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Gesellschaftskritik in Anton P. Tschechows Prosawerk - Libertäres ...

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3. Fazit<br />

Tschechow zeichnet <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Erzählungen das Bild e<strong>in</strong>er Gesellschaft voller<br />

Widersprüche. Widersprüche zwischen arm und reich, zwischen „satt“ und<br />

„hungrig“ oder zwischen Hoffnung und Desillusion. Dabei belehrt er fast nie<br />

und se<strong>in</strong>e eigene Me<strong>in</strong>ung drückt er meist <strong>in</strong>direkt aus, <strong>in</strong>dem er nur beschreibt,<br />

was er sieht.<br />

Er sieht Menschen, die oft Außenseiter s<strong>in</strong>d, wie Andrej Jefimytsch und Iwan<br />

Dmitritsch <strong>in</strong> „Krankensaal N.6“ oder der hungrige Junge <strong>in</strong> „Austern“. Es<br />

s<strong>in</strong>d Menschen, die kaum Hoffnung haben und deshalb flüchten müssen.<br />

Flüchten <strong>in</strong> die Welt der Fantasie, wie <strong>in</strong> „Austern“, <strong>in</strong>s Intellektuelle,<br />

aber weltfremde wie der Doktor <strong>in</strong> „Krankensaal Nr.6“ oder der Maler <strong>in</strong> „Das<br />

Haus mit dem Mezzan<strong>in</strong>“ oder <strong>in</strong> unhaltbare oder geheime Beziehungen wie Anna<br />

Sergejewna und Gurow <strong>in</strong> „Die Dame mit dem Hündchen“. Diese Menschen werden<br />

von der Gesellschaft nicht verstanden, nicht akzeptiert, gefürchtet oder<br />

belehrt. Diese Gesellschaft ist streng hierarchisch aufgebaut. Wer oben<br />

steht, ist etwas wert. Wer unten steht, wird verachtet. Mitgefühl wird<br />

nicht gezeigt, Verständnis <strong>in</strong> den seltensten Fällen. Wer nie leiden oder<br />

hungern musste, der sieht auch das Leid der Bevölkerung nicht und kann oder<br />

will es nicht verstehen. “Wenn man nicht wirklich krank ist, kann man den<br />

der wirklich krank ist nie ganz verstehen“ 43 , sang die Band Tomte und beschrieb<br />

dieses Problem damit sehr passend. Die Gesellschaft stellt sich mit<br />

ihren Konventionen dem Menschen <strong>in</strong> den Weg und predigt Tugend und Sittlichkeit.<br />

Wer jedoch <strong>in</strong> Armut lebt, hat gar ke<strong>in</strong>e Zeit und ke<strong>in</strong>e Möglichkeit<br />

sich mit solchen D<strong>in</strong>gen zu beschäftigen. „Erst kommt das Fressen, dann<br />

kommt die Moral. Erst muss es möglich se<strong>in</strong>, auch armen Leuten e<strong>in</strong> Stück vom<br />

Kuchen abzuschneiden“ 44 , schrieb Bertolt Brecht <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er „Dreigroschenoper“<br />

und drückt damit ebenfalls die „Frechheit“ der „Satten“ aus, die den Armen<br />

nicht helfen, aber die sie belehren. Dabei s<strong>in</strong>d diese Tugenden oft nur e<strong>in</strong>e<br />

Farce, wie die Ehe, die hier e<strong>in</strong>er Zwangsgeme<strong>in</strong>schaft gleich kommt. Es ist<br />

<strong>in</strong> dieser Zeit das wichtigste Ziel e<strong>in</strong>er jungen Person sich so schnell wie<br />

möglich zu verheiraten. Dies gilt besonders für Mädchen. Nur so kann man<br />

Anerkennung <strong>in</strong> der Gesellschaft f<strong>in</strong>den. Diese Bedeutung der Heirat ist auch<br />

<strong>in</strong> anderer Literatur dieser Zeit zu f<strong>in</strong>den, wie beispielsweise <strong>in</strong> Fjordor<br />

Dostojewskis „Der Idiot“ oder <strong>in</strong> Leo Tolstois „Anna Karen<strong>in</strong>a“. S<strong>in</strong>d die<br />

Menschen dann jedoch verheiratet, werden sie <strong>in</strong> der Ehe nicht glücklich,<br />

sondern leben e<strong>in</strong>geengt, gar gefangen. Das ist e<strong>in</strong> großer Widerspruch: Der<br />

gesellschaftliche Zwang zur Ehe und die fast konsequente Unzufriedenheit,<br />

die dieser folgt.<br />

Tschechow zeichnet auch die humanitären Missstände, wie <strong>in</strong> dem Prov<strong>in</strong>zkrankenhaus<br />

<strong>in</strong> „Krankensaal Nr.6“, den schlimmen Hunger, den e<strong>in</strong>ige Menschen<br />

ertragen müssen, während andere im Überfluss leben wie <strong>in</strong> „Austern“.<br />

Er zeigt Fabrikarbeiter die für e<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>zigen Menschen unter unmenschlichen<br />

Bed<strong>in</strong>gungen schuften, für die Gouvernante <strong>in</strong> „E<strong>in</strong> Fall aus der<br />

Praxis“. Doch viele haben nicht den Charakter und die Kraft um etwas an der<br />

Situation zu ändern, wie Lisa <strong>in</strong> „E<strong>in</strong> Fall aus der Praxis“, die die<br />

Umstände krank machen oder wie der Maler <strong>in</strong> „Das Haus mit dem Mezzan<strong>in</strong>“ und<br />

Andrej Jefimytsch die sich lieber <strong>in</strong>s Geistige flüchten.<br />

Auch der Alltag macht den Leuten zu schaffen, wie Gurow, nach beendeter<br />

Liebschaft mit Anna Sergejewna. Er kommt mit dem normalen Leben <strong>in</strong> Moskau,<br />

mit se<strong>in</strong>er Familie, se<strong>in</strong>en Freunden und der Arbeit nicht mehr zurecht. Auch<br />

Andrej Jefimytsch war mit dem alltäglichen Behandeln von Patienten schnell<br />

überfordert. Tschechow beschrieb dieses Problem auch e<strong>in</strong>mal direkt: „E<strong>in</strong>e<br />

Krise kann jeder Idiot haben. Was uns zu schaffen macht, ist der Alltag.“ 45<br />

Doch trotz aller Ausweglosigkeit, haben die Menschen ihre Hoffnung nie ganz<br />

verloren, haben zumeist noch e<strong>in</strong>en <strong>in</strong>neren ‚Sehnsuchtskompass’ behalten.<br />

Iwan Dmitritsch, der <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er hoffnungslos ausweglosen Situation lebt sagt<br />

„Leben möchte ich, leben!“ 46 Auch Gurow und Anna Sergejewna haben ihre<br />

Beziehung und die Hoffnung sie irgendwann e<strong>in</strong>mal normal leben zu können.<br />

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