br />
aga Mikolaj, Catherine Wyn-rogers, eri nakamura, angela Brower,<br />
Okka von der Damerau<br />
Giuseppe Verdi<br />
La traviata<br />
Musikalische Leitung Henrik Nánási<br />
Inszenierung Günter Krämer<br />
Marina Poplavskaya, Heike Grötzinger, Silvia Hauer, James Valenti, Leo<br />
nucci, Francesco Petrozzi, Christian rieger, Peter Mazalán, Christoph<br />
Stephinger, Dean Power, tim Kuyers, tareq nazmi<br />
Di 14.02.12 19:30 Uhr<br />
Fr 17.02.12 19:30 Uhr<br />
Mi 22.02.12 19:30 Uhr<br />
So 26.02.12 18:00 Uhr<br />
Giacomo Puccini<br />
Madama Butterfly<br />
Musikalische Leitung Stefano Ranzani<br />
Inszenierung Wolf Busse<br />
Svetla Vassileva, Okka von der Damerau, roberto alagna, Silvia Hauer,<br />
Franco Vassallo, Ulrich reß, Christian rieger, Goran Juri,<br />
tareq nazmi, Peter Mazalán<br />
Sa 18.02.12 19:00 Uhr<br />
Di 21.02.12 19:00 Uhr<br />
Sa 25.02.12 19:00 Uhr<br />
Do 01.03.12 19:00 Uhr<br />
Gioachino Rossini<br />
Il barbiere di Siviglia<br />
Musikalische Leitung Karel Mark Chichon<br />
Inszenierung Ferruccio Soleri<br />
antonino Siragusa, Donato Di Stefano, tara erraught, Fabio Maria Capitanucci,<br />
Lorenzo regazzo, tim Kuyers, rüdiger trebes, evgeniya<br />
Sotnikova, Kenneth roberson<br />
So 04.03.12 19:00 Uhr<br />
Mi 07.03.12 19:00 Uhr<br />
Fr 09.03.12 19:00 Uhr<br />
Di 13.03.12 19:00 Uhr<br />
Sa 04.02.12 19:00 Uhr<br />
Mi 08.02.12 19:30 Uhr<br />
So 12.02.12 16:00 Uhr<br />
sponsored by<br />
Premiere<br />
Richard Wagner<br />
Die Walküre<br />
Musikalische Leitung Kent Nagano<br />
Inszenierung Andreas Kriegenburg<br />
Klaus Florian Vogt, ain anger, Juha Uusitalo, anja Kampe, Katarina<br />
Dalayman, Sophie Koch, erika Wueschner, Danielle Halbwachs, Golda<br />
Schultz, Heike Grötzinger, roswitha C. Müller, alexandra Petersamer,<br />
Okka von der Damerau, anaïk Morel<br />
So 11.03.12 16:00 Uhr<br />
Do 15.03.12 17:00 Uhr<br />
So 18.03.12 16:00 Uhr<br />
So 25.03.12 16:00 Uhr<br />
Premiere<br />
sponsored by<br />
aGenDa 91
Giuseppe Verdi<br />
Macbeth<br />
Musikalische Leitung Teodor Currentzis<br />
Inszenierung Martin Kušej<br />
Franco Vassallo, Christof Fischesser, tatiana Serjan, evgeniya Sotnikova,<br />
Francesco Demuro, Fabrizio Mercurio, Christoph Stephinger, rüdiger<br />
trebes, Christian rieger, tareq nazmi, Iulia Maria Dan, Solist des<br />
tölzer Knabenchors<br />
Mi 14.03.12 19:00 Uhr<br />
Sa 17.03.12 19:00 Uhr<br />
Di 20.03.12 19:00 Uhr<br />
Fr 23.03.12 19:00 Uhr<br />
BALLett<br />
John Neumeier<br />
Der Nussknacker<br />
Musik Peter I. Tschaikowsky<br />
Solisten und ensemble des <strong>Bayerische</strong>n Staatsballetts<br />
Musikalische Leitung Valery Ovsianikov<br />
Sa 28.01.12 19:30 Uhr<br />
Peter I. Tschaikowsky<br />
eugen Onegin<br />
Musikalische Leitung Pietari Inkinen<br />
Inszenierung Krzysztof Warlikowski<br />
Heike Grötzinger, ekaterina Scherbachenko, alisa Kolosova, elena Zilio,<br />
Simon Keenlyside, Pavol Breslik, ain anger, Ulrich reß<br />
Mi 21.03.12 19:00 Uhr<br />
Sa 24.03.12 19:00 Uhr<br />
Mi 28.03.12 19:00 Uhr<br />
Simone Sandroni / Russell Maliphant / Kenneth MacMillan<br />
Das Mädchen und der<br />
Messerwerfer / AfterLight /<br />
Broken Falls / Las Hermanas<br />
Musik 48nord / Eric Satie / Frank Martin<br />
Solisten und ensemble des <strong>Bayerische</strong>n Staatsballetts<br />
Giuseppe Verdi<br />
Otello<br />
Musikalische Leitung Karel Mark Chichon<br />
Inszenierung Francesca Zambello<br />
Peter Seiffert, Juha Uusitalo, Pavol Breslik, Francesco Petrozzi, Diogenes<br />
randes, Goran Juri, Peter Mazalán, Krassimira Stoyanova<br />
Sa 31.03.12 19:00 Uhr<br />
Di 03.04.12 19:00 Uhr<br />
Sa 07.04.12 19:00 Uhr<br />
Di 10.04.12 19:00 Uhr<br />
Richard Wagner<br />
parsifal<br />
Musikalische Leitung Kent Nagano<br />
Inszenierung Peter Konwitschny<br />
Michael Volle, Diogenes randes, Stephen Milling, Christopher Ventris,<br />
Gerd Grochowski, Waltraud Meier, Kevin Conners, Levente Molnár, Solist<br />
des tölzer Knabenchors, Ulrich reß, Kenneth roberson, anna Virovlansky,<br />
Laura tatulescu, tara erraught, eri nakamura, angela Brower,<br />
Okka von der Damerau<br />
Starke Stücke –<br />
Zur Premiere von Das Mädchen und der Messer werfer<br />
ein Mädchen, „nicht einmal jung“,<br />
wie es in den Versen des Gedichtzyklus<br />
Das Mädchen und der<br />
Messerwerfer von Wolf Wondratschek<br />
heißt. es hat keinen<br />
namen, scheint verwandt mit den<br />
Figuren aus Carson McCullers<br />
romanen über die Mädchen, die<br />
ein Junge sein wollten: Sie haben<br />
gemeinsam, dass sie sich nicht<br />
wohl in ihrer Haut fühlen, verloren,<br />
allein, einsam. akribisch<br />
beobachten sie Menschen und<br />
Umgebung, ungnädig, unversöhnlich.<br />
Das Mädchen geht durch<br />
das Leben, ohne Verbindung<br />
aufzunehmen, ohne dazuzugehören,<br />
sich trotzig behauptend. „alle<br />
auf der Bühne sind allein“, schreibt<br />
der autor, „das Mädchen sollte<br />
das Herzstück sein, fragil, verletzbar,<br />
geheimnisvoll.“ Der Choreograph<br />
Sandroni erzählt diese<br />
Geschichte in seiner wilden, leisen,<br />
dynamischen tanzsprache, mit<br />
der Kanadierin emma Barrowman<br />
in der Hauptpartie.<br />
Mo 30.01.12 19:30 Uhr Prinzregententheater<br />
Di 31.01.12 19:30 Uhr Prinzregententheater<br />
Mi 01.02.12 19:30 Uhr Prinzregententheater<br />
Do 02.02.12 19:30 Uhr Prinzregententheater<br />
Folgen wird mit Las Hermanas<br />
eine klassische erzählung der<br />
1960er Jahre, nach dem Drama<br />
Bernarda Albas Haus von<br />
Federico García Lorca und nach<br />
der Choreographie von Kenneth<br />
MacMillan, einem der großen<br />
englischen erzähler auf der Ballettbühne,<br />
psychologisch sezierend,<br />
leidenschaftlich, expressiv. Der<br />
Link zwischen beiden traditionen<br />
ist russell Maliphant, royal<br />
Ballet School-absolvent und ehemals<br />
tänzer am royal Ballet London.<br />
er kommt mit zwei herausragenden<br />
preisgekrönten Stücken,<br />
seinem Solo AfterLight und<br />
dem trio Broken Falls, ursprünglich<br />
geschaffen für Sylvie Guillem<br />
und die Ballet Boyz, in München<br />
interpretiert von ekaterina<br />
Petina, erik Murzagaliyev und<br />
Marlon Dino. Zeitgenössische englische<br />
Choreographie vom Feinsten.<br />
–bwb<br />
Premiere<br />
Do 05.04.12 17:00 Uhr<br />
So 08.04.12 17:00 Uhr<br />
aGenDa 92
Nacho Duato<br />
Vielfältigkeit. Formen von<br />
Stille und Leere<br />
Musik Johann Sebastian Bach<br />
Solisten und ensemble des <strong>Bayerische</strong>n Staatsballetts<br />
Mo 06.02.12 19:30 Uhr<br />
Di 07.02.12 19:30 Uhr<br />
Frederick Ashton / Kenneth MacMillan<br />
Steps & times<br />
Scènes de ballet / Five Brahms Waltzes in the Manner of Isadora Duncan<br />
/ Frühlingsstimmen / Das Lied von der erde<br />
Musik Igor Strawinsky, Johannes Brahms, Johann Strauß, Gustav<br />
Mahler<br />
Solisten und ensemble des <strong>Bayerische</strong>n Staatsballetts<br />
Musikalische Leitung Ryusuke Numajiri<br />
Do 29.03.12 19:30 Uhr<br />
Fr 30.03.12 19:30 Uhr<br />
So 01.04.12 18:00 Uhr<br />
Jörg Mannes / Terence Kohler<br />
Mein ravel: Wohin er auch<br />
blickt ... /<br />
Daphnis und Chloé<br />
Musik Maurice Ravel<br />
Ballett extra<br />
Der Choreograph Frederick ashton<br />
Sa 17.03.12 20:00 Uhr Ballettprobenhaus, Platzl 7<br />
Der Choreograph Kenneth MacMillan<br />
Sa 24.03.12 20:00 Uhr Ballettprobenhaus, Platzl 7<br />
Solisten und ensemble des <strong>Bayerische</strong>n Staatsballetts<br />
Musikalische Leitung Michael Schmidtsdorff<br />
Fr 10.02.12 19:30 Uhr<br />
Sa 11.02.12 19:30 Uhr<br />
Mi 15.02.12 19:30 Uhr<br />
Do 16.02.12 19:30 Uhr<br />
Fr 24.02.12 19:30 Uhr<br />
Marius Petipa<br />
Dornröschen<br />
Musik Peter I. Tschaikowsky<br />
Inszenierung und neue Choreographie Ivan Liška<br />
Solisten und ensemble des <strong>Bayerische</strong>n Staatsballetts<br />
Musikalische Leitung Myron Romanul<br />
So 19.02.12 17:00 Uhr<br />
Mo 20.02.12 19:30 Uhr<br />
Fr 02.03.12 19:30 Uhr<br />
Sa 03.03.12 19:30 Uhr<br />
Mi 04.04.12 19:30 Uhr<br />
Mo 09.04.12 18:00 Uhr<br />
John Neumeier<br />
Illusionen – wie Schwanensee<br />
Musik Peter I. Tschaikowsky<br />
Solisten und ensemble des <strong>Bayerische</strong>n Staatsballetts<br />
Musikalische Leitung Michael Schmidtsdorff<br />
Sa 10.03.12 19:00 Uhr<br />
Mo 12.03.12 19:00 Uhr<br />
Fr 16.03.12 19:00 Uhr<br />
Mo 19.03.12 19:00 Uhr<br />
Do 22.03.12 19:00 Uhr<br />
aGenDa 93
KONzerte<br />
PARTNER DES BAyERISCHEN STAATSORCHESTERS<br />
LIeDerABeND<br />
Liederabend<br />
thomas Quasthoff<br />
Carl Loewe, robert Schumann, richard Strauss, Gustav Mahler<br />
3. Kammerkonzert<br />
Joseph Haydn, Gheorghe Mustea, Dmitri Schostakowitsch<br />
Violine Rita Rózsa, Immanuel Drißner<br />
Viola Adrian Mustea<br />
Violoncello Rupert Buchner<br />
Di 24.01.12 20:00 Uhr Allerheiligen Hofkirche<br />
Faschingskammerkonzert<br />
Wolfgang amadeus Mozart<br />
Christoph Well liest Bäsle-Briefe<br />
Flöte Andrea Ikker<br />
Violine Ulrike Collins<br />
Viola Wolfgang Berg<br />
Violoncello yves Savary<br />
Di 14.02.12 20:00 Uhr Allerheiligen Hofkirche<br />
4. Kammerkonzert<br />
Joseph Haydn, Louise Farrenc, George Crumb, Carl Maria von Weber<br />
Bassbariton Thomas Quasthoff<br />
Klavier Justus Zeyen<br />
Fr 03.02.12 20:00 Uhr<br />
rUND UM DeN rING –<br />
DAS BeGLeItprOGrAMM<br />
rInGSeMInar: DaS rHeInGOLD<br />
So 12.02.12 09:00 Uhr Capriccio-Saal<br />
Mo 13.02.12 18:00 Uhr Capriccio-Saal<br />
rInG-MatInee 2: arBeIt<br />
So 26.02.12 11:00 Uhr<br />
rInG-MatInee 3: MaCHt<br />
So 04.03.12 11:00 Uhr Senatssaal des <strong>Bayerische</strong>n Landtags,<br />
Maximilianeum<br />
rInG-SeMInar: DIe WaLKüre<br />
So 18.03.12 09:00 Uhr Capriccio-Saal<br />
Mo 19.03.12 18:00 Uhr Capriccio-Saal<br />
Flöte Katharina Kutnewsky<br />
Violoncello Anja Fabricius<br />
Klavier Fritz Schwinghammer<br />
So 04.03.12 11:00 Uhr Allerheiligen Hofkirche<br />
Di 06.03.12 20:00 Uhr Allerheiligen Hofkirche<br />
4. Akademiekonzert<br />
nikolai rimsky-Korsakov, Paul Dukas, richard Strauss<br />
Musikalische Leitung Kurt Masur<br />
Mo 26.03.12 20:00 Uhr<br />
Di 27.03.12 20:00 Uhr<br />
aGenDa 94
CAMpUS<br />
Sitzkissenkonzert:<br />
Hänsel und Gretel<br />
engelbert Humperdinck / Frank rudhardt<br />
Sa 28.01.12 14:30 Uhr Parkett, Garderobe<br />
Spiel Ballett:<br />
es war einmal und ist noch<br />
nicht vorbei …<br />
Sa 18.02.12 14:00 Uhr Ballettprobenhaus, Platzl 7<br />
Sa 25.02.12 14:00 Uhr Ballettprobenhaus, Platzl 7<br />
Sitzkissenkonzert:<br />
Die Kinderstube<br />
Modest Mussorgsky<br />
Sa 10.03.12 14:30 Uhr Parkett, Garderobe<br />
Sa 17.03.12 14:30 Uhr Parkett, Garderobe<br />
Wovon erzählt uns<br />
richard Wagner?<br />
Fr 16.03.12 15:00 Uhr Treffpunkt: Seitlicher Eingang<br />
an der Maximilianstraße<br />
passionskonzert<br />
Sprecher Dr. Günther Beckstein, Ministerpräsident a.D.<br />
Do 29.03.12 19:30 Uhr Allerheiligen Hofkirche<br />
Der Vorverkauf erfolgt über die Freunde des nationaltheaters e.V.:<br />
t 089 – 53 10 48 oder freunde-des-nationaltheaters@t-online.de<br />
HAUPTSPONSOR DER ORCHESTERAKADEMIE<br />
Illustration Gian Gisiger, Bureau Mirko Borsche aGenDa 95
Der Berliner Künstler Dennis Rudolph, Jahrgang 1979,<br />
gestaltet die Plakatserien für den Ring des Nibelungen<br />
in der Spielzeit 2011/12. Dennis Rudolph arbeitet in<br />
verschiedensten künstlerischen Medien wie Malerei,<br />
experimentelle Druckgrafik, Zeichnung und Fotografie.<br />
Dabei sind es immer die historischen Dimensionen, die<br />
ihn interessieren und die er mit zeitgenössischem Stil<br />
und zeitgenössischem Denken überlagert und ins Heute<br />
spielt. Auf diese Weise tragen uns seine Arbeiten mitten<br />
in die Auseinandersetzung.
klassik inspiriert *<br />
* Vlado Milunić & Frank Gehry: „Das tanzende Haus“<br />
www.br-klassik.de<br />
Foto: Wikimedia Creative Commons, 2008 Dino Quinzani
LEIDENSCHAFT<br />
VERBINDET.<br />
Als eines der weltweit führenden Gase- und Engineeringunternehmen<br />
wissen wir: Technik, Erfahrung und Präzision sind die Voraussetzung für<br />
höchste Qualität. So auch in der Musik. Wir freuen uns, die <strong>Bayerische</strong><br />
<strong>Staatsoper</strong> als Spielzeitpartner zu begleiten. Wir teilen den Anspruch,<br />
kontinuierlich neue Maßstäbe zu setzen. Ob musikalisch oder technologisch<br />
– hinter jeder hervorragenden Leistung stehen Menschen mit<br />
Ambition.