Karl Kraus Die demolierte Literatur Wien, 1897 ... - Welcker-online.de
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heftig gestikulierend: er wäre ein großer Schmock gewor<strong>de</strong>n, auch wenn er<br />
ohne Hän<strong>de</strong> auf die Welt gekommen wäre<br />
<strong>Die</strong> Jung—<strong>Wien</strong>er Dichtergalerie besitzt einen Charakterkopf, <strong>de</strong>r sehr<br />
hübsche Ansätze zu einem Dul<strong>de</strong>rantlitz zeigt 1 . <strong>Die</strong>ser Deka<strong>de</strong>nt (Abteilung<br />
für Lyriker) ist durch drei stattliche Gedichtbän<strong>de</strong>, in <strong>de</strong>nen er bewiesen hat,<br />
daß er verwelkte Nerven besitzt, für <strong>de</strong>n literarischen Tisch legitimiert. »Neurotica«<br />
wur<strong>de</strong>n konfisziert und hatten »Sensationen«, diese aber »Gelächter«<br />
im Gefolge. <strong>Die</strong> echte Dichtergabe, aus minimalen Erscheinungen ungeahnte<br />
Anregung zu ziehen, ihm ist sie nie versagt geblieben. Stets hat er um mehrere<br />
Gra<strong>de</strong> höher gedichtet als erlebt, und wenn man sich nach <strong>de</strong>n Urheberinnen<br />
seiner Ekstasen erkundigte, konnte man staunend erfahren, was so ein<br />
dämonisches Weib für Min<strong>de</strong>rbemittelte alles im Stan<strong>de</strong> ist, wenn es von einem<br />
mo<strong>de</strong>rnen Lyriker empfun<strong>de</strong>n wird. Einst gab er vor, »alles, was seltsam<br />
und krank«. zu lieben. <strong>Die</strong> Kritik glaubte in<strong>de</strong>s, <strong>de</strong>n Sitz seines Lei<strong>de</strong>ns in <strong>de</strong>r<br />
Lektüre Bau<strong>de</strong>laire's gefun<strong>de</strong>n zu haben, verordnete ihm strengste Diät und<br />
untersagte ihm je<strong>de</strong> Maniriertheit. Er nun, aus Furcht, in eine unheilbare Gesundheit<br />
zu verfallen, kehrte sich an diese Maßregeln nicht. Hektische Verse<br />
flößten ihm Wohlbehagen ein, er erwarb ein literarisches Wappen, in welchem<br />
sich eingezeichnet fin<strong>de</strong>n: ein Herz, das müd und alt, ein Sinn, <strong>de</strong>r welk<br />
und kalt, sowie ein Strauß schwindsüchtiger Tuberosen, mit heimlichen Nerven<br />
umwun<strong>de</strong>n. Der Erfolg enthebt ihn aller Reuepflichten und bei seiner Jugend<br />
ist er heute schon ein geübter Greis.<br />
Endlich einmal ein wirklich Nervöser 2 ! Das tut förmlich wohl in dieser<br />
Umgebung <strong>de</strong>s posierten Morphinismus. Es ist kein Künstler, nur ein schlichter<br />
Librettist, <strong>de</strong>r hier <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren mit gutem Beispiel vorangeht. Abgehetzt,<br />
von <strong>de</strong>n Aufregungen <strong>de</strong>r Theaterproben durch und durch geschüttelt, nimmt<br />
er geschäftig Platz: Kellner, rasch alle Witzblätter! Ich bin nicht zu meinem<br />
Vergnügen da! Während seine mo<strong>de</strong>rnen Tischgenossen in das geistige Leben<br />
Wan<strong>de</strong>l zu bringen bemüht sind, sehen wir ihn <strong>de</strong>m Han<strong>de</strong>l Eingang in<br />
die <strong>Literatur</strong> verschaffen. Seine Beziehungen zur Bühne sind die eines produktiven<br />
Theateragenten, und er entwickelt eine fabelhafte Fruchtbarkeit, die<br />
sich auf die meisten Bühnen <strong>Wien</strong>s erstreckt. Nach je<strong>de</strong>r einzelnen seiner<br />
Operetten glaubt man, jetzt endlich müsse er sich ausgegeben haben. Doch<br />
ein Antäus <strong>de</strong>r Unbegabung, empfängt er aus seinen Mißerfolgen immer neue<br />
Kräfte. Er erscheint fast nie allein auf <strong>de</strong>m Theaterzettel, und pikant müßte es<br />
sein, die bei<strong>de</strong>n Kompagnons an <strong>de</strong>r Arbeit zu sehen. Hier ergänzen sich die<br />
Individualitäten wohl so, daß, was <strong>de</strong>m einen an Humor fehlt, <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re<br />
durch Mangel an Erfindung wettmacht. Der an<strong>de</strong>re ist talentlos aus Passion,<br />
<strong>de</strong>r eine muß davon leben. Doch scheint das Geschäft seinen Mann zu nähren.<br />
Heute gehört ihm eine Villa, am Attersee herrlich gelegen — mit Aussicht auf<br />
<strong>de</strong>n Waldberg.<br />
An diesen Kreis von jungen Männern, die nicht schreiben können, sich<br />
aber immer nur auf <strong>de</strong>n einen Beruf kaprizieren, schließt einer sich an, <strong>de</strong>r<br />
durch Vielseitigkeit wohltuen<strong>de</strong> Abwechslung bietet: Er kann auch nicht malen.<br />
Erst in gereifteren Jahren ging er daran, seiner Unbegabung auch schriftstellerischen<br />
Ausdruck zu geben, nicht ohne sich vorher eine feste Grundlage<br />
umfassen<strong>de</strong>r Bildungslosigkeit geschaffen zu haben, und lange bevor er durch<br />
1 Felix Dörmann<br />
2 Viktor Léon<br />
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