Gesellschaftskritik in Anton P. Tschechows Prosawerk - Libertäres ...
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2.5 Krankensaal Nr.6 (1892)<br />
2.5.1 Inhalt<br />
In dieser Erzählung werden die Zustände e<strong>in</strong>es verrotteten Prov<strong>in</strong>zkrankenhauses<br />
beschrieben. Seit zwanzig Jahren ist Andrej Jefimytsch Rag<strong>in</strong> dort<br />
Chefarzt. Anfangs g<strong>in</strong>g er noch motiviert an die Arbeit und kümmerte sich um<br />
se<strong>in</strong>e Patienten, doch schnell wurde er dessen überdrüssig, da er es als<br />
monoton und s<strong>in</strong>nlos empfand, die Menschen zu heilen, da sie früher oder<br />
später sowieso sterben würden. Auch hat er nicht den Charakter, etwas an<br />
den Zuständen zu ändern. Nun behandelt er nur noch selten Patienten und<br />
liest lieber zu Hause schöngeistige Literatur, denkt nach oder unterhält<br />
sich mit Michail Awerjanytsch, dem e<strong>in</strong>zigen Menschen, den er ertragen kann.<br />
Doch dann gelangt er zum ersten Mal <strong>in</strong> den Krankensaal Nr.6, <strong>in</strong> dem sich<br />
die Geisteskranken bef<strong>in</strong>den. Dort macht er die Bekanntschaft mit Iwan<br />
Dmitritsch Gromow, e<strong>in</strong>em gebildeten Menschen, der jedoch unter Verfolgungswahn<br />
leidet. Für diesen beg<strong>in</strong>nt sich der Doktor zu <strong>in</strong>teressieren und lange<br />
Gespräche mit ihm zu führen, die sich hauptsächlich um Philosophie drehen.<br />
Der kürzlich angestellte Assistenzarzt Jewgenij Fjodorytsch Chobotow und<br />
der Feldscher Ssergeij Ssergeitsch werden misstrauisch und beg<strong>in</strong>nen Andrej<br />
Jefimytsch ebenfalls für geisteskrank zu halten. Auch Michail Awerjanytsch<br />
glaubt dies und überredet ihn zu e<strong>in</strong>er Reise, um sich zu zerstreuen. Doch<br />
auf dieser fühlt sich der Doktor dauerhaft nur von ihm bedrängt und als sie<br />
heimkehren, hat Chobotow se<strong>in</strong>en Platz als Oberarzt übernommen und Andrej<br />
Jefimytsch muss sich e<strong>in</strong>e neue Wohnung suchen. Nun kann er nicht mehr se<strong>in</strong><br />
altes Leben führen, er liest und denkt nicht mehr und bald wird er selbst<br />
<strong>in</strong> den Krankensaal Nr.6 e<strong>in</strong>geliefert. Dort lernt er die unmenschliche<br />
Wirklichkeit <strong>in</strong> diesem kennen und verstirbt bereits <strong>in</strong> der zweiten Nacht.<br />
2.5.2 Deutung<br />
In dieser Erzählung f<strong>in</strong>det man viel Kritik: über die Zustände <strong>in</strong> den<br />
Krankenhäusern, über den Umgang mit (geistes)kranken Menschen und schließlich<br />
wieder über die „Satten“, die den „Hungrigen“ Lehren erteilen. Zunächst<br />
wird auf das verrottete Krankenhaus e<strong>in</strong>gegangen, welches schlimm<br />
verdreckt ist: „In den Sälen, <strong>in</strong> den Korridoren und auf dem Hof des<br />
Krankenhauses konnte man vor Gestank kaum atmen. [...]. Sie [die Krankenpfleger<strong>in</strong>nen]<br />
beklagten, dass man es vor Schaben, Wanzen und Mäusen kaum<br />
aushalten könne. In der Chirurgischen war die Wundrose nicht e<strong>in</strong>zudämmen.<br />
Im ganzen Krankenhaus waren nur zwei Skalpelle und ke<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ziges Thermometer<br />
vorhanden [...]“. 26 Es wird fast schon grotesk beschrieben, dass es „e<strong>in</strong>e<br />
geradezu unmoralische und für die Gesundheit ihrer Insassen im höchsten<br />
Grade abträgliche Anstalt sei.“ 27 Andrej Jefimytsch erkennt diese schlechten<br />
Zustände, jedoch ist er nicht <strong>in</strong> der Lage sie zu ändern. Zu Anfang führt er<br />
zwar e<strong>in</strong> paar Verbesserungen durch und behandelt sehr viele Patienten,<br />
allerd<strong>in</strong>gs gibt er dies schnell auf. Se<strong>in</strong>e Anschauung, die anschließend<br />
beschrieben werden soll, aber auch se<strong>in</strong> sehr schwacher Charakter stehen ihm<br />
hierbei im Wege. Er kann ke<strong>in</strong>e Befehle geben und se<strong>in</strong>en Willen nicht durchsetzen,<br />
so dass er Betrug und Verrottung beschämt akzeptiert. So muss er<br />
dann schließlich resümieren: „nicht anders als vor zwanzig Jahren ist die<br />
ganze Krankenbehandlung auf Dieberei, Gezänk, Tratsch, Vetternwirtschaft<br />
und grober Scharlatanerie erbaut, und das Krankenhaus stellt wie früher<br />
e<strong>in</strong>e unmoralische und für die Gesundheit der Bewohner <strong>in</strong> höchstem Grade<br />
schädliche Anstalt dar.“ 28 Der Doktor kommt schnell zu der Me<strong>in</strong>ung, dass es<br />
sich nicht lohne die Patienten zu behandeln: „Und warum überhaupt die<br />
Menschen daran h<strong>in</strong>dern zu sterben, wo doch der Tod das normale,<br />
naturnotwendige Ende e<strong>in</strong>es jeden ist?“ 29 Auch sei der Schmerz nur E<strong>in</strong>bildung<br />
und damit ausschaltbar. Der Mensch solle sich lieber dem geistigen<br />
Reichtum widmen und mit der Suche nach dem S<strong>in</strong>n des Lebens. Hierüber<br />
disputiert Andrej Jefimytsch auch mit Iwan Dmitritsch, <strong>in</strong>dem er diesem<br />
sagt, wenn er sich dem Geistigen widme, so könne er es auch <strong>in</strong> der Irrenanstalt<br />
problemlos aushalten. Hier zeigt sich wieder wie der „satte“ Doktor,<br />
der nie leiden musste, den „hungrigen“, vielleicht zu Unrecht ‚e<strong>in</strong>gesperr-<br />
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