Gesellschaftskritik in Anton P. Tschechows Prosawerk - Libertäres ...
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1. Historische E<strong>in</strong>ordnung: Russland am Ende des 19.<br />
Jahrhunderts<br />
Am 17. (29.) Januar 1860 wurde <strong>Anton</strong> Pawlowitsch Tschechow <strong>in</strong> Taganrog am<br />
Asowschen Meer geboren. Zu dieser Zeit regierte Zar Alexander II. <strong>in</strong><br />
Russland und setzte Reformen, wie die Bauernbefreiung 1861 zur<br />
Modernisierung des Landes durch. <strong>Tschechows</strong> Schaffensphase wurde jedoch<br />
durch die letzten 20 Jahre des 19. Jahrhunderts geprägt, also wird der<br />
Schwerpunkt auf diese gelegt.<br />
1881 wurde Alexander II. durch e<strong>in</strong> Attentat ermordet. Danach kam Zar<br />
Alexander III. an die Macht und regierte bis 1894 gefolgt von Zar Nikolaus<br />
II., der auch gleichzeitig der letzte Zar <strong>in</strong> Russlands Geschichte war.<br />
Beide verfolgten e<strong>in</strong>en streng reaktionären, autokratischen und reformfe<strong>in</strong>dlichen<br />
Kurs. Sie leiteten „Gegenreformen“ gegen die Modernisierung Alexanders<br />
II. e<strong>in</strong>. Es gab anti-jüdische Gesetze und die Vorzensur wurde nach deren<br />
vorheriger Abschaffung wiederhergestellt. So wurden Universitäten,<br />
Schulen, Presse und Justiz verschärft von der politischen Polizei, der<br />
„Ochrana“ kontrolliert. Ebenso wurde die Autonomie der Universitäten wieder<br />
aufgehoben. Russland war zu e<strong>in</strong>em Polizeistaat geworden. Auch betrieben sie<br />
e<strong>in</strong>e Russifizierung der nichtrussischen Völker auf russischem Gebiet, also<br />
e<strong>in</strong>en massiven, großrussischen Nationalismus. Außerdem war Korruption weit<br />
verbreitet.<br />
Diese Politik vergrößerte die Kluft zwischen den monarchistischen Eliten<br />
und den breiten Gesellschaftsschichten, die mit ihrer Lage zunehmend unzufrieden<br />
waren. Die also ohneh<strong>in</strong> schon ger<strong>in</strong>ge Unterstützung für das Regime<br />
schwand immer mehr. Das Staatswesen, „<strong>in</strong> dem es im Innern immer stärker<br />
gärte“ 2 , war nur noch mit Polizeigewalt zu halten.<br />
Des Weiteren kam es zu e<strong>in</strong>er mehr oder weniger starken Industrialisierung,<br />
vor allem durch französisches Kapital. Alle<strong>in</strong> zwischen 1890 und 1900 stieg<br />
die Zahl der Industriearbeiter von 1,4 Millionen auf 2,4 Millionen an. Die<br />
Bergbau- und Schwer<strong>in</strong>dustrie, die neben der Textil<strong>in</strong>dustrie am wichtigsten<br />
war, verzeichnete <strong>in</strong> den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts die höchsten<br />
Wachstumsraten Europas. Doch parallel wuchs auch das soziale Elend der<br />
immer mehr werdenden Fabrikarbeiter, die, unter erbärmlichen Arbeitsbed<strong>in</strong>gungen<br />
und mit Hungerlöhnen, 11-14 Stunden am Tag arbeiten mussten. Schon<br />
1890 sagte Friedrich Engels: „Rußland bildet die Vorhut der revolutionären<br />
Bewegung Europas“ 3 . 1898 wurde schließlich die Sozialdemokratische Partei<br />
gegründet. Diese mündete später <strong>in</strong> der Kommunistischen Partei und schließlich<br />
<strong>in</strong> den Bolschewiki unter der Führung Wladimir Len<strong>in</strong>s. Außerdem wurde<br />
1901/1902 die Partei der Sozialrevolutionäre aus der Taufe gehoben. Doch<br />
trotz voranschreitender <strong>in</strong>dustrieller Entwicklung blieb Russland e<strong>in</strong><br />
Agrarland. Die Masse der Bevölkerung waren Bauern. 1891/92 gab es e<strong>in</strong>e<br />
Missernte und daraus folgend e<strong>in</strong>e große Hungersnot. Zu Beg<strong>in</strong>n des 20.<br />
Jahrhunderts kam es dann zu e<strong>in</strong>er wachsenden Streikbewegung der Arbeiter<br />
und zu e<strong>in</strong>er Zunahme von Attentaten auf führende Persönlichkeiten des<br />
Regimes. Am 9. Januar 1905 folgte schließlich e<strong>in</strong> erster Aufstand, dem<br />
„Blutigem Sonntag“, als mehrere 1000 Arbeiter vor dem Zaren demonstrieren<br />
wollten. Jedoch schossen Soldaten <strong>in</strong> die Menge, so dass sich der Protest<br />
legte.<br />
Die wichtigsten politischen und kulturellen Strömungen dieser Zeit waren<br />
die „Westler“ und die „Slawophilen“, welche <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em starken Konflikt<br />
zue<strong>in</strong>ander standen. Die „Westler“ kämpften für e<strong>in</strong>e enge B<strong>in</strong>dung Russlands<br />
an den Westen <strong>in</strong> kultureller und politischer H<strong>in</strong>sicht und die „Slawophilen“<br />
setzten sich wiederum für e<strong>in</strong>e Rückbes<strong>in</strong>nung auf die russische<br />
Identität e<strong>in</strong>. Außerdem gab es die „Narodniki“ (russ. Volkstümler,<br />
Volksfreunde), welche revolutionäre Intellektuelle waren. Diese klärten<br />
Arbeiter und Bauern über die Missstände auf und waren die Triebfeder der<br />
Partei der Sozialrevolutionäre. Sie wollten e<strong>in</strong>en direkten Weg zum<br />
Sozialismus, ohne den Umweg über den Kapitalismus.<br />
Hier endet der geschichtliche Diskurs, da <strong>Anton</strong> Tschechow am 2. (15.) Juli<br />
1904 verstarb.<br />
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