Prekäre Leiharbeit - DGB-Jugend
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Erscheint 2004 in: Vogel, B. (Hg.), <strong>Leiharbeit</strong>. Sozialwissenschaftliche Befunde zu einer prekären<br />
Beschäftigungsform, VSA-Verlag, Hamburg.<br />
<strong>Prekäre</strong> <strong>Leiharbeit</strong><br />
Zur Integrationsproblematik einer atypischen Beschäftigungsform<br />
von Klaus Kraemer und Frederic Speidel<br />
1. Problemstellung<br />
Eine zentrale Ausgangsprämisse des Neoliberalismus besteht bekanntermaßen in der<br />
Annahme, dass Wohlfahrtszuwächse in Wirtschaft und Gesellschaft nur noch möglich sind,<br />
wenn dem Steuerungsinstrument des Marktes weit mehr Entfaltungsmöglichkeiten und<br />
weniger politische Grenzen gesetzt werden. Die Forderung nach Flexibilisierung der<br />
Arbeitsmärkte wird hierbei in den Mittelpunkt gerückt. Die Deregulierung von<br />
Arbeitsbeziehungen erscheint als wichtige Möglichkeitsbedingung, um das bestehende<br />
Wohlfahrtsniveau nicht zu gefährden und Wachstum und Beschäftigung auch in Zukunft<br />
sichern zu können. Die strukturell hohe Arbeitslosigkeit gerade in den<br />
kontinentaleuropäischen Gesellschaften könne nur abgebaut werden, wenn<br />
angebotsorientierte Anreize zu Neueinstellungen geschaffen werden. Mit der Forderung nach<br />
Flexibilisierung wird die Erwartung verbunden, dass neue Beschäftigungsmöglichkeiten vor<br />
allem im Segment der schwer vermittelbaren Geringqualifizierten geschaffen,<br />
innovationshemmende Mobilitätsbarrieren auf dem Arbeitsmarkt aufgebrochen und darüber<br />
hinaus Zugänge zu Erwerbsstellen auch für jene Bevölkerungsgruppen erleichtert werden, die<br />
bislang aufgrund bestehender sozial diskriminierender Besetzungsregeln deutliche<br />
Chancennachteile auf dem Arbeitsmarkt haben. Angesichts der tiefgreifenden ökonomischen<br />
Veränderungen, die die nationalen Ökonomien gegenwärtig durchlaufen, wird aus Sicht des<br />
Neoliberalismus eine effiziente Allokation von Arbeitskräften durch die überkommenen<br />
institutionellen Arrangements der Erwerbsarbeit behindert. Bestehende gesetzliche und<br />
kollektivvertragliche Regelungen müssten deshalb auch weiter gelockert und den veränderten<br />
Anforderungen eines flexibilisierten globalen Kapitalismus angepasst werden. Die diversen<br />
Vorschläge zum Auf- und Ausbau eines Niedriglohnsektors zielen hierbei auf die<br />
Neudefinition der „Zumutbarkeit“ von Erwerbsarbeit ab. Die Idee einer am Leitbild<br />
„Employability“ ausgerichteten „aktivierenden“ Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik dient hierbei<br />
als normative Referenzfolie (Lessenich 2003; Franzpötter 2003). Bekanntermaßen hat Robert<br />
Castel in Die Metamorphosen der sozialen Frage (2000) diese Entwicklung als schleichende<br />
Rekommodifizierung der Arbeitskraft gedeutet, da dadurch eine mehr oder weniger enge<br />
Kopplung von Erwerbsarbeit und sozialen Sicherheitsgarantieren aufgehoben und die für die<br />
traditionelle „Erwerbsgesellschaft“ noch charakteristischen Selbstverständlichkeiten im<br />
Verhältnis von Marktökonomie und Wohlfahrtstaat zur Disposition gestellt werden. Diese<br />
Veränderungen zeigen sich für Castel in einer wachsenden sozialen Verunsicherung und<br />
Verwundbarkeit von Beschäftigten, in der Schwächung kollektiver Arbeitsregelungen und<br />
1
erwerbsarbeitsbezogener sozialer Absicherungen sowie in dem Bedeutungszuwachs<br />
ungeschützter Beschäftigungsformen. Castels Überlegungen münden in die These ein, dass<br />
mit der Diffusion sozial und rechtlich ungeschützter Erwerbsarbeit auch ein zentrales<br />
„Fundament der gesellschaftlichen Integration“ (2001: 88) infrage gestellt wird. 1<br />
In diesem Beitrag 2 ist beabsichtigt, am Beispiel von <strong>Leiharbeit</strong> die Schattenseiten<br />
flexibilisierter Arbeitsmärkte vermessen und die sozialen Problemfelder genauer zu<br />
identifizieren, die mit der Ausweitung relativ ungeschützter, atypischer Erwerbsarbeit zu<br />
Lasten regulärer Beschäftigungsverhältnisse verbunden sind. Vor allem geht es darum, die<br />
These von der Schwächung erwerbsarbeitsbezogener Integrationspotentiale durch die<br />
Ausbreitung atypischer, prekärer Beschäftigung (vgl. Dörre 2001) am<br />
Untersuchungsgegenstand prekärer <strong>Leiharbeit</strong>sverhältnisse zu überprüfen. Dies erscheint<br />
umso dringlicher, da bei der Erforschung von Desintegrationsprozessen in der<br />
bundesdeutschen Gesellschaft die Bedeutung von Erwerbsarbeit in aller Regel nur im<br />
Hinblick auf die sozialen Folgen der Exklusion aus der Arbeitswelt (Arbeitslosigkeit)<br />
berücksichtigt wird, während Desintegrationspotentiale deregulierter Beschäftigungsformen<br />
weithin ausgeklammert bleiben. Demgegenüber ist in diesem Beitrag eine<br />
Perspektivenverschiebung vorzunehmen. Nicht die Exklusion, sondern der Wandel von<br />
Erwerbsarbeitsformen und ihre Prekarisierung soll als Integrationsproblem thematisiert<br />
werden. Im Einzelnen ist folgende Vorgehensweise vorgesehen: Zunächst ist zu bestimmen,<br />
was in einem engeren soziologischen Sinne unter prekärer Erwerbsarbeit und Prekarisierung<br />
überhaupt zu verstehen ist (2). Hieran anschließend ist genauer zu begründen, warum<br />
ungeachtet der sozialwissenschaftlichen Debatten zum „Ende der Arbeitsgesellschaft“ der<br />
Institution der Erwerbsarbeit auch weiterhin eine herausragende Bedeutung im Hinblick auf<br />
soziale Integrations-, Desintegrations- und Reintegrationsprozesse zuzuschreiben ist (3).<br />
Hieran anschließend wird das Untersuchungsfeld kurz umrissen (4). Sodann werden die<br />
empirischen Befunde der qualitativen Erhebung zum Einsatz ostdeutscher <strong>Leiharbeit</strong>er in dem<br />
Montagewerk eines großen deutschen Automobilherstellers vorgestellt, durch Ergebnisse<br />
einer kontrastierenden Befragung von <strong>Leiharbeit</strong>ern, die bereits einige Jahre bei ein und<br />
demselben Zeitarbeitsunternehmen beschäftigt sind, ergänzt und im Hinblick auf die<br />
Integrationsproblematik diskutiert (5). Zudem wird exemplarisch dargelegt, wie der Einsatz<br />
der <strong>Leiharbeit</strong>er von Mitgliedern der Stammbelegschaft wahrgenommen wird (6). Die<br />
Ergebnisse der empirischen Untersuchung sind insofern überraschend, als sie nur zum Teil<br />
Castels Annahmen über Desintegrationstendenzen in der „Zone der Prekarität“ bestätigen. Bei<br />
den interviewten <strong>Leiharbeit</strong>ern können nämlich sowohl manifeste Desintegrationserfahrungen<br />
als auch latente Re-Integrationserwartungen beobachtet werden, die von der Hoffnung<br />
gespeist werden, dass die „Normalität“ eines „Normalarbeitsverhältnisses“ wieder hergestellt<br />
werden kann. In dieser Gemengelage sind wir bei Befragten des Untersuchungssamples auf<br />
ein Einstellungsmuster gestoßen, das als ausgrenzende Integrationsnorm charakterisiert<br />
1<br />
In Abgrenzung zu einer anthropologisch-normativen Aufladung des Arbeitsbegriffs ist in diesem<br />
Zusammenhang der Hinweis von Castel (2001: 111) bedeutsam, dass nicht „Arbeit als solche“, sondern sozial<br />
abgesicherte Erwerbsarbeit eine zentrale Möglichkeitsbedingung sozialer Integration ist.<br />
2 Hierbei handelt es sich um Zwischenergebnisse des Forschungsprojektes „<strong>Prekäre</strong> Beschäftigungsverhältnisse“<br />
(Leitung: Klaus Dörre), das wir am FIAB im Rahmen des BMBF-Forschungsverbundes „Integrationsprozesse in<br />
modernen Gesellschaften“ durchführen. Die folgenden Ausführungen sind das Ergebnis gemeinsamer<br />
Diskussionen. Es versteht sich jedoch von selbst, dass die Verantwortung für den vorliegenden Aufsatz den<br />
Autoren obliegt.<br />
2
werden kann. Wie abschließend zu zeigen sein wird, besteht die Besonderheit dieser<br />
Integrationsnorm darin, dass jene Bevölkerungsgruppen positiv bewertet werden, die dem<br />
eigenen Anspruch an unbedingter Leistungserfüllung und hoher Anpassungsbereitschaft<br />
erfüllen, während jene ausgegrenzt werden, die dieser Norm nicht zu entsprechen scheinen.<br />
2. Was ist prekäre Erwerbsarbeit?<br />
Soziologisch betrachtet gibt es keine Erwerbsarbeit, die aufgrund spezifischer Merkmale oder<br />
Eigenschaften an und für sich als „prekär“ bezeichnet werden könnte. Erwerbsarbeit und die<br />
sozialen Umstände, unter denen sie verrichtet wird, sind nicht allein schon deshalb als prekär<br />
zu bezeichnen, weil sie so sind wie sie sind, sondern weil sie in Relation zu anderen<br />
Beschäftigungsformen und ihren jeweiligen sozialen Umständen als prekär bewertet werden.<br />
„Prekarität“ ist als Ergebnis sozialer Zuschreibungen und Klassifikationen auf der Basis eines<br />
normativen Vergleichsmaßstabs. Genauer formuliert kann die „Prekarität“ einer<br />
Erwerbsarbeit nicht substantialistisch, sondern nur im Verhältnis zu<br />
Beschäftigungsverhältnissen bestimmt werden, deren soziale Geltung üblicherweise mit den<br />
Attributen „regulär“ oder „normal“ umschrieben wird. Bevor also geklärt werden kann, was<br />
unter „prekärer“ Erwerbsarbeit zu verstehen ist, ist zunächst der normative Referenzmaßstab<br />
von prekärer Erwerbsarbeit selber, d.h. „normale“ Erwerbsarbeit, in den Blick zu nehmen.<br />
Im Unterschied zu anderen abhängigen Beschäftigungsformen wird oder wurde doch<br />
zumindest lange Zeit von regulärer, „normaler“ Erwerbsarbeit immer dann gesprochen, wenn<br />
mit ihrer Ausübung spezifische Sicherheitsgarantien und Rechtsansprüche verbunden sind,<br />
die eine stabile gesellschaftliche Statusposition begründen. Genauer betrachtet wird das<br />
„Normale“ an „Normalarbeitsverhältnissen“ (Mückenberger 1985) auf sozial generalisierte<br />
Erwartungsmuster bezogen, die mit einem spezifischen Arbeitnehmerstatus verbunden sind:<br />
Diese Erwartungsmuster rekurrierten erstens auf die Unbefristung eines Arbeitsvertrages, die<br />
als selbstverständlich angesehen wird und berufliche bzw. biografische Planungssicherheit<br />
verspricht; zweitens auf ein auf die wöchentlichen und monatlichen Werktage gleichmäßig<br />
verteiltes Arbeitszeitmuster, das sich an der Norm der Vollzeitbeschäftigung orientiert;<br />
drittens auf eine stabile Entlohnung der Arbeitsleistung nach Arbeitszeit, beruflichem Status<br />
und familiärer Stellung; sowie viertens auf ein bestimmtes Niveau der sozialen und<br />
arbeitsrechtlichen Absicherung Bezug nimmt, die als obligatorisch angesehen wird, um als<br />
„Ernährer“ den Lebensunterhalt einer Familie bestreiten zu können. Ein derartiges<br />
„Normalarbeitsverhältnis“ garantiert gesetzliche Schutzrechte, kollektive Tarifleistungen und<br />
betriebliche Vergünstigungen (Betriebsrenten, Sozialpläne, Qualifizierungsmaßnahmen),<br />
wobei hervorzuheben ist, dass das Niveau der sozialen Absicherung mit Dauer der<br />
Betriebszugehörigkeit (Senioritätsprinzip) und der Kontinuität der Erwerbsbiografie<br />
(Sozialversicherungsansprüche) zunimmt. In diesem Zusammenhang ist bedeutsam, dass<br />
diese Standards auch heute noch in großen Teilen der Bevölkerung die Vorstellung von<br />
„normaler“ Erwerbsarbeit prägen, obwohl ihre normative Gültigkeit von maßgeblichen<br />
gesellschaftlichen Eliten in Wirtschaft, Politik und Wissenschaft erheblich unter Druck<br />
3
gesetzt worden ist. 3 An der schrittweisen Neuausrichtung der arbeitsmarktpolitischen<br />
Gesetzgebung der Bundesrepublik seit Mitte der 1980er Jahre ist jedenfalls abzulesen, dass<br />
das Normalitätsmuster abhängiger Erwerbsarbeit in der bislang gültigen Form seine<br />
Selbstverständlichkeit als normativer Bewertungsmaßstab für die gesetzliche Regulierung von<br />
abhängiger Beschäftigung verloren hat. War es beispielsweise noch bis Anfang der 1970er<br />
Jahre das erklärte Ziel von Arbeitsmarktpolitik und Arbeitsrecht, atypische<br />
Beschäftigungsformen an die sozialen Standards „regulärer“ Beschäftigung heranzuführen, so<br />
hat sich das Blatt inzwischen vollständig gewendet. Die Neuausrichtung wird mit der<br />
Erwartung verbunden, dass eine reibungsärmere Reintegration von Erwerbslosen in den<br />
Arbeitsmarkt besser gelingen könne. So sind in den letzten beiden Jahrzehnten mit<br />
Inkrafttreten bzw. Novellierung u.a. des Beschäftigungsförderungsgesetzes (1985), des<br />
Arbeitszeitgesetzes (1994), des Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetzes (1996),<br />
des Teilzeit- und Befristungsgesetzes (2001), Job-AQTIV-Gesetzes (2002) sowie des ersten<br />
(„Hartz 1“) und zweiten („Hartz 2“) Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt<br />
(2003) sukzessive neue gesetzliche Grundlagen geschaffen worden, die darauf abzielen, auf<br />
breiter Linie „atypische“ Beschäftigungsformen zu fördern (vgl. Jahn/Rudolph 2002a, 2002b;<br />
Rudolph 2003). Hinzu kommen eine Reihe weiterer sozial- und arbeitsmarktpolitischer<br />
Weichenstellungen, die sich vom normativen Leitbild sozial geschützter<br />
Normalarbeitsverhältnisse abwenden. Zu nennen ist etwa die Absenkung gesetzlicher<br />
Mindeststandards von Arbeitsverträgen, die Lockerung des Kündigungsschutzes sowie<br />
Leistungskürzungen bei Krankenversicherung und gesetzlichen Rentenbezügen. Und<br />
schließlich wird der Druck zur Aufnahme unterdurchschnittlich geschützter „atypischer“<br />
Erwerbsarbeit dadurch erhöht, dass Unterstützungsleistungen für Erwerbslose gekürzt und<br />
Zumutbarkeitsregeln der Arbeitsvermittlung verschärft werden.<br />
Wie kann nun aber genauer Prekarität in einem relationalen Sinne bestimmt werden?<br />
In der einschlägigen Literatur gilt eine Erwerbsarbeit dann als „prekär“, wenn die für ein<br />
Normalarbeitsverhältnis charakteristischen sozialen, rechtlichen und betrieblichen Standards<br />
unterschritten werden. Demzufolge ist Prekarität nicht identisch mit vollständiger<br />
Ausgrenzung aus dem Erwerbssystem, absoluter Armut, totaler sozialer Isolation,<br />
irreversiblem Kontrollverlust und absoluter Apathie, sondern kann nur an gesellschaftlichen<br />
Normalitätsstandards gemessen werden, die ihrerseits historischen Veränderungen unterliegen<br />
(vgl. Mayer-Ahuya 2003: 14ff.). Die Vorzüge einer derartigen Definition liegen in der strikt<br />
relationalen Herangehensweise sowie darin begründet, dass die strukturellen Veränderungen<br />
von Arbeitsverhältnissen zum Bezugspunkt der Analyse gemacht werden. Um die<br />
Prekarisierungsproblematik in ihrer ganzen gesellschaftlichen Bedeutung in den Blick<br />
nehmen zu können, ist es gleichwohl unverzichtbar, Prekarisierung nicht nur als objektive<br />
Benachteiligung im Sinne einer statistischen Abweichung von einem Normalstandard zu<br />
fassen. Um die Integrationsproblematik atypischer Beschäftigungsformen in einem<br />
umfassenderen Sinne thematisieren zu können, erscheint es sinnvoll, die „objektive“<br />
Identifikation von Prekarisierungsprozessen um eine „subjektive“ Komponente zu erweitern.<br />
3 So besitzt die normative Ausstrahlungskraft „regulärer“ Beschäftigungsverhältnisse gerade auch weiterhin für<br />
diejenigen Beschäftigten Gültigkeit, die sich aus Mangel an „normalen“ Erwerbsmöglichkeiten mit atypischer<br />
Arbeit begnügen müssen. Im sozialen Gespür für den Grad der eigenen erwerbsbiografischen Gefährdung<br />
manifestiert sich die unangefochtene soziale Geltung, die „normale“ Erwerbsarbeit als Richtschnur für ungewollt<br />
befristete und prekär Beschäftigte ausübt.<br />
4
Die Differenzierung zwischen objektiven Prekarisierungsprozessen und subjektiven<br />
Prekarisierungsängsten ist aus folgendem Grunde für die hier verfolgte<br />
integrationstheoretische Fragestellung von zentraler Bedeutung: Der Prekarisierungsbegriff<br />
greift nämlich zu kurz, wenn er lediglich auf ein objektiv messbares, erhöhtes Risiko<br />
instabiler und ungeschützter Beschäftigung Bezug nimmt. Gerade aus einer soziologischen<br />
Perspektive ist es zwingend erforderlich, Prekarisierung immer auch als soziales Phänomen<br />
zu begreifen, das nicht isoliert betrachtet werden kann, sondern an eine relationale<br />
Wahrnehmung zwischen Prekarisierten und Nicht-Prekarisierten gebunden ist. Damit ist ein<br />
klassisches soziologisches Problem angesprochen, nämlich die Frage, wie das Verhältnis<br />
zwischen Erwerbslage und Arbeitsbewusstsein zu beschreiben ist.<br />
Aus dem soeben Gesagten folgt: Neben der Frage nach den sozioökonomischen und<br />
institutionellen Strukturmerkmalen prekärer Beschäftigung dürfen latente oder manifeste<br />
Prekarisierungsängste nicht übersehen werden. So ist immer zugleich auch die subjektiv<br />
artikulierte Sorge in den Blick zu nehmen, die eigene, bisher als sicher wahrgenommene<br />
Beschäftigungssituation könne in einem wachsenden Umfeld prekarisierter Erwerbsarbeit an<br />
Stabilität und Sicherheit einbüßen, selbst wenn dies aufgrund der eigenen „objektiven“<br />
Beschäftigungslage noch so unwahrscheinlich erscheint. Es sind also nicht nur objektive<br />
Prekarisierungsprozesse zu thematisieren, sondern zudem jene subjektiven<br />
Prekarisierungsängste, die auch in bisher noch integrierten Sektoren des Arbeitsmarktes<br />
anzutreffen sind; etwa wenn Befürchtungen aufkeimen, der eigene, durchaus stabile<br />
berufliche Werdegang könne in eine prekäre „Befristungskarriere“ einmünden; mit der<br />
Übernahme des Betriebes durch ein konkurrierendes Unternehmen würden die im Laufe der<br />
Unternehmenszugehörigkeit erworbenen Rechtsansprüche und Schutzregelungen<br />
unterminiert; unternehmensinterne Reorganisationen und Umstrukturierungen würden die<br />
eigene Position innerhalb der betrieblichen Statushierarchie schwächen; der eigene<br />
Arbeitsplatz könnte durch unternehmensexternes Personal („Externe“) substituiert werden;<br />
oder private Finanzierungsmodelle, auf denen ganze Lebensplanungen gründen (z.B.<br />
Hausbau, Immobilienerwerb, private Altersvorsorge) könnten im Falle von erzwungener<br />
Arbeitslosigkeit wie ein Kartenhaus in sich zusammen fallen. Prekarisierungsängste sind<br />
somit sowohl innerhalb als auch außerhalb einer als objektiv prekär definierten Zone des<br />
Arbeitsmarktes in den Blick zu nehmen. Die Ausbreitung derartiger Prekarisierungsängste<br />
verweisen auf den Grad der Verallgemeinerung sozialer Verunsicherung. Von sozialer<br />
Verunsicherung kann immer dann gesprochen werden, wenn sowohl einzelne Lebenspläne als<br />
auch umfassendere Lebenskonzepte bis hin zur Konstruktion berufsbiografischer Identitäten<br />
als bedroht wahrgenommen werden. Nur wenn eine derartige erweiterte Perspektive<br />
eingenommen wird, kann auch das Bedrohungspotential von Prekarisierung und seine soziale<br />
„Ausstrahlung“ auf andere, bislang standardisierte Beschäftigungsformen problematisiert<br />
werden. Selbst wenn nach objektiver Definition Prekarität keine Massenerscheinung ist,<br />
sondern sich auf bestimmte Segmente der Arbeitswelt beschränkt, können<br />
Prekarisierungsängste gesellschaftsweit verbreitet und in Bereichen anzutreffen sein, in denen<br />
diese kaum zu vermuten sind.<br />
<strong>Prekäre</strong> Erwerbsarbeit ist in einem weiten Spektrum atypischer Beschäftigungsformen<br />
anzutreffen, das Zeit- und <strong>Leiharbeit</strong>, Scheinselbstständigkeit, Teilzeitarbeit, geringfügige<br />
Beschäftigung und Vollerwerbsarbeit im Niedriglohnsektor sowie befristete Erwerbsarbeit auf<br />
5
Projekt- und Werkvertragsbasis umfasst. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang, dass<br />
allerdings nicht jede atypische Beschäftigung als prekär bezeichnet werden kann. Hinter ein<br />
und derselben Beschäftigungsform können sich unterschiedliche arbeitsweltliche<br />
Wirklichkeiten verbergen. Stets ist in Rechnung zu stellen, dass ein und dieselbe Arbeitsstelle<br />
mit vergleichbaren sozialen Merkmalen und institutionellen Rahmenbedingungen<br />
unterschiedlich bewertet werden kann. Die Bewertung ist immer zugleich auch von den<br />
berufsbiografisch, soziallagespezifisch oder geschlechtlich gefilterten Erwartungshaltungen<br />
abhängig. Für die allermeisten Formen flexibler, atypischer Beschäftigung gilt gleichwohl,<br />
dass sie ein prekäres Potential (Mayer-Ahuja 2003: 29; Dörre 2003: 24) beinhalten, welches<br />
sich unter genauer zu eruierenden Bedingungen entfalten oder auch eingehegt werden kann.<br />
Das prekäre Potential einer geringfügigen Beschäftigung auf 400-Euro-Basis wird<br />
beispielsweise dann nicht geweckt, sondern schlummert lediglich weiter, wenn diese Tätigkeit<br />
nur deswegen aufgenommen worden ist, um das Erwerbseinkommen eines Familienhaushalts<br />
aufzubessern („Hinzuverdienst“) oder familiäre Verpflichtungen (Kinderbetreuung)<br />
wahrgenommen werden und die betreffende Person ansonsten, etwa über risikoabsorbierende<br />
Haushaltsstrukturen bzw. stabile Partnerbeziehung abgesichert ist. Ändern sich jedoch infolge<br />
von Scheidung oder Trennung die Lebensumstände, dann wird das schlummernde prekäre<br />
Potential buchstäblich über Nacht sozial wirksam und die vormals erwünschte geringfügige<br />
Beschäftigung leicht zu einer Armutsfalle. In aller Regel reicht eine geringfügige<br />
Beschäftigung nämlich weder zur eigenständigen Bestreitung eines existenzsichernden<br />
Lebensunterhalts aus noch garantiert sie die üblicherweise an reguläre Dauer- und<br />
Vollzeitbeschäftigung gekoppelten Rechtsansprüche wie Kündigungsschutz,<br />
Abfindungsregelungen oder Anwartschaften für Rentenansprüche.<br />
Auch reicht der Tatbestand der Befristung keineswegs aus, um das<br />
Prekarisierungspotential eines Arbeitsverhältnisses abschätzen zu können. Vielmehr müssen<br />
die mit einem befristeten Beschäftigung verbundenen Erwartungshaltungen, Erwerbsmotive<br />
und Handlungsoptionen selbst in den Blick genommen werden. Zu fragen wäre deswegen, ob<br />
die Aufnahme einer atypischen Beschäftigung gewollt oder erzwungen ist? Dient diese als<br />
„Sprungbrett“, um auf dem Arbeitsmarkt wieder Fuß zu fassen oder wird sie als provisorische<br />
„Übergangslösung“ wahrgenommen, um eine erwerbsbiografische Lücke auszufüllen?<br />
Ermöglicht sie den Wiedereinstieg ins Berufsleben, z.B. nach der Betreuungsphase von<br />
Kindern im eigenen Haushalt? Wird sie als schlichter „Hinzuverdienst“ angesehen, um das<br />
Haushaltseinkommen „aufzubessern“? Oder wird sie als aufgeherrschter Dauerzustand<br />
angesehen, der keine alternativen Beschäftigungsoptionen mehr zulässt? In dem einen Fall ist<br />
man beispielsweise von Befristung „betroffen“, weil sie die einzige Erwerbsalternative zu<br />
Arbeitslosigkeit darstellt. In dem anderen Fall kann Befristung aber auch eine kaum<br />
vermeidbare Episode im Verlauf einer Erwerbsbiografie sein, um sich bestimmte<br />
Berufschancen und Karrierewege offen zu halten. Natürlich kann sich auch im zweiten Falle<br />
das prekäre Potential einer Befristung entfalten; und zwar zeitversetzt immer dann, wenn sich<br />
die mit dem Umweg einer Befristung verbundenen beruflichen Erwartungen als unrealistisch<br />
erweisen. Allgemeiner formuliert: Ohne einem strukturvergessenen Voluntarismus das Wort<br />
reden zu wollen, ist die Frage der Handlungsfähigkeit (capability) (Giddens 1988)<br />
aufzuwerfen und auf die Gruppe atypisch Beschäftigter zu beziehen, da ansonsten das prekäre<br />
Potential atypischer Beschäftigungsformen unter unterschiedlichen sozialen<br />
6
Kontextbedingungen nicht annäherungsweise abgeschätzt werden kann. Gerade aus einer<br />
aufgeklärten akteurs- bzw. handlungstheoretischen Perspektive, die zugleich den strukturellen<br />
Kontext, in dem gehandelt wird, in Rechnung stellt, macht es jedenfalls einen bedeutsamen<br />
Unterschied, ob einer befristeten Erwerbsarbeit mangels Einkommens- oder<br />
Beschäftigungsalternativen nachgegangen werden muss oder ob unter Abwägung tatsächlich<br />
vorhandener oder erwartbarer alternativer Beschäftigungschancen sowie unter<br />
Berücksichtigung des prinzipiell nie auszuschließenden Prekarisierungsrisikos atypischer<br />
Beschäftigung eine Befristung eingegangen wird. Der Prekarisierungsgrad hängt also immer<br />
auch von den verfügbaren Entscheidungsoptionen bzw. der Wahrscheinlichkeit eines<br />
Wechsels auf eine alternative Stelle (exit option) ab. Mit anderen Worten handeln die sozialen<br />
Akteure in prekärer Beschäftigung stets innerhalb eines Erfahrungshorizontes, der durch die<br />
jeweiligen Grade der objektiven und subjektiv wahrgenommenen Gefährdung der eigenen<br />
Erwerbsbiografie geprägt ist. Auf jeder Prekarisierungsstufe gibt es Beschäftigte, die ihre<br />
Erwerbssituation besser bewältigen können als andere, da sie über Entscheidungsoptionen,<br />
Netzwerke und Ressourcen verfügen, die es erlauben, eher im Sinne eigener Orientierungen<br />
zu handeln. Nicht zuletzt ist festzuhalten, dass prekäre Erwerbsarbeit nicht zwangsläufig in<br />
prekärem Wohlstand einmünden muss. Zwar geht eine prekäre Erwerbslage oftmals mit einer<br />
prekärer Lebensführung einher. Aber prekäre Erwerbsarbeit sollte trotzdem nicht mit<br />
prekärem Wohlstand gleichgesetzt werden. Erfahrungen von Prekarisierung innerhalb der<br />
Arbeitswelt können nämlich, aber müssen nicht außerhalb des Erwerbsbereichs ihre<br />
Fortsetzung finden; sie können auch aufgefangen oder abgemildert werden. Dies hängt von<br />
weiteren, im Folgenden allerdings zu vernachlässigenden außerarbeitsweltlichen<br />
Einflussfaktoren ab, wie z.B. der Stabilität familiärer und anderer gemeinschaftlicher<br />
Netzwerke, der Einkommens- und Vermögensverhältnisse des gesamten Haushalts, der<br />
individuellen „Kapitalausstattung“ im Sinne Pierre Bourdieus usw.<br />
3. Erwerbsarbeit und soziale (Des-)Integration<br />
Seit den 1980er Jahren ist in den Sozialwissenschaften unter dem Schlagwort von der „Krise<br />
der Arbeitsgesellschaft“ (Matthes 1983) immer wieder die These vertreten wurden, dass mit<br />
der Verkürzung der Wochen- und Jahresarbeitszeit sowie mit der Verringerung der in der<br />
Arbeitswelt verbrachten Lebenszeit die soziale Institution der Erwerbsarbeit an<br />
gesellschaftlicher Relevanz verloren habe. Dieser Bedeutungsverlust werde von einem<br />
tiefgreifenden Wandel von Arbeitswerten und Arbeitsverhalten begleitet. Vor allem in der<br />
umfangreichen Lebensstilforschung der 80er und 90er Jahre ist diese Grundannahme<br />
aufgegriffen und der Nachweis versucht worden, dass die soziale Positionierung des<br />
Individuums immer weniger von der Stellung innerhalb der Arbeitswelt abhängt. An deren<br />
Stelle seien andere Handlungsfelder und Aktivitätszentren außerhalb von Büro und Betrieb<br />
(Freizeit, Massenkultur etc.) getreten, in denen sich neuartige soziale Identitäten und<br />
Vergemeinschaftungsformen herausbilden würden, die von weitaus größerer subjektiver<br />
Relevanz seien (Schulze 1992). In jüngerer Zeit hat Ulrich Beck (1999; 2000b) die Debatte<br />
zur „Krise der Erwerbsgesellschaft“ wieder aufgegriffen und mit dem Vorschlag zur<br />
Förderung von „Bürgerarbeit“ sowie anderen Formen „bürgerschaftlichen Engagements“ den<br />
7
Stellenwert der marktvermittelten Erwerbsarbeit zugunsten anderer „nützlicher Tätigkeiten“<br />
zu relativieren versucht. Damit ist die Hoffnung verknüpft, dass der an klassische<br />
Erwerbsarbeit gekoppelte Integrationsmodus der Arbeitsgesellschaft, in der die Erwerbsarbeit<br />
selbst zu einem knappen Gut geworden ist, gelockert und auf andere, nicht-marktgängige<br />
gemeinwohlorientierte Tätigkeiten im sog. Dritten Sektor erweitert werden könne. Dem liegt<br />
die Erwartung zugrunde, dass die normative Aufwertung von „Bürgerarbeit“ dazu beitragen<br />
könne, sinnvolle und notwendige Tätigkeiten jenseits von Markt und Staat zu schaffen, um<br />
das Angebot an Erwerbsarbeit auf dem Arbeitsmarkt zu verringern und die sozialen<br />
Sicherungsnetze zu stabilisieren. Aus einem anderen theoretischen Blickwinkel formulieren<br />
schließlich Kocka/Offe (2000: 11) die Hoffnung, dass angesichts der anhaltenden<br />
Massenarbeitslosigkeit „Erwerbsarbeit zukünftig nicht mehr die zentrale Rolle für<br />
Identitätsbildung und Lebensplanung, soziale Beziehungen und gesellschaftlichen<br />
Zusammenhalt spielen wird, wie wir es aus der Vergangenheit kennen.“ Sicherlich ist<br />
unbestritten, dass die Arbeitswelt schon lange nicht mehr als unhinterfragter Mittelpunkt der<br />
subjektiven Lebenswirklichkeiten angesehen werden kann. Die veränderte Stellung von<br />
Erwerbsarbeit hat allerdings keineswegs zur Folge, dass sie an sozialer Relevanz verliert.<br />
Ganz im Gegenteil: Obwohl die Erwerbsarbeit quantitativ an Umfang eingebüßt hat und die<br />
Freizeit deutlich gewachsen ist, muss oftmals der individuelle Aufwand intensiviert werden,<br />
um den eigenen Arbeitsplatz nicht zu gefährden (höhere Arbeitsbelastung), berufliche Arbeit<br />
dauerhaft ausüben und zunehmende Erwerbsrisiken bewältigen zu können (berufliche<br />
Weiterbildung, „lebenslanges Lernen“). Mit anderen Worten wird Erwerbsarbeit subjektiv<br />
unwichtiger und zugleich immer wichtiger (vgl. bereits Voß 1993: 109).<br />
Visionäre Spekulationen zur „Überwindung der Erwerbsgesellschaft“ kollidieren nicht<br />
nur mit der – empirisch nachgewiesenen – ausgeprägten Erwerbsorientierung breiter<br />
Bevölkerungsgruppen (vgl. Holst/Schupp 1995), die sich gerade auch unter Frauen immer<br />
mehr durchgesetzt hat, sondern sie stehen auch quer zu dem Umstand, dass Erwerbsarbeit<br />
weiterhin einen uneingeschränkt hohen Stellenwert für die Positionierung des Individuums im<br />
sozialen Raum zugeschrieben werden muss. Der Arbeitsmarkt repräsentiert neben dem<br />
Bildungssystem (Müller 1998) eine zentrale Drehscheibe der ungleichen Zuteilung von<br />
Lebenschancen (Kreckel 1992). Die ungebrochene Strahlkraft von Erwerbsarbeit besteht<br />
darin, dass mit ihr eine Reihe fundamentaler Erwartungshaltungen verbunden sind, die eine<br />
stabile soziale Existenz und eine längerfristige Lebensplanung möglich machen. Wenn man<br />
einmal von Einkommen aus Besitz (Vermietung, Verpachtung) und Privatvermögen<br />
(Zinserträge) absieht, dann sind die Reproduktions- und Konsumchancen der allermeisten<br />
Privathaushalte dauerhaft an die Erwerbsbedingungen der modernen Lohnarbeit gebunden.<br />
Auf dem Arbeitsmarkt fallen die Entscheidungen über Art und Niveau der materiellen<br />
Versorgung des Individuums und damit über die soziale Verteilung begehrter Güter. Dies<br />
trifft übrigens auch in gleichem Maße für die nicht-erwerbstätige Bevölkerung zu, die ihren<br />
Lebensunterhalt über Versicherungsleistungen bzw. Versorgungsansprüche bestreitet. So<br />
bemisst sich die Einkommenshöhe von Erwerbslosen, Rentnern oder Studenten an der<br />
eigenen früheren bzw. an der zukünftig erwarteten Erwerbstätigkeit. Und die<br />
sozioökonomische Stellung der Empfänger privater Unterhaltszahlungen wie nichterwerbstätiger<br />
Ehepartner und Kinder hängt wiederum von der Erwerbsposition des<br />
Unterhaltspflichtigen ab. Es sind also nicht nur die Arbeitenden in aller Regel auf<br />
8
Erwerbsarbeit angewiesen, sondern gerade auch die von ihnen wirtschaftlich abhängigen<br />
Haushaltsmitglieder. Darüber hinaus darf nicht übersehen werden, dass angesichts hoher<br />
Scheidungsraten die Ehe immer weniger als lebenslange Versorgungsinstitution gesehen<br />
werden kann. In diesem Zusammenhang signalisiert der säkulare Anstieg der Erwerbsquote<br />
von Frauen in den letzten Jahrzehnten einen weiteren Bedeutungszuwachs marktorientierter<br />
Erwerbsarbeit. Hinzu kommt, dass Familienhaushalte zunehmend auf zwei<br />
Erwerbseinkommen angewiesen sind, wenn ein bestimmter Lebensstandard gesichert werden<br />
soll. 4<br />
Die normative Ausstrahlungskraft von Erwerbsarbeit lässt sich auch daran ermessen,<br />
dass durch sie die materiellen Bedingungen (Geldverfügbarkeit) definiert werden, unter denen<br />
viele nicht-erwerbsbezogene Motive überhaupt erst verfolgt werden können. Unter<br />
Bedingungen einer entwickelten „Marktgesellschaft“ ist Geld ein generalisierter<br />
Eigentumstitel, der die Institution des Sacheigentums transzendiert, da fast schon beliebig<br />
unterschiedliche Wertobjekte erworben werden können. Außerdem ist Geld hinsichtlich<br />
seiner Zweckverwendung offen. Es ist nämlich ein absolut unverzichtbares Mittel, um nicht<br />
nur zweckrationale Motive, sondern insbesondere auch solche wertrationaler oder expressiver<br />
Natur in nicht-vermarktlichten, vergemeinschafteten Handlungsfeldern (Familie, Haushalt,<br />
Freundeskreis, Massenkultur) verfolgen zu können (Simmel 1989; Kraemer 1997: 137ff.). Mit<br />
anderen Worten ist marktvermittelte Erwerbsarbeit gewissermaßen Mittel zum Zweck der<br />
Realisierung nicht-marktlicher Motive außerhalb der Arbeitswelt. Verallgemeinernd folgt<br />
hieraus: Stabile und auf Dauer gestellte Erwerbschancen sind nicht nur eine wichtige<br />
Möglichkeitsbedingung für ökonomische Integration, sondern zugleich auch konstitutiv für<br />
alltagspraktische und symbolische Teilhabechancen an den pluralen Optionen der materiellen<br />
Kultur. Diese Bedeutung der materiellen Kultur für soziale Integrationsprozesse (vgl. Brock<br />
1993; Kraemer 2002) bleibt unverstanden, wenn sie – wie so oft – aus der Introspektive eines<br />
akademischen Bildungsmilieus als kompensatorischer Konsumismus kulturkritisch beklagt<br />
wird.<br />
Die ungebrochene soziale Geltung legaler, marktvermittelter Erwerbsarbeit – auch<br />
Beck (2000a: 46) spricht bezeichnenderweise von einem „Art Daseins-Monopol in unserem<br />
kulturell verordneten Selbstwertgefühl“ – resultiert allerdings nicht nur aus dem Tatbestand,<br />
dass sie die eigenständige Erwirtschaftung des Lebensunterhalts und die Teilhabe an der<br />
materiellen Kultur ermöglicht. Über stabile, kontinuierliche Erwerbsarbeit wird zudem soziale<br />
Anerkennung zugeschrieben. Die identitätsstiftende Bedeutung von Erwerbsarbeit strahlt im<br />
übrigen auch auf nichterwerbstätige Haushaltsmitglieder der Erwerbstätigen aus sowie auf<br />
diejenigen, die noch im Ausbildungssystem sind (z.B. Studenten) oder bereits aus dem<br />
Erwerbsleben ausgeschieden sind (Langzeitarbeitslose, Rentner). Diese innerhalb und<br />
außerhalb der Arbeitswelt zugeschriebene soziale Anerkennung interpretiert Richard Sennett<br />
als „Chemie sozialer Inklusion“ (2000: 433). So wird etwa innerhalb der Arbeitswelt durch<br />
die Zuschreibung von Anerkennung ein wechselseitiges soziales Verhältnis konstituiert, das<br />
als spezifische Norm sozialer Reziprozität (Mauss 1990) interpretiert werden kann. Dadurch<br />
4 Dass weder von einem subjektiven noch von einem objektiven Bedeutungsverlust der sozialen Institution<br />
Erwerbsarbeit gesprochen werden kann, zeigt sich schließlich auch bei jenen, die unfreiwillig ausgeschlossen<br />
sind, den Arbeitslosen (Kronauer/Vogel/Gerlach 1993: 220ff.).<br />
9
werden Sozialbeziehungen im Arbeitsteam, in der Abteilung, innerhalb der<br />
Unternehmenshierarchie stabilisiert und auf Dauer gestellt. Genauer betrachtet handelt es sich<br />
keineswegs um einen symbolischen Austausch unter Statusgleichen, sondern um Rituale<br />
gegenseitiger Anerkennung zwischen den Inhabern unterschiedlicher Status- und<br />
Machtpositionen. In diesen Ritualen wird betriebsöffentlich vergegenwärtigt und zugleich<br />
bezeugt, dass „die Angestellten von den Firmen, für die sie arbeiten, wahrgenommen und<br />
gehört werden“ (Sennett 2000: 433). Diese Rituale können in institutionalisierter Form in den<br />
Ablauf von Betriebsversammlungen, Konferenzen oder Abteilungssitzungen eingebunden<br />
sein oder in den eingeschliffenen Gesten des Betriebsalltags sichtbar werden. Selbst die<br />
vermeintlich sachlichen Tarif- und Entlohnungssysteme transportieren die symbolische<br />
Botschaft der reziproken Anerkennung. Mit der Bezahlung wird nämlich nicht nur in<br />
zweckrationaler Weise eine arbeitsvertragliche Vereinbarung abgegolten, sondern auch<br />
soziale Wertschätzung der geleisteten Arbeit zugeschrieben. Mit der „Deregulierung“ der<br />
Arbeitsmärkte breiten sich nun prekäre Beschäftigungsformen aus, die enger an<br />
(vermeintliche oder tatsächliche) unternehmerische Markterfordernisse gekoppelt werden.<br />
Dadurch wird das funktionale als auch das symbolische Integrationspotential von<br />
Erwerbsarbeit geschwächt. Wenn Arbeitsverhältnisse nur vorübergehend eingegangen werden<br />
und Beschäftigte zwischen befristeten Erwerbsarbeits- und Arbeitslosigkeitszeiten pendeln,<br />
wird nämlich nicht nur die Einkommenssituation prekär, sondern auch der an Erwerbsarbeit<br />
gekoppelte soziale Status.<br />
In den Sozialwissenschaften wird der Desintegrationsbegriff nicht selten als<br />
allgemeine Erklärungsformel verwendet, um relativ unabhängig von konkreten<br />
Entwicklungsprozessen Probleme oder „Störungen“ moderner Gesellschaften (Gewalt,<br />
Anomie, soziale Bindungslosigkeit, Normerosion etc.) beschreiben zu können (vgl. Peters<br />
1993; Friedrichs/Jagodziniski 1999). Demgegenüber soll im Folgenden der<br />
Desintegrationsbegriff nur in einem eingeschränkten Sinne verwendet und ausdrücklich auf<br />
eine konkrete ökonomisch-politisch-soziale Konstellation bezogen werden, nämlich auf die<br />
voranschreitende Internationalisierung nationaler Ökonomien und die Infragestellung lange<br />
Zeit selbstverständlicher sozial- und tarifpolitischer Regulierungsnormen (vgl.<br />
Dörre/Anders/Speidel 1997; Kraemer 2001; Dörre/Röttger 2003; Speidel 2004). Genauer<br />
betrachtet bezieht sich der verwendete Begriff Desintegration darauf, dass soziale<br />
Erwartungen bzgl. der Teilhabe am wirtschaftlichen Fortschritt und gesellschaftlichen<br />
Wohlstand enttäuscht werden. Sowohl die Chance eines kollektiven sozialen Aufstiegs seit<br />
den 1950er Jahren als auch das Niveau der sozialstaatlichen Absicherung des „rheinischen<br />
Kapitalismus“ sind im Laufe der letzten Jahrzehnte zu einem festen Bestandteil legitimer<br />
„Anrechte“ (Dahrendorf 1992) geworden, auf deren Erfüllung sich bislang gesellschaftliche<br />
Integration gründete. Im Zuge der „Globalisierung“ wirtschaftlicher Beziehungen und der<br />
voranschreitenden „Deregulierung“ der Arbeitsmärkte scheint nun die für die fordistische<br />
Epoche charakteristische Selbstverständlichkeit, dass ökonomische Wertzuwächse der<br />
gesellschaftlichen Wohlfahrtsproduktion zugute kommen, zur Disposition gestellt zu werden.<br />
Jedenfalls werden seit geraumer Zeit die institutionellen Arrangements zur De-<br />
Kommodifizierung der Erwerbsarbeit sukzessive wieder eingeschränkt und zurück<br />
genommen. Zu beobachten ist eine breit angelegte, in vielen Bereichen der Arbeitswelt um<br />
sich greifende „Verschiebung der Marktgrenzen“ (Brinkmann 2003), in deren Verlauf<br />
10
marktförmige Kontroll- und Steuerungsmechanismen an Bedeutung gewinnen. Vor dem<br />
Hintergrund dieser und anderer Entwicklungen verblasst das für die politisch-institutionelle<br />
Ordnung der Bundesrepublik konstitutive Versprechen, am „Wohlstand für alle“ teilhaben zu<br />
können, solange man „normaler“ Erwerbsarbeit nachgeht oder zumindest im Falle von<br />
Arbeitslosigkeit bereit ist, „normale“ Erwerbsarbeit anzunehmen, die dem eigenen beruflichen<br />
Qualifikationsniveau entspricht. Im Ergebnis wird der am Modell „normaler“ Erwerbsarbeit<br />
eng gekoppelte Integrationsmodus in Frage gestellt. Dieses enttäuschte Teilhabeversprechen<br />
kann unter genauer zu eruierenden Bedingungen, so die Ausgangsprämisse, soziale<br />
Desintegration begünstigen.<br />
4. Das Untersuchungsfeld <strong>Leiharbeit</strong><br />
Bei der Fallauswahl wurde das von Robert Castel (2000; 2001) entwickelte Zonenmodell<br />
herangezogen, dass bekanntermaßen von einer doppelten Spaltung der Arbeitsgesellschaft<br />
ausgeht. In diesem Modell steht einer schrumpfenden „Zone der Integration“ mit noch immer<br />
geschützten Normarbeitsverhältnissen eine wachsende „Zone der Entkoppelung“ gegenüber,<br />
in der sich die „Entbehrlichen“ der Arbeitsgesellschaft, die dauerhaft aus dem Erwerbsleben<br />
Ausgeschlossenen (Kronauer 2002) befinden. Zwischen diesen beiden Polen bildet sich eine<br />
„Zone der Prekarität“ heraus, die eine bunte Vielfalt flexibler, „verwundbarer“<br />
Arbeitsverhältnisse umfasst und sowohl Zeit- und <strong>Leiharbeit</strong>, geringfügige Beschäftigung und<br />
marginale Selbstständigkeit als auch befristete Projektarbeit sowie Vollerwerbsarbeit im<br />
Niedriglohnsektor einschließt. 5 Um die hier zur Diskussion stehende Frage nach den<br />
schwindenden Integrationspotentialen von Erwerbsarbeit beantworten zu können, erscheint<br />
<strong>Leiharbeit</strong> von besonderem Interesse. Hierbei handelt es sich um eine Erwerbsarbeitsform, die<br />
im Vergleich zu regulären Normalarbeitsverhältnissen weitaus enger an kurzfristige<br />
unternehmerische Marktrisiken gekoppelt und deshalb auch durch deutlich höhere<br />
individuelle Arbeitsmarktrisiken gekennzeichnet ist. 6<br />
Im offiziellen arbeitsmarktpolitischen Diskurs gelten flexible Arbeitsformen wie Zeitund<br />
<strong>Leiharbeit</strong> zumeist als „Brücken in neue Beschäftigung“. Blickt man hingegen auf die<br />
Forschungsliteratur zum Thema Zeit- und <strong>Leiharbeit</strong>, dann fällt die Einschätzung weniger<br />
eindeutig aus. Erste Schätzungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der<br />
5 Auf Basis der verfügbaren quantitativen Daten und Zeitreihen kann die These von der Erosion des<br />
Normalarbeitsverhältnisses und ihrer Substitution durch atypische Beschäftigungsverhältnisse nicht eindeutig<br />
belegt werden. Zu den durchaus widersprüchlichen Befunden zu Stabilität, Struktur und Wandel von<br />
Beschäftigungsformen in der Bundesrepublik vgl. etwa Voß/Pongratz (1998), Beck (1999), Bosch (2000),<br />
Hoffmann/Walwei (2000), Alda (2002), Kim/Kurz (2003), Struck/Köhler (2004), Erlinghausen/Knuth (2004)<br />
und Diewald/Sill (2004). Ein zentrales Problem besteht darin, dass im Rahmen quantitativer Untersuchungen die<br />
innere Erosion von Normalarbeitsverhältnissen nicht hinreichend erfasst werden kann.<br />
6 Nach dem Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG § 1 Abs. 1) kann ein Unternehmen bei temporärem<br />
Personalbedarf, z.B. infolge einer unerwarteten Marktnachfrage oder anderer betriebsinterner Schwankungen,<br />
gegen Honorar Arbeitskräfte („<strong>Leiharbeit</strong>nehmer“) für einen befristeten Zeitraum von einem<br />
Zeitarbeitsunternehmen („Verleiher“) rekrutieren. Von „Überlassung“ wird deswegen gesprochen, weil die<br />
Arbeitskraft einen Arbeitskontrakt mit dem Zeitarbeitsunternehmen abschließt, in dem u.a. festgelegt ist, dass<br />
das Weisungs- bzw. Direktionsrecht des Arbeitgebers für die Dauer des Arbeitseinsatzes auf den entleihenden<br />
Betrieb übertragen wird (vgl. Kvasnicka/Werwatz 2002; Bothfeld/Kaiser 2003, Jahn/Rudolph 2002a, 2002b;<br />
Rudolph 2003)<br />
11
Bundesanstalt für Arbeit zur Übernahmequote von <strong>Leiharbeit</strong>ern in der Bundesrepublik<br />
belaufen sich auf 18,5 % (Pietrzyk 2003: 114). Hinzu kommt, dass die effektive Verweildauer<br />
von <strong>Leiharbeit</strong>nehmern beim verleihenden Unternehmen als gering zu veranschlagen ist. In<br />
90% aller Beschäftigungsverhältnisse ist die Einsatzdauer der Zeitarbeitnehmer geringer als<br />
sechs Monate, bei 66 % liegt sie sogar unter drei Monaten (Jahn/Rudolph 2002b; vgl. auch<br />
Fuchs 2003: 152f. u. Bothfeld/Kaiser 2003: 490). Auf Grundlage der Datenbasis des Third<br />
European Survey on Working Conditions (ESWC), einer Befragung von 21.000<br />
Erwerbstätigen in 15 EU-Mitgliedsstaaten, bestätigen Nienhüser/Matiaske (2003) die Befunde<br />
von Letourneux (1998), dass <strong>Leiharbeit</strong>er – im Vergleich zu Beschäftigten in<br />
Normalarbeitsverhältnissen und bei Kontrolle weiterer Einflussvariablen wie Geschlecht,<br />
Alter und Berufserfahrung – ungünstigere Entlohnungs- und Arbeitsbedingungen (u.a.<br />
physische Belastung, Entscheidungsspielräume, Zeitdruck) vorfinden (vgl. auch Pietrzyk<br />
2003). Erste qualitative Untersuchungen zu spezifischen Beschäftigtengruppen und<br />
Problemkonstellationen verweisen zudem auf einen erheblichen Problemdruck (Vogel 2003;<br />
Noller 2003).<br />
Bei dem Hauptuntersuchungsfall handelt es sich um ein Montagewerk eines großen<br />
deutschen Automobilherstellers, in dem seit Ende 2000 für den Zeitraum jeweils eines Jahres<br />
bis zu 500 <strong>Leiharbeit</strong>er in der Endmontage eingesetzt werden. Um auch andere Formen von<br />
<strong>Leiharbeit</strong> in die Erhebung einzubeziehen, wurden ergänzend Interviews mit vorwiegend<br />
langjährigen <strong>Leiharbeit</strong>ern desselben Verleihunternehmens außerhalb der Automobilindustrie<br />
durchgeführt (kontrastierendes Untersuchungsdesign). 7 Der Einsatz von <strong>Leiharbeit</strong>ern in dem<br />
untersuchten Automobilwerk ist alles andere als selbstverständlich gewesen. Die betriebliche<br />
Interessenvertretung sowie die Gewerkschaft hatten sich aufgrund eigener<br />
Unvereinbarkeitsbeschlüsse bislang kategorisch gegen den Einsatz von Zeitarbeitern<br />
ausgesprochen. Auch das Management bzw. die Personalabteilung hatte den Einsatz von<br />
<strong>Leiharbeit</strong>ern in der Montagefertigung nie ernsthaft erwogen. Ende der 90er Jahre wandelte<br />
sich jedoch das Bild, nicht zuletzt auch unter dem Eindruck, dass konkurrierende<br />
Automobilhersteller dazu übergingen, <strong>Leiharbeit</strong>er einzustellen. Entscheidend war die<br />
betriebsökonomische Überlegung, mit dem Einsatz von <strong>Leiharbeit</strong>ern ein besonders flexibles<br />
Instrument zur Anpassung des Personalbedarfs an externe Markt- bzw.<br />
Nachfrageschwankungen (Produktionsspitzen) sowie auch an betriebsbezogene und saisonale<br />
Sonderbedingungen in die Hand zu bekommen. Konkreter Anlass war der Produktionsanlauf<br />
eines neues Pkw-Modells, wofür temporär bis zu 500 zusätzliche Bandarbeiter benötigt<br />
wurden. Erst die Drohung der Geschäftsleistung, eine komplette Produktionsstraße ins<br />
Ausland zu verlagern, löste ein Umschwenken der betrieblichen Interessenvertretung aus. Der<br />
Gesamtbetriebsrat stimmte dem Ansinnen des Managements schließlich unter dem Vorbehalt<br />
7<br />
Im Rahmen zweier Erhebungswellen wurden im Jahr 2003 leitfadenorientierte Einzelinterviews und<br />
Gruppengespräche durchgeführt. Die Befragung des Hauptuntersuchungsfalls beschränkte sich nicht auf<br />
<strong>Leiharbeit</strong>er im Automobilwerk, sondern bezog ausdrücklich auch ehemalige <strong>Leiharbeit</strong>er und Festangestellte<br />
des gleichen Werks ein, um die Wahrnehmung prekärer Beschäftigung durch Mitglieder der Stammbelegschaft<br />
einfangen zu können. Im kontrastierenden Untersuchungsfall wurden mehrjährige <strong>Leiharbeit</strong>er befragt, die bei<br />
einer Niederlassung desselben Zeitarbeitsunternehmens beschäftigt sind. Hinzu kamen Experteninterviews mit<br />
zuständigen Gewerkschaftern sowie Managementvertretern des untersuchten Verleihunternehmens. Im Ganzen<br />
wurden 19 Einzelinterviews und 2 Gruppenbefragungen mit insgesamt 25 Teilnehmern durchgeführt. Zur<br />
methodischen Vorgehensweise und Einordnung des Untersuchungsfalls <strong>Leiharbeit</strong> vgl. Dörre/Kraemer/Speidel<br />
(2003: 3ff.).<br />
12
zu, dass keine Fertigungsstraße ausgelagert wird und die angeworbenen <strong>Leiharbeit</strong>er<br />
tarifvertraglich entlohnt werden. Die auf dieser Grundlage abgeschlossene<br />
Betriebsvereinbarung ist insofern bemerkenswert, als das Entlohnungsniveau von<br />
<strong>Leiharbeit</strong>ern in der westdeutschen Automobilindustrie üblicherweise weit geringer ist.<br />
Nachdem das Automobilunternehmen vergeblich versucht hatte, Metallfacharbeiter in<br />
Ostdeutschland für den Zeitraum eines Jahres anzuwerben, wurde ein großes<br />
Zeitarbeitsunternehmen mit der Rekrutierung des Personals betraut. Seit 2000 stehen nun<br />
30.000 Mitgliedern der Stammbelegschaft bis zu 500 – vornehmlich ostdeutsche –<br />
Zeitarbeitnehmer gegenüber. Vorbehalte innerhalb der Stammbelegschaft, die angeworbenen<br />
<strong>Leiharbeit</strong>er seien nicht hinreichend qualifiziert und würden den Arbeitsanforderungen in der<br />
Bandmontage nicht genügen, entpuppten sich rasch als abwegig. Schließlich handelte es sich<br />
ausnahmslos um gut qualifizierte, hoch motivierte Arbeitskräfte mit abgeschlossener<br />
Metallfacharbeiterausbildung. So berichtet ein ehemaliger Sales- und Operationsmanager des<br />
Zeitarbeitsunternehmens, der den Einsatz der interviewten <strong>Leiharbeit</strong>er in dem<br />
Automobilunternehmen organisiert hat, dass die in der Zeitarbeitsbranche sonst übliche hohe<br />
Zurückweisungsquote durch die entleihenden Unternehmen in diesem Fall äußerst gering<br />
ausgefallen ist:<br />
„Zunächst gab es beim Autohersteller eine Riesenskepsis gegenüber den Zeitarbeitern. Von der<br />
Personalabteilung, die Zeitarbeit wollten, bis zu den Leuten am Band. Die größte Skepsis war gegenüber der<br />
Qualifikation. ´Zeitarbeitsleute, das sind doch alles Leute, die nix können!´ Dann hat man aber sehr schnell<br />
gemerkt, dass unsere Leute sehr wohl ´was können. Nur zwei Leute musste ich wegen Qualifikationsmängel<br />
nach Hause schicken. (...) Das ist ein Bombenergebnis. Die Qualifikation der Leute, die wir im Autowerk<br />
eingesetzt haben, ist für Zeitarbeiter absolut unüblich. (...) Zum großen Teil haben unsere Leute am Band die<br />
komplizierteren Arbeiten übernommen. Z.B. ´Über-Kopf-Arbeit´ - was von den Festen keiner machen will und<br />
eher selten ist, weil das Auto wird eben in ´nen Schlitten gehängt und gedreht, weil man nicht über Kopf arbeiten<br />
will. Das Auto wird gedreht und nicht der Mitarbeiter reckt sich. Auch die Endabnahme für das neue Modell<br />
machen unsere Leute. Weil die Leute hoch qualifiziert sind.“ Etwas später fügt er hinzu: „Und da gab es noch<br />
´was ganz tolles. Da wurde einer von uns krank. Und am nächsten Tag kam jemand anders an seinen<br />
Arbeitsplatz. Das gab´s im Autowerk vorher gar nicht. Wenn einer aus der Stammbelegschaft krank wird, dann<br />
passiert erst mal 6 Wochen gar nix. Es sei denn, die Produktion bricht zusammen. Ansonsten gibt´s kein Ersatz.<br />
Da ist immer ein Wahnsinnskampf für die Gruppenleiter, neue Leute zu kriegen. Bei uns war plötzlich alles<br />
anders. ´Morgen ist Ersatz da.´ Wir haben uns vorher riesig Gedanken gemacht, was ist, wenn einer von uns<br />
krank ist. Dann würde es großen Ärger geben. Aber es war alles anders: Die haben uns geliebt, weil morgen ein<br />
neuer Mann da stand. Das kannten die nicht von der eigenen Personalabteilung.“ (BEx2: 14f.)<br />
Vor diesem Hintergrund kann es kaum überraschen, dass, wie von den Befragten<br />
übereinstimmend berichtet wird, die Integration der <strong>Leiharbeit</strong>er in die Fertigungsgruppen der<br />
Bandmontage vergleichsweise problemlos gelungen ist. Auch im Vergleich zur üblichen<br />
Entlohnung von <strong>Leiharbeit</strong>ern (8 € Stundenlohn bei einem konkurrierenden Autohersteller,<br />
5,50 € für gewerbliche <strong>Leiharbeit</strong> als „Helfer“ in Ostdeutschland) werden sie<br />
überdurchschnittlich gut bezahlt (12,50 €). Mit gewerkschaftlicher Unterstützung und einer<br />
eigens gewählten Tarifkommission 8 haben sie darüber hinaus bessere Wohnbedingungen, die<br />
Zahlung einer „Auslöse“ (10 € pro abwesendem Tag vom Wohnort) sowie die Übernahme der<br />
Fahrkosten für monatliche Heimfahrten kollektiv erkämpfen können. Insofern verwundert es<br />
nicht, wenn der befragte Projektmanager von einem sehr ungewöhnlichen Einsatz von<br />
„Zeitarbeitern auf Facharbeiterlohnniveau“ (BEx2: 13) spricht. Ganz ähnlich ist unter den<br />
8 Vor allem die Selbstorganisation der <strong>Leiharbeit</strong>er und die Bildung einer Tarifkommission zur Durchsetzung<br />
eigener Interessen ist in der Zeitarbeitsbranche ein bis dato beispielloser Vorgang.<br />
13
ostdeutschen <strong>Leiharbeit</strong>ern unisono von einem „Toppverdienst“ (B2: 3) die Rede oder davon,<br />
dass Arbeit im Automobilwerk „besser ist als Sozialismus“ (B3: 14). Und dennoch empfinden<br />
die befragten <strong>Leiharbeit</strong>er ihre Situation ausnahmslos als unbefriedigend, belastend, eben als<br />
prekär. Selbst die Wenigen, die den Sprung in die Stammbelegschaft geschafft haben,<br />
sprechen im Nachhinein von einer Grenzsituation. Ausschlaggebend dafür sind sicherlich<br />
einige für <strong>Leiharbeit</strong>nehmer außergewöhnliche Sonderbedingungen, die im untersuchten Fall<br />
zu einer Kumulation von Problemlagen führt. Zuallererst ist anzuführen, dass die<br />
<strong>Leiharbeit</strong>er, deren Wohnort bis zu 500 km vom Arbeitsort entfernt ist, anfänglich für einige<br />
Monate in einem spartanisch ausgestatteten Containerdorf mit Doppelzimmerbelegung<br />
(Zimmergröße incl. Frei- und Stellfläche 8 m 2 , Benutzung einer Nasszelle von 4 Personen)<br />
und ohne soziale Infrastruktur untergebracht worden sind. 9 Die räumliche Trennung von<br />
Familie bzw. Partnerin wird als belastend wahrgenommen, wobei die Befragten angeben, dass<br />
allein schon wegen des Wechselschichteinsatzes (z.B. Ende der Spätschicht freitags 22.00,<br />
Beginn der Frühschicht montags 6.00) wöchentliche Heimfahrten kaum möglich seien.<br />
Aufgrund der problematischen Wohnunterbringung müssen zudem basale Ansprüche auf<br />
Privatheit und ein „eigenes Stück Leben“ in der arbeitsfreien Zeit auf ein Minimum<br />
heruntergeschraubt werden. Eine an Normalitätsstandards orientierte alltägliche<br />
Lebensführung ist unter diesen Bedingungen undenkbar. Ein ostdeutscher <strong>Leiharbeit</strong>er<br />
schildert:<br />
„Also ich habe einen Kollegen mal im Zimmer gehabt, der einfach wie jeder Mensch nach der Arbeit geschlafen<br />
hat und dann nachts ein bisschen länger wach geblieben ist und dann Fernsehen geguckt hat, und ich bin eben<br />
nach der Arbeit wach geblieben, und da ist man eher so 22:00, 23:00 Uhr ins Bett gegangen, also, da gab es<br />
immer mal wieder Reibereien.“ (B1: 2) Und ein anderer Befragter fügt lakonisch hinzu: „Wenn die Freundin<br />
gekommen ist, dann hat man sich halt irgendwo ein Zimmer genommen, im Hotel oder in der Pension.“ (B5: 8)<br />
9 Obwohl derartige Wohnunterbringungen bei Einsätzen von Montagearbeitern keineswegs ungewöhnlich sind,<br />
haben die befragten <strong>Leiharbeit</strong>er diese Zeit als außeralltäglichen Ausnahmezustand erlebt. Zum einen sind bei<br />
der Anwerbung der <strong>Leiharbeit</strong>er falsche Erwartungen geschürt wurden [versprochen wurden „Wohnparks“ –<br />
d.A.]. Zum anderen wurden die <strong>Leiharbeit</strong>er im Gegensatz zu klassischen Montagarbeitern in einem von<br />
regulären Beschäftigungsverhältnissen dominierten Arbeitsumfeld mit regulären Arbeits- und Freizeiten<br />
eingesetzt. Hierauf hat der bereits weiter oben zitierte Projektmanager des Zeitarbeitsunternehmens aufmerksam<br />
gemacht: „Die Zeitarbeiter, die schon mal vorher Monatagearbeiter waren, die haben gewusst was sie erwartet.<br />
Bei Montage arbeiten die Leute 12, 13 Stunden, da ist denen Arbeitszeitordnung völlig pipegal, arbeiten bis zum<br />
Umfallen, legen sich in die Koje, hauen sich noch ein Bier rein und am nächsten morgen geht es weiter. Dann<br />
machen sie lange Pause, weil sie klotzig Geld verdient haben, in den 3 Monaten, in denen sie irgendwo auf<br />
Monatage gearbeitet haben (...). Und sie machen es freiwillig. Sie haben sich entschieden auf Montage gehen,<br />
weil sie da in kurzer Zeit, mit ihrer Qualifikation, sie können ja 12 Stunden arbeiten, von den 12 Stunden sind 4<br />
Stunden Überstunden, richtig Geld verdienen können. Auslöse obendrauf, werden billig untergebracht, haben<br />
keine Kosten. Montage ist vom Geld sehr attraktiv. Wenn sie es drei Monate machen, haben sie die Auslöse 3<br />
Monate steuerfrei, dann gehen auf die nächste Baustelle haben wieder 3 Monate Auslöse steuerfrei. (...). Und<br />
dass noch mit Überstundenzuschlägen, Samstags- und Sonntagszuschlägen. (...) Unsere Zeitarbeiter haben einen<br />
ganz anderen Anspruch gehabt: Sie hatten zumeist 8 Stunden gearbeitet und haben sehr viel Freizeit. Und mit<br />
dieser Freizeit einen ganz anderen Anspruch. Nur in die Kiste liegen und warten bis es am nächsten Morgen<br />
weitergeht, machte niemand (...). Damit hatten sie auch einen anderen Anspruch an Unterbringung. Und das<br />
haben wir am Anfang nicht so gesehen. (...) Die Leute arbeiten 7,5 Stunden, d.h. sie sind irgendwo 15 Stunden in<br />
ihrer Wohnung. Die gehen natürlich auch ´raus und sind in der Kantine oder sie sind in der Kneipe, aber im<br />
Grunde genommen ist das in der ganzen Woche ihr Zuhause und sie haben nicht wirklich dort eine Privatsphäre.<br />
(...) Ich selber würde mich dort sehr unwohl fühlen.“ (BEx2: 22-24)<br />
14
Nicht zuletzt wird auch von den Befragten, die allesamt über eine qualifizierte<br />
Metallfacharbeiterausbildung verfügen, der unterwertige Einsatz in der montonen<br />
Bandmontage unter Akkordbedingungen beklagt. Doch es gibt auch Gründe, die sich<br />
verallgemeinern lassen und im folgenden Abschnitt genauer dargelegt werden sollen.<br />
5. Integration und Desintegration in der „Zone der Prekarität“<br />
Für einen Großteil der Befragten bedeutet <strong>Leiharbeit</strong> die fortwährende Auseinandersetzung<br />
mit einem Status, der die Betreffenden im Castel’schen Sinne „verwundbar“ macht. Je länger<br />
die Befragten in einer solchen Position verharren, desto wahrscheinlicher sind soziale<br />
Desintegrationseffekte. Von prekärer Beschäftigung kann in den untersuchten Fällen schon<br />
deshalb gesprochen werden, weil sich die Beschäftigungssituation der Befragten von anderen,<br />
als „normal“ wahrgenommenen Beschäftigungsverhältnissen durch strukturelle<br />
Benachteiligungen unterscheidet, die nicht nur den Zugang zu Ressourcen und Rechten,<br />
sondern auch die Anerkennungsbeziehungen betrifft. So gelangen die befragten <strong>Leiharbeit</strong>er<br />
des Hauptuntersuchungsfalls in den Genuss eines existenzsichernden Einkommens nur<br />
vorübergehend; nach Ablauf des einen Jahres drohen Niedriglöhne, die im Segment der<br />
Zeitarbeit üblich sind, oder Arbeitslosigkeit, der sie mit der Aufnahme der <strong>Leiharbeit</strong><br />
entflohen sind.<br />
In diesem Zusammenhang machen die befragten <strong>Leiharbeit</strong>er des<br />
Hauptuntersuchungsfalls die Erfahrung, dass trotz tariflicher Bezahlung und der Gewährung<br />
von Überstundenzulagen die im Automobilunternehmen sonst üblichen Sicherheitsgarantien<br />
wie Kündigungsschutz und Abfindungsansprüche für sie keine Gültigkeit besitzen. Auch an<br />
sonstigen betrieblichen Entgeltregelungen (z.B. Höhergruppierung, Überschussbeteiligung,<br />
Weihnachts- und Urlaubsgeld), die der Stammbelegschaft gewährt werden, vermögen sie<br />
kaum oder gar nicht zu partizipieren. Hinzu kommt, dass die befragten <strong>Leiharbeit</strong>er<br />
institutionell abgesicherte Partizipationschancen in der Arbeitswelt nur bedingt wahrnehmen<br />
können. Im verleihenden Unternehmen existiert kein Betriebsrat, der sich um die Belange der<br />
<strong>Leiharbeit</strong>er kümmern würde; die Interessenvertretung des entleihenden Automobilherstellers<br />
fühlt sich erst nach einigem Zögern und nur „auf Zeit“ zuständig. Faktisch fungiert die von<br />
den <strong>Leiharbeit</strong>ern gewählte Tarifkommission als Betriebsrats-Ersatz; das aber auch nur,<br />
sofern jede neu ankommende „<strong>Leiharbeit</strong>ergeneration“ diese Form der kollektiven<br />
Interessenvertretung aktiv fortführt. Aufgrund der befristeten Beschäftigungsdauer beim<br />
entleihenden Unternehmen ist das Gefühl permanenter Beschäftigungsunsicherheit<br />
allgegenwärtig. In aller Regel wird nämlich den <strong>Leiharbeit</strong>ern nach einjährigem<br />
Arbeitseinsatz im Automobilwerk aufgrund nicht vorhandener Anschlusseinsätze vom<br />
Verleihunternehmen betriebsbedingt gekündigt. Ein <strong>Leiharbeit</strong>er beschreibt seine soziale<br />
Situation mit den folgenden Worten:<br />
15
„Der größte Nachteil [der <strong>Leiharbeit</strong> – d.A.] ist, wir sind nicht fest angestellt. Der Verdienst ist zwar gut, aber es<br />
könnte morgen schon vorbei sein mit dem großen Verdienst. Wenn die [das entleihende Unternehmen – d.A.]<br />
sagen: ´wir brauchen keine Leute mehr´, dann war´s das. Der große Nachteil bei einer nicht festen Stelle ist, man<br />
weiß nie, wo man hingehört richtig. Ich bin zwar irgendwie anerkannt, aber so richtig gehöre ich nicht dazu. Die<br />
Arbeit kann ganz schnell weg sein, denn zuerst gehen die <strong>Leiharbeit</strong>er, wenn es bei einem Werk schlechter geht<br />
und dann kommen erst die Festarbeiter. Man darf gar nicht drüber nachdenken. Sich jeden morgen freuen, dass<br />
man noch Arbeit hat. (...) Wir <strong>Leiharbeit</strong>er können bloß von heute auf morgen denken. Mein größter<br />
Wunschtraum ist: hier eine Festanstellung, weil es ja doch eine gewisse Sicherheit mit sich bringt. Wir können<br />
auch keine Fortbildung machen. Wir sind nur dafür da, unsere Arbeit zu machen“. (B2: 8)<br />
Von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, gelten diese Aussagen für die Mehrzahl der<br />
befragten <strong>Leiharbeit</strong>er. Daraus folgt: Das prekäre Potential der <strong>Leiharbeit</strong> wird selbst dort<br />
manifest, wo die Arbeitsbedingungen noch einigermaßen annehmbar sind. Dauerhafte<br />
Beschäftigungs- und Einkommensunsicherheit, geringe Partizipationschancen und die<br />
allenfalls schwach entwickelte Identifikation mit der eigenen Arbeitstätigkeit verstärken sich<br />
wechselseitig und münden in eine Erwerbslage, die sich durch massive soziale<br />
Desintegrationseffekte auszeichnet. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien drei<br />
Dimensionen sozialer Desintegration hervorgehoben, die von besonderer Bedeutung sind.<br />
1. Blockierte Lebensplanung und Kontrollverlust<br />
<strong>Prekäre</strong> <strong>Leiharbeit</strong> wirkt desintegrierend, weil sie den Beschäftigten jede Möglichkeit zu einer<br />
längerfristig ausgerichteten, stabilen Lebensplanung nimmt. Familiengründung, Elternschaft<br />
oder Wohneigentum, die in der Lebensplanung „normaler“ Industriearbeiter eine zentrale<br />
Rolle spielen, werden gerade für die jüngeren <strong>Leiharbeit</strong>er insbesondere dann zu einem nicht<br />
kalkulierbaren Risiko, wenn der Lebensunterhalt eigenständig erwirtschaftet werden muss.<br />
Gerade im Vergleich zu Festangestellten, die eine ähnliche oder sogar identische<br />
Arbeitsaufgabe am Fließband verrichten, wird die Möglichkeit der eigenen privaten<br />
Lebensplanung als blockiert wahrgenommen. So berichtet ein 25-jähriger <strong>Leiharbeit</strong>er:<br />
„Ich habe einen Arbeitskollegen, der 23 ist. Der ist fest hier. Der hat zwei Kinder und ein Haus.“ (B9-2: 17). Und<br />
ein anderer Befragter der gleichen Alterskohorte fügt hinzu: „Aufgrund der jetzigen Lage ist das nicht möglich.<br />
Man möchte dem Kind ja auch was bieten können, eine gewisse Zukunft garantieren. Das kann ich aber nicht. Es<br />
muss erst das eine kommen, dann das andere. (...) Die [gemeint sind die Festangestellten – d.A.] sind halt schon<br />
mitten drin. Sagen wir mal so: Da hängen wir hinterher.“ (B9-1: 17f.)<br />
Selbst mit Blick auf kürzere Fristen gilt, dass private Planungssicherheit, die für ein „gutes“<br />
Leben unverzichtbar ist, erheblich erschwert wird. Wenn Zeitarbeitnehmer von einem zum<br />
anderen entleihenden Unternehmen „wandern“, ist das zwangsläufig mit<br />
Unsicherheitserfahrungen verbunden. Das gilt um so mehr, als die Übergänge zwischen den<br />
Arbeitseinsätzen häufig durch Phasen erzwungener Arbeitslosigkeit unterbrochen werden. So<br />
berichten einige Befragte, die bereits in anderen Unternehmen als <strong>Leiharbeit</strong>er beschäftigt<br />
waren, dass das Verleihunternehmen ihnen nach Beendigung des Arbeitseinsatzes keine neue<br />
Arbeitsstelle anbieten konnte. In anderen Fällen waren die finanziellen Konditionen einer<br />
neuen Einsatzmöglichkeit, die Entfernung zwischen Einsatz- und Wohnort, die<br />
Arbeitstätigkeiten oder Qualifikationsanforderungen weit unter dem Niveau der zuvor<br />
ausgeübten Tätigkeit. Zudem kann der stete Wechsel zwischen unterschiedlichen<br />
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Arbeitsplätzen innerhalb weniger Wochen oder Monate die private Organisation des Alltags<br />
einschließlich der Freizeitaktivitäten (genannt wird etwa ehrenamtliches Engagement in<br />
Vereinen und <strong>Jugend</strong>verbänden) erheblich beeinträchtigen. Das gilt vor allem, wenn<br />
unterschiedliche Arbeitszeitregelungen bei den verschiedenen Entleihunternehmen keinen<br />
verlässlichen Zeitrahmen für kontinuierliche lebensweltliche Aktivitäten in Familie,<br />
Freundeskreis und Freizeit zulassen. Diese Diskontinuität der Arbeitszeiten beklagt ein<br />
befragter <strong>Leiharbeit</strong>er, der außerhalb der Automobilindustrie eingesetzt wird, mit den Worten:<br />
„Ich weiß nicht, wie ich weiter planen soll. Wenn ich zum Beispiel nach dem 30.09. einen anderen Job habe. Wo<br />
wird er sein? Wie weit muss ich fahren? Wie sind die Arbeitszeiten? Tagsüber oder Nachtschicht? Und am<br />
Wochenende? Wann habe ich nächste Saison Training? Um wie viel Uhr? Teilweise um 5h, teilweise um 7h.<br />
Also da steckt mein größtes Problem.“ Und allgemein fügt er hinzu: „Bin nicht verheiratet. Ich lebe alleine. Ist –<br />
wenn man wie ich so hin und her – ja auch fast unabdingbar.“ (F1: 15)<br />
2. Ausschluss von beruflicher Weiterbildung, Verstetigung der Prekarität<br />
Bei jüngeren <strong>Leiharbeit</strong>ern der Geburtskohorte 1970-1980 sind wir auf ein weiteres Problem<br />
gestoßen, dem in der Forschungsliteratur bislang zu wenig Beachtung geschenkt worden ist.<br />
Das <strong>Leiharbeit</strong>sverhältnis wird gerade von den jüngeren Befragten mit guter<br />
Facharbeiterausbildung als latente berufsbiografische Bedrohung wahrgenommen. Je<br />
entwickelter bestimmte berufsbezogene Ansprüche an gute Erwerbsarbeit sind, desto<br />
intensiver wird diese Bedrohung erfahren. Gerade weil die jüngeren Befragten allesamt über<br />
eine erfolgreich abgeschlossene Facharbeiterausbildung verfügen, wird das <strong>Leiharbeit</strong>erdasein<br />
im Sinne klassischer Statusinkonsistenz auch als ausbildungsinadäquate, unterwertige<br />
Beschäftigung wahrgenommen. Aus dieser Perspektive erscheint <strong>Leiharbeit</strong> als Synonym für<br />
Tätigkeiten mit Dequalifizierungstendenzen. Mehr noch: <strong>Leiharbeit</strong> gilt sogar unter den<br />
gutqualifizierten Befragten als besonders benachteiligte Beschäftigungsform, da mit ihrer<br />
Ausübung alle beruflichen Weiterbildungsaspirationen blockiert sind – und dies in einer Zeit<br />
sich ständig wandelnder Qualifikationsanforderungen auf dem Arbeitsmarkt<br />
(Kraemer/Bittlingmayer 2001). Nach Einschätzung vieler Befragter ist Beschäftigung auf<br />
Basis des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes (AÜG) sogar mit einer Teilhabe an<br />
institutionalisierter beruflicher Weiterbildung faktisch unvereinbar, da in aller Regel das ver-<br />
als auch das entleihende Unternehmen lediglich an einer kurzfristigen Einsatzfähigkeit der<br />
Arbeitskraft interessiert ist. Die insbesondere unter den jüngeren Befragten verbreitete<br />
Hoffnung, über den Umweg der „Warteschleife <strong>Leiharbeit</strong>“ den Wiedereinstieg in ein<br />
unbefristetes, sozial geschütztes Beschäftigungsverhältnis zu schaffen, wird deswegen<br />
durchaus auch als ungedeckter, riskanter Wechsel auf die Zukunft wahrgenommen. So<br />
berichtet etwa ein Befragter:<br />
„Das Schlimme ist, ich kann ja nicht mal sagen, ich mach meinen Meister oder Techniker nebenbei. (...) Ich habe<br />
nachgefragt, aber aufgrund meines Schichtmodells geht es nicht. Bei den Festen ist es so: Wenn die ihren<br />
Meister machen, dann werden sie für die Schulzeiten freigestellt. Wer stellt mich frei? Bei der Zeitarbeitsfirma<br />
keiner. Das ist so, dass ich drei Mal die Woche zum theoretischen Institut müsste und dann auch Samstags. Aber<br />
den Samstag brauche ich, um nach Hause zu fahren. Es haut einfach nicht hin. (...) „Ich würde es gerne machen.<br />
Ich will ja auch für mich was tun. Das, was ich jetzt hier mache, die Arbeit, die hier tue, ist zwar schön und die<br />
bringt mir Geld. Aber die bringt mich im Kopf nicht weiter. Und das ist auch ein Problem. Ich will nicht mit<br />
17
dreißig dastehen und eine Berufsausbildung von 1998 haben. Was habe ich denn da. Dann bin ich 12 Jahre bloß<br />
arbeiten gegangen und bin nicht weitergekommen. Das ist doch schlimm. Das ist doch krank“. (B9-1: 14 u. 15)<br />
Und ein anderer befragter <strong>Leiharbeit</strong>er berichtet: „Hier im Unternehmen, das ist mein längster Einsatz an einer<br />
Stelle. Ich bin manchmal wochenweise wo anders hingereist oder für zwei Wochen. Erst unten am Bodensee, 14<br />
Tage später haben sie mich hoch nach Hamburg geschickt, quer durch Deutschland. Da kannst du gar nicht<br />
versuchen irgendwo was anzufangen, eine Weiterbildung oder so.“ (B9-3: 15)<br />
Viele Interviewpartner haben denn auch einen ausgeprägten Sinn dafür entwickelt, dass die<br />
durch Arbeitslosigkeit und <strong>Leiharbeit</strong> erzwungene Diskontinuität des eigenen Berufsweges<br />
nicht nur den Wiedereinstieg in akzeptable, „normale“ Erwerbsarbeit erschwert, sondern auch<br />
die Fortführung der „unterbrochenen“ Berufskarriere auf einem einmal erreichten sozialen<br />
Level gefährdet. Je größer die Sorge, Zeitarbeit könne zum Abbruch des beruflichen<br />
Karrierepfades führen, desto stärker das Empfinden, einer prekären Lage dauerhaft<br />
ausgeliefert zu sein. Ganz in diesem Sinne wird <strong>Leiharbeit</strong> von einer Gruppe überwiegend<br />
älterer <strong>Leiharbeit</strong>er als fast schon auswegslose Beschäftigungsform interpretiert, die eine<br />
Rückkehr in „normale“ Erwerbsarbeit unwahrscheinlich werden lässt. Für eine Verstetigung<br />
prekärer Beschäftigung spricht auch die Abfolge beruflicher Stationen und Tätigkeiten, die<br />
wir bei älteren <strong>Leiharbeit</strong>nehmern ermittelt haben. Gerade die älteren Befragten aus<br />
Ostdeutschland schildern ihr Berufsleben nach 1990 als permanenten Wechsel zwischen<br />
befristeten, häufig nicht qualifikationsadäquaten Arbeitstätigkeiten und längeren Phasen der<br />
Erwerbslosigkeit. Beinahe fraglos gehen sie davon aus, dass auf die Montagetätigkeit bei dem<br />
Automobilhersteller Arbeitslosigkeit folgen wird. Und wie selbstverständlich offerieren sie<br />
ein Arsenal an Alltagstechniken, das ihnen ein Überleben in Unbeständigkeit ermöglichen<br />
soll. Unsicherheitserfahrungen in Permanenz werden offenkundig habitualisiert – ein starkes<br />
Indiz dafür, dass sich zumindest ein Teil der Zeitarbeitnehmer auf ein Leben in der „Zone der<br />
Prekarität“ einrichtet.<br />
3. Statusinkonsistenz und geliehene Anerkennung<br />
Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang, dass die ungleiche Verteilung von Anrechten<br />
und Privilegien innerhalb der betrieblichen Sozialhierarchie symbolisch übersetzt und in Form<br />
unterschiedlichster Grenzmarkierungen reproduziert werden. Hierbei dürfen die<br />
ausgrenzenden Effekte keineswegs unterschätzt werden, die von der Setzung symbolischer<br />
Unterscheidungen ausgehen können. So kann der prekäre soziale Status von<br />
<strong>Leiharbeit</strong>snehmern in der betrieblichen Sozialhierarchie und die daraus resultierenden<br />
Anerkennungsdefizite rasch desintegrierend wirken. Daraus folgt aber auch, dass immer dann,<br />
wenn bestimmte diskriminierende Unterscheidungen zwischen Stammbelegschaft und<br />
prekärer Randbelegschaft vom Management, von der betrieblichen Interessenvertretung oder<br />
von anderen beteiligten Akteuren demonstrativ nivelliert werden, Reintegrationsangebote<br />
entstehen, die wenigstens für den begrenzten Zeitraum der Betriebszugehörigkeit Gültigkeit<br />
besitzen. Dieser Zusammenhang kann wiederum am Fall der im Automobilwerk eingesetzten<br />
<strong>Leiharbeit</strong>er illustriert werden. Vordergründig ist die Welt im Werk in Ordnung. Die<br />
Befragten berichten unisono, dass ihre Integration in die Fertigungsteams nahezu reibungslos<br />
18
verläuft. Die eingesetzten <strong>Leiharbeit</strong>er sind für ihre Tätigkeit im Grunde überqualifiziert. Sie<br />
lernen rasch und schon nach verhältnismäßig kurzer Zeit beherrschen sie verschiedene<br />
Arbeitsgänge. Dennoch gibt es ein Integrationsproblem. Dies wird – wie der Projektmanager<br />
des Zeitarbeitsunternehmens berichtet – am symbolträchtigen Konflikt um die<br />
Firmenkleidung überdeutlich:<br />
„Zunächst hat der Betriebsrat [des entleihenden Unternehmens – d.A.] gefordert: ´Die Zeitarbeiter müssen an der<br />
Arbeitskleidung erkennbar sein.´ Der Betriebsrat! (lacht) Da haben wir gesagt: ´Um Gottes Willen. Das wollen<br />
wir eigentlich nicht.´ Dann haben wir gesagt: ´Okay, dann nehmen wir eure Latzhosen. Und da wo euer Emblem<br />
ist, kommt unser Emblem drauf. (Lacht) Es war nicht meine erste Priorität, mich um die Embleme zu kümmern.<br />
Und Y kam auch nicht mit der Lieferung der Latzhosen ohne Y-Emblem ´rüber. So kamen die ersten Leute und<br />
sie mussten Hosen haben. Da steckte man sie in Y-Hosen – mit Y-Emblem. Und so hatte sich das Thema<br />
irgendwann verflüchtigt.´ Auch hat X [Name des Autoherstellers geändert – d.A.] den <strong>Leiharbeit</strong>ern angeboten,<br />
zum gleichen Preis wie X-ianer die Werkkantine zu nutzen. Das ist bemerkenswert, da üblicherweise Fremde<br />
etwas mehr zahlen. (...) Gemeinsam in die Kantine gehen, in der Gruppe sein, die gleiche Kleidung tragen. Heute<br />
will das vom Betriebsrat keiner mehr hören, dass die mal ´ne extra Arbeitskleidung gefordert haben. Die gleiche<br />
Kleidung war ganz, ganz wichtig! Viele die da bei uns vorzeitig gegangen sind, haben die Klamotten<br />
mitgenommen, die haben sie nicht abgegeben, die wollten die X-Arbeitskleidung behalten. Wenn Sie heute in<br />
der Stadt Leute mit X-Kleidung ´rumlaufen sehen, dann sind das meistens unsere Mitarbeiter. Die X-Mitarbeiter<br />
ziehen sich nach der Arbeit meistens um. Aber unsere Leute sind stolz darauf, bei X zu arbeiten.“ (BEx2: 15f.)<br />
Ein grundlegendes Problem des <strong>Leiharbeit</strong>erstatus liegt offenbar darin begründet, dass selbst<br />
bei günstigen betrieblichen Rahmenbedingungen Integrationseffekte schon allein aufgrund<br />
der temporären Einsatzzeiten im entleihenden Unternehmen limitiert sind. Auch dort, wo die<br />
Integration scheinbar reibungslos gelingt, handelt es sich um „Bindungen auf Zeit“.<br />
Anerkennung, die etwa aufgrund fachlicher Kompetenz oder persönlichen Eigenschaften<br />
zugeschrieben wird, muss im Verlauf der Beschäftigungsdauer mühsam erworben werden. Im<br />
Integrationsfall ist sie nur für den Zeitraum der Betriebszugehörigkeit „geliehen“. Mit dem<br />
obligatorischen Ausscheiden aus dem Entleihunternehmen wird die erworbene Anerkennung<br />
immer wieder entwertet, so dass sie auch bei jedem Arbeitseinsatz wieder aufs Neue<br />
„erarbeitet“ werden muss. Aufgrund dieses fast schon unvermeidbaren symbolischen<br />
Anerkennungszyklus befristeter Beschäftigung kann es nicht verwundern, wenn der soziale<br />
Status von <strong>Leiharbeit</strong> gering ist. 10<br />
Dabei repräsentiert das Automobilbeispiel noch einen ausgesprochenen Positivfall. In<br />
der Regel ist, das zeigen die untersuchten Vergleichsfälle, der soziale Status befristeter<br />
Erwerbsarbeitsformen innerhalb betrieblicher Sozialhierarchien weitaus geringer als derjenige<br />
der am Band eingesetzten ostdeutschen Facharbeiter. Zwar werden soziale Über- und<br />
Unterordnungen, die auf diesem problematischen Status gründen, von der Mehrzahl der<br />
befragten <strong>Leiharbeit</strong>er als illegitim, weil nicht meritokratisch begründbar zurückgewiesen. An<br />
der problematischen Positionierung im betrieblichen Statusgefüge ändert das aber nichts.<br />
Erschwerend kommt hinzu, dass der Zugang zu informellen betrieblichen Gemeinschaften für<br />
viele befragte <strong>Leiharbeit</strong>er alles andere als selbstverständlich ist. Anschaulich werden die aus<br />
10 Im Falle einer zeitlich befristeten Beschäftigung in einem Unternehmen besitzt – mit Sennett (2000)<br />
gesprochen – der reziproke Austausch sozialer Anerkennung nur provisorische Geltung. Allgemeiner formuliert<br />
können Strukturen ökonomischer Privilegierung/Benachteilung immer auch als Anerkennungskonflikte gelesen<br />
werden. Vgl. hierzu Fraser/Honneth (2003) sowie Voswinkel (2001).<br />
19
mangelnder Sozialintegration resultierenden Anerkennungsdefizite von dem bereits weiter<br />
oben zitierten Sales- und Operationsmanager geschildert:<br />
„Im Prinzip will jeder über kurz oder lang aus der <strong>Leiharbeit</strong> raus. <strong>Leiharbeit</strong> hat ein schlechtes Image, die<br />
Bezahlung ist schlechter. Außerdem: Der Deutsche ist so gestrickt, der sucht sich gerne ein Nest. Vom Nest<br />
Familie zum Nest Arbeitsplatz. ´Ich möchte mit meinen Kollegen eine Weihnachtsfeier machen. Ich möchte<br />
meinen Kollegen ´was vom Sommerurlaub erzählen. Ich möchte wissen, mit wem ich es zu tun habe. Der<br />
Zeitarbeitnehmer ist jemand, der ständig an einen neuen Einsatzort kommt. Er ist derjenige, der sich seinen Platz<br />
im Ranking erkämpfen muss. Wer auf einer Stelle neu anfängt, fängt erst mal im Ranking ganz unten an – und<br />
muss sich in der ungeschriebenen Hierarchie des Betriebs seinen Platz erkämpfen. Die Frage ist: ´Werden Ihnen<br />
die Brötchen mitgebracht oder bringen Sie den anderen die Brötchen mit.´ Das erlebt ein normaler Arbeitnehmer<br />
alle 5 Jahre, wenn er den Arbeitsplatz wechselt. Oder alle 10 Jahre. Oder nur einmal im Leben, wenn er<br />
irgendwo mal anfängt und dann irgendwann mal dort in Rente geht. Der Zeitarbeitnehmer erlebt das alle paar<br />
Wochen. Er ist immer der Neue, derjenige, der die ungeliebte Arbeit, die Dreckarbeit macht. So, dann muss man<br />
sich hocharbeiten. Und wenn er sich einen Namen gemacht hat und sich hochgearbeitet hat, dann ist er da schon<br />
wieder weg und fängt woanders wieder neu an. Das macht das Thema Zeitarbeit nicht unbedingt beliebt. Der<br />
Zeitarbeiter erlebt sich als geborener loser, weil wenn er sich irgendetwas erkämpft oder erarbeitet hat, dann geht<br />
er sowieso wieder. Natürlich sind viele Zeitarbeitnehmer oftmals wenig qualifiziert. Aber wenn jetzt mal ein<br />
wirklich Gutqualifizierter dazwischen ist, und der kriegt nicht die gute, sondern die schlechte Arbeit, dann ... Das<br />
alles führt nicht dazu, dass sich die Mehrzahl der Menschen in Zeitarbeit wohlfühlt.“ (BEx2: 9f.)<br />
Mit dem Eintritt ins entleihende Unternehmen erscheinen <strong>Leiharbeit</strong>er sowohl in der Selbst-<br />
als auch in der Fremdwahrnehmung als „Lückenbüßer“ und „Gelegenheitsarbeiter“, die<br />
immer wieder „bei Null anfangen“ müssen und selbst dann den „Dreck“ wegzumachen haben,<br />
wenn die Festangestellten über geringeres Berufs- oder Fachwissen verfügen. Zwar ist<br />
keineswegs prinzipiell auszuschließen, dass <strong>Leiharbeit</strong>er in der informellen betrieblichen<br />
Anerkennungshierarchie „aufsteigen“ können, sofern sie wiederholt in ein und dem selben<br />
Entleihunternehmen eingesetzt werden, bestimmte Leistungserwartungen übererfüllen oder<br />
durch überdurchschnittliche Fachkenntnisse und Arbeitseifer auffallen. Der hierfür<br />
notwendige Aufwand ist aber unvergleichlich größer als bei Festangestellten, die sich in der<br />
Pyramide symbolischer Anerkennung über einen langen Zeitraum hinweg einen stabilen<br />
„Platz“ erworben haben.<br />
Der soziale Mikrokosmos des Entleihunternehmens mitsamt seinen<br />
Arbeitshierarchien, Gelegenheitsstrukturen, informellen Kommunikationskanälen,<br />
Aushandlungsarenen, Beschaffungswegen und Arbeitsroutinen wird in aller Regel nur aus der<br />
Position eines sozialen outsiders wahrgenommen, der buchstäblich auf Abruf im<br />
Unternehmen beschäftigt ist. Die formelle Diskriminierung von <strong>Leiharbeit</strong>ern bezüglich der<br />
ohnehin schon prekären ökonomischen und arbeitsvertraglichen Stellung wird durch einen<br />
informellen Status verstärkt, der die gleichberechtigte Zugehörigkeit zu betrieblichen<br />
Gemeinschaften im besten Falle auf Zeit gewährt. Der stete Wechsel des Arbeitsplatzes wird<br />
so oftmals als Sprung ins Ungewisse erlebt, der das jeweilige Unternehmen und seine<br />
betriebliche Ordnung „unlesbar“ (Sennett 2000: 440) macht. Die qua <strong>Leiharbeit</strong>erstatus<br />
„geborene“ Außenseiterrolle wird von einigen Befragten des Samples auch deshalb als<br />
belastend wahrgenommen, weil sie die Erfüllung der Leistungsvorgaben am Einsatzort<br />
behindert. So berichtet ein langjähriger <strong>Leiharbeit</strong>er, der nicht in dem Automobilwerk<br />
beschäftigt ist, sondern von dem gleichen Zeitarbeitsunternehmen vornehmlich in der<br />
gewerblichen Wirtschaft als „Helfer“ eingesetzt wird:<br />
20
„Du weißt ja auch gar nicht, wo du reinkommst und was dich erwartet. (...) Und du weißt nicht, ob du da eine<br />
Woche bleibst, drei Monate oder ein Jahr. Das weiß man halt nicht. Du trittst einen Job an und weißt eigentlich<br />
nicht, wo du arbeitest.“ (F1: 2) Und: „Der (gemeint sind Festangestellte – d.A.) weiß, was er zu machen hat. Der<br />
weiß, wo er was kriegt. Wer lange da ist erkennt, wo jemand gebraucht wird, wann man einspringen und helfen<br />
kann. Im Gegensatz dazu macht der <strong>Leiharbeit</strong>er, wenn er nur kurz eingesetzt wird, nur seinen vorgeschriebenen<br />
Job. Wenn er fertig ist mit seinem Job, wartet er. Da er sich nicht auskennt, kann er auch nicht von sich aus an<br />
einer anderen Stelle einspringen. Er hat nicht den Blick dafür.“ (F1: 6)<br />
Für die Mehrzahl der befragten <strong>Leiharbeit</strong>er sind Unsicherheit und Diskontinuität ein<br />
generalisiertes Erfahrungsmuster. Die Ungewissheit, die mit dieser Beschäftigungsform<br />
verbunden ist, erstreckt sich über weite Bereiche der sozialen Existenz, erfasst berufliche als<br />
auch private Zukunftserwartungen und spiegelt sich nicht zuletzt in der Einschätzung der<br />
eigenen Stellung auf dem Arbeitsmarkt und im betrieblichen Alltag. Diese generalisierte<br />
Unsicherheit kann als fluide Schwebelage ohne verlässliche und kalkulierbare Verortung im<br />
betrieblichen und außerbetrieblichen Sozialraum beschrieben werden. Das Selbstbild der<br />
<strong>Leiharbeit</strong>er wird von der Gewissheit bestimmt, „zu den Ersten zu gehören, die gehen<br />
müssen“, wenn Entlassungen drohen, Auftragsrückgänge zu verzeichnen sind oder die<br />
vertretenen Festangestellten aus dem Elternurlaub zurückkehren. Insofern ist <strong>Leiharbeit</strong> für<br />
die meisten Befragten eine prekäre Beschäftigungsform, die desintegrierend auf den gesamten<br />
Lebenszusammenhang zurück wirkt. Und dennoch dürfen diese beschriebenen<br />
Desintegrationsprozesse in der „Zone der Prekarität“ nicht verabsolutiert werden. Die<br />
Befragten nehmen nämlich die betrieblichen Desintegrationserfahrungen zum Anlass, um sich<br />
aktiv um Re-Integration zu bemühen. Diese reintegrativen Effekte desintegrierender<br />
<strong>Leiharbeit</strong> lassen sich vor allem auf drei Motivationsbündel zurückführen:<br />
1. Befristeter Ausweg aus Dauerarbeitslosigkeit<br />
Die befragten ostdeutschen <strong>Leiharbeit</strong>er, die in dem untersuchten Automobilwerk eingesetzt<br />
werden, kommen allesamt aus Regionen mit einer strukturell hohen Arbeitslosigkeitsquote<br />
von weit über 20%. Vor Aufnahme einer <strong>Leiharbeit</strong>stätigkeit waren sie ausnahmslos über<br />
längere Zeiträume arbeitslos. In der Retrospektive berichten sie übereinstimmend, dass<br />
aufgrund der Dauer der Arbeitslosigkeit ein kritischer Punkt erreicht war, an dem der soziale<br />
Abstieg unwiderruflich begonnen hätte. In einer solchen Situation wird <strong>Leiharbeit</strong> als einzig<br />
noch verbleibende Exit-Option aus der Arbeitslosigkeit beschrieben, die zugleich<br />
unweigerlich Hoffnungen auf Anschlussoptionen weckt, auch wenn diese noch so vage und<br />
unbestimmt bleiben. Zudem eröffnet <strong>Leiharbeit</strong> die Möglichkeit, wieder an<br />
gemeinschaftlichen Aktivitäten des sozialen Umfelds teilzunehmen, auf die verzichtet werden<br />
musste, obwohl sie als nicht zu unterschreitende Standards eines „normalen Lebens“ gelten.<br />
In der Mehrzahl der untersuchten Fälle ist die Rückkehr in Erwerbsarbeit zwar nur befristet.<br />
Gleichwohl signalisiert sie doch, bis auf weiteres gewohnten kulturellen Praktiken wieder<br />
nachgehen zu können, die für die Konstruktion der sozialen Identität und für die<br />
Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen oder Milieus fast schon konstitutiv sind (temporäre<br />
Re-Integration). Ganz in diesem Sinne vergleicht ein Befragter die Zeit der Arbeitslosigkeit<br />
21
mit seiner gegenwärtigen Situation als <strong>Leiharbeit</strong>er in der westdeutschen Automobilindustrie<br />
und berichtet darüber, dass jetzt wieder soziale Aktivitäten möglich sind, die für ihn einmal<br />
selbstverständlich waren:<br />
„Das war ´ne sehr schwierige Zeit gewesen. Bloß gut, dass meine Frau noch Arbeit hatte. Dann konnte man sich<br />
immer noch halbwegs über Wasser halten (…), aber große Sprünge konnte man halt nicht mehr machen. Wenn<br />
man am Wochenende mal wegfahren wollte, so mal mit Übernachtung oder so, dass ging halt nicht. (...) Mein<br />
Hobby ist der Angelsport. So, dann fahren die Kollegen an die Ostsee angeln und dann konnte ich halt nicht<br />
mitfahren. Dann musste ich zu Hause bleiben. Jetzt, wo ich wieder Arbeit habe, kann ich wieder mit.“ (B2: 6)<br />
2. Sprungbrett in „normale“ Dauerbeschäftigung<br />
Vor allem jüngere Befragte werden von der Hoffnung getrieben, über den Umweg der<br />
<strong>Leiharbeit</strong> wieder in stabile Erwerbsarbeit zurückzukehren. Zwar unterstellt keiner der<br />
Befragten, dass <strong>Leiharbeit</strong> die Integration in die „Zone der Normalität“ garantiert. Aber die<br />
Erwartungshaltung ist in den Interviews stets präsent. Das klassische „Normarbeitsverhältnis“<br />
(Mückenberger 1985) fungiert hierbei als ungebrochene normative Referenzfolie. Ganz in<br />
diesem Sinne äußert sich ein Befragter über die Motive, die ihn dazu bewegten, eine<br />
<strong>Leiharbeit</strong>stätigkeit aufzunehmen:<br />
„Also, weil man nichts anderes mehr kriegt, weil man die Hoffnung hat, woanders was zu kriegen, dass man<br />
dadurch im Prinzip in eine Firma kommt, übernommen wird, einen festen Arbeitsplatz kriegt, (...) weil man<br />
vielleicht bei normalen Bewerbungen keine Chance hat. Also bei mir war es so, ich hatte relativ wenig Chancen<br />
gehabt, eigentlich nur Absagen bekommen und dann hat man schon die Hoffnung, dass es irgendwann klappt,<br />
mit ´ner festen Stelle.“ (B1: 11)<br />
<strong>Leiharbeit</strong> wird als notwendiges Übel betrachtet, das man in Kauf nehmen muss, um sich für<br />
die Zukunft die Chance auf ein sicheres Beschäftigungsverhältnis zu erhalten. Geradezu<br />
paradox wurzelt die Attraktivität prekärer <strong>Leiharbeit</strong> in der Möglichkeit ihrer Überwindung.<br />
Mit anderen Worten wirkt prekäre <strong>Leiharbeit</strong> nicht nur desintegrierend, sondern zugleich<br />
solange integrierend, wie die Erwartung, diese Arbeit nur temporär ausüben zu müssen, nicht<br />
dauerhaft enttäuscht wird. In unserem Sample variiert die Hoffnung, vom entleihenden<br />
Unternehmen in ein festes Arbeitsverhältnis übernommen zu werden, allerdings ganz<br />
erheblich mit dem Lebensalter, dem Qualifikationsniveau und dem beruflichen<br />
Erwartungshorizont der Befragten. Vor allem bei älteren Befragten (50 Jahre und älter) ist die<br />
auf eine unbestimmte Zukunft projizierte Hoffnung der resignativen Gewissheit gewichen,<br />
dass <strong>Leiharbeit</strong> keine vorübergehende Episode, sondern ein erzwungener Dauerzustand<br />
geworden ist, der den Zugang zur Normalität eines guten und festen Jobs versperrt und dazu<br />
zwingt, ganze Lebenspläne zu korrigieren bzw. auszugeben. Im Unterschied zu dieser<br />
Deutung von <strong>Leiharbeit</strong> als kumulative Negativkarriere hegen die jüngeren, gut ausgebildeten<br />
Befragten die Erwartung, dass <strong>Leiharbeit</strong> ein schwieriger, aber keineswegs aussichtsloser<br />
Umweg („Sprungbrett“, „Übergangslösung“) ist, um eine erwerbsbiografische Lücke<br />
(Arbeitslosigkeit) auszufüllen, berufliche Erfahrungen zu sammeln und – bei einer<br />
wirtschaftlichen Erholung – eine sozial abgesicherte Dauerbeschäftigung zu finden, die der<br />
beruflichen Qualifikation entspricht. Das tatsächliche Integrations- und<br />
22
Desintegrationspotential von <strong>Leiharbeit</strong> hängt also immer auch von der wahrgenommenen<br />
Wahrscheinlichkeit ab, die „Zone der Prekarität“ wieder verlassen und in die „Zone der<br />
Normalität“ hinüberwechseln zu können.<br />
3. Normalisierung des „Nicht-Normalen“<br />
Wie bereits herausgearbeitet worden ist, beschreiben die befragten <strong>Leiharbeit</strong>er in der<br />
Mehrheit ihre Erwerbslage als prekär. Bemerkenswerterweise nehmen innerhalb des Samples<br />
einige Befragte ihre Beschäftigungssituation aber auch weitaus stabiler wahr. In diesen Fällen<br />
nähert sich die Beschäftigung bei der Zeitarbeitsfirma einem Normarbeitsverhältnis in der<br />
„Zone der Integration“ an. Es handelt sich hierbei vornehmlich um <strong>Leiharbeit</strong>er, die seit<br />
mehreren Jahren bei ein und derselben Niederlassung eines Zeitarbeitsunternehmens tätig<br />
sind, sich inzwischen dem festen Personalstamm zurechnen können und deswegen auch<br />
entgegen der üblichen Praxis der Zeitarbeitsbranche nicht umgehend gekündigt werden, wenn<br />
ein Folgeeinsatz nicht unmittelbar an den letzten Einsatz anschließt. Das Arbeitseinkommen<br />
ist zwar nicht mit dem von Festangestellten mit ähnlicher Qualifikation außerhalb der<br />
Zeitarbeitsbranche vergleichbar. Aber Arbeitslosigkeit musste von diesen Befragten in den<br />
letzten Jahren nur äußerst selten und dann allenfalls kurzzeitig in Kauf genommen werden.<br />
Zweifelsohne werden diese Befragten auch von der Sorge um die Sicherheit des eigenen<br />
Arbeitsplatzes beim Verleihunternehmen umgetrieben; vor allem dann, wenn der Einsatz bei<br />
einem Entleihunternehmen endet und eine übergangslose Weiterbeschäftigung bei einem<br />
Folgekunden nicht in Sichtweite ist. So berichtet ein <strong>Leiharbeit</strong>er, der bereits seit 5 Jahren für<br />
dieselbe Zeitarbeitsfirma tätig und dort nach eigener Aussage „hängen geblieben“ ist:<br />
„Solange ich mir nichts zu schulden kommen lasse, will eigentlich auch niemand etwas von mir. Ich habe nicht<br />
das Gefühl, dass mich jemand raus ekeln will (aus der Zeitarbeitsfirma – d.A.). Manchmal hatte ich allerdings<br />
diesbezüglich Befürchtungen. Es ist so, dass, wenn man nicht direkt vermittelt werden kann, dann liegt man zu<br />
Hause in der Hängematte und wartet auf Abruf. Manchmal hat man schon das Gefühl, dass das ein Wink mit<br />
dem Zaunpfahl ist ‚tu mal selber was’. Es ist eine kleine Paranoia, die man da vor sich her trägt.“ (F3: 7)<br />
Nicht zuletzt aufgrund der zyklisch wiederkehrenden Ungewissheit, ob und wann mit<br />
Folgeinsätzen zu rechnen ist, wird der eigene feste Arbeitsvertrag bei dem<br />
Verleihunternehmen auch im Vergleich zu einer Festanstellung außerhalb der<br />
Zeitarbeitsbranche als Unbefristung zweiter Klasse wahrgenommen. So wird etwa von der<br />
gängigen Praxis des Verleihunternehmens berichtet, dass immer dann, wenn nach Beendigung<br />
eines Arbeitseinsatzes beim Entleihunternehmen ein Folgeeinsatz nicht zeitnah anschließt, die<br />
bei der letzten verleihenden Firma angehäuften Überstunden „abgefeiert“ oder Urlaubstage<br />
genommen werden müssen. Im Falle einer längeren Zwangspause, also dann, wenn<br />
angehäufte Überstunden und Urlaubsansprüche aufgezehrt sind und kein neues Unternehmen<br />
die Arbeitskraft des <strong>Leiharbeit</strong>ers nachfragt, besteht lediglich Anspruch auf ein<br />
arbeitsvertraglich fixiertes Grundgehalt. Des Weiteren sehen sich diese <strong>Leiharbeit</strong>er mit einer<br />
Situation konfrontiert, in der sie sich nicht nur ihrem Arbeitgeber gegenüber, der<br />
Zeitarbeitsfirma, sondern insbesondere auch gegenüber jedem neuen Entleiher, dem sie für<br />
23
einen befristeten Zeitraum „überlassen“ werden, immer wieder auf Neue zu bewähren haben.<br />
So berichtet ein Befragter:<br />
„Ich bin gottfroh, dass ich einen unbefristeten Vertrag hier (bei der Zeitarbeitsfirma – d.A.) habe. Und ich bin<br />
gottfroh, dass ich mir über die Firma (gemeint ist die Zeitarbeitsfirma – d.A.) woanders einen guten Namen<br />
machen konnte. Weil meine Leistung hängt immer von der Firma ab, wo ich arbeite. Wenn ich mich wohl fühle,<br />
kann ich sicher einiges vollbringen. Wenn ich mich nicht wohl fühle, wollen die (die Verleihfirma – d.A.) mich<br />
sicherlich nicht mehr lange haben. Und das wird das Problem sein, warum ich mich selber immer auf der Kippe<br />
sehe.“ (F1: 17)<br />
Es kann kaum verwundern, dass die langjährigen <strong>Leiharbeit</strong>er des Samples angesichts dieser<br />
Beschäftigungslage spezifische Normalisierungsstrategien entwickeln, um die<br />
Diskontinuitäten und Unsicherheiten des <strong>Leiharbeit</strong>erdasein aufzufangen und zu<br />
kompensieren. So berichtet ein <strong>Leiharbeit</strong>er, der bereits mehrjährig bei einem<br />
Zeitarbeitsunternehmen beschäftigt ist, dass er aus Gründen der persönlichen<br />
Planungssicherheit mit dem Filialleiter des verleihenden Unternehmens ein höheres<br />
Grundgehalt vereinbart habe und er im Gegenzug eine geringere Leistungszulage erhalte,<br />
wenn er bei entleihenden Unternehmen eingesetzt werde. Ein anderer Befragter, der in den<br />
letzten 13 Jahren als <strong>Leiharbeit</strong>nehmer bei über 60 Entleihbetrieben beschäftigt war, sieht<br />
seinen Arbeitsplatz im Vergleich zu einer Festanstellung bei einem kleinen Betrieb mit<br />
schwankender Auftragslage weitaus sicherer und streicht die durch ständig wechselnde<br />
Einsätze in unterschiedlichen Unternehmen bedingte große „Abwechslung“ der<br />
Arbeitstätigkeiten heraus. Und ein sechzigjähriger Befragter, der ebenfalls seit 13 Jahren bei<br />
dem selben Zeitarbeitsunternehmen ohne nennenswerte Unterbrechung beschäftigt ist und<br />
allein schon aufgrund seines Lebensalters längst jede Hoffnung auf eine Festanstellung<br />
außerhalb der Zeitarbeitsbranche aufgegeben hat, begegnet seiner eigenen<br />
Beschäftigungssituation mit einem gewissen Selbstbewusstsein. Aufgrund der langen<br />
Betriebszugehörigkeit genießt er einen besonderen Kündigungsschutz, der ihn gegenüber<br />
anderen <strong>Leiharbeit</strong>er deutlich abhebt. So lehnt er zuweilen auch schon mal einen „Auftrag“<br />
ab, wenn die Entfernung zur Arbeitsstelle zu weit ist, die Fahrtkosten nicht ersetzt werden<br />
oder sich am Einsatzort herausstellt, dass eigentlich eine andere Fachkraft benötigt wird: „Das<br />
mache ich nicht. Ich lass´ mich nicht von den Leuten – und dann mit Berechtigung –<br />
anmaulen. Das kommt nicht in Frage, das mache ich nicht.“ (F5: 13) Offensichtlich speist sich<br />
dieses Selbstbewusstsein nicht zuletzt aus seiner langjährigen Berufserfahrung als gelernter<br />
Betriebsschlosser:<br />
„Die Betriebeigenen versuchen natürlich, dass man die Arbeit macht, die sie selber nicht gerne machen. Wenn<br />
man merkt, dass es nur Hilfsarbeitertätigkeiten sind, die man macht, da muss man sich dann wehren.“ Weiter:<br />
„Wenn ich aus einem Betrieb ´raus gehe und in den anderen ´rein, den man noch nicht kennt. Da fühlt man sich<br />
schon ein bisschen komisch. Wenn man das erste Mal da arbeitet, wird man immer beäugt aus allen Ecken. Aber<br />
das ist normal. Da habe ich mich schon dran gewöhnt. Aber nach 3,4 Tagen, wenn ich mich eingearbeitet habe,<br />
dann ist das alles kein Problem mehr. Ich weiß, was ich kann.“ Und: „Ich hab´ mal bei einer Skifirma gearbeitet.<br />
Da hat ein Betriebseigener einen von uns angeschrieen. Ohne Grund. Da war nichts. Nur so. Dem hat ich gesagt:<br />
´Du brauchst nicht glauben, dass wir deine Neger sind.´“(F5: 3, 5, 12)<br />
Zusammenfassend kann an dieser Stelle festgehalten werden, dass die in der politischen<br />
Öffentlichkeit verbreiteten Erwartungen, eine Ausweitung von Zeitarbeit könne Übergänge in<br />
24
dauerhafte Beschäftigung schaffen, mit Blick auf die Befragten des Samples skeptisch<br />
beurteilt werden müssen. Wie auch andere Untersuchungen unterstreichen, kann keineswegs<br />
ein allgemeingültiger Integrationseffekt unterstellt werden (vgl. Giesecke/Groß 2002; Vogel<br />
2003; Noller 2003). Vielmehr lassen sich eine Reihe diskriminierender<br />
Beschäftigungsbedingungen und Zuschreibungsmuster identifizieren, die es plausibel<br />
erscheinen lassen, auch in der Bundesrepublik von der Herausbildung einer „Zone der<br />
Prekarität“ zu sprechen. Gegenüber vorschnellen Schlussfolgerungen ist allerdings darauf<br />
hinzuweisen, dass diese „Zone der Prekarität“ kein scharf abgrenzbares Terrain mit<br />
eindeutigen Zuordnungsregeln darstellt, sondern vielfältige Erwerbslagen mit<br />
unterschiedlichen Prekarisierungsgraden einschließt. Wie am Beispiel der befragten<br />
<strong>Leiharbeit</strong>er verdeutlicht werden sollte, können in der „Zone der Prekarität“ zudem nicht nur<br />
manifeste Desintegrationserfahrungen festgestellt, sondern zugleich vielfältige Re-<br />
Integrationsbemühungen der „Prekarisierten“ beobachtet werden, die von der Hoffnung leben,<br />
die „Normalität“ eines „Normalarbeitsverhältnisses“ wieder herstellen zu können. Es ist<br />
allerdings davon auszugehen, dass die durchaus vorhandenen Reintegrationseffekte in der<br />
„Zone der Prekarität“ in dem Maße geschwächt werden, in dem sich die Grenzen dieser Zone<br />
verfestigen und Übergänge in „Normalarbeit“ schwieriger bzw. unwahrscheinlicher werden.<br />
6. Disziplinierungseffekte in der „Zone der Normalität“<br />
Im untersuchten Fall des Automobilwerks ist für die übergroße Mehrheit der befragten<br />
ostdeutschen Zeitarbeitnehmer der unbefristete Job am Montageband eine unerreichbare<br />
Wunschperspektive, während für die Stammbelegschaft gerade dies über viele Jahre eine<br />
Selbstverständlichkeit gewesen ist. Die Unterschiede zwischen Stammbelegschaft und<br />
<strong>Leiharbeit</strong>ern sind erheblich. Und doch wäre es verfehlt, die „Zone der Prekarität“ und die<br />
„Zone der Normalität“ als hermetisch voneinander abgeschottet zu denken. In Erweiterung<br />
der weiter oben formulierten Ausgangshypothese ist davon auszugehen, dass prekäre<br />
Beschäftigungsformen disziplinierend auf die Bereiche mit geschützten<br />
Normarbeitsverhältnissen zurückwirken (Kontroll- oder Disziplinierungshypothese). Die<br />
befragten Mitglieder der Stammbelegschaft des Automobilunternehmens nehmen die in der<br />
Endmontage eingesetzten <strong>Leiharbeit</strong>er zunächst als schützenden Personalpuffer wahr, der im<br />
Falle eines kurzfristigen Auftragseinbruchs dazu beitragen kann, die bestehenden<br />
Arbeitsplätze der Festangestellten zu sichern und betriebsbedingte Kündigungen innerhalb der<br />
Stammbelegschaft abzuwenden. Ganz in diesem Sinne äußert sich ein Festangestellter, der als<br />
Gruppensprecher in der Endmontage beschäftigt ist. Auf die Frage, ob sich die<br />
Stammbelegschaft dafür einsetzt, dass <strong>Leiharbeit</strong>er in ein unbefristetes Arbeitsverhältnis<br />
übernommen werden, antwortet er ohne Umschweife:<br />
„Übernommen werden die nicht. Weil Sinn und Zweck ist: Wir haben ein gewisses Stammpersonal im Werk und<br />
wenn es gut geht, wenn viel Arbeit da ist, dann helfen die uns aus. Aber es kann auch von heute auf morgen<br />
25
schlecht gehen. Und momentan ist da so ein bisschen eine Flaute. In Europa geht es zurück, in Amerika geht es<br />
zurück. Und wenn ich nur Stammpersonal hätte, dann müsste ich irgendwann entlassen. Ich müsste kündigen.<br />
Und darum ist das auch mit der Zeitarbeit. Also, ich sage mal, vom Stammpersonal her ist es so besser. (B7: 6)<br />
Und weiter heißt es: „Die <strong>Leiharbeit</strong>er fangen das halt ab (gemeint sind kurzfristige Auftragseinbrüche des<br />
Unternehmens – d.A.). Wenn die Produktion zurückgeht, dann haben halt die <strong>Leiharbeit</strong>er keine Arbeit mehr.<br />
Wenn es keine Arbeit mehr gibt, dann müssen die halt als erste gehen. Das ist ganz klar.“ (B7: 7f.)<br />
Die Rückwirkungen der „Zone der Prekarität“ auf die „Zone der Normalität“ können<br />
allerdings erst dann in den Blick genommen werden, wenn in Abgrenzung zu einfachen<br />
Erklärungsmodellen der Prekarisierungsbegriff nicht nur als Unterschreitung spezifischer<br />
sozioökonomischer und rechtlicher Normalitätsstandards von Erwerbsarbeit bestimmt wird.<br />
Um die Frage beantworten zu können, inwiefern die Verbreitung prekärer<br />
Beschäftigungsformen das gesellschaftliche Integrationspotential von Erwerbsarbeit<br />
insgesamt schwächt, müssen über die strukturellen sozioökonomischen oder<br />
arbeitsrechtlichen Benachteiligungen hinaus subjektive Deutungen und Prekarisierungsängste<br />
in die Analyse einbezogen werden. Prekarisierung ist immer auch das Ergebnis einer<br />
relationalen Verhältnisses von Beschäftigtengruppen innerhalb und außerhalb der „Zone der<br />
Prekarität“. Nur wenn man dies in Rechnung stellt, kann auch das wirklichkeitsmächtige<br />
Bedrohungspotential, die soziale „Ausstrahlung“ von Prekarisierung auf bislang als<br />
vergleichsweise sicher geltende Segmente der Arbeitsgesellschaft problematisiert werden<br />
(vgl. Bourdieu 1998). 11 Selbst wenn man unterstellt, dass prekäre Beschäftigungsverhältnisse<br />
etwa in der Automobilindustrie eher die Randbelegschaften betreffen, können<br />
Prekarisierungsängste gesellschaftsweit diffundieren und sogar in Bereiche vordringen, in<br />
denen man diese aufgrund eines (über-)durchschnittlichen sozialen Absicherungsniveaus von<br />
Erwerbsarbeit bislang kaum vermuten konnte. Ganz im Sinne der weiter oben ausgeführten<br />
Überlegungen (vgl. Abschnitt 2) ist Prekarisierung immer auch das Ergebnis positionaler<br />
Wahrnehmungen zwischen sicheren und unsicheren Lagen innerhalb der Arbeitswelt.<br />
Das vorliegende empirische Material deutet jedenfalls darauf hin, dass die<br />
Prekarisierung von Beschäftigungsverhältnissen auch in der „Zone der Normalität“ soziale<br />
Verunsicherung schürt. Ein anderer Festangestellter, der seit 17 Jahren in der Endmontage<br />
beschäftigt und seit acht Jahren in der Funktion als Gruppensprecher u.a. für die Personal-,<br />
Material- und Urlaubsplanung eines Fertigungsteams von 13 „Montagefachkräften“ zuständig<br />
ist, sieht in dem Einsatz von <strong>Leiharbeit</strong>nehmern im Automobilwerk ebenfalls einen<br />
wünschenswerten „Flexibilisierungspuffer“. In diesem Zusammenhang weist er auf ein<br />
diffuses Gefühl der Ersetzbarkeit hin, das sich angesichts der relativ reibungsarmen<br />
Integration von <strong>Leiharbeit</strong>ern in den Produktionsalltag innerhalb der Stammbelegschaft<br />
11 Vgl. auch die Ergebnisse von Fuchs/Conrads (2003), die in einer standardisierten Untersuchung über<br />
Arbeitsbedingungen und -belastungen unter besonderer Berücksichtigung flexibler Arbeitsformen nachweisen<br />
können, dass – unabhängig vom jeweiligen Beschäftigungsstatus – auch in der Gruppe der unbefristet<br />
Beschäftigten die Arbeitzufriedenheit in ihren verschiedenen Facetten erheblich sinkt, wenn der eigene<br />
Arbeitsplatz als gefährdet wahrgenommen wird. Mit anderen Worten verringern sich die Unterschiede in der<br />
Arbeitszufriedenheit zwischen unbefristet Beschäftigten einerseits und befristeten Beschäftigten bzw.<br />
<strong>Leiharbeit</strong>nehmern andererseits in dem Maße, in dem berufliche und arbeitsplatzbezogene Verunsicherungen<br />
unter unbefristet Beschäftigten um sich greifen. Zusammenfassend siehe Fuchs (2003).<br />
26
ausgebreitet habe. Obwohl die <strong>Leiharbeit</strong>er überdurchschnittlich gut qualifiziert sind und die<br />
Leistungserwartungen fast schon übererfüllen, werden sie schlechter eingruppiert als die<br />
Stammarbeiter und sie werden obendrein nur nach Maßgabe des schwankenden betrieblichen<br />
Personalbedarfs eingesetzt:<br />
„Ich habe jetzt nur gute Erfahrungen (mit den <strong>Leiharbeit</strong>er – d.A.) gemacht. Die Leute, die wir gekriegt haben,<br />
das waren Metallfacharbeiter, aber wir waren skeptisch, weil die Leute ja noch nie was vom Fließband gehört<br />
haben. Die waren auf Baustellen beschäftigt oder in kleinen Klitschen, und dann da rein, Fließband, Taktgebote,<br />
Akkord. Von dem haben die meisten eigentlich Null Ahnung gehabt, die haben noch nie gewusst, wie ein Auto<br />
gebaut wird, die werden da einfach ins eiskalte Wasser geschmissen, sind belehrt worden, ab in die Latzhose, ab<br />
in die Gruppe, das war das ganze Drumherum. Und die Leute sind wirklich arbeitswillig, man kann wirklich<br />
nichts sagen, und das ist eben das, was mir manchmal schlaflose Nächte bereitet, weil, wenn das jetzt schon so<br />
gut läuft, was ist dann einmal in zehn Jahren, dann sind wir Auslaufmodelle, wir Festangestellten, irgendwann<br />
sind wir in der Minderzahl und es wird nur noch auf der Basis gearbeitet.“ (B6: 12) Und zum Ende des<br />
Interviews fügt er hinzu: „Jeder, der fest angestellt ist, weiß genau, was ihm da blüht, wenn er <strong>Leiharbeit</strong>er wäre.<br />
Das ist ein sozialer Abstieg, weil, man kann dann nicht ruhig schlafen.“ (B6: 25)<br />
Ganz ähnlich berichtet ein langjähriger <strong>Leiharbeit</strong>er von latenten Verunsicherungen innerhalb<br />
der Stammbelegschaften der Entleihbetriebe, in denen er als Monteur, Lagerist und PC-<br />
Techniker eingesetzt worden ist:<br />
„Es ist häufig so, dass man in einen Betrieb kommt und Kollegen sagen: ‚Au weia Zeitarbeitsfirma’. Vor allem<br />
wenn wirtschaftliche Depression herrscht. Da haben die Festangestellten Angst um ihre Arbeitsplätze. Wenn erst<br />
einmal Zeitarbeiter in der Firma sind, dann sehen die Festangestellten ihre Kündigung, ihren Untergang<br />
kommen. Manche sagen: ‚Du bist von einer Zeitarbeitsfirma, jetzt drücken die uns natürlich auch im Preis. Der<br />
(gemeint sind <strong>Leiharbeit</strong>er – d.A.) kostet mich soundsoviel, der (gemeint sind Festangestellte – d.A.) kostet mich<br />
noch mehr’.“ (F3: 6)<br />
Bereits die Rekonstruktion der Beschäftigungssituation der befragten <strong>Leiharbeit</strong>er (vgl.<br />
Abschnitt 5) hat verdeutlicht, dass das von Castel entwickelte zonale Modell der<br />
Arbeitsgesellschaft weiter ausdifferenziert werden muss, um genauere Aussagen über den<br />
Zusammenhang von prekärer Beschäftigung und (Des-)Integration machen zu können. Die<br />
„Zone der Prekarität“ kann kaum als eigenständiges, eindeutig abgrenzbares Segment des<br />
Arbeitsmarktes beschrieben werden. Es sind vielmehr fließende Übergänge und Abstufungen<br />
zwischen stabiler und instabiler Erwerbsarbeit in Rechnung zu stellen. Eine trennscharfe<br />
Abgrenzung von prekären und nicht-prekären Arbeitsverhältnissen wird obendrein dadurch<br />
erschwert, wenn man die virulenten Verunsicherungstendenzen und Prekarisierungsängste<br />
berücksichtigt, die, wie am Beispiel der interviewten festangestellten Montagearbeiter des<br />
Automobilwerks illustriert worden ist, inzwischen auch die „Zone der Normalität“ erreicht<br />
haben. Die vorliegenden Befunde deuten jedenfalls darauf hin, dass – mit unterschiedlicher<br />
Gewichtung – in der „Zone der Normalität“ und in der „Zone der Prekarität“ sowohl<br />
Integrations- als auch Desintegrationseffekte anzutreffen sind.<br />
7. Ausgrenzende Integrationsnorm<br />
Das Zonenmodell von Castel ist mit einer gewissen Vorentscheidung verbunden. Nahe gelegt<br />
wird, dass Beschäftigungsverhältnisse, die in der „Zone der Prekarität“ verortet werden,<br />
27
soziale Desintegration verursachen oder doch zumindest verstärken können. Und umgekehrt<br />
wird auf der begrifflichen Ebene unterstellt, dass in der „Zone der Integration“ Erwerbstätige<br />
anzutreffen sind, die über Normarbeitsverhältnisse scheinbar problemlos in die<br />
Arbeitsgesellschaft integriert werden. Wie das vorgestellte empirische Material zeigt, ist eine<br />
eindeutige zonale Zuordnung von Integrations- und Desintegrationsprozessen jedoch kaum<br />
möglich. Richtet man die Aufmerksamkeit auf die subjektiven Deutungen der Befragten, dann<br />
wird ein überraschender, widersprüchlicher Sachverhalt sichtbar. Offenkundig können nicht<br />
nur Desintegrationseffekte, sondern ebenso Integrationsprozesse in der „Zone der Prekarität<br />
identifiziert werden. Mehr noch: (Des-)Integrationsprozesse erzeugen nicht nur<br />
widersprüchliche, sondern mitunter geradezu paradoxe Effekte. Von einem Integrations-<br />
Desintegrationsparadoxon kann immer dann gesprochen werden, wenn ein und derselbe<br />
Prozess mit gegenläufigen Tendenzen innerhalb einer Zone (intrazonal) oder zwischen den<br />
Zonen (interzonal) der Arbeitsgesellschaft einher geht. Aufgrund der<br />
Prekarisierungserfahrungen bemühen sich die allermeisten befragten <strong>Leiharbeit</strong>er des<br />
Automobilfalls verstärkt um Reintegration in die „Zone der Normalität“ und just diese<br />
Bemühungen können zugleich Desintegrationstendenzen forcieren. Obwohl den befragten<br />
<strong>Leiharbeit</strong>ern im Automobilwerk mit Aufnahme der Beschäftigung verdeutlicht worden ist,<br />
dass nach Ablauf des einen Jahres eine Übernahme in ein festes Arbeitsverhältnis nicht<br />
erwartbar ist, unternehmen sie insgeheim vielfältige Anstrengungen, den Sprung in geschützte<br />
Normarbeit doch zu schaffen. Diese von Hoffnung gespeisten Bemühungen um Integration<br />
wirken zugleich auch desintegrierend, wenn sich herausstellt, dass diese illusorisch sind und<br />
enttäuscht werden. Hinzu kommt: Ungeachtet aller Prekarisierungserfahrungen erleben die<br />
<strong>Leiharbeit</strong>er im Automobilwerk ihre Beschäftigung als limitierte Rückkehr in die „Zone der<br />
Normalität“. Je reibungsärmer diese Reintegration auf Zeit gelingt, desto nachhaltiger wirken<br />
desintegrierende Ängste vor einem erneuten Absturz in die Arbeitslosigkeit, vor dem Entzug<br />
mühsam erworbener symbolischer Anerkennung sowie vor dem erneuten Verzicht auf<br />
Teilhabechancen an der materiellen Kultur. Die Integrationsanstrengungen korrespondieren<br />
also unmittelbar mit der Sorge, dass sich Desintegration wieder verstetigt.<br />
Ähnliche Effekte können auch interzonal beobachtet werden. So werden etwa durch<br />
die erfolgreiche temporäre Integration der <strong>Leiharbeit</strong>er in den Produktionsprozess des<br />
Automobilwerks Befürchtungen innerhalb der Stammbelegschaft geschürt, dass der eigene<br />
Arbeitsplatz weitaus unsicherer ist als bislang angenommen wurde. Und schließlich weisen<br />
die Befunde darauf hin, dass sowohl manifeste Prekarisierungserfahrungen der <strong>Leiharbeit</strong>er<br />
als auch unterschwellige, kaum ausgesprochene Prekarisierungsängste der Festangestellten<br />
auf beide Gruppen disziplinierend und damit in problematischer Weise reintegrierend wirken.<br />
Dieser Integrationsmodus basiert weniger auf Teilhabe als auf subtilen Zwängen. Mit anderen<br />
Worten wird Integration durch Unterordnung und Folgebereitschaft hergestellt (vgl. bereits<br />
Heitmeyer 1997: 27). Offensichtlich verstärken derartige Disziplinierungseffekte bei einigen<br />
Befragten bereits vorhandene Neigungen bzw. Dispositionen zu Überanpassung und<br />
28
ausgrenzenden Integrationsvorstellungen. Mit ethnischen oder nationalistischen<br />
Konstruktionen verknüpft, können diese Vorstellungen sogar zu scharfer Abgrenzung von<br />
outgroups führen, die solch einseitig definierten Integrationsnormen nicht entsprechen.<br />
Abschließend ist diese ausgrenzende Integrationsnorm kurz zu charakterisieren.<br />
Die Arbeitswelt mit ihren spezifischen Erfahrungsräumen ist auch weiterhin eine<br />
wichtige gesellschaftliche Sphäre, in der normative Konstruktionen gelingender Integration<br />
generiert bzw. verstärkt werden. In unserem Untersuchungssample sind wir auf <strong>Leiharbeit</strong>er<br />
gestoßen, die Vorstellungen von einer „guten“ Gesellschaft artikulieren, die dem Typus der<br />
ausgrenzenden Integrationsnorm recht nahe kommen. So finden sich Befragte des<br />
Automobilfalls, die gerade deswegen, weil sie ihre Beschäftigungslage als prekär erleben, im<br />
Betrieb höchste Anstrengungen unternehmen, um sich möglichst geräuscharm in die<br />
Fertigungsteams zu integrieren und die vorgegebenen Akkordnormen der Bandmontage so<br />
umfassend wie nur möglich zu erfüllen. Diese fast schon distanzlose Anpassungsbereitschaft<br />
und Leistungsorientierung speist sich aus den langjährigen Erfahrungen von Arbeitslosigkeit<br />
und Prekarisierung und dient letztlich dem alles überragenden Zweck, die noch so geringen<br />
Chancen auf Übernahme in ein festes Arbeitsverhältnis zu wahren. Nach Auffassung der<br />
befragten <strong>Leiharbeit</strong>er ist Re-Integration überhaupt nur noch denkbar, wenn man sich<br />
vorbehaltlos dem betrieblichen Arbeitsregime unterordnet und die Arbeitsanforderungen und<br />
Leistungserwartungen gänzlich akzeptiert. Ein ehemaliger <strong>Leiharbeit</strong>er, der im<br />
Automobilwerk zu den ganz wenigen gehört, die fest übernommen worden sind, berichtet<br />
retrospektiv über seine ersten Tage am Montageband und bringt sein demonstratives<br />
„Interesse an der Arbeit“ unmittelbar in Zusammenhang mit dem prekären<br />
Beschäftigungsstatus:<br />
„Viele wussten auch gar nicht, dass ich ein <strong>Leiharbeit</strong>er war, als ich da anfing, weil die einfach dachten, das ist<br />
ein neuer Mitarbeiter, neuer Kollege, neue Festanstellung, weil zu der Zeit wurden auch viele Festanstellungen<br />
gemacht, und es kam dann natürlich durch Erzählungen von mir, dass ich gesagt habe, hört zu, ich bin gar keine<br />
Festanstellung, sondern ich bin <strong>Leiharbeit</strong>er. Einige guckten dann ein bisschen skeptisch, na ja, <strong>Leiharbeit</strong>er, ist<br />
bald wieder weg und muss nicht viel lernen, dem geben wir eine Arbeit, der will gar nicht viel lernen. Aber ich<br />
habe dann relativ schnell gezeigt, dass ich interessiert bin, viel zu lernen, weil ich auch dadurch, dass man viel<br />
lernt, auch immer die Hoffnung hatte, mir einen Namen zu machen und dass man doch die Chance nutzt, eben<br />
doch fest angestellt zu werden, weil das ist doch der soziale Anreiz eines <strong>Leiharbeit</strong>ers. Und das ist ja auch eine<br />
Berechnung von Firmen, dass die einfach auch sehen, dass die <strong>Leiharbeit</strong>er engagiert sind. (...) Ich kenne jetzt<br />
viele Gruppensprecher, die gesagt haben, wir wollen nur noch <strong>Leiharbeit</strong>er haben, weil die haben eben zwei<br />
Sachen, die arbeiten schnell, die lernen schnell, die sind aber auch weniger krank als fest Angestellte, weil wir<br />
einen ganz anderen sozialen Druck haben. Weil, wenn ich als <strong>Leiharbeit</strong>er krank werde, gerade hier im Werk,<br />
dann kann ich mir ausrechnen, nach einer Woche bin ich abgemeldet und bin weg vom Fenster und kriege nicht<br />
mehr das gute Geld, und ein fest Angestellter hat diesen Anreiz nicht unbedingt. (...) Es ist wirklich ein sozialer<br />
Druck.“ (B1: 12)<br />
Die im Verlauf der prekären Beschäftigungskarriere gemachten Desintegrationserfahrungen<br />
bestärken ganz offensichtlich bei einigen Befragten des Untersuchungssamples die eigenen<br />
Integrationsbemühungen („ich will mir etwas beweisen“). Diese verdichten sich auf bislang<br />
ungeklärte Weise zu einer Integrationsnorm, deren Geltung nicht nur auf den Betrieb oder die<br />
Arbeitswelt beschränkt bleibt, sondern sozial generalisiert und als legitimer Maßstab zur<br />
Bewertung der sozialen Welt herangezogen wird. Aus dieser Perspektive bemisst sich die<br />
29
Legitimität von Ansprüchen an ökonomischer und gesellschaftlicher Teilhabe daran, ob ein<br />
sichtbarer Leistungsbeitrag für die Gesellschaft erbracht wird. Folge dieser<br />
Normgeneralisierung ist, dass all jene Individuen oder Bevölkerungsgruppen sozialmoralisch<br />
stigmatisiert und aus der Gemeinschaft der Leistungsfähigen symbolisch ausgegrenzt werden,<br />
die dieser Norm nicht entsprechen. Ihnen wird pauschal unterstellt, sie würden „nichts<br />
leisten“, „nichts auf sich nehmen“, nur „Ansprüche stellen“ und trotzdem immer wieder<br />
„aufgefangen“ werden. Charakteristisch ist die Aussage eines jungen <strong>Leiharbeit</strong>ers, der dieses<br />
Einstellungsmuster mit den folgenden Worten zum Ausdruck bringt:<br />
„In meinem Bekanntenkreis gibt es Arbeitslose, die nicht arbeiten wollen. Die setzen sich hin und sagen: ´Ach<br />
ich sitze daheim und krieg´ genug Arbeitslosengeld und wenn ich das nicht mehr bekomme, langt meine<br />
Arbeitslosenhilfe auch noch, Sozialhilfe auch noch. Dann kriege ich noch von den Eltern ein bisschen was<br />
zugeschoben.´ Solche Leute würde ich zum Beispiel zwingen. Entweder sie gehen arbeiten und sie nehmen die<br />
Arbeit, die sie kriegen, oder sie kriegen gar nichts mehr. Und fertig is´!“ (B9-2: 29f.)<br />
Dieses Einstellungsmuster wird zwar permanent dadurch erschüttert, dass die eigene<br />
Leistungsbereitschaft nicht mit einem unbefristeten Arbeitsvertrag honoriert wird. Auch wird<br />
die Unterbringung der <strong>Leiharbeit</strong>er des Automobilunternehmens in einer<br />
Wohncontainersiedlung als massive Missachtung elementarer Prinzipien einer<br />
Leistungsgerechtigkeit erlebt: „Jeder Ausländer wohnt besser, wird besser behandelt. Warum<br />
tue ich mir das an? Warum mache ich das? Dieser Wohnpark ist meiner Meinung nach<br />
ziemlich menschenunwürdig. (...) Dieser Wohnpark ist meiner Meinung nach nichts für<br />
Leute, die hier arbeiten wollen.“ (B9-1: 11) Um so vehementer wird das eigene<br />
Integrationsverständnis vor allem gegenüber ethnischen Minderheiten und Migrantengruppen<br />
eingeklagt, denen schlicht Leistungsverweigerung und illegitime Vorteilserschleichung auf<br />
Kosten der nationalen Gemeinschaft der Leistungswilligen vorgeworfen wird 12 :<br />
„Wie kann das gehen, dass jemand nach Deutschland kommt und nichts tut? Die Kosovo-Albaner bekommen,<br />
bekommen und bekommen. Haben nichts getan, haben sich nicht eingefügt, haben, sage ich mal so, nicht<br />
großartig was für Deutschland gemacht. Und dann sind sie wieder gefahren. Und so geht das immer wieder und<br />
immer wieder und immer wieder und immer wieder. Die machen bloß so (macht die Geste des Händeaufhaltens)<br />
und fahren wieder. Das macht einen wütend. Wie kann das durchrutschen? Wie kann so was sein? Das ist ein<br />
Unding.“ (B9-1: 39)<br />
Ganz offensichtlich können diese Einstellungsmuster, die gegenüber rechtspopulistischen und<br />
fremdenfeindlichen Orientierungen offen sind, nicht einfach als maßstabsgetreuer Ausdruck<br />
sozialer Desintegrationsprozesse interpretiert werden. Ausgrenzende Deutungsmuster können<br />
vielmehr auch als Folge einer spezifischen Integrationsvorstellung gedeutet werden, die als<br />
normative Referenzfolie herangezogen wird, um wahrgenommene Problemlagen innerhalb<br />
und außerhalb der Arbeitswelt zu beurteilen.<br />
12 Bezeichnend ist, dass sich die Anpassungsbereitschaft letztlich auch darin zeigt, dass im öffentlichen<br />
Repräsentationsraum des Automobilunternehmens die eigene diskriminierende Einstellung gegenüber<br />
Ausländern möglichst verschwiegen wird, da sie sowohl vom Management als auch von der betrieblichen<br />
Interessenvertretung unerwünscht ist und negativ sanktioniert würde.<br />
30
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Dr. Klaus Kraemer / Frederic Speidel<br />
FIAB - Forschungsinstitut Arbeit Bildung Partizipation<br />
Institut an der Ruhr-Universität Bochum<br />
Münsterstr. 13-15<br />
D - 45657 Recklinghausen<br />
Tel. +49 (0) 2361.904 48-24<br />
Fax +49 (0) 2361.183 36 2<br />
Klaus.Kraemer-fiab@ruhr-uni-bochum.de<br />
www.ruhr-uni-bochum.de/fiab/<br />
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