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Karl Kraus Die demolierte Literatur Wien, 1897 ... - Welcker-online.de

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Es folgen Tische, <strong>de</strong>ren Verhältnis zur <strong>Literatur</strong> nur noch ein sehr gelegentliches<br />

ist. Hier sitzen Leute, <strong>de</strong>ren Talent sich in <strong>de</strong>n Randbemerkungen<br />

und Glossen ausgibt, mit welchen sie sämtliche im <strong>Literatur</strong>—Café aufliegen<strong>de</strong>n<br />

Zeitschriften versehen. Manche schreiben in die vornehmsten Revuen <strong>de</strong>s<br />

In— und Auslan<strong>de</strong>s. <strong>Die</strong>se Autoren unterzeichnen nicht mit vollem Namen,<br />

bleiben <strong>de</strong>mnach <strong>de</strong>m großen Publikum unbekannt. Gleichwohl besitzt ein je<strong>de</strong>r<br />

von ihnen seine markante Eigenart. Da ist einer, <strong>de</strong>r durch Jahre und in<br />

<strong>de</strong>m Wechsel <strong>de</strong>r Richtungen, <strong>de</strong>m dieses Kaffeehaus unterworfen war, seinen<br />

Standpunkt bewahrt hat; von ihm liest man immer noch die eine Äußerung:<br />

»Jud!«<br />

Nicht einmal zu dieser Höhe <strong>de</strong>r Produktion vermochte sich eine Gruppe<br />

von Jünglingen emporzuschwingen, <strong>de</strong>nen nur <strong>de</strong>r Vorwand, Stimmungen<br />

leicht zugänglich zu sein, ein Plätzchen im Lokale <strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rnen Schriftsteller<br />

eingeräumt hatte. Manche unter ihnen wußten sich noch insoweit nützlich zu<br />

machen, als sie <strong>de</strong>n Verkehr zwischen <strong>de</strong>n einzelnen Tischen vermittelten,<br />

<strong>de</strong>n Gästen Theaternachrichten zutrugen und vielen wirklich die Lektüre <strong>de</strong>r<br />

Journale ersparten. Manche wie<strong>de</strong>rum schienen redlich bemüht, die freien<br />

Gewohnheiten pariserischer Bohemiens nachzuahmen; <strong>de</strong>r Wille war gut, die<br />

Begabung zu schwach für das Nichtstun. Als diese Gesellschaft eines Tages<br />

nicht mehr erschien, versicherte Heinrich in seiner feinsinnigen Weise, die<br />

Herren seien nicht nur <strong>de</strong>n Beweis literarischer Fähigkeiten schuldig geblieben.<br />

Schweren Herzens wer<strong>de</strong>n jetzt alle an<strong>de</strong>ren von <strong>de</strong>r trauten Stätte ihres<br />

Wirkens schei<strong>de</strong>n. Man rüstet zum großen Exodus. Der Demolierarbeiter<br />

pocht an die Fensterscheiben — es ist die höchste Zeit. In Eile wer<strong>de</strong>n alle <strong>Literatur</strong>geräte<br />

zusammengerafft: Mangel an Talent, verfrühte Abgeklärtheit,<br />

Posen, Größenwahn, Vorstadtmä<strong>de</strong>l, Krawatte, Manierirtheit, falsche Dative,<br />

Monokel und heimliche Nerven — alles muß mit. Zögern<strong>de</strong> Dichter wer<strong>de</strong>n<br />

sanft hinausgeleitet. Aus dumpfer Ecke geholt, scheuen sie vor <strong>de</strong>m Tag, <strong>de</strong>ssen<br />

Licht sie blen<strong>de</strong>t, vor <strong>de</strong>m Leben, <strong>de</strong>ssen Fülle sie bedrücken wird. Gegen<br />

dieses Licht ist das Monokel bloß ein schwacher Schutz; das Leben wird die<br />

Krücke <strong>de</strong>r Affektation zerbrechen ...<br />

Wohin steuert nun unsere junge <strong>Literatur</strong>? Und welches ist ihr künftiges<br />

Griensteidl?<br />

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