Willem J. Ouweneel: Die "Lehre der Brüder" - bruederbewegung.de
Willem J. Ouweneel: Die "Lehre der Brüder" - bruederbewegung.de
Willem J. Ouweneel: Die "Lehre der Brüder" - bruederbewegung.de
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
<strong>Willem</strong> J. <strong>Ouweneel</strong><br />
<strong>Die</strong> »<strong>Lehre</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Brü<strong><strong>de</strong>r</strong>«<br />
brue<strong><strong>de</strong>r</strong>bewegung .<strong>de</strong>
Übersetzt aus: Bo<strong>de</strong> van het heil in Christus 145 (2002), Heft 1, S. 14–17;<br />
Heft 2, S. 16–18.<br />
Originaltitel: “De ‘leer van <strong>de</strong> Broe<strong><strong>de</strong>r</strong>s’” (Heft 1); “De ‘Broe<strong><strong>de</strong>r</strong>s’ en hun<br />
leer” (Heft 2)<br />
© dieser Ausgabe: 2006 brue<strong><strong>de</strong>r</strong>bewegung.<strong>de</strong><br />
Übersetzung: Frank Schönbach<br />
Bearbeitung und Satz: Michael Schnei<strong><strong>de</strong>r</strong><br />
Veröffentlicht im Internet unter<br />
http://www.brue<strong><strong>de</strong>r</strong>bewegung.<strong>de</strong>/pdf/ouweneellehre.pdf<br />
brue<strong><strong>de</strong>r</strong>bewegung .<strong>de</strong>
<strong>Die</strong> »<strong>Lehre</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Brü<strong><strong>de</strong>r</strong>«<br />
von <strong>Willem</strong> J. <strong>Ouweneel</strong><br />
Mancher Leser wird vielleicht sofort sagen: So etwas wie die »<strong>Lehre</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Brü<strong><strong>de</strong>r</strong>« gibt<br />
es gar nicht; wenn sie schon eine eigene <strong>Lehre</strong> haben, dann ist es nichts an<strong><strong>de</strong>r</strong>es als<br />
die <strong>Lehre</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Schrift. Das ist wahr; wenn wir ihre <strong>Lehre</strong> annehmen, dann <strong>de</strong>shalb, weil<br />
wir davon überzeugt sind, dass diese <strong>Lehre</strong> schriftgemäß ist. Dennoch kann niemand<br />
bestreiten, dass die »Brü<strong><strong>de</strong>r</strong>« <strong><strong>de</strong>r</strong> »Versammlung« über viele Dinge an<strong><strong>de</strong>r</strong>s gedacht haben<br />
als viele an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Christen. Aus diesem einfachen Grund habe ich von meiner frühesten<br />
Jugend an selbst renommierte Brü<strong><strong>de</strong>r</strong> von <strong><strong>de</strong>r</strong> »<strong>Lehre</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Brü<strong><strong>de</strong>r</strong>« sprechen hören. Wir<br />
wollen es einmal einfach so sagen: Was waren die spezifischen Dinge, die die »Brü<strong><strong>de</strong>r</strong>«<br />
gefun<strong>de</strong>n haben und die bei vielen an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Christen (so) nicht zu fin<strong>de</strong>n sind? Gera<strong>de</strong><br />
jetzt, wo viele Geschwister <strong><strong>de</strong>r</strong> »Versammlung« eine Art I<strong>de</strong>ntitätskrise durchzumachen<br />
scheinen, ist es gut, sich auf diese spezifischen Dinge zu besinnen.<br />
1. Zukunftslehre<br />
Zuallererst muss die <strong>Lehre</strong> von <strong><strong>de</strong>r</strong> Wie<strong><strong>de</strong>r</strong>kunft Christi vor <strong>de</strong>m tausendjährigen Frie<strong>de</strong>nsreich<br />
genannt wer<strong>de</strong>n. Der Gestalter dieser <strong>Lehre</strong>, so wie wir sie jetzt kennen, war<br />
ohne Zweifel J. N. Darby. Inzwischen ist sie übrigens vom größten Teil <strong><strong>de</strong>r</strong> internationalen<br />
evangelikalen Bewegung übernommen wor<strong>de</strong>n. Historisch wurzelt diese <strong>Lehre</strong> in <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
erneuerten Erwartung <strong><strong>de</strong>r</strong> Wie<strong><strong>de</strong>r</strong>kunft Christi, die Anfang <strong>de</strong>s 19. Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>ts im gesamten<br />
Protestantismus aufkam.<br />
Noch immer prägt diese Erwartung viele Wortverkündigungen in <strong>de</strong>n Versammlungen.<br />
Das starke Endzeitbewusstsein hat dazu geführt, dass die »Brü<strong><strong>de</strong>r</strong>« gesellschaftlichen<br />
Initiativen im Prinzip ziemlich ablehnend gegenüberstehen, auch wenn das in <strong><strong>de</strong>r</strong> Praxis<br />
weniger streng gehandhabt wird. Darby überlegte, ob es noch sinnvoll sei, mit seinem<br />
Bibelkommentar zu beginnen, »da das Kommen <strong>de</strong>s Herrn ja nahe war«, aber er hat es<br />
schließlich doch getan. <strong>Die</strong> »Brü<strong><strong>de</strong>r</strong>« haben sich auch nicht davon abhalten lassen, Missionsfel<strong><strong>de</strong>r</strong><br />
zu erschließen, Druckereien und Verlage, Sonntagsschulen, Bibelschulen und<br />
Tagesschulen zu grün<strong>de</strong>n usw.<br />
In <strong><strong>de</strong>r</strong> frühen »Brü<strong><strong>de</strong>r</strong>bewegung« erhielt das Studium <strong><strong>de</strong>r</strong> Prophetie eine beson<strong><strong>de</strong>r</strong>e<br />
Be<strong>de</strong>utung, weil man dadurch die Auffassung entwickelte, dass <strong><strong>de</strong>r</strong> verfallene Zustand <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
etablierten Kirchen in <strong><strong>de</strong>r</strong> Schrift vorausgesagt sei und sie reif wer<strong>de</strong>n lasse zum Gericht.<br />
Der englische »Brü<strong><strong>de</strong>r</strong>«-Pionier James L. Harris legte schon 1834 (in <strong><strong>de</strong>r</strong> ältesten »Brü<strong><strong>de</strong>r</strong>«-Zeitschrift,<br />
<strong>de</strong>m Christian Witness) dar, dass eine <strong><strong>de</strong>r</strong> Segnungen <strong>de</strong>s Studiums <strong>de</strong>s<br />
prophetischen Wortes darin bestehe, dass es viele zur Überzeugung vom »gegenwärtigen<br />
<strong>de</strong>generierten Zustand <strong>de</strong>s Gemein<strong>de</strong> Gottes« bringe: »Es gibt ein großes Thema, über das<br />
[wir] uns einig sind: Gericht, nicht Herrlichkeit, [ist] für die bekennen<strong>de</strong> Kirche [aufbewahrt].<br />
Das nächste Han<strong>de</strong>ln Gottes gegenüber <strong><strong>de</strong>r</strong> Kirche wird sein, dass er <strong>de</strong>n Weinstock<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> Er<strong>de</strong> in die Kelter <strong>de</strong>s Grimmes <strong>de</strong>s allmächtigen Gottes wirft« [Offb 14,19].<br />
Siehe hierzu weiter Punkt (3).<br />
2. Gemein<strong>de</strong>lehre<br />
In engem Zusammenhang mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Zukunftslehre muss die »Brü<strong><strong>de</strong>r</strong>«-<strong>Lehre</strong> von <strong><strong>de</strong>r</strong> Gemein<strong>de</strong><br />
betrachtet wer<strong>de</strong>n. So wie das prophetische Wort über <strong>de</strong>n Verfall <strong><strong>de</strong>r</strong> christlichen<br />
Kirche Licht gebe, mache die biblische <strong>Lehre</strong> von <strong><strong>de</strong>r</strong> Gemein<strong>de</strong> <strong>de</strong>utlich, wie sie eigentlich<br />
sein und funktionieren sollte. Daneben mache diese <strong>Lehre</strong> auch <strong>de</strong>utlich, was <strong><strong>de</strong>r</strong>
WILLEM J. OUWENEEL: DIE »LEHRE DER BRÜDER« 4<br />
Unterschied zwischen <strong><strong>de</strong>r</strong> Gemein<strong>de</strong> und Israel sei. <strong>Die</strong> Erwartung <strong><strong>de</strong>r</strong> baldigen Wie<strong><strong>de</strong>r</strong>herstellung<br />
Israels – kurz vor und bei <strong><strong>de</strong>r</strong> Erscheinung Christi, aber nach <strong><strong>de</strong>r</strong> »Entrückung«<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> Gemein<strong>de</strong> – beinhalte einen fundamentalen Unterschied zwischen (<strong><strong>de</strong>r</strong><br />
Haushaltung von) Israel und <strong><strong>de</strong>r</strong> (Haushaltung <strong><strong>de</strong>r</strong>) Gemein<strong>de</strong>. Israel sei Gottes »irdisches«<br />
Volk mit irdischen Segnungen und einer irdischen Erwartung (nämlich <strong>de</strong>s messianischen<br />
Reiches auf <strong><strong>de</strong>r</strong> Er<strong>de</strong>, so wie es in <strong>de</strong>n tausend Jahren nach <strong><strong>de</strong>r</strong> Wie<strong><strong>de</strong>r</strong>kunft verwirklicht<br />
wer<strong>de</strong>). <strong>Die</strong> Gemein<strong>de</strong> jedoch (die nicht mit Adam begonnen habe, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n mit<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> Ausgießung <strong>de</strong>s Heiligen Geistes in Apg 2) sei Gottes »himmlisches« Volk mit himmlischen<br />
Segnungen, einer himmlischen Stellung (in Christus in <strong>de</strong>n himmlischen Örtern)<br />
und einer himmlischen Erwartung (nämlich <strong>de</strong>m Vaterhaus).<br />
<strong>Die</strong> praktische Konsequenz, die viele »Brü<strong><strong>de</strong>r</strong>« aus dieser »himmlischen« Stellung<br />
zogen, war, dass sie sich z. B. von Kunst, Politik, Berufsverbän<strong>de</strong>n und <strong><strong>de</strong>r</strong>gleichen fern<br />
hielten, ganz im Sinne <strong><strong>de</strong>r</strong> Täufer und <strong><strong>de</strong>r</strong> »Na<strong><strong>de</strong>r</strong>e Reformatie«, aber mit einer eigenen<br />
Begründung. An<strong><strong>de</strong>r</strong>e haben hier freiere Auffassungen, <strong>de</strong>nn sie betonen, dass die himmlische<br />
Stellung in irdischen Beziehungen verwirklicht wird, die nicht auf Ehen, Familien<br />
und örtliche Gemein<strong>de</strong>n beschränkt sind.<br />
J. N. Voorhoeve nahm 1919 im Bo<strong>de</strong> übrigens schon eine differenzierte Haltung gegenüber<br />
Berufsverbän<strong>de</strong>n ein: »… dass, wo es um gesellschaftliche Zustän<strong>de</strong> geht, eine<br />
Vereinigung mit An<strong><strong>de</strong>r</strong>s<strong>de</strong>nken<strong>de</strong>n erlaubt und auch erwünscht sein kann. Man muss dann<br />
aber genau prüfen, wozu man sich verpflichtet, und austreten, wenn dort falsche Dinge<br />
geschehen« (S. 15f.).<br />
3. Geschichtsauffassung<br />
Eng verbun<strong>de</strong>n sowohl mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Zukunftslehre als auch mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Gemein<strong>de</strong>lehre ist die <strong>Lehre</strong><br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> alten »Brü<strong><strong>de</strong>r</strong>«, dass die Haushaltung <strong><strong>de</strong>r</strong> Kirche durch fortschreiten<strong>de</strong>n Verfall<br />
gekennzeichnet sei – einen Verfall, <strong><strong>de</strong>r</strong> schon in <strong><strong>de</strong>r</strong> apostolischen Zeit begonnen, aber in<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> Zeit Kaiser Konstantins <strong>de</strong>s Großen einen großen Sprung abwärts gemacht habe. (<strong>Die</strong><br />
Auffassung über die »Bekehrung« Konstantins und ihre Folgen ist in je<strong><strong>de</strong>r</strong> christlichen<br />
Geschichtsbetrachtung ein Schibboleth und ein Prüfstein!) In <strong><strong>de</strong>r</strong> heutigen Endzeit, kurz<br />
vor <strong><strong>de</strong>r</strong> Wie<strong><strong>de</strong>r</strong>kunft Christi, habe die Christenheit ihren größten Verfall erreicht. <strong>Die</strong>s<br />
war <strong><strong>de</strong>r</strong> Grund für das Bestreben <strong><strong>de</strong>r</strong> alten »Brü<strong><strong>de</strong>r</strong>«, inmitten <strong><strong>de</strong>r</strong> Christenheit einen<br />
treuen, abgeson<strong><strong>de</strong>r</strong>ten Überrest zu bil<strong>de</strong>n, <strong><strong>de</strong>r</strong> sich geistlich für die Begegnung mit <strong>de</strong>m<br />
wie<strong><strong>de</strong>r</strong>kommen<strong>de</strong>n Herrn bereitmacht. John G. Bellett, ein »Bru<strong><strong>de</strong>r</strong>« <strong><strong>de</strong>r</strong> ersten Stun<strong>de</strong><br />
– genannt »die Nachtigall« unter <strong>de</strong>n »Brü<strong><strong>de</strong>r</strong>n« –, schrieb in seinen »Erinnerungen«, dass<br />
»es prophetische Wahrheiten gibt, bei <strong>de</strong>nen man immer spürt, dass sie zu je<strong>de</strong>m kirchlichen<br />
System, das sich mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Welt verbin<strong>de</strong>t, mehr o<strong><strong>de</strong>r</strong> weniger im Wi<strong><strong>de</strong>r</strong>spruch stehen«<br />
– wie es unter Konstantin <strong>de</strong>m Großen geschehen war. <strong>Die</strong> (übrige) Christenheit, die<br />
sich selbst gerichtsreif machte, wur<strong>de</strong> daher mehr o<strong><strong>de</strong>r</strong> weniger abgeschrieben, auch wenn<br />
man durchaus anerkannte, dass es darin einzelne treue Gläubige gebe; diese seien jedoch<br />
unwissend, <strong>de</strong>nn sonst wür<strong>de</strong>n sie sich auch abson<strong><strong>de</strong>r</strong>n. (<strong>Die</strong>se Auffassung war gegenüber<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> englischen Staatskirche übrigens etwas besser zu rechtfertigen als in <strong><strong>de</strong>r</strong> nie<strong><strong>de</strong>r</strong>ländischen<br />
Situation, wo es im 19. Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>t eine »Afscheiding« und eine »Doleantie«<br />
gab, die ebenso von Heiligungsmotiven inspiriert waren.)<br />
Der ehemalige Prediger Henry Borlase, <strong><strong>de</strong>r</strong> sich schon früh <strong>de</strong>n »Brü<strong><strong>de</strong>r</strong>n« anschloss<br />
und <strong><strong>de</strong>r</strong> erste Redakteur ihrer ersten Zeitschrift, <strong>de</strong>s Christian Witness, wur<strong>de</strong>, sagte 1833<br />
über die Christen zur Zeit Konstantins <strong>de</strong>s Großen: »Sie fielen in <strong><strong>de</strong>r</strong> Tat, aber das geschah<br />
nur in <strong>de</strong>m Maße, wie durch das Aufweichen <strong><strong>de</strong>r</strong> apostolischen Anordnungen <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
Geist <strong><strong>de</strong>r</strong> Welt Eingang unter ihnen fand; und <strong><strong>de</strong>r</strong> Zaun, <strong>de</strong>n Gott um sein eigenes Volk<br />
errichtet hatte und durch <strong>de</strong>n es gegen alle Angriffe <strong><strong>de</strong>r</strong> Verfolgung hatte bestehen kön-
WILLEM J. OUWENEEL: DIE »LEHRE DER BRÜDER« 5<br />
nen, wur<strong>de</strong> durch das arglistige Eindringen weltlicher Interessen untergraben, bis endlich<br />
alles zu einem allgemeinen Strom <strong>de</strong>s Abfalls verschmolz.« »Bru<strong><strong>de</strong>r</strong>« Robert Mackenzie<br />
Beverley sah 1831 die Ursache für <strong>de</strong>n »Abfall« <strong><strong>de</strong>r</strong> »ursprünglichen niedrigen Stellung<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> Kirche« in <strong>de</strong>m Aufkommen und <strong><strong>de</strong>r</strong> Macht einer Priesterklasse innerhalb <strong><strong>de</strong>r</strong> Kirche,<br />
die in <strong><strong>de</strong>r</strong> Zeit Konstantins verstärkt wor<strong>de</strong>n sei, als die Kirche mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Welt verflochten<br />
wur<strong>de</strong>. George V. Wigram beschrieb Konstantin im Christian Witness (1834) als »einen<br />
König und einen Großen in dieser Welt, in <strong><strong>de</strong>r</strong> es Satan erlaubt wur<strong>de</strong>, ein an<strong><strong>de</strong>r</strong>es und<br />
zweites Monument <strong>de</strong>s Sieges über <strong>de</strong>n Menschen aufzurichten«; diese Erhebung <strong>de</strong>s<br />
(natürlichen) Menschen in <strong><strong>de</strong>r</strong> Kirche wur<strong>de</strong> als das Kennzeichen <strong>de</strong>s Ver<strong><strong>de</strong>r</strong>bens <strong>de</strong>s<br />
Christentums schlechthin angesehen, so wie die Apostel es gepredigt hatten.<br />
H. C. Voorhoeve nahm im Bo<strong>de</strong> (1894) sogar ausdrücklich gegen die gängige Auffassung<br />
über Konstantin Stellung: »In <strong>de</strong>n meisten Kirchengeschichten wird die Aufnahme<br />
Kaiser Konstantins in die christliche Kirche und die darauf folgen<strong>de</strong> Christianisierung <strong>de</strong>s<br />
römischen Reiches <strong><strong>de</strong>r</strong> Triumph <strong>de</strong>s Christentums genannt, und die Ereignisse im 3. Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>t<br />
wer<strong>de</strong>n als Glanzpunkt in <strong><strong>de</strong>r</strong> Geschichte <strong><strong>de</strong>r</strong> Kirche bezeichnet. Doch diese Kirchengeschichten<br />
sind vom Menschen geschrieben, und <strong><strong>de</strong>r</strong> Mensch ist lügnerisch; Gott<br />
allein ist wahrhaftig. In Gottes Kirchengeschichte [Offb 2,12–17!] wird diese Tatsache<br />
ganz an<strong><strong>de</strong>r</strong>s beurteilt. Sie wird darin <strong><strong>de</strong>r</strong> abscheulichen Bosheit Bileams gleichgestellt, <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
<strong>de</strong>n heiligen Samen mit <strong>de</strong>n gottlosen Menschen <strong><strong>de</strong>r</strong> Welt zu vereinigen und dadurch zu<br />
ver<strong><strong>de</strong>r</strong>ben versuchte. Zwar ist die Welt durch diese Vereinigung äußerlich etwas besser<br />
gewor<strong>de</strong>n; aber die Gemein<strong>de</strong> hat ihren Charakter verloren, ihre Berufung verleugnet,<br />
ihren Herrn verunehrt und ihre Herrlichkeit preisgegeben.«<br />
Was ist <strong><strong>de</strong>r</strong> Weg aus diesem Verfall? <strong>Die</strong> »Brü<strong><strong>de</strong>r</strong>« sahen sehr scharf, was <strong><strong>de</strong>r</strong> Weg<br />
nicht war:<br />
Keine Arroganz und kein gemeindlicher Hochmut, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n Demütigung und Schuldbekenntnis.<br />
<strong>Die</strong> »Brü<strong><strong>de</strong>r</strong>« erkannten, dass sie nicht besser waren als die an<strong><strong>de</strong>r</strong>en und dass<br />
auch sie am allgemeinen Verfall <strong><strong>de</strong>r</strong> Christenheit teilhatten. <strong>Die</strong> Tatsache, dass sie für<br />
diesen Verfall ein Auge hatten, machte sie nicht zu besseren Christen, im Gegenteil, sie<br />
wollten die Ersten sein, die sich über diesen Verfall <strong>de</strong>mütigten. Soweit wir heute ihren<br />
Herzenszustand beurteilen können – wie er aus ihren Schriften <strong>de</strong>utlich wer<strong>de</strong>n muss –,<br />
taten sie das auch. Das be<strong>de</strong>utet nicht, dass nirgendwo in ihren Schriften zumin<strong>de</strong>st <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
Schein von Arroganz erweckt wor<strong>de</strong>n sein kann, aber alles in allem haben sie die Notwendigkeit<br />
von Reue und Bekehrung immer wie<strong><strong>de</strong>r</strong> unterstrichen. So schrieb James Harris<br />
1837: »Es gibt einen vollkommenen Plan, Gottes eigenen Plan: seine eigene Gemeinschaft,<br />
die Gemein<strong>de</strong>; aber wer kann sagen, dass wir ihn erfüllt haben? Gera<strong>de</strong> das Bestehen<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> verschie<strong>de</strong>nen Gemeinschaften ist ein Beweis für <strong>de</strong>n gefallenen und niedrigen<br />
Zustand <strong><strong>de</strong>r</strong> Gemein<strong>de</strong>, <strong><strong>de</strong>r</strong> eher nach Demütigung und Kummer schreit als nach Glückwünschen.<br />
Das Wort ist gewiss: ›Sei eifrig und tue Buße‹ [Offb 3,19]«.<br />
Kein selbst erdachter Weg aus <strong><strong>de</strong>r</strong> Sackgasse, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n Gehorsam gegenüber <strong>de</strong>m<br />
Wort. <strong>Die</strong> »Brü<strong><strong>de</strong>r</strong>« nahmen es <strong>de</strong>n Freikirchen übel, dass sie viel Böses (z. B. was die<br />
Kirchenstruktur betrifft) aus <strong><strong>de</strong>r</strong> Staatskirche übernommen hatten o<strong><strong>de</strong>r</strong> dass ihr praktischer<br />
moralischer Zustand noch schlimmer war als <strong><strong>de</strong>r</strong> in <strong><strong>de</strong>r</strong> Staatskirche (z. B. durch die<br />
endlosen Feh<strong>de</strong>n untereinan<strong><strong>de</strong>r</strong>; in <strong>de</strong>n Nie<strong><strong>de</strong>r</strong>lan<strong>de</strong>n u. a. zehn verschie<strong>de</strong>ne Gruppen<br />
von Reformierten) o<strong><strong>de</strong>r</strong> dass sie sich Lösungen für <strong>de</strong>n kirchlichen Verfall ausgedacht<br />
hatten, die durch die Umstän<strong>de</strong> bestimmt waren und nicht zuerst durch die Schrift. Immer<br />
wie<strong><strong>de</strong>r</strong> unterstrichen die »Brü<strong><strong>de</strong>r</strong>« die Notwendigkeit, rigoros zu <strong>de</strong>n neutestamentlichen<br />
Gemein<strong>de</strong>grundsätzen zurückzukehren und sie wie<strong><strong>de</strong>r</strong>herzustellen. So fragte Henry Borlase<br />
1833 in Bezug auf die reine und göttliche Art <strong>de</strong>s apostolischen Christentums: »Ist es<br />
<strong>de</strong>nn wie<strong><strong>de</strong>r</strong>hergestellt wor<strong>de</strong>n nach <strong>de</strong>m Muster, das uns im Wort schriftlich hinterlassen
WILLEM J. OUWENEEL: DIE »LEHRE DER BRÜDER« 6<br />
ist als Rahmen jener ursprünglichen Einrichtung, <strong><strong>de</strong>r</strong>en Erbauer Gott selbst war durch <strong>de</strong>n<br />
Heiligen Geist? O<strong><strong>de</strong>r</strong> hat es eine Rückkehr zu <strong><strong>de</strong>r</strong> apostolischen <strong>Lehre</strong> gegeben, eine völlige<br />
Befreiung von <strong>de</strong>n Erfindungen, mit <strong>de</strong>nen die Macht <strong><strong>de</strong>r</strong> Finsternis die reinen Verordnungen<br />
Christi umwickelt hatte?«<br />
Keine Imitation <strong><strong>de</strong>r</strong> frühen Kirche, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n Rückkehr zu ihren Grundsätzen. Viele<br />
Geschichtsschreiber <strong><strong>de</strong>r</strong> »Brü<strong><strong>de</strong>r</strong>bewegung« haben <strong>de</strong>n Primitivismus dieser Bewegung,<br />
d. h. das Bestreben, zu <strong>de</strong>n Grundsätzen <strong>de</strong>s Neuen Testaments zurückzukehren, mit Restorationismus<br />
verwechselt, d. h. mit <strong>de</strong>m Bestreben, <strong>de</strong>n ursprünglichen Zustand <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
neutestamentlichen Gemein<strong>de</strong> wie<strong><strong>de</strong>r</strong>herzustellen. James P. Callahan hat in einer neueren<br />
Studie (Primitivist Piety, 1996) ausführlich gezeigt, dass die ersten »Brü<strong><strong>de</strong>r</strong>« zwar »Primitivisten«<br />
waren, aber durchaus keine »Restorationisten«. Es hätte auch im Wi<strong><strong>de</strong>r</strong>spruch<br />
zu ihrer Sicht <strong><strong>de</strong>r</strong> Kirchengeschichte gestan<strong>de</strong>n, wenn sie gemeint hätten, <strong>de</strong>n ursprünglichen<br />
Zustand <strong><strong>de</strong>r</strong> Gemein<strong>de</strong> rekonstruieren o<strong><strong>de</strong>r</strong> imitieren zu können. Davon war jedoch<br />
keine Re<strong>de</strong>. »Zurück zum Wort«, riefen sie, nicht »zurück zur Anfangszeit«. John<br />
N. Darby schrieb sogar ganz offen, dass es nicht Gottes Wille sei, dass die Gemein<strong>de</strong> auf<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> Er<strong>de</strong> zu ihrer »ursprünglichen Herrlichkeit wie<strong><strong>de</strong>r</strong>hergestellt« wer<strong>de</strong>: »Gehorsam und<br />
nicht die Imitation <strong><strong>de</strong>r</strong> Apostel ist unsere Pflicht in solchen Umstän<strong>de</strong>n (…) es ist kein<br />
Gehorsam, die Taten <strong><strong>de</strong>r</strong> Apostel zu imitieren. (…) ich sage, dass Gott treuen Christen<br />
Anweisungen für <strong>de</strong>n Zustand hinterlassen hat, in <strong>de</strong>m sich die Kirche jetzt befin<strong>de</strong>t. Das<br />
Befolgen dieser Anweisungen ist ein viel echterer Gehorsam, als wenn wir versuchten, die<br />
Apostel zu imitieren; und <strong><strong>de</strong>r</strong> Geist Gottes ist immer bei uns, um uns auf diesem Weg<br />
echten Gehorsams zu stärken.«
<strong>Die</strong> »Brü<strong><strong>de</strong>r</strong>« und ihre <strong>Lehre</strong><br />
von <strong>Willem</strong> J. <strong>Ouweneel</strong><br />
In einem früheren Artikel (siehe die Januarnummer) haben wir begonnen, uns die Frage<br />
zu stellen: Was waren die spezifischen Dinge, die die »Brü<strong><strong>de</strong>r</strong>« gefun<strong>de</strong>n haben und die<br />
bei vielen an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Christen (so) nicht zu fin<strong>de</strong>n sind? Gera<strong>de</strong> jetzt, wo viele Geschwister<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> »Versammlung« eine Art I<strong>de</strong>ntitätskrise durchzumachen scheinen, erschien es uns<br />
gut, uns auf Themen wie (1) Zukunftslehre, (2) Gemein<strong>de</strong>lehre, (3) Geschichtsauffassung<br />
zu besinnen – und in diesem Artikel setzen wir diese Reihe von Themen fort.<br />
4. Gemein<strong>de</strong>leitung<br />
<strong>Die</strong> <strong>Lehre</strong> vom Verfall (siehe <strong>de</strong>n vorigen Punkt) hatte im 19. Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>t interessanterweise<br />
u. a. zur Folge, dass viele »Brü<strong><strong>de</strong>r</strong>« meinten, in <strong>de</strong>n »Versammlungen« könne es<br />
keine Ältesten geben, weil biblische Ältesten immer über die ganze örtliche Gemein<strong>de</strong><br />
gesetzt seien, während die Versammlungen <strong><strong>de</strong>r</strong> »Brü<strong><strong>de</strong>r</strong>« überall nur einen Teil dieser<br />
örtlichen Gemein<strong>de</strong>n ausmachten. Heute wird dieses Argument seltener gebraucht, weil<br />
nicht einzusehen ist, warum dieselbe sündige Zerrissenheit nicht auch Zucht und Abendmahlsfeier<br />
unmöglich machen sollte.<br />
Aber viele Versammlungen haben nicht nur keine angestellten Ältesten, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n das<br />
Erste, was oft an <strong>de</strong>n »Brü<strong><strong>de</strong>r</strong>n« auffällt, ist, dass sie auch »keinen Pfarrer haben«. Für die<br />
ersten »Brü<strong><strong>de</strong>r</strong>« war die Abneigung gegen »das« Amt, wie es sich in <strong>de</strong>n etablierten Kirchen<br />
entwickelt hatte, charakteristisch. »Bru<strong><strong>de</strong>r</strong>« Samuel P. Tregelles, ein Textkritiker,<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> eine bekannt gewor<strong>de</strong>ne eigene Textausgabe <strong>de</strong>s griechischen Neuen Testaments<br />
veröffentlichte, berichtete 1894 über die frühe Versammlung in Plymouth: »Das Beson<strong><strong>de</strong>r</strong>e<br />
bei ihnen war, dass sie von Gott her die Freiheit hatten, alle Gaben zu gebrauchen, die<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> Heilige Geist ihnen geben wür<strong>de</strong>, unabhängig von menschlicher Anstellung o<strong><strong>de</strong>r</strong> Ernennung.«<br />
Und John Bellett schrieb über die wirklich biblische Wortverkündigung: »Kein<br />
geordneter Gottesdienst, keine Reihe fleischlicher Verordnungen kann ihrem Ziel entsprechen;<br />
kein übertragenes o<strong><strong>de</strong>r</strong> zeitliches Amt kann ihre Pflichten erfüllen o<strong><strong>de</strong>r</strong> sich ihrer<br />
entledigen; keine solche Autorität wird von ihr anerkannt. Im Menschen besteht immer<br />
eine Neigung zu <strong>de</strong>n bloßen Wegen <strong><strong>de</strong>r</strong> Natur und <strong>de</strong>s Laufs <strong><strong>de</strong>r</strong> Welt, und um etwas<br />
Geistliches und Lebendiges wie die Gemein<strong>de</strong> zu erhalten, ist es <strong><strong>de</strong>r</strong> natürliche, ja notwendige<br />
Weg (…), ganz neu Licht und Kraft hervorzubringen, um [die biblische Wortverkündigung]<br />
zu beleben.«<br />
5. Haltung gegenüber <strong><strong>de</strong>r</strong> Theologie<br />
Eine an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Konsequenz <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Lehre</strong> vom Verfall war das Misstrauen gegen alles, was<br />
Theologie heißt, was man auch beim extrem rechten Flügel <strong><strong>de</strong>r</strong> Bevin<strong>de</strong>lijk-Reformierten<br />
fin<strong>de</strong>t. Alle Irrtümer <strong><strong>de</strong>r</strong> Kirchengeschichte seien aus <strong><strong>de</strong>r</strong> Theologie hervorgegangen, <strong>de</strong>shalb<br />
sollten sich die »Brü<strong><strong>de</strong>r</strong>« lieber davon fern halten. Hinzu kam oft ein irrationalistisches<br />
Misstrauen gegen <strong>de</strong>n »verdorbenen menschlichen Verstand«, als ob nicht je<strong>de</strong><br />
Form von Bibelstudium <strong>de</strong>n Verstand erfor<strong><strong>de</strong>r</strong>te und als ob dieser Verstand nicht sowohl<br />
beim Bibelstudium als auch in <strong><strong>de</strong>r</strong> Theologie unter <strong><strong>de</strong>r</strong> Leitung <strong>de</strong>s Heiligen Geistes stehen<br />
könnte.<br />
Darby, <strong><strong>de</strong>r</strong> die Theologie ja intensiv studiert hatte, hatte durchaus kein sehr positives<br />
Bild von <strong>de</strong>n Theologen seiner Zeit. So schrieb er u.a.: »Sobald man das Wort untersucht,<br />
zeigt sich, dass die Theologie und die Theologen überhaupt nichts wert sind.« Und an
WILLEM J. OUWENEEL: DIE »BRÜDER« UND IHRE LEHRE 8<br />
an<strong><strong>de</strong>r</strong>er Stelle: »Ich wer<strong>de</strong> wohl kaum beschuldigt wer<strong>de</strong>n, die Theologie und <strong>de</strong>n Dogmatismus<br />
aufrechtzuerhalten. Ich betrachte sie mit Abscheu. (…) Für die meisten, die sich<br />
damit beschäftigen, ist die Theologie wie ein Chirurg, <strong><strong>de</strong>r</strong> seinen Freund seziert, anstatt<br />
ihn zu lieben. Aber Wahrheit, die nicht Christus ist, ist nichts an<strong><strong>de</strong>r</strong>es als Dogma.« Was<br />
die protestantische Scholastik und die Aufklärungstheologie seiner Zeit betrifft, hatte er<br />
vollkommen Recht!<br />
Manche <strong><strong>de</strong>r</strong> ersten »Brü<strong><strong>de</strong>r</strong>« waren übrigens theologisch sehr gut bewan<strong><strong>de</strong>r</strong>t, und es<br />
hat auch immer »Brü<strong><strong>de</strong>r</strong>« gegeben – wenn auch nicht viele –, die die Gefahr <strong>de</strong>s Biblizismus<br />
und <strong>de</strong>s Irrationalismus erkannten und sich eine soli<strong>de</strong> Kenntnis <strong><strong>de</strong>r</strong> biblischen<br />
Grundsprachen sowie exegetischer und dogmatischer Werke aneigneten. Dennoch fehlt<br />
<strong>de</strong>n »Brü<strong><strong>de</strong>r</strong>n« eine gediegene exegetische Tradition; beson<strong><strong>de</strong>r</strong>s im 20. Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>t gibt<br />
es aus ihren Reihen herzlich wenig Vers-für-Vers-Bibelkommentare, die von <strong>de</strong>n Grundsprachen<br />
ausgehen und die exegetische Literatur kritisch berücksichtigen.<br />
Das Fehlen einer theologischen Ausbildung hat die Bibelkenntnis unter <strong>de</strong>n »Brü<strong><strong>de</strong>r</strong>n«<br />
übrigens eher geför<strong><strong>de</strong>r</strong>t als beeinträchtigt. So konnte nämlich nicht die Gefahr entstehen,<br />
dass die Schriftkenntnis auf eine Handvoll Professioneller beschränkt blieb. Außer<strong>de</strong>m<br />
– direkt damit verbun<strong>de</strong>n – weiß je<strong><strong>de</strong>r</strong> (junge) »Bru<strong><strong>de</strong>r</strong>«, dass er eines Tages vom<br />
Herrn zur Wortverkündigung in <strong><strong>de</strong>r</strong> gemeindlichen Zusammenkunft berufen wer<strong>de</strong>n<br />
könnte. <strong>Die</strong> Verkündigung ist ja nicht an Ämter gebun<strong>de</strong>n, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n an bestimmte Gaben<br />
(charismata) <strong>de</strong>s <strong>Die</strong>nstes am Wort, die sich in <strong><strong>de</strong>r</strong> Gemein<strong>de</strong> offenbaren. <strong>Die</strong>ser für je<strong>de</strong>n<br />
begabten Bru<strong><strong>de</strong>r</strong> zugängliche »Laiendienst« ist ein starkes Motiv, um die Schrift gut zu<br />
studieren (abgesehen natürlich von <strong><strong>de</strong>r</strong> normalen Liebe zur Bibel, die für alle bibeltreuen<br />
Christen charakteristisch ist).<br />
6. Typologie<br />
<strong>Die</strong> »Brü<strong><strong>de</strong>r</strong>«-Auslegung beson<strong><strong>de</strong>r</strong>s <strong><strong>de</strong>r</strong> historischen Bücher <strong>de</strong>s Alten Testaments, aber<br />
auch z. B. <strong><strong>de</strong>r</strong> Evangelien ist stark von <strong><strong>de</strong>r</strong> typologischen Herangehensweise geprägt. Einer<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> wichtigsten Ausleger unter <strong>de</strong>n »Brü<strong><strong>de</strong>r</strong>n«, William Kelly, schrieb 1856 in The<br />
Bible Treasury: »Je<strong><strong>de</strong>r</strong> verständige Christ wird zustimmen, dass das Thema <strong><strong>de</strong>r</strong> Typen<br />
(Vorbil<strong><strong>de</strong>r</strong>) sehr interessant und wichtig ist. Es ist jedoch auffallend, dass viele davor zurückschrecken,<br />
als ob es ein verbotenes, gefährliches Gebiet wäre, in ständigen Nebel<br />
gehüllt, durch <strong>de</strong>n von Zeit zu Zeit nur mühsam einige Strahlen <strong>de</strong>s Sonnenscheins dringen<br />
…«<br />
In gewisser Hinsicht unterschei<strong>de</strong>t sich diese Typologie nicht so sehr von <strong>de</strong>m, was<br />
man die reformierte typologische Betrachtungsweise <strong><strong>de</strong>r</strong> prophetischen Bücher nennen<br />
könnte, wo Israel z.B. typologisch für die neutestamentliche Gemein<strong>de</strong> steht. Während in<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> reformierten Tradition die typologische Auslegung <strong><strong>de</strong>r</strong> historischen Bücher viel mehr<br />
im Hintergrund steht, haben die »Brü<strong><strong>de</strong>r</strong>« ihrerseits die »wörtliche« Auslegung <strong><strong>de</strong>r</strong> Prophetien<br />
(»Israel« ist das ethnische Israel) so stark betont, dass sie die typologische Auslegung<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> prophetischen Bücher vernachlässigt haben. <strong>Die</strong> historische Typologie wird<br />
natürlich stark von <strong><strong>de</strong>r</strong> Zukunftslehre bestimmt: So ist Lea z. B. ein Vorbild <strong><strong>de</strong>r</strong> »himmlischen«<br />
Braut (<strong><strong>de</strong>r</strong> Gemein<strong>de</strong>) und Rahel ein Vorbild <strong><strong>de</strong>r</strong> »irdischen« Braut Christi (Israel);<br />
Josef und David als Verfolgte sind Vorbil<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>de</strong>s lei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Christus (verbun<strong>de</strong>n mit<br />
<strong>de</strong>m lei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Überrest Israels während <strong><strong>de</strong>r</strong> »großen Drangsal«, nach <strong><strong>de</strong>r</strong> »Entrückung«<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> Gemein<strong>de</strong>), Josef und David als Erhöhte sind Vorbil<strong><strong>de</strong>r</strong> von Christus im tausendjährigen<br />
Frie<strong>de</strong>nsreich.<br />
<strong>Die</strong> Typologie hat insofern auch wie<strong><strong>de</strong>r</strong> Konsequenzen für die Gemein<strong>de</strong>lehre, als<br />
Regeln für Gemein<strong>de</strong>leitung und -zucht mit Hilfe <strong><strong>de</strong>r</strong> Typologie stark auf die zeremoniellen<br />
Gesetze Moses gegrün<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n. Dass ein gewisses Maß an Willkür dabei nicht zu
WILLEM J. OUWENEEL: DIE »BRÜDER« UND IHRE LEHRE 9<br />
vermei<strong>de</strong>n ist, beweisen die fortwähren<strong>de</strong>n Diskussionen unter <strong>de</strong>n »Brü<strong><strong>de</strong>r</strong>n« über die<br />
Anwendung dieser Typologie. <strong>Die</strong> große Vorliebe für die Typologie lässt manchmal auch<br />
die »normale«, wörtliche Auslegung <strong>de</strong>s Alten Testaments etwas in <strong>de</strong>n Hintergrund treten.<br />
Viele Bibelkommentare <strong><strong>de</strong>r</strong> »Brü<strong><strong>de</strong>r</strong>« haben <strong>de</strong>nn auch eher einen typologischen und<br />
erbaulichen als einen streng exegetischen Charakter.<br />
Ein treffen<strong>de</strong>s Beispiel ist <strong><strong>de</strong>r</strong> Kommentar über die fünf Bücher Mose von Charles H.<br />
Mackintosh (1820–1896) – auf Deutsch in fünf Bän<strong>de</strong>n unter <strong>de</strong>m Titel Betrachtungen<br />
über das erste usw. Buch Mose erschienen –, <strong><strong>de</strong>r</strong> zu <strong>de</strong>n weltweit am meisten verbreiteten<br />
Schriften <strong><strong>de</strong>r</strong> »Brü<strong><strong>de</strong>r</strong>« gehört. In einer anonymen Broschüre aus <strong>de</strong>m Jahr 1874 lesen<br />
wir: »Das Lesen <strong><strong>de</strong>r</strong> Schriften von C.H. Mackintosh (…) gab [D.L. Moody] eine Grundlage<br />
für die Kenntnis seiner Bibel, wodurch ganz Schottland Segen erfahren hat. (…) C. H.<br />
Spurgeon [erzählte], dass er, nach<strong>de</strong>m er durch ein Buch sehr erbaut wor<strong>de</strong>n war, an <strong>de</strong>n<br />
Autor schrieb, um sich bei ihm zu bedanken, und es stellte sich heraus, dass <strong><strong>de</strong>r</strong> Autor ein<br />
›Plymouth-Bru<strong><strong>de</strong>r</strong>‹ war – nämlich C. H. Mackintosh –, und das Buch waren die Betrachtungen<br />
über das zweite Buch Mose.«<br />
Der große chinesische Gottesmann Watchman Nee sagte einmal: »C. H. Mackintosh,<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> die Betrachtungen über die fünf Bücher Mose schrieb, stellte die Kenntnis <strong><strong>de</strong>r</strong> Vorbil<strong><strong>de</strong>r</strong><br />
wie<strong><strong>de</strong>r</strong> her. D. L. Moody sagte, dass, wenn alle Bücher <strong><strong>de</strong>r</strong> Welt verbrannt wer<strong>de</strong>n<br />
sollten, er zufrie<strong>de</strong>n wäre, wenn er nur eine Bibel und einen Satz <strong><strong>de</strong>r</strong> Betrachtungen über<br />
die fünf Bücher Mose von Mackintosh besäße.« <strong>Die</strong>s ist eins <strong><strong>de</strong>r</strong> Beispiele für <strong>de</strong>n bleiben<strong>de</strong>n<br />
Wert mancher Schriften <strong><strong>de</strong>r</strong> »Brü<strong><strong>de</strong>r</strong>« aus <strong>de</strong>m 19. Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>t.