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Gesellschaftskritik in Anton P. Tschechows Prosawerk - Libertäres ...

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4. Aktualitätsbezug<br />

<strong>Tschechows</strong> Werk wird oft als zeitlos bezeichnet. Doch was kann man noch<br />

auf die heutige Zeit übertragen und was hat sich verändert? Hier wird nun<br />

auch auf die Lage bei uns <strong>in</strong> Deutschland e<strong>in</strong>gegangen, was man allerd<strong>in</strong>gs<br />

klar von Russland trennen muss.<br />

Besonders stark <strong>in</strong> Deutschland hat sich das Bild über die Ehe verändert.<br />

Diese gilt nicht mehr als Grundvoraussetzung für gesellschaftliche Anerkennung,<br />

sondern ist vielmehr nur e<strong>in</strong>e von vielen möglichen Optionen für den<br />

Lebensweg. Das zeigt sich auch dar<strong>in</strong>, dass <strong>in</strong> den letzten Jahren die Anzahl<br />

der Eheschließungen stark rückläufig war. Auch Scheidungen, früher fast<br />

unmöglich, s<strong>in</strong>d heute „nur“ noch e<strong>in</strong> juristischer Akt. „Ob man verheiratet<br />

ist oder nicht, dar<strong>in</strong> wird ke<strong>in</strong> wesentlicher Unterschied gesehen. Die Ehe<br />

hat stark an Symbolwert verloren; der Schritt zum Standesamt (und zum<br />

Traualtar) ist nicht mehr länger selbstverständlich, sondern wird hochgradig<br />

begründungsbedürftig.“ 47 Dies hat unter anderem zu dem modernen Phänomen<br />

der Patchwork-Familie geführt. Doch auch heute gibt es noch Menschen, die<br />

<strong>in</strong> der Ehe „gefangen“ s<strong>in</strong>d, wohl auch aus Mangel an Alternativen. Die zeitgenössiche<br />

Band Muff Potter zeigt dies <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Lied über die<br />

desillusionierte Tristessa M., die verheiratet vere<strong>in</strong>samt: „Und sie sucht<br />

und verflucht ihr zu Hause und alles, was sie hat. Nur noch ’ne Sekunde,<br />

e<strong>in</strong>e weitere Stunde, nur noch e<strong>in</strong> Tag, noch e<strong>in</strong> Monat, e<strong>in</strong> Jahr. Das zieht<br />

sie jetzt auch durch, wie wunderbar von dir Tristessa...“ 48 In Russland h<strong>in</strong>gegen<br />

hat sich das Bild wenig verändert. Es ist immer noch gebräuchlich<br />

junge Frauen möglichst schnell zu verheiraten. Annäherungen an westliche<br />

Verhältnisse, wie oben beschrieben, gibt es nur teilweise <strong>in</strong> den westlich<br />

geprägten Städten wie St. Petersburg oder Moskau. Es ist trotzdem heute<br />

viel e<strong>in</strong>facher sich scheiden zu lassen, was dann auch häufig getan wird.<br />

Höchst aktuell jedoch ist das Problem der sozialen Vere<strong>in</strong>samung. Diese gibt<br />

es auch zu heutigen Zeiten, besonders <strong>in</strong> den westlichen Staaten. Hier s<strong>in</strong>d<br />

Depressionen e<strong>in</strong>e weit verbreitete „Volkskrankheit“ und es werden <strong>in</strong><br />

Zukunft wahrsche<strong>in</strong>lich noch mehr Menschen daran erkranken. Natürlich gab es<br />

diese Krankheit <strong>in</strong> dem S<strong>in</strong>ne früher nicht so oft, da sich nicht jeder e<strong>in</strong>en<br />

Psychologen leisten konnte, der e<strong>in</strong>e Depression hätte diagnostizieren<br />

können. Allerd<strong>in</strong>gs existierte e<strong>in</strong> ähnliches Krankheitsbild, so dass man<br />

dies durchaus vergleichen kann. Man f<strong>in</strong>det es auch <strong>in</strong> moderner Kunst, wie<br />

bei der Band Turbostaat, die das Problem wie folgt beschreiben: „Menschen<br />

zittern heftig an dem Ort. Gefühle bleiben leise, gehen nie. Und statt dran<br />

zu ersticken, kaufen wir mal wieder e<strong>in</strong>. Das Gefühl liegt dem Sterben<br />

nah.“ 49 Hier wird auch kritisiert, dass Menschen häufig <strong>in</strong> den Konsum<br />

fliehen, e<strong>in</strong> Phänomen, welches viele Ursachen hat und auch besonders <strong>in</strong> den<br />

westlichen Wohlstandsstaaten zu f<strong>in</strong>den ist.<br />

Auch der Frage nach dem S<strong>in</strong>n Krankheiten zu heilen ist höchst aktuell. Dies<br />

wirkt sich besonders auf die moderne (auch westliche) Debatte über Sterbehilfe<br />

aus. Hier wird von vielen angezweifelt, dass es von Nutzen ist, alte<br />

Menschen, die sehr krank s<strong>in</strong>d, <strong>in</strong> Altersheimen „dah<strong>in</strong>vegetieren“ zu lassen<br />

oder ob man sie nicht „erlösen“ sollte. Solch e<strong>in</strong>e Debatte wäre damals natürlich<br />

undenkbar gewesen, da der christliche Glaube, der Sterbehilfe verbietet,<br />

bei den Menschen viel stärker vertreten war. Dieser ist <strong>in</strong> Russland<br />

nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wieder erstarkt, womit diese Debatte<br />

dort noch schwieriger se<strong>in</strong> dürfte. Des Weiteren ist das Gesundheitssystem<br />

nicht so gut ausgebaut, so dass die Debatte auch nicht so stark nötig ist.<br />

Die Situation <strong>in</strong> Krankenhäusern hat sich natürlich verbessert. Aber dennoch<br />

s<strong>in</strong>d die Zustände <strong>in</strong> russischen Beh<strong>in</strong>dertenheimen oft noch unmenschlich:<br />

„[...], weil es eben nur e<strong>in</strong>e W<strong>in</strong>del pro Tag und e<strong>in</strong>e pro Nacht gibt. Das<br />

ist aus me<strong>in</strong>er Sicht def<strong>in</strong>itiv nicht ausreichend, die K<strong>in</strong>der liegen oft <strong>in</strong><br />

ihren eigenen Exkrementen.“ 50 Die Freiwillige Sab<strong>in</strong>e N. arbeitete e<strong>in</strong> Jahr<br />

lang <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Heim für (schwerst)beh<strong>in</strong>derte K<strong>in</strong>der und konnte oft nur von<br />

schlimmen Zuständen berichten. Gewalt wird immer noch gegen die Kranken<br />

angewandt: „Zu oft habe ich gesehen, wie K<strong>in</strong>der geschlagen oder zusammengebunden,<br />

[...] wurden oder mehr als grob angefasst wurden.“ 51 Beh<strong>in</strong>derte<br />

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