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Martin Ott: Der Darbysmus - bruederbewegung.de

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<strong>Martin</strong> <strong>Ott</strong><br />

<strong>Der</strong> <strong>Darbysmus</strong><br />

<strong>brue<strong>de</strong>rbewegung</strong> .<strong>de</strong>


Auszug aus: Kirchen und Sekten <strong>de</strong>r Gegenwart. Unter Mitarbeit<br />

verschie<strong>de</strong>ner evangelischer Theologen herausgegeben von Pfarrer<br />

Ernst Kalb. Stuttgart (Verlag <strong>de</strong>r Buchhandlung <strong>de</strong>r Evang. Gesellschaft)<br />

1905. S. 384–396.<br />

Zeichengetreuer Abdruck. Sperrdruck <strong>de</strong>r Vorlage ist durch Kursivdruck,<br />

Antiqua durch Groteskschrift wie<strong>de</strong>rgegeben. Die Seitenzahlen <strong>de</strong>s<br />

Originals sind in eckigen Klammern und kleinerer, roter Schrift eingefügt.<br />

© dieser Ausgabe: 2009 <strong>brue<strong>de</strong>rbewegung</strong>.<strong>de</strong><br />

Texterfassung und Satz: Michael Schnei<strong>de</strong>r<br />

Veröffentlicht im Internet unter<br />

http://www.<strong>brue<strong>de</strong>rbewegung</strong>.<strong>de</strong>/pdf/ott.pdf<br />

<strong>brue<strong>de</strong>rbewegung</strong> .<strong>de</strong>


[384]<br />

6. Kapitel: <strong>Der</strong> <strong>Darbysmus</strong>.<br />

Von Stadtpfarrer <strong>Martin</strong> <strong>Ott</strong> in Nie<strong>de</strong>rnhall (Württemberg).<br />

Literatur: Realenzyklopädie von Herzog-Hauck 4. Band. Palmer, Gemeinschaften und Sekten in Württemberg,<br />

1877. Rohnert, Kirche, Kirchen und Sekten, 5. Aufl. 1900. Sandmann, J. N. Darby und die Versammlung,<br />

Mülheim a. d. Ruhr 1902. O. Grunewald, die Darbysten &c. in »Jahrbücher für <strong>de</strong>utsche Theologie«<br />

XV., S. 706–733.<br />

§ 57. Geschichte <strong>de</strong>s <strong>Darbysmus</strong>.<br />

<strong>Der</strong> <strong>Darbysmus</strong> stellt keine so große kirchengeschichtliche Bewegung dar, wie etwa <strong>de</strong>r<br />

Methodismus o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Baptismus; aber er ist be<strong>de</strong>utsam durch seinen radikalen In<strong>de</strong>pen<strong>de</strong>ntismus,<br />

durch seine abson<strong>de</strong>rlich schroffe Ablehnung aller kirchlichen Organisation<br />

überhaupt. Man könnte ihn die Sekte <strong>de</strong>r Sekten nennen, auch <strong>de</strong>shalb, weil er sich – wie<br />

ja auch die an<strong>de</strong>ren, aber noch mehr als sie – grundsätzlich und ausschließlich an die<br />

christlich angeregten und erweckten Glie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Kirche macht, um sie für sich zu gewinnen.<br />

Es fin<strong>de</strong>n sich <strong>de</strong>shalb in darbystischen Kreisen viele Christen, vor <strong>de</strong>ren gediegener<br />

Frömmigkeit wir alle Achtung haben müssen, und von <strong>de</strong>nen nur zu bedauern ist, daß sie<br />

unserer Kirche entgangen sind.<br />

Die Anhänger dieser Sekte heißen sich selbst nicht, wie bei uns üblich gewor<strong>de</strong>n, Darbysten,<br />

son<strong>de</strong>rn »Brü<strong>de</strong>r«; sie nennen ihre Gemeinschaft »die Versammlung«, d. h. die<br />

einzige Gemeinschaft <strong>de</strong>r wahren Christen im Gegensatz zu jeglicher Kirchengemeinschaft<br />

in irgend welcher Form. Außer diesem von <strong>de</strong>n Mitglie<strong>de</strong>rn selber geprägten, gleichsam<br />

dogmatischen Namen, führt die Sekte auch die Bezeichnung »Plymouthbrü<strong>de</strong>r«, freilich<br />

nicht ganz mit Recht. Plymouthbrü<strong>de</strong>r gab es bevor es Darbysten gab. Darby ist nicht <strong>de</strong>r<br />

Anfänger <strong>de</strong>r Bewegung, <strong>de</strong>r die Plymouthbrü<strong>de</strong>r entstammen, aber er ist ihr be<strong>de</strong>utendster<br />

Vertreter, obwohl er selber kein be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong>r Mann war.<br />

John Nelson Darby wur<strong>de</strong> als <strong>de</strong>r jüngste Sohn vornehmer Eltern am 18. November<br />

1800 in London geboren; auch seine erste Schulbildung erhielt er dort. Doch waren seine<br />

Eltern Irlän<strong>de</strong>r, und in Irland, seiner eigentlichen Heimat, hat Darby auch, in <strong>de</strong>m berühmten<br />

Trinity College zu Dublin, seine weitere Ausbildung erhalten. Im Sommer 1819<br />

bezog er die Universität, um sich nach <strong>de</strong>m Wunsch seines Vaters juristischen Studien zu<br />

widmen. Er wur<strong>de</strong> Rechtsanwalt, blieb es aber nicht lange, <strong>de</strong>nn eine »Bekehrung« erzeugte<br />

in ihm <strong>de</strong>n Entschluß, Pfarrer zu wer<strong>de</strong>n. So studierte er noch einmal, und zwar<br />

Theologie. Wie Luther, an <strong>de</strong>ssen Studienlauf wir hier erinnert wer<strong>de</strong>n, erregte auch Darby<br />

mit diesem Schritt <strong>de</strong>n Unwillen seines Vaters, <strong>de</strong>r ihn enterbte; doch wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Sohn<br />

dafür reichlich entschädigt durch ein be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong>s Vermächtnis, das ihm ein Oheim hinterließ.<br />

Im Jahr 1826 erhielt er die Priesterweihe; so ward er in <strong>de</strong>n Klerus <strong>de</strong>r anglikanischen<br />

Staatskirche aufgenommen, und damit sein Herzenswunsch [385] erfüllt; <strong>de</strong>nn seine<br />

kirchliche Gesinnung, und zwar im Sinn <strong>de</strong>s englischen Staatskirchentums, hatte ihn ins<br />

kirchliche Amt geführt. Allein seine Stellung zu diesem Staatskirchentum wur<strong>de</strong> bald<br />

innerlich eine an<strong>de</strong>re; sie führte ihn schließlich auch zum äußeren Bruch.<br />

Schon als Stu<strong>de</strong>nt hatte Darby in Dublin die Bekanntschaft <strong>de</strong>r sogen. »Plymouthbrü<strong>de</strong>r«<br />

gemacht. In Plymouth und Dublin hatten sich nämlich im Jahr 1826 gläubige<br />

Christen aus <strong>de</strong>r Hochkirche zusammengeschlossen zu Privatversammlungen, in <strong>de</strong>nen sie<br />

anfangs, wie die <strong>de</strong>utschen pietistischen Gemeinschaftskreise Gemeinschaft <strong>de</strong>s Wortes<br />

und <strong>de</strong>s Gebets pflegten. Später kam dann auch noch eine beson<strong>de</strong>re Feier <strong>de</strong>s Abend-


MARTIN OTT: DER DARBYSMUS 4<br />

mahls dazu. Sie blieben aber ruhig in <strong>de</strong>r Staatskirche und nannten sich »Brü<strong>de</strong>r.« Viele<br />

unter ihnen waren gewiß einfache schlichte Christen und edle Menschen[.] Weil sie in<br />

Plymouth beson<strong>de</strong>rs stark vertreten waren, nannte man sie Plymouthbrü<strong>de</strong>r. Es war eine<br />

Gemeinschaft, keine Sekte.<br />

Die antistaatskirchlichen I<strong>de</strong>en dieser Kreise fan<strong>de</strong>n <strong>de</strong>n jungen Darby nicht unvorbereitet.<br />

Er hatte selbst schon Stellung genommen zur Staatskirche und davon auch öffentlich<br />

Zeugnis abgelegt. In <strong>de</strong>n damaligen Kämpfen um die Gleichberechtigung <strong>de</strong>r irischen<br />

Katholiken hatte Darby eine gegen die englische Staatskirche gerichtete Schrift veröffentlicht,<br />

nach <strong>de</strong>ren Lektüre ihm ein anglikanischer Geistlicher sagte: »Sie müssen Dissenter<br />

wer<strong>de</strong>n!« Darby glaubte dies damals noch nicht; doch hatten die I<strong>de</strong>en von einer »geistlichen<br />

Gemeinschaft« im Unterschied von <strong>de</strong>r ungeistlichen Staatskirche schon begonnen<br />

in ihm wach zu wer<strong>de</strong>n. Sie wur<strong>de</strong>n durch die Bekanntschaft mit einem »Bru<strong>de</strong>r« noch<br />

mehr geweckt. Es war dies A. M. Groves von Plymouth, <strong>de</strong>r 1825 nach Dublin kam, einer<br />

jener merkwürdigen Männer, <strong>de</strong>ren England im letzten Jahrhun<strong>de</strong>rt so manche hervorgebracht<br />

und beherbergt hat. Er war Zahnarzt gewesen und ein reicher Mann gewor<strong>de</strong>n,<br />

faßte aber in vorgerücktem Alter noch <strong>de</strong>n Entschluß, Theologie zu studieren. Dieser<br />

Mann war sehr unbefriedigt von <strong>de</strong>r Art, wie in <strong>de</strong>r Staatskirche das Abendmahl gefeiert<br />

wur<strong>de</strong>; er bewog die Teilnehmer an <strong>de</strong>n Erbauungsaben<strong>de</strong>n, die damals in <strong>de</strong>r Dubliner<br />

Gesellschaft Mo<strong>de</strong> waren, zu einer Separatfeier <strong>de</strong>s Abendmahls, das er Brotbrechen<br />

nannte. Eine Konsequenz dieser Praxis war die Verwerfung <strong>de</strong>s kirchlichen Amtes. Groves<br />

blieb nicht auf halbem Wege stehen, er fühlte sich nicht mehr als Glied <strong>de</strong>r Staatskirche<br />

und gab sein Studium auf. Er bil<strong>de</strong>te sich ein Tolstoiartiges Christentum <strong>de</strong>r Bergpredigt<br />

und zog mit seiner Familie 1829 als Missionar zu <strong>de</strong>n Muhammedanern. Nach<strong>de</strong>m<br />

er sein ganzes Vermögen verausgabt hatte, starb er 1853 im Hause seines Schwagers, <strong>de</strong>s<br />

bekannten Georg Müller zu Bristol.<br />

Darby hatte diese Gedanken Groves von Kirche und Abendmahl in sich aufgenommen,<br />

blieb aber zunächst noch in <strong>de</strong>r Staatskirche. Er wirkte als Vikar auf <strong>de</strong>r Pfarrei<br />

Calary in <strong>de</strong>r Grafschaft Wicklow. Dort lernte er auf <strong>de</strong>m benachbarten Landsitz <strong>de</strong>r<br />

Lady Powerscourt irvingianische Gedanken kennen, die für seine Dogmatik von beson<strong>de</strong>rer<br />

Be<strong>de</strong>utung wur<strong>de</strong>n; hier bekam sein Denken die eschatologische Richtung auf das<br />

Wie<strong>de</strong>rkommen <strong>de</strong>s Herrn. Seine Stellung zur Staatskirche war unter<strong>de</strong>ssen eine solche<br />

gewor<strong>de</strong>n, daß er an <strong>de</strong>r Lehre von <strong>de</strong>r Verfassung, <strong>de</strong>r Kirche und <strong>de</strong>r Sukzession ihrer<br />

Wür<strong>de</strong>nträger irre wur<strong>de</strong>. 1828 trat er aus, nach<strong>de</strong>m er die Ansicht gewonnen hatte, »daß<br />

es keine so unwissen<strong>de</strong> und übel eingerichtete Gemeinschaft gebe, wie die Kirche von<br />

England.« Er durchlebte nun eine Zeit innerer Unklarheit und Gärung. Er wohnte zwei<br />

Jahre lang in Calary- [386] bog, einem luftigen Hochsitz über <strong>de</strong>r See, in einer Bauernhütte,<br />

wo er <strong>de</strong>m hl. Antonius gleich sein Äußeres so vernachlässigte, daß er einem Bettler<br />

glich. Er war ein Erweckungsprediger gewor<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r die Leute auf das nahe Wie<strong>de</strong>rkommen<br />

<strong>de</strong>s Herrn vorbereiten wollte. Eine Reise nach Oxford und Plymouth brachte ihm<br />

mehr Klarheit; er wur<strong>de</strong> dort entschie<strong>de</strong>ner Plymouthbru<strong>de</strong>r und wirkte als Wan<strong>de</strong>rprediger<br />

in Irland. Sein weiterer Entwicklungsgang entfernte ihn jedoch immer mehr auch von<br />

dieser Gemeinschaft, bis er eine neue grün<strong>de</strong>te, die »Versammlung«. Es zeigte sich gar<br />

bald, daß er eine tüchtige Portion Ehrgeiz, Rechthaberei und Prophetenbewußtsein besaß.<br />

Sein Freund Groves schrieb ihm 1836 einen Brief, worin er ihm in liebevoller Weise vorhielt,<br />

daß er Gefahr laufe, von <strong>de</strong>n Grundsätzen <strong>de</strong>r Brü<strong>de</strong>r abzuweichen und auf die<br />

Bahn sektiererischer Son<strong>de</strong>rbestrebungen zu kommen. Groves hatte recht. Darby verbreitete<br />

seine Grundsätze so eifrig unter <strong>de</strong>n Brü<strong>de</strong>rn, daß bald mehrere Spaltungen in <strong>de</strong>r<br />

bisher so einigen Gemeinschaft entstan<strong>de</strong>n. Als dies geschehen war, schloß er sich mit<br />

seinen Anhängern streng von allen an<strong>de</strong>rn Brü<strong>de</strong>rn ab. Auch <strong>de</strong>r edle Georg Müller von


MARTIN OTT: DER DARBYSMUS 5<br />

Bristol vermochte ihm nicht zu folgen, und das ist kein gutes Zeugnis für Darby. Die Anhänger<br />

Darbys bekamen bald <strong>de</strong>n Namen »Exklusiv-Brü<strong>de</strong>r«. Die Exklusivität ist auch am<br />

meisten charakteristisch für diese Sekte.<br />

Im Jahr 1838 wandte sich Darby nach <strong>de</strong>m europäischen Festland, zunächst nach<br />

Paris und Genf, wo er zwei Jahre lang blieb. 1840 kam er nach Lausanne, von wo aus er<br />

verschie<strong>de</strong>ne längere Reisen nach Frankreich, Deutschland und Amerika unternahm. Er<br />

liebte das Reisen; noch in seinem 80. Jahre blieb er nur über <strong>de</strong>n Winter still sitzen: im<br />

Frühjahr war er in Südfrankreich, im Sommer in Irland, im Herbst in Schottland, im Winter<br />

in London, wo er in <strong>de</strong>r Priory im Stadtteil Islington »residierte«. Er blieb bis ins hohe<br />

Alter rüstig; noch am 28. März 1882 schrieb er einen Brief. Vier Wochen später, am 29.<br />

April 1882, starb er in <strong>de</strong>m sü<strong>de</strong>nglischen Ba<strong>de</strong>ort Bournemouth. Er war nie verheiratet.<br />

<strong>Der</strong> <strong>Darbysmus</strong> ist also entstan<strong>de</strong>n (als beson<strong>de</strong>re Sekte) durch Separation von <strong>de</strong>n<br />

Plymouthbrü<strong>de</strong>rn; und diese Separation war nicht die einzige. Auch diese Gemeinschaft<br />

liefert mit ihren Ablegern einen Beitrag zu <strong>de</strong>r bunten Musterkarte religiöser Denominationen<br />

in England. Christologische Streitigkeiten führten zur Separation <strong>de</strong>r sogen.<br />

»Newtonianer«, welche die Sündlosigkeit <strong>de</strong>r menschlichen Natur Christi bezweifeln.<br />

Ihnen trat eine an<strong>de</strong>re Partei gegenüber, <strong>de</strong>ren Haupt Georg Müller in Bristol war, nach<br />

ihm »Mülleriten« genannt. Sie waren die gemäßigtesten und vernünftigsten. Die dritte<br />

Gruppe unter <strong>de</strong>n Plymouthbrü<strong>de</strong>rn scharte sich um Darby.<br />

Allein auch Darby hat es nicht vermocht, die Exklusivbrü<strong>de</strong>r alle unter seiner Prophetenautorität<br />

zu behalten. Auch hier gaben christologische Differenzen <strong>de</strong>n Ausschlag.<br />

Darby, <strong>de</strong>r im übrigen auf theologische Bildung nicht viel hielt, und als Feind namentlich<br />

<strong>de</strong>r klassischen Studien einen Stil schrieb, welcher zwar eine gewisse natürliche Gewandtheit<br />

zeigt, aber für einen <strong>de</strong>utschen Theologen nur mit Selbstverleugnung lesbar ist, hatte<br />

1858 und 1859 zwei Schriften veröffentlicht mit abson<strong>de</strong>rlichen Gedanken über das Lei<strong>de</strong>n<br />

Christi [387] (»Christus hat nicht bloß zur Versöhnung für alle Menschen gelitten,<br />

son<strong>de</strong>rn noch beson<strong>de</strong>rs auch aus Mitleid im voraus die Lei<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Ju<strong>de</strong>n getragen, welche<br />

als <strong>de</strong>r Rest Israels <strong>de</strong>reinst selig wer<strong>de</strong>n, aber als Nachkommen <strong>de</strong>r Mör<strong>de</strong>r Christi<br />

beson<strong>de</strong>re Strafen zu tragen hatten.«) Viele seiner Freun<strong>de</strong> wandten sich solchen Einfällen<br />

gegenüber von Darby ab. Im Jahr 1866 kam es zum Bruch. Damals entstan<strong>de</strong>n die »Kellyten«,<br />

die »Cleffiten« und die eigentlichen Darbysten. Die ehemaligen Brü<strong>de</strong>r sprachen<br />

sich gegenseitig die Seligkeit ab und schlossen einan<strong>de</strong>r von <strong>de</strong>r Abendmahlsgemeinschaft<br />

aus.<br />

Was die Ausbreitung <strong>de</strong>s <strong>Darbysmus</strong> betrifft, so war Darby unermüdlich für sie tätig.<br />

<strong>Der</strong> unruhige Mann betätigte eine wahre Reisewut: dreimal ging er nach Amerika, bis<br />

nach San Franzisko, ja bis nach Neu-Seeland. In Amerika wer<strong>de</strong>n 24 verschie<strong>de</strong>ne Gruppen<br />

von Darbysten gezählt, die zusammen nach einer Zählung vom Jahr 1890 über 6600<br />

Kommunikanten zählen, sich aber sehr exklusiv gegeneinan<strong>de</strong>r verhalten. In England<br />

wer<strong>de</strong>n 750 Versammlungen gezählt. In Frankreich fin<strong>de</strong>n sie sich zu Paris, Lyon, Marseille,<br />

Nizza, Cannes u. a. O. Den größten Anhang auf <strong>de</strong>m Kontinent hat sich <strong>de</strong>r <strong>Darbysmus</strong><br />

verschafft in <strong>de</strong>r französischen Schweiz: er zählt dort über 60 örtliche Versammlungen,<br />

die größten in Lausanne und Vevey. Im Jahr 1840 war Darby dorthin gekommen,<br />

angekündigt als ein wahrhaft apostolischer Mann; die Gemüter waren durch die Auflösung<br />

<strong>de</strong>r Dissi<strong>de</strong>ntengemein<strong>de</strong> in Lausanne, sowie durch das Eindringen <strong>de</strong>s Methodismus<br />

ziemlich erregt. Darby wirkte durch Re<strong>de</strong>n in Versammlungen sowie durch Traktate für<br />

seine Sache und gewann Leute von <strong>de</strong>n verschie<strong>de</strong>nsten Bildungsgra<strong>de</strong>n. Doch war <strong>de</strong>r<br />

Eindruck, <strong>de</strong>n seine Persönlichkeit hinterließ, nicht <strong>de</strong>r beste. Auf einer Versammlung<br />

sämtlicher Dissi<strong>de</strong>ntenparteien, zu <strong>de</strong>r er gela<strong>de</strong>n war, benahm er sich mit solch unerträglicher<br />

Anmaßung und Unduldsamkeit, daß <strong>de</strong>r Nimbus eines halben Heiligen in <strong>de</strong>n Au-


MARTIN OTT: DER DARBYSMUS 6<br />

gen vieler verschwand. Das Harte, Herrische, Hochfahren<strong>de</strong> seines Wesens kam hier beson<strong>de</strong>rs<br />

zum Vorschein. Doch ist jene Gegend heute noch eine Hochburg <strong>de</strong>s <strong>Darbysmus</strong><br />

in Europa.<br />

In Deutschland faßte die Sekte zuerst im Wuppertal festen Bo<strong>de</strong>n. In dieser religiös so<br />

erregbaren und fruchtbaren Gegend hatte sich 1850 ein »Evangelischer Brü<strong>de</strong>rverein«<br />

gebil<strong>de</strong>t. Mitglie<strong>de</strong>r konnten entschie<strong>de</strong>ne Christen aus allen Kirchen und Gemeinschaften<br />

wer<strong>de</strong>n, die Vereinigung stand auf <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Allianz; ihr Zweck war »Sün<strong>de</strong>r zu<br />

Christo zu bekehren«, wozu Sendboten o<strong>de</strong>r Lehrbrü<strong>de</strong>r ausgeschickt wur<strong>de</strong>n. Die Mehrzahl<br />

dieser Lehrbrü<strong>de</strong>r – bis auf drei – traten 1852 zum <strong>Darbysmus</strong> über. Die Seele dieser<br />

Übertrittsbewegung war das Vorstandsmitglied Karl Brockhaus, ein [388] früherer Volksschullehrer.<br />

Nach<strong>de</strong>m diese Lehrbrü<strong>de</strong>r zum Austritt aus <strong>de</strong>m Verein bewogen wor<strong>de</strong>n<br />

waren, wur<strong>de</strong>n sie seit 1853 die wirksamsten Arbeiter für die darbystischen I<strong>de</strong>en in<br />

West<strong>de</strong>utschland mit <strong>de</strong>m Hauptquartier in Elberfeld. Darby selber war 1878 dort; doch<br />

hat die Verbindung dieser rheinisch-westfälischen Darbysten mit <strong>de</strong>n englischen seit <strong>de</strong>m<br />

Anfang <strong>de</strong>r 90er Jahre aufgehört; allerhand Lehrdifferenzen namentlich bezüglich <strong>de</strong>r<br />

Kin<strong>de</strong>rtaufe hatten zum Bruch geführt. Das stillschweigend anerkannte Haupt <strong>de</strong>r Mehrzahl<br />

<strong>de</strong>r west<strong>de</strong>utschen Darbysten ist Brockhaus. In seinem Elberfel<strong>de</strong>r Verlag erscheint<br />

auch eine darbystische Zeitschrift unter <strong>de</strong>m Titel »Botschafter <strong>de</strong>s Heils in Christo.« Die<br />

Gesamtzahl <strong>de</strong>r Mitglie<strong>de</strong>r beträgt in Deutschland etwa 3000; in Westfalen und <strong>de</strong>n<br />

Rheinlan<strong>de</strong>n je gegen 800, im Nassauischen gegen 1100, beson<strong>de</strong>rs in Wiesba<strong>de</strong>n. In Bayern,<br />

Thüringen und Ostpreußen fin<strong>de</strong>n sich noch vereinzelte »Brü<strong>de</strong>r«.<br />

Ein gerüsteter Streiter ist <strong>de</strong>r darbystischen Sache erstan<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>m preußischen Generalleutnant<br />

z. D. von Viebahn, <strong>de</strong>r seit etwa 1875 zur »Versammlung« gehört. Er hat<br />

ein weitverbreitetes Schriftchen geschrieben: »Was ich bei <strong>de</strong>n Christen gefun<strong>de</strong>n habe,<br />

die sich nur im Namen Jesu versammeln«. Er preist beson<strong>de</strong>rs die Elberfel<strong>de</strong>r Bibelübersetzung<br />

an als ein »Gottesgeschenk, das <strong>de</strong>n <strong>de</strong>utschen Christen durch die Versammlung<br />

gegeben ist«, und stellt sogar in Aussicht, daß diese Übersetzung die Lutherbibel noch<br />

verdrängen wer<strong>de</strong>. Herr von Viebahn stiftet übrigens großen Segen durch seine in <strong>de</strong>r<br />

<strong>de</strong>utschen Armee weitverbreiteten »Zeugnisse eines alten Soldaten;« auch hält er allgemeine<br />

Evangelisationsversammlungen ab beson<strong>de</strong>rs für Soldaten und Offiziere, was gewiß<br />

nur zu begrüßen ist, da diese Versammlungen keine Propaganda machen sollen für <strong>de</strong>n<br />

<strong>Darbysmus</strong>. Unter seiner Führung hat sich eine Gemeinschaft gläubiger Offiziere gebil<strong>de</strong>t;<br />

zur Pflege <strong>de</strong>rselben dient die von V. herausgegebene Zeitschrift: »Schwert und Schild«.<br />

In Württemberg bekannten sich bei <strong>de</strong>r letzten Volkszählung 1900 nur 30 zum <strong>Darbysmus</strong><br />

(1890: 40), in Wirklichkeit ist <strong>de</strong>r Anhang <strong>de</strong>r Versammlung wohl viel größer. <strong>Der</strong><br />

<strong>Darbysmus</strong> wur<strong>de</strong> hier im Jahr 1847 importiert in Tübingen, wo ein aus Elberfeld gebürtiger<br />

Hauslehrer, namens Peter Nippel, Gemeinschaftsleute so bearbeitete, daß nach verschie<strong>de</strong>nen<br />

Zusammenstößen mit <strong>de</strong>n kirchlichen Behör<strong>de</strong>n 24 Personen aus <strong>de</strong>r Lan<strong>de</strong>skirche<br />

austraten. Als im Jahr 1851 die Familie <strong>de</strong>s Hauslehrers von Tübingen verzog,<br />

fristete die Sekte, die sogar einmal von Darby besucht wur<strong>de</strong>, nur noch ein kümmerliches<br />

Dasein, teils in Tübingen teils in Stuttgart. Mehrere ernüchterte Glie<strong>de</strong>r traten wie<strong>de</strong>r in<br />

die Lan<strong>de</strong>skirche zurück; von <strong>de</strong>r Oberkirchenbehör<strong>de</strong> wur<strong>de</strong> nur verlangt, daß sie nach<br />

vorbereiten<strong>de</strong>m Unterricht Handtreue ablegten, worauf sie wie<strong>de</strong>r zur Abendmahlsgemeinschaft<br />

zugelassen wur<strong>de</strong>n.<br />

<strong>Der</strong> <strong>Darbysmus</strong> scheint im Rückgang begriffen zu sein. Das [389] Prinzip <strong>de</strong>r Exklusivität,<br />

<strong>de</strong>m er huldigt, scheint zur Selbstzersetzung zu führen. Je mehr die Kirche selbst in<br />

nüchterner, schriftgemäßer Weise <strong>de</strong>m vorhan<strong>de</strong>nen Gemeinschaftsbedürfnis, <strong>de</strong>m nicht<br />

immer in genügen<strong>de</strong>r Weise Rechnung getragen wur<strong>de</strong>, entgegenkommt, um so mehr wird<br />

auch <strong>de</strong>m <strong>Darbysmus</strong> mit seinen mannigfachen Abson<strong>de</strong>rlichkeiten <strong>de</strong>r Bo<strong>de</strong>n entzogen<br />

wer<strong>de</strong>n.


MARTIN OTT: DER DARBYSMUS 7<br />

§ 58. Lehre und Kultus <strong>de</strong>s <strong>Darbysmus</strong>.<br />

Die Lehre <strong>de</strong>s <strong>Darbysmus</strong> ist noch nicht systematisch behan<strong>de</strong>lt und dargestellt wor<strong>de</strong>n.<br />

Darby selber war nichts weniger als systematisch veranlagt, er war viel zu unruhig dazu.<br />

Und wenn man überhaupt von einem System <strong>de</strong>s <strong>Darbysmus</strong> re<strong>de</strong>n kann, so ist <strong>de</strong>ssen<br />

Darstellung sehr erschwert durch die Formlosigkeit <strong>de</strong>r Schriften Darbys und <strong>de</strong>r darbystischen<br />

Literatur überhaupt. Er war aller Wissenschaft abhold – sie ist nach seiner Ansicht<br />

Teufelsarbeit – beson<strong>de</strong>rs <strong>de</strong>r Theologie. Die darbystischen Schriften entbehren <strong>de</strong>shalb<br />

jeglichen wissenschaftlichen Charakters, da ist kein ruhiger logischer Gedankenaufbau,<br />

aber viel Unbestimmtheit, Unklarheit, selbst Wi<strong>de</strong>rsprüche. Ihre Form ist meist die <strong>de</strong>s<br />

erbaulichen Traktats. Es wird in ihnen viel operiert mit <strong>de</strong>m Schriftbeweis, alles wird aus<br />

Gottes Wort bewiesen, aber mittelst einer gewaltsamen, wun<strong>de</strong>rlichen Exgese [sic], die<br />

einzelne Worte und Sätze aus <strong>de</strong>m Zusammenhang reißt und reichlich allegorisiert. Die<br />

Versammlung hat eine eigene Bibelübersetzung (Elberfel<strong>de</strong>r). Dieselbe ist wohl durchgehends<br />

wörtlicher, aber eben darum in <strong>de</strong>n meisten Fällen nicht richtiger als die Lutherbibel.<br />

Es fehlt ihr die Volkstümlichkeit und das, was eine Übersetzung erst zur Übersetzung<br />

macht. Erfreulicherweise kann konstatiert wer<strong>de</strong>n, daß <strong>de</strong>r Gebrauch <strong>de</strong>r Elberfel<strong>de</strong>r<br />

Übersetzung nach Ausgabe <strong>de</strong>r revidierten Lutherbibel außerhalb <strong>de</strong>r darbystischen Kreise<br />

abgenommen hat.<br />

<strong>Der</strong> <strong>Darbysmus</strong> ist auf englischem Bo<strong>de</strong>n entstan<strong>de</strong>n; seine Lehre trägt also im großen<br />

und ganzen, von <strong>de</strong>n Beson<strong>de</strong>rheiten abgesehen, calvinisches Gepräge. Da seine Opposition<br />

sich nicht eigentlich gegen das Dogma <strong>de</strong>r Kirche richtet, son<strong>de</strong>rn gegen ihre äußere<br />

Gestalt, Organisation, Verfassung und Praxis, so sind die eigentümlichen Anschauungen<br />

darbystischer Lehre auf letzterem Gebiet zu suchen, wenn auch ihre Ansicht über die<br />

Kirche rückwirkt auf an<strong>de</strong>re Punkte <strong>de</strong>r christlichen Lehre, von <strong>de</strong>r Heiligung, von <strong>de</strong>n<br />

Sakramenten und von <strong>de</strong>n letzten Dingen.<br />

Am wichtigsten ist Urteil und Stellung <strong>de</strong>s <strong>Darbysmus</strong> zum geschichtlich gewor<strong>de</strong>nen<br />

Kirchentum.<br />

a) Lehre von <strong>de</strong>r Kirche und vom geistlichen Amt. <strong>Der</strong> geschichtliche Abriß hat schon<br />

gezeigt, daß <strong>de</strong>r <strong>Darbysmus</strong> entstan<strong>de</strong>n ist im [390] Gegensatz gegen das anglikanische<br />

Kirchentum. Das Fundament <strong>de</strong>r anglikanischen Kirchenverfassung ist die Sukzession <strong>de</strong>r<br />

Bischöfe von <strong>de</strong>r Apostel Zeiten her. Darby erkannte <strong>de</strong>n grellen Wi<strong>de</strong>rspruch zwischen<br />

<strong>de</strong>r beanspruchten Göttlichkeit dieser Institution und <strong>de</strong>m Zustand <strong>de</strong>r anglikanischen<br />

Kirche, in <strong>de</strong>m er wenig Göttliches fand. Die anglikanische Geistlichkeit war auch z. T.<br />

sehr weltlich gewor<strong>de</strong>n. Statt nun aber sich zu sagen, daß an diesem Wi<strong>de</strong>rspruch die<br />

beson<strong>de</strong>re anglikanische Form <strong>de</strong>s Kirchentums, Geistlichkeit und Volk von England wesentlich<br />

schuldig sei, und statt Matth. 13, 24–30 zu beachten, kam Darby zu <strong>de</strong>m radikalen<br />

Schluß: Daran ist überhaupt das Kirchentum, die verfassungsmäßige Einrichtung <strong>de</strong>r<br />

Kirche mit ihrem Amt schuldig, die ganze Kirche, so wie sie ist, ist vom Übel, ja ist vom<br />

Teufel. Im Verfolg dieser Gedanken kam er auf merkwürdige I<strong>de</strong>en über <strong>de</strong>n neunten<br />

Artikel unseres christlichen Glaubensbekenntnisses und zu <strong>de</strong>m Ergebnis, daß die Kirche<br />

eine ungöttliche, eine wi<strong>de</strong>rgöttliche Einrichtung und zu mei<strong>de</strong>n sei.<br />

Des genaueren stellt sich seine Anschauung folgen<strong>de</strong>rmaßen dar:<br />

<strong>Der</strong> <strong>de</strong>rmalige Zustand <strong>de</strong>r Kirche wi<strong>de</strong>rspricht <strong>de</strong>m biblischen Begriff vom Wesen <strong>de</strong>r<br />

Kirche. Er schöpft diesen hauptsächlich aus Epheser 5, 25–27: »Ihr Männer liebet eure<br />

Weiber, gleichwie …, damit er sich selbst die Kirche darstellte ohne irgend einen Flecken<br />

o<strong>de</strong>r eine Runzel o<strong>de</strong>r etwas <strong>Der</strong>artiges, son<strong>de</strong>rn damit sie heilig sei und ta<strong>de</strong>llos« (nach<br />

<strong>de</strong>r darbystischen Übersetzung). Dieser I<strong>de</strong>albegriff <strong>de</strong>r Kirche ist für die Reformatoren


MARTIN OTT: DER DARBYSMUS 8<br />

verwirklicht in <strong>de</strong>r »unsichtbaren« Kirche (vergl. § 17)[.] Nach Darby soll aber diese i<strong>de</strong>ale<br />

Kirche, die Gemeinschaft <strong>de</strong>r Heiligen, sichtbar realisiert wer<strong>de</strong>n und sie war es einst in<br />

<strong>de</strong>r apostolischen Zeit; die gegenwärtige Kirche ist aber keine Gemeinschaft von Heiligen<br />

mehr, keine reine, ta<strong>de</strong>llose Jungfrau, son<strong>de</strong>rn ein Weib mit viel Flecken und Runzeln.<br />

Also ist die gegenwärtige Kirche nicht mehr die Kirche im biblischen Sinn, sie ist zu verwerfen.<br />

Sein Verwerfungsurteil verführt ihn zu sehr geringschätzigen und schmähen<strong>de</strong>n<br />

Ausdrücken: er nennt die Kirche »ein Babel, einen Zustand <strong>de</strong>s Abfalls und <strong>de</strong>r Empörung,<br />

einen verpesteten Dunstkreis. Die Jahrbücher <strong>de</strong>r Christenheit sind die Jahrbücher<br />

<strong>de</strong>r Hölle gewor<strong>de</strong>n.« Es fehlt <strong>de</strong>r Kirche das Prädikat <strong>de</strong>r Heiligkeit, es fehlt ihr auch das<br />

an<strong>de</strong>re, die Einheit. Wieviel Kirchengemeinschaften gibt es! Und wie<strong>de</strong>rum weist er <strong>de</strong>n<br />

Gedanken ab, daß die Einheit eine geistige, unsichtbare sei. Sie könne nicht unsichtbar<br />

sein, <strong>de</strong>nn die Kirche müsse ja nach Matth. 5, 14 ein Licht <strong>de</strong>r Welt sein, ein unsichtbares<br />

Licht sei aber nichts nütze. Die Kirche ist von Gott abgefallen. Und was ist nun daran<br />

schuld? Nichts an<strong>de</strong>res als das Eindringen menschlicher Einrichtungen, menschlicher<br />

Verfassungs- und Glaubensformeln, durch welche die Herrschaft und das Walten <strong>de</strong>s hl.<br />

Geistes verdrängt wur<strong>de</strong>. Darin hat <strong>de</strong>r trostlose und rettungslose Zustand <strong>de</strong>r Kirche<br />

seinen Grund.<br />

Wie ist es nun dazu gekommen, daß <strong>de</strong>r hl. Geist, die einzige rechtmäßige Macht und<br />

Autorität in <strong>de</strong>r Kirche, gleichsam abgesetzt und menschliche Institutionen an seine Stelle<br />

gesetzt wur<strong>de</strong>n? Darby beantwortet diese Frage mittelst einer eigentümlichen Geschichtsphilosophie<br />

über das Reich Gottes. Die Geschichte <strong>de</strong>s Reiches Gottes stellt verschie<strong>de</strong>ne<br />

Haushaltungen o<strong>de</strong>r Ökonomien Gottes dar: die Haushaltung <strong>de</strong>s Paradieses, <strong>de</strong>r noachitischen<br />

Zeit, <strong>de</strong>s Ju<strong>de</strong>ntums und <strong>de</strong>s Christentums. Das Verhältnis <strong>de</strong>r Menschen zu Gott<br />

wird in allen Epochen ausschließlich unter <strong>de</strong>m Gesichtspunkt <strong>de</strong>r Verantwortlichkeit <strong>de</strong>s<br />

Menschen gegen Gott dargestellt: seine Treue soll erprobt wer<strong>de</strong>n. Je<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Haushaltungsepochen<br />

aber en<strong>de</strong>t [391] mit einem Bruch <strong>de</strong>r schuldigen Treue, mit einem Fall. Adam fiel.<br />

Noah fiel. Das Ju<strong>de</strong>ntum fiel und wur<strong>de</strong> verworfen. <strong>Der</strong> Abfall <strong>de</strong>r Kirche begann schon<br />

zur Zeit <strong>de</strong>s Apostels Johannes, wie aus 1. Joh. 2, 18 hervorgehe. Gleich die nachapostolische<br />

Kirche hat sich schwer verfehlt gegen Gottes Willen und gegen die Souveränität <strong>de</strong>s<br />

hl. Geistes, in<strong>de</strong>m sie ein Amt in <strong>de</strong>r Kirche schuf. Wohl habe Jesus das Amt <strong>de</strong>r Apostel<br />

eingesetzt, aber nirgends befohlen, nach <strong>de</strong>m Aussterben <strong>de</strong>r Apostel Nachfolger <strong>de</strong>rselben<br />

zu wählen. Die Kirche hat sich da etwas angemaßt, was nur Gott, was nur <strong>de</strong>r hl.<br />

Geist tun kann. <strong>Der</strong> also abgesetzte Geist habe <strong>de</strong>shalb die nachapostolische Kirche verlassen,<br />

was Darby auch daraus schließt, daß die Schriften <strong>de</strong>r apostolischen Väter <strong>de</strong>n<br />

Schriften <strong>de</strong>r Apostel an Kraft und Geistesgehalt weit nachstehen.<br />

Daß je<strong>de</strong> <strong>de</strong>r göttlichen Haushaltungen mit einem Fiasko seitens <strong>de</strong>r Menschen schloß,<br />

war nach Darby unvermeidlich. Das beherrschen<strong>de</strong> Prinzip <strong>de</strong>r Verantwortlichkeit war<br />

<strong>de</strong>n Menschen zu schwer: »Wenn schon Adam fiel, wie viel mehr muß dann das durch <strong>de</strong>n<br />

Sün<strong>de</strong>nfall unverbesserlich gewor<strong>de</strong>ne Geschlecht fallen!« Darby scheut sich nicht, die<br />

Konsequenz zu ziehen: also trägt eigentlich Gott die Schuld als Urheber seiner Veranstaltung.<br />

Zweck <strong>de</strong>r göttlichen Offenbarungen ist nicht sowohl Offenbarung <strong>de</strong>r göttlichen<br />

Liebe und Gna<strong>de</strong>, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r göttlichen Gerechtigkeit und Vollkommenheit, nebenbei<br />

aber die Belehrung <strong>de</strong>r Gläubigen und För<strong>de</strong>rung ihrer Gotteserkenntnis. Wenn Gott<br />

einzelne Gläubige (z. B. auch Adam und Noah trotz ihres Falles) doch für ihre Person<br />

rettet, so ist das gleichsam eine Privatsache Gottes, eine Ausnahme von <strong>de</strong>r allgemeinen<br />

Regel <strong>de</strong>r Verwerfung (Dagegen vergl. 1. Tim. 2, 4!). So wird durch seine pessimistische<br />

und fatalistische Anschauung von <strong>de</strong>r Kirche und ihrer Entwicklung auch sein Gottesbegriff<br />

eine Verzerrung.


MARTIN OTT: DER DARBYSMUS 9<br />

Aus <strong>de</strong>m Urteil über <strong>de</strong>n heillosen Zustand <strong>de</strong>r Kirche wird nun auch die praktische<br />

Konsequenz gezogen. Es wäre ja vergebliche Liebesmühe, <strong>de</strong>n traurigen Zustand än<strong>de</strong>rn<br />

o<strong>de</strong>r bessern zu wollen, eine Hilfe ist aussichtslos, ein reformieren<strong>de</strong>r Eingriff wäre eine<br />

Anmaßung und Auflehnung gegen Gottes Willen. »Han<strong>de</strong>ln wir nicht wie ein Kind, das,<br />

nach<strong>de</strong>m es ein kostbares Gefäß zerbrochen hat, es versuchen wür<strong>de</strong>, die Scherben zu<br />

sammeln und es wie<strong>de</strong>r herzustellen! Dadurch daß man die Welt reformieren und zu einem<br />

Reich Gottes machen will, betrügt man die Welt.« Es han<strong>de</strong>lt sich nicht darum, sie zu<br />

bessern, son<strong>de</strong>rn von ihr auszugehen, gegen sie zu zeugen und die Seelen durch die Predigt<br />

<strong>de</strong>r ganzen Wahrheit daraus zu reißen. Die Exklusivität <strong>de</strong>r Kirche ist also Prinzip,<br />

das einzige Heil liegt in <strong>de</strong>r Versammlung d. h. in <strong>de</strong>r Gemeinschaft <strong>de</strong>s <strong>Darbysmus</strong>.<br />

Das christliche Zeitalter, die vierte Ökonomie Gottes, ist ein großartiger Mißerfolg.<br />

»Das Evangelium <strong>de</strong>r Gna<strong>de</strong> hat an dieser Welt nichts geän<strong>de</strong>rt.« Daß das Reich Gottes<br />

die Welt als ein Sauerteig durchdringen und reinigen soll, lehnt Darby ab; das Gleichnis<br />

vom Sauerteig Matth. 13, 33 gilt nicht <strong>de</strong>m Reich Gottes, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>m Reich <strong>de</strong>s Satan!<br />

Die Welt ist verloren und wi<strong>de</strong>rgöttlich. »Welt« aber ist alles, was nicht spezifisch christlich<br />

bezw. darbystisch ist. Darbys Stellung zur Kultur ist eine schroff ablehnen<strong>de</strong>. Wie<br />

weit seine Abneigung gegen je<strong>de</strong> Organisation geht, zeigt seine Anschauung vom Staat<br />

und von <strong>de</strong>r staatlichen Ordnung. Weit entfernt, daß er eine göttliche Ordnung ist; die<br />

christliche Obrigkeit ist nicht von Gott, die preußische o<strong>de</strong>r englische sowenig wie die<br />

türkische und chinesische; <strong>de</strong>nn Gott hat nur jüdische Könige eingesetzt, die jetzigen Regierungen<br />

stammen von <strong>de</strong>m [392] Hei<strong>de</strong>n Nebukadnezar ab, mit Hei<strong>de</strong>n hat aber Gott<br />

nichts zu tun. Auch für die Kunst hat Darby keinen Sinn, sie ist Teufelsarbeit: »Durch<br />

Musik, Zeichnung und viel an<strong>de</strong>re Dinge leitet <strong>de</strong>r Satan die Menschen für die Ewigkeit.«<br />

Ebenso ablehnend verhält er sich gegen die Wissenschaft, namentlich gegen die Theologie;<br />

Universitätsstudium ist vom Übel, nützlich ist höchstens Sprachkenntnis. Han<strong>de</strong>l und<br />

Industrie sind Vorarbeiter <strong>de</strong>s Antichrists. Die ganze Welt mit allen ihren Lebensäußerungen<br />

liegt so im Argen, daß Gott gar nichts mehr mit ihr zu tun haben will; er läßt sie laufen<br />

wie sie will, was schon Hosea 5, 15 stehe. So weit treibt Darby <strong>de</strong>n Dualismus seiner<br />

Weltanschauung.<br />

Es liegt in <strong>de</strong>r Konsequenz seiner Anschauungen von <strong>de</strong>r Kirche, daß Darby das geistliche<br />

Amt als selbsterwähltes Menschenwerk verwirft. Nur <strong>de</strong>r hl. Geist kann zu einem<br />

solchen Amt legitimieren; <strong>de</strong>r ist aber schon lange aus <strong>de</strong>r Kirche gewichen. Darby sagt:<br />

»<strong>Der</strong> Herr hat seine lieben Kin<strong>de</strong>r nicht in Unwissenheit lassen wollen in <strong>de</strong>m Punkt, daß<br />

sie ausgesetzt seien, Wölfe in Schafsklei<strong>de</strong>rn zu empfangen o<strong>de</strong>r Knechte, die um ein<br />

Stück Brot Theologie studieren und sogenannte Geistliche wer<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r auch solche, die<br />

mit guter Absicht sich ein Amt anmaßen ohne himmlische Berufung.« Er weist auch <strong>de</strong>n<br />

Gedanken zurück, das Amt sei um <strong>de</strong>r Ordnung willen da: »Eure Ordnung, die mit <strong>de</strong>m<br />

Willen <strong>de</strong>r Menschen eingerichtet ist, wird bald als eine Unordnung vor Gottes Angesicht<br />

erscheinen.« Das einzige Amt führt <strong>de</strong>r hl. Geist; er teilt die Gaben aus, an wen er will,<br />

und wird durch das »menschliche Amt« nur gedämpft (1. Thess. 5, 19). Seine Gabe be<strong>de</strong>utet<br />

aber kein Amt, son<strong>de</strong>rn nur eine Dienstleistung an <strong>de</strong>r Gemein<strong>de</strong> (2. Kor. 5, 19); sie ist<br />

nichts Offizielles, son<strong>de</strong>rn etwas »Rein-religiöses und -göttliches«. Außer <strong>de</strong>r Gabe <strong>de</strong>s<br />

Geistes besitzt je<strong>de</strong>r Gläubige noch eine beson<strong>de</strong>re Gabe, die er zum Nutzen <strong>de</strong>r Gemein<strong>de</strong><br />

anwen<strong>de</strong>n soll (Röm. 10, 12. 1. Kor. 12).<br />

Da ist nun die Frage interessant, wie diese Dienstleistung in <strong>de</strong>r Versammlung tatsächlich<br />

ausgeübt wird. Darby selber, <strong>de</strong>r eine heroische Natur und sehr von sich eingenommen<br />

war, hat sich sehr souverän gefühlt und benommen und <strong>de</strong>n hl. Geist gar oft mit<br />

seinem eigenen Geist verwechselt. Die Führer <strong>de</strong>r Sekte, die Häupter <strong>de</strong>r einzelnen Gemeinschaften<br />

sehen es gar nicht gern, wenn ihnen etwa wi<strong>de</strong>rsprochen wird, o<strong>de</strong>r auch


MARTIN OTT: DER DARBYSMUS 10<br />

nur, wenn einer in <strong>de</strong>r Versammlung öfters sprechen will. Die Schriftauslegung <strong>de</strong>r »Lehrbrü<strong>de</strong>r«<br />

ist authentisch und die Versammlung hat sie ohne Prüfung anzunehmen. Also<br />

auch in dieser Versammlung »wahrer Christen« geht es sehr menschlich zu.<br />

Eine Kritik dieser darbystischen Anschauungen legt sich von selbst nahe. Ihren psychologischen<br />

Ausgangspunkt hat sie in <strong>de</strong>r Wahrnehmung <strong>de</strong>r »Brü<strong>de</strong>r«, daß ein gewaltiger<br />

Wi<strong>de</strong>rspruch besteht zwischen <strong>de</strong>m i<strong>de</strong>alen Begriff <strong>de</strong>r Kirche im N. T. und <strong>de</strong>m tatsächlichen<br />

Zustand <strong>de</strong>s damaligen anglikanischen Kirchentums mit seinem weltförmigen,<br />

politisch interessierten Klerus und <strong>de</strong>n vielfach entkirchlichten Massen. Ihre scharfe Form<br />

bei Darby hat ihren Grund in in [sic] <strong>de</strong>r Maßlosigkeit seines Urteils, in seinem gänzlichen<br />

Mangel an Verständnis für an<strong>de</strong>re Ansichten und seinem mangelhaften historischen Sinn.<br />

Daß das Christentum im Sinne <strong>de</strong>r zweiten Bitte <strong>de</strong>s Vaterunsers (Darby hält diese Bitte<br />

für unterchristlich) eine geschichtliche [393] Aufgabe in <strong>de</strong>r Welt, eine Weltmission habe,<br />

dafür hat er kein Verständnis; er weiß nur von <strong>de</strong>r Rettung und Sammlung einzelner Gläubigen<br />

aus <strong>de</strong>r übrigen verlorenen Masse. Daß <strong>de</strong>r hl. Geist seine Gaben austeilt, wie er<br />

will und an wen er will, und daß in <strong>de</strong>r Kirche aller Jahrhun<strong>de</strong>rte und in allen Denominationen<br />

doch immer ein gewisses Maß <strong>de</strong>s hl. Geistes vorhan<strong>de</strong>n ist, daß die katholische,<br />

die lutherische, die reformierte Kirche, daß Baptisten und Methodisten einen göttlichen<br />

Beruf in <strong>de</strong>r Reichsgottesgeschichte haben, dafür hat er keinen Sinn. <strong>Der</strong> hl. Geist ist nur<br />

in <strong>de</strong>r Versammlung. Wenn Darby von <strong>de</strong>m neutestamentlichen Begriff <strong>de</strong>r Kirche ausgeht,<br />

so verfällt er in <strong>de</strong>n fehlerhaften I<strong>de</strong>alismus, daß er das I<strong>de</strong>al verwirklicht sehen will<br />

in dieser Welt und Zeit; er entwirft nach <strong>de</strong>n zu<strong>de</strong>m oft sehr willkürlich erklärten Stellen<br />

ein Bild von <strong>de</strong>r Kirche a priori und vergleicht dieses mit <strong>de</strong>r wirklichen Kirche. Bei<strong>de</strong><br />

stimmen aber nun keineswegs überein. Statt sich nun zu sagen, so wenig ein Paulus für<br />

seine Person das I<strong>de</strong>al <strong>de</strong>r Vollkommenheit erreichen konnte (Phil. 3, 12 f.) so wenig kann<br />

die Kirche in dieser Welt ihr I<strong>de</strong>al erreichen, bricht er von vornherein <strong>de</strong>n Stab über die<br />

bestehen<strong>de</strong>n Kirchen; statt daran zu arbeiten, daß die Kirche ihrem I<strong>de</strong>al immer näher<br />

komme, kehrt er ihr <strong>de</strong>n Rücken. In einseitigem Pessimismus verwirft er die Kirche und<br />

mit ihr eigentlich die ganze Welt und Wirklichkeit als ganz und gar <strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong> verfallen.<br />

Daß <strong>de</strong>r christliche Glaube <strong>de</strong>r Sieg ist, <strong>de</strong>r die Welt überwun<strong>de</strong>n hat, versteht er nicht;<br />

mit <strong>de</strong>r Kraft dieses Glaubens an <strong>de</strong>r Welt zu arbeiten, erscheint ihm nicht als Pflicht,<br />

son<strong>de</strong>rn als gefährlich. Wie himmelweit ist diese Verachtung <strong>de</strong>s natürlichen Lebens entfernt<br />

von <strong>de</strong>m weltoffenen Christentum eines Paulus: »Alles ist euer!«<br />

b) Lehre von <strong>de</strong>r persönlichen Heilsaneignung. Hier macht es sich Darby sehr leicht,<br />

in <strong>de</strong>r Theorie und Praxis. Die gewaltige geistige Arbeit, welche die lutherischen Theologen<br />

auf die Lehre von <strong>de</strong>r Wie<strong>de</strong>rgeburt, Rechtfertigung und Heiligung verwandt haben,<br />

ist ihm unverständlich, <strong>de</strong>sgleichen die scharfe Betonung <strong>de</strong>r persönlichen praktischen<br />

Heiligung von seiten <strong>de</strong>s Methodismus. Darbys Anschauung von Rechtfertigung und Heiligung<br />

ist hervorgegangen aus <strong>de</strong>m Gegensatz zum Methodismus, mit <strong>de</strong>m er während seines<br />

Auftretens in <strong>de</strong>r französischen Schweiz einen Zusammenstoß hatte, <strong>de</strong>s weiteren ist<br />

sie zu verstehen aus <strong>de</strong>r calvinischen Prä<strong>de</strong>stinationslehre.<br />

Die Wie<strong>de</strong>rgeburt ist nicht so zu verstehen, als wer<strong>de</strong> durch dieselbe eine Än<strong>de</strong>rung<br />

<strong>de</strong>r alten Natur hervorgebracht. Diese ist so völlig verdorben, daß sie nicht gebessert wer<strong>de</strong>n<br />

kann: »Natur ist Natur und bleibt Natur, das Evangelium sucht nicht einen neuen<br />

Lappen auf ein altes Kleid zu setzen, son<strong>de</strong>rn ein gänzlich neues Kleid darzureichen.« Die<br />

wahren Christen haben nach Gal. 5, 24 die alte Natur, die Sün<strong>de</strong> gekreuzigt, die Sün<strong>de</strong> im<br />

Menschen als Schuld ist tot, durch die Wie<strong>de</strong>rgeburt ist ein völlig neuer Mensch gebil<strong>de</strong>t.<br />

Unmittelbar mit <strong>de</strong>r Rechtfertigung fällt die Heiligung zusammen: [394] Diese ist nicht ein<br />

fortgehen<strong>de</strong>r sittlicher Prozeß, ein Streben nach Vollkommenheit <strong>de</strong>m Ziele zu, in Christi<br />

Bild verklärt zu wer<strong>de</strong>n, son<strong>de</strong>rn sie ist etwas Augenblickliches, »in einem Nu« Fertiges.


MARTIN OTT: DER DARBYSMUS 11<br />

Die Christen sind Geheiligte; von sittlicher Arbeit an sich selber, von sittlichem Kampf<br />

weiß Darby nichts. Die Heiligung ist nicht etwas zum Schaffen, son<strong>de</strong>rn zum Genießen.<br />

»Ach, welch ein süßer Trost ist es für <strong>de</strong>n, welcher auf <strong>de</strong>m Pfad <strong>de</strong>r persönlichen<br />

Heiligung herumgestolpert ist, wenn er nach jahrelangem Kampf eine vollkommene Heiligung<br />

fin<strong>de</strong>t, die durch <strong>de</strong>n Glauben genossen wird.«<br />

Welch eine Verkennung <strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong> und <strong>de</strong>r menschlichen Natur! Wie diese Verkennung<br />

zu geistlichem Hochmut führt, sehen wir daran, daß Darby sich nicht scheut zu sagen,<br />

<strong>de</strong>r gläubige Christ habe nicht nötig, die fünfte Bitte zu sprechen (das Vaterunser und<br />

die ganze Bergpredigt ist eigentlich gar nicht für gläubige Christen!), er habe eine bußfertige<br />

Vorbereitung auf das hl. Abendmahl nicht nötig, man solle beim Abendmahl überhaupt<br />

nicht an sich und seine Sün<strong>de</strong> <strong>de</strong>nken!<br />

c) Lehre von <strong>de</strong>n Sakramenten. Die darbystische Sakramentslehre entfernt sich sehr<br />

weit von <strong>de</strong>r unserer Kirche. Die Sakramente sind keine Gna<strong>de</strong>nmittel, son<strong>de</strong>rn Erinnerungszeichen.<br />

In <strong>de</strong>r Anschauung von <strong>de</strong>r Taufe gehen die einzelnen Parteien selber auseinan<strong>de</strong>r:<br />

Darby und seine Anhänger in England sind, wie die alten Plymouthbrü<strong>de</strong>r (auch<br />

Georg Müller), für die Kin<strong>de</strong>rtaufe, die meist von <strong>de</strong>n Familienvätern vollzogen wird. Die<br />

<strong>de</strong>utschen Darbysten sind Gegner <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>rtaufe und empfehlen die Taufe im 13. o<strong>de</strong>r<br />

14. Jahr, wenn Erkenntnis und Glaube vorhan<strong>de</strong>n sei. Im übrigen ist ihnen die Taufe<br />

durchaus nichts Notwendiges; es ist ins Belieben <strong>de</strong>s Einzelnen gestellt, sich taufen zu<br />

lassen o<strong>de</strong>r nicht; <strong>de</strong>r einzige Grund ist ihm die Pietät gegen <strong>de</strong>n Herrn, doch sei das kein<br />

zwingen<strong>de</strong>r Grund.<br />

Wichtiger ist die Abendmahlslehre, die zusammen mit <strong>de</strong>r Abendmahlspraxis ein beson<strong>de</strong>res<br />

Anziehungsmittel <strong>de</strong>r Versammlung ist. Es liegt ihr die reformierte Anschauung<br />

zugrun<strong>de</strong>, die Einsetzungsworte wer<strong>de</strong>n symbolisch ge<strong>de</strong>utet. Das Sakrament ist kein<br />

Gna<strong>de</strong>nmittel; da <strong>de</strong>r Darbyst fertig und heilig ist, braucht er kein Gna<strong>de</strong>nmittel. Wie<br />

schon erwähnt, ist eine Vorbereitung überflüssig, <strong>de</strong>r Gedanke an die Sün<strong>de</strong> ist ausgeschaltet,<br />

die Feier ist eine Lob-, Dank- und Freu<strong>de</strong>nfeier, welche durch Gedanken an Sün<strong>de</strong><br />

und Buße nicht getrübt wer<strong>de</strong>n darf. Daneben ist aber die Abendmahlsfeier eine sichtbare<br />

Darstellung <strong>de</strong>r Einheit <strong>de</strong>s Leibes Christi. Hier spielen die darbystischen Vorstellungen<br />

von <strong>de</strong>r Kirche herein. Die Einheit <strong>de</strong>r wahren Kirche wird beim Abendmahl<br />

äußerlich dargestellt. <strong>Der</strong> am darbystischen Abendmahlstisch sitzen<strong>de</strong> darf sich als ein<br />

Glied <strong>de</strong>r Einen wahren Kirche wissen. In <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren Kirchen ist das unmöglich, weil da<br />

auch Unbekehrte und Unheilige zum Abendmahl kommen. Darum ist nur <strong>de</strong>r Abendmahlstisch<br />

<strong>de</strong>r Darbysten <strong>de</strong>r reine unbefleckte Tisch <strong>de</strong>s Herrn. Hat ein Darbyst die Ansicht,<br />

daß ein Teilnehmer am Abendmahl ein Unbekehrter sei, so schließt er sich selbst für<br />

diesmal aus, worauf eine Untersuchung das Weitere ergibt. Dadurch soll die Unversehrtheit<br />

<strong>de</strong>s Einen Leibes Christi gewahrt sein.<br />

d) Lehre von <strong>de</strong>n letzten Dingen. Sie wird von Darby mit beson<strong>de</strong>rer Vorliebe behan<strong>de</strong>lt.<br />

So schwarz er das Bild von Welt und Kirche malt – <strong>de</strong>r Staat ist das apokalyptische<br />

Tier, Offenbg. 13; die Kirche die apokalyptische Hure Offenbg. 17 – so farbenglühend<br />

ist das Phantasiegemäl<strong>de</strong>, [395] das er mit Hilfe einer fast unglaublichen Auslegung,<br />

beson<strong>de</strong>rs <strong>de</strong>r Offenbarung, entwirft. 1 )<br />

1 ) Als Beispiel für diese Art <strong>de</strong>r Schriftauslegung sei aus einer Schrift Darbys folgen<strong>de</strong> Auslassung über<br />

»das rote Seil <strong>de</strong>r Hure Rahab« angeführt (Josua 2, 18): Jericho ist die Welt, die Kundschafter sind die Prediger<br />

<strong>de</strong>r Wahrheit, Rahab die gläubige Seele, das rote Seil Christi Blut! Ferner: das rote Meer be<strong>de</strong>utet Christi<br />

Tod und Auferstehung. Die rotgefärbten Wid<strong>de</strong>rfelle in <strong>de</strong>r Stiftshütte stellen Christi vollkommenen Gehorsam<br />

dar, die Dachsfelle seine Wachsamkeit!


MARTIN OTT: DER DARBYSMUS 12<br />

Es ist aber kaum möglich, ein einheitliches, geschlossenes Bild <strong>de</strong>r darbystischen Lehre<br />

von <strong>de</strong>n letzten Dingen zu entwerfen. Die Hauptzüge sind folgen<strong>de</strong>: <strong>Der</strong> Herr kommt<br />

bald. <strong>Der</strong> Untergang <strong>de</strong>r Welt, <strong>de</strong>r Kirche und aller Sekten, mit Ausnahme <strong>de</strong>r darbystischen,<br />

ist nahe. Wenn <strong>de</strong>r Herr kommt, beginnt das tausendjährige Reich; während<br />

seiner Dauer wird <strong>de</strong>r Satan gebun<strong>de</strong>n. Die Gläubigen wer<strong>de</strong>n <strong>de</strong>m Herrn in <strong>de</strong>r Luft<br />

entgegengerückt und halten mit ihm die Hochzeit <strong>de</strong>s Lammes, <strong>de</strong>sgleichen die Entschlafenen<br />

Gläubigen <strong>de</strong>s alten und neuen Bun<strong>de</strong>s. Zugleich herrscht aber <strong>de</strong>r Herr während<br />

dieser Zeit im irdischen Jerusalem, von <strong>de</strong>m ein Strom <strong>de</strong>s Segens über die Er<strong>de</strong> ausgehen<br />

wird. Dort wird <strong>de</strong>r Rest Israels sich sammeln und Christum als Messias anerkennen, <strong>de</strong>r<br />

als Hohepriester im irdischen Tempel fungiert. Am En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r tausend Jahre wird <strong>de</strong>r Satan<br />

noch einmal losgelassen zu einem letzten verzweifelten Kampf, <strong>de</strong>m aber die Gläubigen<br />

entnommen sind; zum Schluß wird er in <strong>de</strong>n Feuerpfuhl geworfen zu ewiger Pein. Dann<br />

kommt <strong>de</strong>r neue Himmel und die neue Er<strong>de</strong>: »eine Hütte Gottes bei <strong>de</strong>n Menschen.« Wer<br />

sind nun die Gläubigen, die an all diesen Herrlichkeiten teilhaben? In erster Linie die Darbysten,<br />

<strong>de</strong>nen die volle Seligkeit zuteil wird; in zweiter Linie diejenigen aus <strong>de</strong>r übrigen<br />

Christenheit, welche sich aus <strong>de</strong>r allgemeinen Ver<strong>de</strong>rbnis gerettet haben, diese empfangen<br />

aber nur eine Seligkeit zweiter Abstufung.<br />

e) Kultus <strong>de</strong>r Darbysten. Ihr Gottesdienst ist <strong>de</strong>r einzig Gott wohlgefällige, <strong>de</strong>nn sie<br />

allein versammeln sich »nur im Namen Jesu«. Sie brauchen keinen Pfarrer, <strong>de</strong>nn die<br />

Hauptsache ist nicht die Predigt, son<strong>de</strong>rn die Anbetung. Die Anbetung, wie <strong>de</strong>r ganze<br />

Gottesdienst unserer Kirche ist nichtig, weil in ihr auch Unbekehrte sind; weil aus <strong>de</strong>r<br />

Kirche <strong>de</strong>r Geist geflohen ist, kann auch ihre Anbetung nicht eine Anbetung im Geist sein<br />

(Joh. 4).<br />

<strong>Der</strong> Verlauf eines darbystischen Gottesdienstes nach Elberfel<strong>de</strong>r Muster ist folgen<strong>de</strong>r:<br />

In einem selbst nach reformiertem Brauch mehr als einfachen, völlig schmucklosen Saal<br />

versammeln sich die Gläubigen. Alles Feierliche und irgendwie Künstlerische fehlt völlig.<br />

Die allzugroße Armut und Nüchternheit <strong>de</strong>r Feier wird einigermaßen gehoben durch häufige<br />

vierstimmige Gesänge, die in Text und Melodie ziemlich sentimental angehaucht sind.<br />

Vom Geist getriebene Brü<strong>de</strong>r sprechen freie Gebete, mit Ausschluß <strong>de</strong>s Vaterunsers. Dazwischen<br />

wird von irgend einem Anwesen<strong>de</strong>n ein Schriftabschnitt gelesen, woran sich<br />

praktische Auslegungen anschließen. Dies alles dauert sehr lange, da große Pausen gemacht<br />

wer<strong>de</strong>n, die für <strong>de</strong>n Frem<strong>de</strong>n sehr peinlich sind, zur stillen Sammlung <strong>de</strong>r Seelen.<br />

<strong>Der</strong> Höhepunkt <strong>de</strong>r Feier ist das nach Ap. Gesch. 20, 7 allsonntäglich genossene Abendmahl,<br />

das Brotbrechen genannt wird. Die an einem Tische Sitzen<strong>de</strong>n nehmen unter tiefem<br />

Stillschweigen, im übrigen aber ziemlich formlos, Brot und Wein, [396] wobei die Ältesten,<br />

die aber nicht gewählt, son<strong>de</strong>rn vom hl. Geist in <strong>de</strong>r Versammlung ausgelesen wer<strong>de</strong>n,<br />

<strong>de</strong>n Anfang machen.<br />

Die große »apostolische »Einfachheit« dieser Feier hat <strong>de</strong>m <strong>Darbysmus</strong> viele Anhänger<br />

geworben, beson<strong>de</strong>rs solche, welche an <strong>de</strong>r Weitherzigkeit unserer Kirche in <strong>de</strong>r Zulassung<br />

zum Abendmahl Anstoß nehmen. –<br />

Das Gesamturteil über <strong>de</strong>n <strong>Darbysmus</strong> muß unterschei<strong>de</strong>n zwischen <strong>de</strong>m Stifter und<br />

<strong>de</strong>m heutigen Stand <strong>de</strong>r nach ihm benannten Sekte. Darbys Persönlichkeit und Charakter<br />

muß, zumal <strong>de</strong>m nüchternen <strong>de</strong>utschen Protestanten, unsympathisch sein. Er ist <strong>de</strong>r Typus<br />

<strong>de</strong>s selbstbewußten Sektenhauptes mit <strong>de</strong>n Schattenseiten eines solchen im persönlichen<br />

Auftreten und in <strong>de</strong>r Lehrbildung. Auch die geschichtliche Entwicklung <strong>de</strong>r nach ihm<br />

benannten religiösen Bewegung ist bezeichnend. Das gemeinsame Merkmal ihrer zahlreichen<br />

Abzweigungen, die grundsätzliche Verwerfung <strong>de</strong>r Kirche und ihrer geschichtlich<br />

gewor<strong>de</strong>nen Organisation, ist naturgemäß vom kirchlichen Standpunkt aus abzulehnen.<br />

Ihre Heiligungslehre ist <strong>de</strong>r Schrift zuwi<strong>de</strong>r und nicht ungefährlich, <strong>de</strong>sgleichen ihre Lehre


MARTIN OTT: DER DARBYSMUS 13<br />

von <strong>de</strong>n letzten Dingen. Es ist nicht bloß Interessenpolitik, wenn die Kirche Front macht<br />

gegen <strong>de</strong>n <strong>Darbysmus</strong>, was sie am besten dadurch tut, daß sie selbst ihren erweckten Glie<strong>de</strong>rn<br />

das bietet, was die Darbysten in <strong>de</strong>r »Versammlung« suchen, nämlich lebendige<br />

christliche Gemeinschaft.

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