Gesellschaftskritik in Anton P. Tschechows Prosawerk - Libertäres ...
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2.6 Das Haus mit dem Mezzan<strong>in</strong> (1896)<br />
Die Erzählung e<strong>in</strong>es Künstlers<br />
2.6.1 Inhalt<br />
In dieser Erzählung beschreibt e<strong>in</strong> Landschaftsmaler se<strong>in</strong>e Er<strong>in</strong>nerungen an<br />
e<strong>in</strong>e Zeit vor sechs oder sieben Jahren, als er bei dem Gutsbesitzer Belokurow<br />
wohnte. Damals machte er die Bekanntschaft mit der Familie der Woltschan<strong>in</strong>ows,<br />
bestehend aus der Mutter Jekater<strong>in</strong>a Pawlowna und zwei Töchtern<br />
– Lida und Shenja. Lida war die ältere von beiden und setzte sich stark für<br />
andere Menschen e<strong>in</strong>. Mit ihr kam es auch zu e<strong>in</strong>em starken Disput, da der<br />
Künstler e<strong>in</strong>er anderen Me<strong>in</strong>ung über den S<strong>in</strong>n Menschen zu helfen war. Mit<br />
Shenja jedoch verstand er sich sehr gut. Er verliebte sich sogar <strong>in</strong> sie.<br />
Sie lebte <strong>in</strong> Müßiggang und las sehr viel. Sie und ihre Mutter waren wie e<strong>in</strong><br />
Herz und e<strong>in</strong>e Seele. Sie beide wagten nicht Lida zu widersprechen. Dies<br />
hatte zur Folge, dass Shenja sich schließlich, auf Geheiß von Lida, von dem<br />
Künstler trennte. Sie reiste daraufh<strong>in</strong> mit ihrer Mutter <strong>in</strong> e<strong>in</strong> anderes<br />
Gouvernement, da Lida den Maler aufgrund dessen Ansichten nicht mochte.<br />
Dieser verließ die Gegend danach ebenfalls. Sieben Jahre später reflektiert<br />
er nun noch e<strong>in</strong>mal über diese Zeit, die für ihn e<strong>in</strong>e schöne Er<strong>in</strong>nerung und<br />
e<strong>in</strong>e verpasste Gelegenheit darstellt. Er fragt sich wehmütig, wo Shenja<br />
jetzt wohl sei.<br />
2.6.2 Deutung<br />
Kernpunkt dieser Erzählung ist hauptsächlich der Disput zwischen Lida und<br />
dem Maler. Lidas idealistische E<strong>in</strong>stellung ist es, den Menschen zu helfen,<br />
Kranke zu heilen und lesen und schreiben zu lehren. Der Künstler vertritt<br />
im Gegensatz dazu die Me<strong>in</strong>ung, dass dies s<strong>in</strong>nlos sei. Er fordert stattdessen<br />
dazu auf, dass sich alle Menschen mit dem Geistigen, mit der<br />
Wissenschaft und Kunst und mit der Suche nach dem S<strong>in</strong>n des Lebens beschäftigen<br />
sollten. Da durch die viele Arbeit und die Armut dazu allerd<strong>in</strong>gs ke<strong>in</strong>e<br />
Zeit sei, sei das lesen Lehren unnütz: „Die Beseitigung des Analphabetentums<br />
unter den Bauern, die Bücher mit billigen Moralpredigten und<br />
schönen Redensarten und die ärztlichen Stationen können weder die Unwissenheit<br />
noch die Sterblichkeitsziffer verm<strong>in</strong>dern.“ 39 Das Heilen von Krankheiten<br />
beseitige diese nicht, sondern die Ursachen müssten bekämpft werden: „Wenn<br />
schon heilen, dann nicht die Krankheiten, sondern deren Ursachen. Beseitigen<br />
sie die Hauptursache, die körperliche Arbeit und es wird auch ke<strong>in</strong>e<br />
Krankheiten mehr geben.“ 40 Er hat die, überspitzt dargestellte, Me<strong>in</strong>ung,<br />
dass die tägliche Arbeit e<strong>in</strong>es Menschen nur noch zwei Stunden dauern würde,<br />
wenn alle Menschen sich bei dieser re<strong>in</strong>teilen und dazu noch helfende<br />
Masch<strong>in</strong>en erf<strong>in</strong>den würden. Dann hätten sie Freizeit für das Geistige. Diese<br />
Ansicht hat zur Folge, dass der Maler <strong>in</strong> Müßiggang lebt und gar nichts<br />
macht, da er den Zustand, den er anstrebt, für unerreichbar hält.<br />
Lida kontert hier auch zunächst recht e<strong>in</strong>leuchtend, dass dies e<strong>in</strong>e recht<br />
bequeme E<strong>in</strong>stellung sei: „Krankenhäuser und Schulen abzulehnen ist leichter<br />
als zu heilen und zu unterrichten.“ 41 Ihre E<strong>in</strong>stellung ersche<strong>in</strong>t zunächst<br />
richtig und gut. Doch ihr Handeln lässt Zweifel an ihrer Aufrichtigkeit<br />
aufkommen. So hat sie z.B. die Macht <strong>in</strong> ihrem Hause und niemand wagt etwas<br />
gegen sie zu sagen. Beispielsweise befiehlt sie Shenja während des Streites<br />
mit dem Künstler den Raum zu verlassen. Shenja darf mit solch ‚schädlichen’<br />
Gedanken nicht <strong>in</strong> Kontakt kommen. Sie darf nicht selber darüber urteilen<br />
und muss alle<strong>in</strong> Lidas Me<strong>in</strong>ung akzeptieren. Auch mischt sich Lida <strong>in</strong> die sie<br />
eigentlich nichts angehende Beziehung Shenjas zu dem Maler e<strong>in</strong>, <strong>in</strong>dem sie<br />
sie verbietet, wozu sie ke<strong>in</strong>erlei Recht hat. Ihre Nächstenliebe, die sie<br />
predigt sche<strong>in</strong>t da nicht zu gelten. Man könnte hier eher e<strong>in</strong> gewisses egoistisches<br />
und rechthaberisches Machtstreben vermuten: Der Künstler unterwirft<br />
sich als e<strong>in</strong>ziger nicht Lida <strong>in</strong> der Familie, so dass dessen Müßiggang,<br />
im Gegensatz zu dem von Lida und der Mutter, scharf kritisiert wird.<br />
Alle<strong>in</strong> Lidas Me<strong>in</strong>ung zählt. Selbst die Kunst muss sich dem unterordnen:<br />
„noch die unvollkommenste aller Bibliotheken oder Apotheken,[...],stelle<br />
ich höher als alle Landschaftsbilder der ganzen Welt.“ 42 Ebenfalls zeigt<br />
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