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Gesellschaftskritik in Anton P. Tschechows Prosawerk - Libertäres ...

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ten’ Iwan Dmitritsch belehren will, dass dessen schreckliche Situation<br />

eigentlich ganz leicht zu ertragen wäre. Doch der Kranke erkennt klar, dass<br />

Andrej Jefimytsch nie leiden musste, die Wirklichkeit nicht kennt und sich<br />

nur e<strong>in</strong>e bequeme Philosophie zurechtgelegt hat. So ist er dem Doktor <strong>in</strong><br />

gewissem Maße überlegen, wenn er über ihn spottet: „Es kommt e<strong>in</strong> Weib mit<br />

Zahnschmerzen zu Ihnen ... Na und? Der Schmerz ist die Vorstellung vom<br />

Schmerz, außerdem: um die Krankheiten kommt man nicht herum auf dieser<br />

Erde, wir müssen alle sterben, also hau ab Alte, stör mich nicht <strong>in</strong> me<strong>in</strong>en<br />

Gedanken und beim Schnapstr<strong>in</strong>ken.“ 30 Hier zeigt sich nicht nur, dass der<br />

geisteskranke Patient dem Doktor überlegen ist, sondern allgeme<strong>in</strong> die<br />

Fragwürdigkeit solcher Anstalten. Hier versucht man Kranke nicht e<strong>in</strong>mal im<br />

Ansatz zu heilen. Es werden eher unbequeme Menschen wie <strong>in</strong> Gefängnisse<br />

weggesperrt - wie Iwan Dmitritsch, der an Verfolgungswahn leidend nicht<br />

mehr normal leben konnte. Da man mit ihm nichts anfangen konnte, sperrte<br />

man ihn <strong>in</strong>s Krankenhaus, anstatt ihm zu helfen. Er ist jedoch <strong>in</strong>telligent<br />

und erkennt diesen Zustand: „Wie wagen sie es uns hier festzuhalten? Das<br />

Gesetz sagt e<strong>in</strong>deutig, daß ohne Gerichtsverhandlung niemand se<strong>in</strong>er Freiheit<br />

beraubt werden darf! Das ist Vergewaltigung! Das ist Willkür!“ 31 Auch der<br />

Doktor bekommt dieses Gefühl noch zu spüren, als er plötzlich selbst für<br />

geisteskrank gehalten wird. Als er mit Michail Awerjanytsch auf die Reise<br />

geht, da zweifelt auch er an der ganzen Sache: „‚Wer von uns beiden ist nun<br />

eigentlich verrückt?’, dachte er mit Verdruß.“ 32 Denn dieser redet die ganze<br />

Zeit, ist arrogant und egoistisch und hält sich für den <strong>in</strong>teressantesten<br />

Menschen der Welt. Dabei ist er jedoch <strong>in</strong> Wahrheit sehr langweilig und<br />

unbedeutend. Als der Doktor später nochmals auf die Krankheit angesprochen<br />

wird, nachdem ihm e<strong>in</strong>mal der Kragen platzte und er Michail Awerjanytsch und<br />

Chobotow anschrie, so kann er sich nur noch mit se<strong>in</strong>em Verstand verteidigen:<br />

„Me<strong>in</strong>e Krankheit besteht lediglich dar<strong>in</strong>, dass ich im Verlauf von<br />

zwanzig Jahren <strong>in</strong> der ganzen Stadt nur e<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>zigen klugen Menschen<br />

gefunden habe, und das ist e<strong>in</strong> Irrer.“ 33 Bewertet man schließlich noch, wie<br />

die Geisteskranken behandelt werden, so kann man das nur als unmenschlich<br />

bezeichnen: „Er[Nikita, der Wärter] gehört zu jenen, [die] [...] der festen<br />

Überzeugung s<strong>in</strong>d, dass man sie[die Geisteskranken] schlagen muss. Er<br />

schlägt <strong>in</strong>s Gesicht, gegen die Brust, <strong>in</strong> den Rücken, wo es gerade<br />

h<strong>in</strong>trifft“ 34 Später macht Andrej Jefimytsch selbst die Erfahrung geschlagen<br />

zu werden: „Nikita öffnete fl<strong>in</strong>k die Tür, stieß Andrej Jefimytsch mit<br />

beiden Händen und mit dem Knie brutal zur Seite, holte aus und schlug ihm<br />

mit der Faust brutal <strong>in</strong>s Gesicht.“ 35 Sie werden nicht nur geschlagen und<br />

müssen unter unmenschlichen Bed<strong>in</strong>gungen leben, es ist <strong>in</strong> dieser Abteilung,<br />

wie auch im restlichen Krankenhaus dreckig: „Es riecht nach Sauerkraut,<br />

abgebrannten Dochten, Wanzen und Ammoniak, und dieser Gestank erzeugt im<br />

ersten Augenblick die Illusion, man betrete e<strong>in</strong>en Tierpark.“ 36 Der<br />

Tagesablauf ist monoton, die Kranken dürfen den Krankensaal Nr.6 nicht<br />

verlassen, die Fenster s<strong>in</strong>d mit Metallstäben vergittert, sie können nichts<br />

tun, behandelt werden sie ebenfalls nicht, weder von dem Doktor, noch<br />

später von Chobotow. Es wird nur für die notwendigsten D<strong>in</strong>ge, wie<br />

Verpflegung und Waschen gesorgt: „Morgens waschen sich die Kranken, [...];<br />

danach tr<strong>in</strong>ken sie Tee, [...]. Zu Mittag essen sie Sauerkohlsuppe mit<br />

Grütze, zum Abendbrot die Grütze, die vom Mittagessen übrig geblieben ist.<br />

Zwischen den Mahlzeiten liegen sie, schlafen, schauen zum Fenster h<strong>in</strong>aus<br />

und gehen von Ecke zu Ecke.“ 37 Der Doktor kommt mit diesen Umständen<br />

überhaupt nicht klar. Se<strong>in</strong>e Lehren, sich dem Geistigen zuzuwenden und den<br />

Schmerz zu verachten, br<strong>in</strong>gen ihm nichts, als er die Wirklichkeit und das<br />

Leiden überhaupt nun kennenlernt. Er verzweifelt: „[K]ann man hier etwa<br />

e<strong>in</strong>en Tag, e<strong>in</strong>e Woche und sogar Jahre zubr<strong>in</strong>gen wie diese Menschen? Nun, er<br />

war gesessen, umhergegangen und hatte sich wieder h<strong>in</strong>gesetzt; man kann zum<br />

Fenster gehen und h<strong>in</strong>ausschauen und wieder von e<strong>in</strong>er Ecke zur anderen<br />

gehen. Und dann? Die ganze Zeit so dahocken wie e<strong>in</strong> Ölgötze und nachdenken?<br />

Ne<strong>in</strong>, das ist kaum möglich.“ 38 - 10 -

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