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"Als der Krieg kam, hatte ich mit Hitler nichts mehr zu tun" - goedoc

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GOEDOC - Dokumenten- und Publikationsserver <strong>der</strong><br />

Georg-August-Universität Göttingen<br />

2008<br />

Gabriele Rosenthal (Hrsg.)<br />

„<strong>Als</strong> <strong>der</strong> <strong>Krieg</strong> <strong>kam</strong>, <strong>hatte</strong> <strong>ich</strong> <strong>mit</strong> <strong>Hitler</strong> n<strong>ich</strong>ts <strong>mehr</strong> <strong>zu</strong> tun"<br />

Zur Gegenwärtigkeit des „Dritten Re<strong>ich</strong>es" in Biographien<br />

unter Mitarbeit von Christiane Grote<br />

Rosenthal, Gabriele (Hrsg.); Grote, Christiane (Mitarb.) (2008):<br />

"<strong>Als</strong> <strong>der</strong> <strong>Krieg</strong> <strong>kam</strong>, <strong>hatte</strong> <strong>ich</strong> <strong>mit</strong> <strong>Hitler</strong> n<strong>ich</strong>ts <strong>mehr</strong> <strong>zu</strong> tun" : <strong>zu</strong>r Gegenwärtigkeit des "Dritten Re<strong>ich</strong>es"<br />

in Biographien / Gabriele Rosenthal [Hrsg.]. Unter Mitarb. von Christiane Grote.<br />

Printausg. im Verl. Leske + Budr<strong>ich</strong>, Opladen, 1990 erschienen<br />

Göttingen : GOEDOC, Dokumenten- und Publikationsserver <strong>der</strong> Georg-August-Universität<br />

Verfügbar:<br />

DOI: http://dx.doi.org/10.3249/webdoc-1880<br />

PURL: http://resolver.sub.uni-goettingen.de/purl/?webdoc-1880<br />

Dieses Werk ist urheberrechtl<strong>ich</strong> geschützt. Es steht unter Creative Commons Lizenz 2.0 als freie<br />

Onlineversion über den GOEDOC – Dokumentenserver <strong>der</strong> Georg-August-Universität Göttingen bereit<br />

und darf gelesen, heruntergeladen sowie als Privatkopie ausgedruckt werden. Es ist n<strong>ich</strong>t gestattet,<br />

Kopien o<strong>der</strong> gedruckte Fassungen <strong>der</strong> freien Onlineversion <strong>zu</strong> veräußern.


Bibliographische Information <strong>der</strong> Deutschen Nationalbibliothek<br />

Die Deutsche Nationalbibliothek verze<strong>ich</strong>net diese Publikation in <strong>der</strong> Deutschen<br />

Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über<br />

abrufbar.


Gabriele Rosenthal (Hg.)<br />

„<strong>Als</strong> <strong>der</strong> <strong>Krieg</strong> <strong>kam</strong>,<br />

<strong>hatte</strong> <strong>ich</strong> <strong>mit</strong> <strong>Hitler</strong> n<strong>ich</strong>ts<br />

<strong>mehr</strong> <strong>zu</strong> tun"<br />

Zur Gegenwärtigkeit des<br />

„Dritten Re<strong>ich</strong>es" in Biographien<br />

Leske + Budr<strong>ich</strong>


Gabriele Rosenthal (Hrsg.)<br />

„<strong>Als</strong> <strong>der</strong> <strong>Krieg</strong> <strong>kam</strong>, <strong>hatte</strong> <strong>ich</strong> <strong>mit</strong> <strong>Hitler</strong> n<strong>ich</strong>ts<br />

<strong>mehr</strong> <strong>zu</strong> tun"


Gabriele Rosenthal (Hrsg.)<br />

„<strong>Als</strong> <strong>der</strong> <strong>Krieg</strong> <strong>kam</strong>,<br />

<strong>hatte</strong> <strong>ich</strong> <strong>mit</strong> <strong>Hitler</strong><br />

n<strong>ich</strong>ts <strong>mehr</strong> <strong>zu</strong> tun"<br />

Zur Gegenwärtigkeit des<br />

„Dritten Re<strong>ich</strong>es" in Biographien<br />

unter Mitarbeit von Christiane Grote<br />

Leske + Budr<strong>ich</strong>, Opladen, 1990


ISBN: 3-8100-0812-5<br />

© 1990 by Leske + Budr<strong>ich</strong>, Opladen<br />

Das Werk einschließl<strong>ich</strong> aller seiner Teile ist urheberrechtl<strong>ich</strong> geschützt. Jede Verwertung<br />

außerhalb <strong>der</strong> engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags<br />

un<strong>zu</strong>lässig und strafbar. Das gilt insbeson<strong>der</strong>e fur Vervielfältigungen, Überset<strong>zu</strong>ngen, Mikroverfilmungen<br />

und die Einspe<strong>ich</strong>erung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.<br />

Satz: Leske + Budr<strong>ich</strong>, Opladen<br />

Druck und Verarbeitung: Druckpartner Rübelmann GmbH, Hemsbach<br />

Printed in Germany


Inhalt<br />

Gabriele Rosenthal<br />

1. Biographische Verarbeitung von <strong>Krieg</strong>serlebnissen 7<br />

1.1 Die unbewältigte deutsche Vergangenheit 7<br />

1.2 Erleben eines krisenhaften Alltags im <strong>Krieg</strong> und dessen<br />

Renormalisierung 11<br />

1.3 Die generationsspezifische Bedeutung <strong>der</strong> <strong>Krieg</strong>sjahre 16<br />

1.4 Vergangenheitsbewältigung in erzählten Lebensgesch<strong>ich</strong>ten 21<br />

2. Lebensgesch<strong>ich</strong>ten von Frauen<br />

Vorbemerkungen 27<br />

Martina Becka/Christiane Grote<br />

2.1 Erika Schild: „Ich war verliebt und verlobt und verheiratet<br />

und kr<strong>ich</strong>te Kin<strong>der</strong> 44 28<br />

Sigrid Matzik<br />

2.2 Ursula Borke: „Dein persönl<strong>ich</strong>es Leben ... das ist vorbei 44 52<br />

Christiane Grote<br />

2.3 Anneliese Heidt: „Da hab <strong>ich</strong> endl<strong>ich</strong> dieses Gefühl gehabt, jetzt<br />

kannst du deinen Beitrag leisten 44 80<br />

3. Die Soldaten <strong>der</strong> kämpfenden Truppe<br />

Juliane Brandstäter<br />

3.1 Fritz Sallmann: „Da hat s<strong>ich</strong> das nachher so von selbst ergeben, daß<br />

<strong>ich</strong> praktisch <strong>mit</strong> <strong>Hitler</strong> gar n<strong>ich</strong>ts <strong>mehr</strong> <strong>zu</strong> tun <strong>hatte</strong> 44 109<br />

Gabriele Rosenthal<br />

3.2 Oskar Vogel: Teilnehmer des Ersten und Zweiten Weltkrieges 142<br />

4. Die Soldaten <strong>der</strong> Etappe und Zeugen <strong>der</strong> NS-Verbrechen<br />

Martina Schiebel<br />

4.1 Walter Langenbach: „Und dann ging's los, das große Morden 165<br />

5


Gabriele Rosenthal<br />

4.2 Dieter Acka: „Das war das Mieseste, was <strong>ich</strong> da geleistet <strong>hatte</strong> 41 . 193<br />

Gabriele Rosenthal<br />

4.3 Das Enthüllungsverbot für erlebte NS-Verbrechen 216<br />

Gabriele Rosenthal<br />

5. Zweiter Weltkrieg und Nationalsozialismus: Zwei Themen ohne<br />

Zusammenhang? 223<br />

6. Methodischer Anhang<br />

Christiane Grote<br />

6.1 Die Datenerhebung 241<br />

Gabriele Rosenthal<br />

6.2 Die Auswertung. Hermeneutische Rekonstruktion erzählter<br />

Lebensgesch<strong>ich</strong>ten 246<br />

7. Literatur 252<br />

Transkriptionsze<strong>ich</strong>en 256<br />

6


Gabriele<br />

Rosenthal<br />

1. Biographische Verarbeitung von <strong>Krieg</strong>serlebnissen<br />

„Denn ohne Wie<strong>der</strong>holung unserer damaligen seelischen<br />

Erlebnisweisen und ohne immer erneutes Durcharbeiten<br />

unseres Verhaltens, gibt es keine Fähigkeit <strong>zu</strong><br />

trauern".<br />

M. Mitscherl<strong>ich</strong>-Nielsen 1979: 212<br />

LI Die unbewältigte deutsche Vergangenheit<br />

„<strong>Krieg</strong>, Gefangenschaft und Vertreibung" — das sind Themenbere<strong>ich</strong>e, die in<br />

den letzten Jahren in den bundesrepublikanischen Massenmedien <strong>zu</strong>nehmend<br />

diskutiert und vornehml<strong>ich</strong> autobiographisch behandelt werden. Vor allem<br />

nach <strong>der</strong> vielbesungenen Wende und den da<strong>mit</strong> <strong>zu</strong>sammenhängenden Ereignissen<br />

wie <strong>der</strong> Gedenkfeier <strong>zu</strong> Ehren <strong>der</strong> Toten des Zweiten Weltkriegs 1985<br />

auf dem Friedhof in Bitburg scheint es etl<strong>ich</strong>en deutschen Zeitzeugen jetzt opportun,<br />

s<strong>ich</strong> in <strong>der</strong> öffentl<strong>ich</strong>en Diskussion <strong>zu</strong> Wort <strong>zu</strong> melden und über ihre<br />

Leiden während des Zweiten Weltkrieges und <strong>der</strong> Nachkriegsjahre <strong>zu</strong> ber<strong>ich</strong>ten.<br />

N<strong>ich</strong>t nur Zeitzeugen „veröffentl<strong>ich</strong>en 44<br />

ihre Erlebnisse, auch Wissenschaftler<br />

versuchen, den Zweiten Weltkrieg in den Massenmedien aus dem<br />

thematischen Zusammenhang <strong>der</strong> <strong>Krieg</strong>sverbrechen und <strong>der</strong> Verbrechen gegen<br />

die Menschl<strong>ich</strong>keit <strong>zu</strong> lösen, d.h. ihn von den belastenden Anteilen <strong>zu</strong> befreien<br />

und da<strong>mit</strong> als Thema wie<strong>der</strong> salonfähig <strong>zu</strong> machen 1 .<br />

Diese momentan verstärkt einsetzende Thematisierung <strong>der</strong> leidvollen Vergangenheit<br />

<strong>der</strong> während des „Dritten Re<strong>ich</strong>es 44<br />

n<strong>ich</strong>t verfolgten Deutschen hat<br />

zwar viel vom Geist <strong>der</strong> Aufrechnung deutscher <strong>Krieg</strong>sopfer gegen die Opfer<br />

des Nationalsozialismus, dennoch ist sie m.E. eine notwendige Vorbedingung<br />

für die Bewältigung <strong>der</strong> nationalsozialistischen Vergangenheit. Selbst die in<br />

linken, antifaschistischen Kreisen als Gegengew<strong>ich</strong>t <strong>zu</strong>m öffentl<strong>ich</strong>en und privaten<br />

Schweigen dauerhaft geführte Auseinan<strong>der</strong>set<strong>zu</strong>ng <strong>mit</strong> den Schicksalen<br />

<strong>der</strong> im Nationalsozialismus Verfolgten führte nur ansatzweise <strong>zu</strong>r Bewältung<br />

<strong>der</strong> NS-Vergangenheit, da auch hier die leidvollen Erfahrungen <strong>der</strong> deutschen<br />

Bevölkerung meist ausgeklammert wurden. So hofften die Nachgeborenen,<br />

<strong>der</strong> Auseinan<strong>der</strong>set<strong>zu</strong>ng <strong>mit</strong> <strong>der</strong> NS-Vergangenheit ihrer Familien und da<strong>mit</strong><br />

7


ihrer eigenen historischen Verankerung entfliehen <strong>zu</strong> können, indem sie s<strong>ich</strong><br />

in Parteien und Arbeitskreisen <strong>mit</strong> theoretischen Faschismusanalysen beschäftigten<br />

und s<strong>ich</strong> <strong>zu</strong>gle<strong>ich</strong> auf die Erforschung des Wi<strong>der</strong>stands im „Dritten<br />

Re<strong>ich</strong>' 4<br />

konzentrierten. Man durchforstete die eigene Familie nach Angehörigen,<br />

die <strong>zu</strong>m Wi<strong>der</strong>stand gehört <strong>hatte</strong>n, und ansonsten verhalf man <strong>der</strong><br />

Familie <strong>zu</strong>m Schweigen. Indem man sie pauschal anklagte und Erzählungen<br />

über das durchlebte Leid blockierte, konnte man über die Generation <strong>der</strong> Eltern<br />

und über s<strong>ich</strong> selbst kaum etwas erfahren. Für die Zeitzeugen selbst wie<br />

für <strong>der</strong>en Kin<strong>der</strong> kann jedoch <strong>der</strong> Weg einer Vergangenheitsbewältigung n<strong>ich</strong>t<br />

über eine vom eigenen Schicksal losgelöste Reflexion historischer Prozesse<br />

bzw. über die Beschäftigung <strong>mit</strong> dem Schicksal an<strong>der</strong>er Menschen führen,<br />

son<strong>der</strong>n muß bei <strong>der</strong> Thematisierung <strong>der</strong> eigenen bzw. familialen Vergangenheit<br />

ansetzen. Zu dieser Vergangenheit, <strong>zu</strong> den für die einzelnen biographisch<br />

relevanten Erlebnissen und Erfahrungen, gehört auch das subjektive Leiden<br />

unter <strong>Krieg</strong>, Gefangenschaft und Vertreibung.<br />

Dialektisch gewendet, liegt also in <strong>der</strong> Diskussion über den Nationalsozialismus,<br />

die in <strong>der</strong> Öffentl<strong>ich</strong>keit geführt wird, n<strong>ich</strong>t nur die Gefahr einer<br />

Rechtfertigung und Verharmlosung <strong>der</strong> NS-Verbrechen, son<strong>der</strong>n auch die<br />

Chance, über die Thematisierung des eigenen Leids einen Trauerprozeß aus<strong>zu</strong>lösen,<br />

durch den die Zeitzeugen erst <strong>zu</strong>r Empathie <strong>mit</strong> den Verfolgten des<br />

NS fähig werden könnten.<br />

Erzählen Zeitzeugen des Zweiten Weltkrieges ihre gesamte Lebensgesch<strong>ich</strong>te,<br />

so nehmen Einzelgesch<strong>ich</strong>ten über diese historische Zeitspanne<br />

meist einen breiten Raum ein (vgl. Lehmann 1982: 71 f; Tröger 1987: 287).<br />

Analysen <strong>der</strong> Biographien von Angehörigen <strong>der</strong> <strong>Hitler</strong>jugend-Generation<br />

(vgl. Rosenthal 1986; 1987b) zeigen sehr deutl<strong>ich</strong>, daß dieser quantitativen<br />

Beobachtung an erzählten Biographien eine qualitative Bedeutung entspr<strong>ich</strong>t:<br />

Die biographische Bedeutung <strong>der</strong> <strong>Krieg</strong>sjahre hat auch noch aus <strong>der</strong> Gegenwartsperspektive<br />

<strong>der</strong> Erzähler eine hohe Relevanz bei <strong>der</strong> Gesamtevaluation<br />

ihres bisherigen und auch bei <strong>der</strong> Antizipation ihres <strong>zu</strong>künftigen Lebens. Die<br />

<strong>Krieg</strong>sjahre und <strong>der</strong>en Folgen haben s<strong>ich</strong> entscheidend auf den Lebensweg <strong>der</strong><br />

Zeitzeugen ausgewirkt, und die <strong>mit</strong> ihnen verbundenen, quälenden Erinnerungen<br />

belasten sie bis in die Gegenwart hinein. In den Interviews ist es gerade<br />

diese Lebensphase, über die <strong>mit</strong> <strong>der</strong> stärksten emotionalen Beteiligung, <strong>mit</strong><br />

dem höchsten Grad an Inti<strong>mit</strong>ät erzählt wird und bei <strong>der</strong> n<strong>ich</strong>t selten geweint<br />

wird. N<strong>ich</strong>t nur in sozial wissenschaftl<strong>ich</strong>en Interviews wird über den <strong>Krieg</strong><br />

erzählt. Viel<strong>mehr</strong> treten in den unterschiedl<strong>ich</strong>sten Alltagssituationen biographische<br />

Thematisierungen <strong>der</strong> <strong>Krieg</strong>serinnerungen auf, insbeson<strong>der</strong>e in kritischen<br />

Situationen. So können Zugverspätungen aufgrund von Witterungsverhältnissen<br />

<strong>Krieg</strong>serinnerungen hervorbringen. Darüber hinaus werden gesundheitl<strong>ich</strong>e<br />

Leiden ebenso wie noch heute bestehende Ernährungsschwierigkeiten<br />

auf die Entbehrungen während <strong>der</strong> <strong>Krieg</strong>sjahre <strong>zu</strong>rückgeführt. Stellt<br />

man als Zuhörerin auch nur eine Frage, erhält man meist eine ausfuhrl<strong>ich</strong>e<br />

8


iographische Erzählung. Einige „mhms" — und ein Abend in einem Weinlokal<br />

o<strong>der</strong> eine <strong>mehr</strong>ere Stunden dauernde Zugfahrt füllt s<strong>ich</strong> <strong>mit</strong> einer biographischen<br />

Erzählung über <strong>Krieg</strong>, Gefangenschaft o<strong>der</strong> Vertreibung. Aus diesem<br />

Erzähl- und Mitteilungsbedürfnis kann allerdings keineswegs geschlossen<br />

werden, daß die Zeitzeugen diese Vergangenheit aufgrund eines beim<br />

Erzählen immer wie<strong>der</strong> stattfindenden „Durcharbeitens" — psychoanalytisch<br />

formuliert — verarbeitet hätten. Im Gegenteil: Es handelt s<strong>ich</strong> um Erzählungen,<br />

bei denen das eigentl<strong>ich</strong> Belastende meist völlig ausgeblendet wird. Da<br />

kann ein ehemaliger Soldat <strong>der</strong> Ostfront über drei Jahre <strong>Krieg</strong> erzählen, ohne<br />

in dieser Erzählung auch nur einen einzigen Sterbenden o<strong>der</strong> Toten <strong>zu</strong> erwähnen.<br />

Eine Zivilistin kann über die letzten <strong>Krieg</strong>smonate in Berlin erzählen,<br />

über unzählige Bombenangriffe, über die Kämpfe von Stadtteil <strong>zu</strong> Stadtteil im<br />

April 1945, ohne die eigene Todesangst <strong>zu</strong> thematisieren o<strong>der</strong> von den zwischen<br />

den Trümmern Gestorbenen o<strong>der</strong> den an den Laternenpfahlen aufgehängten<br />

standrechtl<strong>ich</strong> Verurteilten <strong>zu</strong> ber<strong>ich</strong>ten. Zwar schwingt das ehemalige Leid <strong>mit</strong><br />

und wird auch häufig in weniger belastende Erinnerungen wie materielle Entbehrungen,<br />

Hunger und Kälte kanalisiert, o<strong>der</strong> eine gewisse Trauer ist in den<br />

Gesprächen spürbar, doch werden die heute noch belastenden Erinnerungen <strong>der</strong><br />

eigentl<strong>ich</strong> existentiell bedrohl<strong>ich</strong>en Erlebnisse, die <strong>der</strong> Konfrontation <strong>mit</strong> dem<br />

Tod, in <strong>der</strong> Regel n<strong>ich</strong>t erzählt. Sie werden viel<strong>mehr</strong> meist aus den Erzählungen<br />

ausgeblendet bzw. nur in allgemeinen Formulierungen wie: „das kann man ja<br />

gar n<strong>ich</strong>t erzählen, so schreckl<strong>ich</strong> war das" angedeutet.<br />

Die Biographen ber<strong>ich</strong>ten zwar, daß sie noch heute von <strong>Krieg</strong>serinnerungen<br />

und -träumen verfolgt werden, doch kommen in ihren Erzählungen Szenen<br />

des Schreckens und des Todes kaum vor. Die Erzählungen über <strong>Krieg</strong> und<br />

Nachkriegszeit sind viel<strong>mehr</strong> von einem Thematisierungstabu für bestimmte<br />

Erlebnisse geprägt, und häufig dienen <strong>Krieg</strong>sanekdoten den Erzählern <strong>zu</strong>r<br />

Ablenkung von eigenen schmerzhaften Erinnerungen.<br />

Diese Differenz zwischen belastenden Erinnerungen und mangeln<strong>der</strong> Thematisierung<br />

ist nur einer <strong>der</strong> Hinweise dafür, wie unverarbeitet und da<strong>mit</strong><br />

noch gegenwärtig das erfahrene Leiden ist. N<strong>ich</strong>t nur haben die Zeitzeugen<br />

um ihre 1945 verlorenen Identifikationsobjekte (vgl. Alexan<strong>der</strong> und Margarethe<br />

Mitscherl<strong>ich</strong> 1967) n<strong>ich</strong>t trauern können, sie konnten auch n<strong>ich</strong>t ihre<br />

schmerzvollen <strong>Krieg</strong>serlebnisse betrauern. Man kann zwar von <strong>der</strong> Unüberwindbarkeit<br />

existentiell bedrohl<strong>ich</strong>er Erlebnisse ausgehen sowie von einem<br />

bei jedem <strong>Krieg</strong> bestehenden Erzähltabu für das erlittene Leid, doch die Vergangenheitsbewältigung<br />

des Zweiten Weltkriegs wird <strong>zu</strong>dem durch etwas Beson<strong>der</strong>es<br />

erschwert, näml<strong>ich</strong> seine unlösbare Verflechtung <strong>mit</strong> dem Nationalsozialismus.<br />

Dieser Verflechtung versuchen die Zeitzeugen <strong>mit</strong> unterschiedl<strong>ich</strong>en Argumentationen<br />

und Strategien <strong>zu</strong> entrinnen.<br />

Eine <strong>der</strong> wesentl<strong>ich</strong>sten Strategien ist die <strong>der</strong> Entpolitisierung des Zweiten<br />

Weltkrieges: Dieser sei ein <strong>Krieg</strong> wie je<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e gewesen. Die nationalso-<br />

9


zialistischen <strong>Krieg</strong>sziele wie Eroberung neuen Lebensraums und die Beweisführung<br />

<strong>der</strong> rassischen Überlegenheit des deutschen Volkes werden in dieser<br />

Argumentationsfigur geleugnet, die Schuld Deutschlands am <strong>Krieg</strong>sbeginn<br />

wird n<strong>ich</strong>t thematisiert, o<strong>der</strong> gar bestritten. Mit <strong>der</strong> da<strong>mit</strong> einhergehenden<br />

Subsumierung <strong>der</strong> NS-Verbrechen unter das <strong>Krieg</strong>sgeschehen gelingt auch<br />

noch <strong>der</strong>en Normalisierung.<br />

Den männl<strong>ich</strong>en Zeitzeugen, den ehemaligen Soldaten wird es <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Konkretisierung<br />

dieser Entpolitisierung im Mythos des unpolitischen Soldaten<br />

(vgl. Rosenthal 1987a) mögl<strong>ich</strong>, s<strong>ich</strong> selbst und an<strong>der</strong>en <strong>zu</strong> vergewissern, daß<br />

sie auch <strong>mit</strong> ihrem Soldatsein in den Nationalsozialismus n<strong>ich</strong>t verstrickt waren<br />

bzw. sind. Zugle<strong>ich</strong> können sie weiterhin ungebrochen die <strong>mit</strong> <strong>der</strong> eigenen<br />

militärischen Vergangenheit verbundenen Selbstwertgefühle aufrechterhalten<br />

(vgl. Puhlmann u.a. 1986).<br />

Diese gelungenen Reparaturen <strong>der</strong> brüchigen Vergangenheit haben, wie<br />

auch an<strong>der</strong>e Formen <strong>der</strong> Entpolitisierung (z.B.: ,,Die <strong>Hitler</strong>jugend war unpolitisch<br />

44 ), die Funktion, die eigene Vergangenheit n<strong>ich</strong>t weiter <strong>zu</strong> problematisieren<br />

und s<strong>ich</strong> n<strong>ich</strong>t <strong>der</strong> Gefahr aus<strong>zu</strong>setzen, diese Vergangenheit mögl<strong>ich</strong>erweise<br />

entwerten <strong>zu</strong> müssen. Da<strong>mit</strong> werden die durch die öffentl<strong>ich</strong>e Diskreditierung<br />

des Nationalsozialismus nach 1945 auferlegten und bis in die<br />

Gegenwart hinein fortwährend auftauchenden Fragen zwar oberflächl<strong>ich</strong> immer<br />

wie<strong>der</strong> in den Zustand des Unproblematischen überführt. Doch dieser<br />

Versuch <strong>der</strong> Zeitzeugen, <strong>der</strong> Verstrickung in den NS retrospektiv <strong>zu</strong> entrinnen,<br />

fuhrt — entgegen <strong>der</strong> Intention — gerade n<strong>ich</strong>t da<strong>zu</strong>, daß sie s<strong>ich</strong> da<strong>mit</strong><br />

von den quälenden Erinnerungen, von diffusen Schuldgefühlen und von <strong>der</strong><br />

Identifikation <strong>mit</strong> verlorenen Objekten befreien können. N<strong>ich</strong>t nur, daß <strong>mit</strong><br />

diesen Reparaturstrategien die Bewältigung <strong>der</strong> NS-Vergangenheit erschwert<br />

wird, es werden auf diese Weise auch die <strong>Krieg</strong>serlebnisse n<strong>ich</strong>t verarbeitet.<br />

Ich gehe davon aus, daß selbst erlebtes Leid n<strong>ich</strong>t bewältigt werden kann,<br />

wenn jenes Leid ausgeblendet wird, das während des „Dritten Re<strong>ich</strong>s 44<br />

von<br />

den Deutschen, von den Nationalsozialisten und ihren Gehilfen an<strong>der</strong>en Menschen<br />

<strong>zu</strong>gefügt wurde. Wenn keine Auseinan<strong>der</strong>set<strong>zu</strong>ng <strong>mit</strong> den deutschen<br />

<strong>Krieg</strong>sverbrechen, <strong>mit</strong> dem Völkermord und <strong>der</strong> Verfolgung und Ermordung<br />

an<strong>der</strong>er erfolgt, insbeson<strong>der</strong>e <strong>mit</strong> den dabei selbst erlebten Ereignissen, so ist<br />

auch die Aufarbeitung des eigenen Leides blockiert. Umgekehrt ist gle<strong>ich</strong>ermaßen<br />

davon aus<strong>zu</strong>gehen, daß ein Mitfühlen <strong>mit</strong> den Opfern des Nationalsozialismus<br />

o<strong>der</strong> auch nur die Thematisierung <strong>der</strong> NS-Verbrechen blockiert<br />

wird, wenn es den Zeitzeugen n<strong>ich</strong>t gelingt, über das von ihnen selbst erfahrene<br />

Leid <strong>zu</strong> trauern. Kann darüber n<strong>ich</strong>t gesprochen, geklagt und geweint<br />

werden, kann darüber n<strong>ich</strong>t getrauert werden, dann wird die <strong>zu</strong> beobachtende<br />

und immer wie<strong>der</strong> beklagte Empfindungslosigkeit <strong>der</strong> Deutschen gegenüber<br />

den Opfern des Faschismus auch weiterhin bestehen bleiben. Auch die in <strong>der</strong><br />

Bundesrepublik an<strong>zu</strong>treffende Identifikation <strong>mit</strong> den Opfern, das <strong>zu</strong>m Teil<br />

übersteigerte Mitleiden <strong>mit</strong> den ehemals Verfolgten, kann als Reaktion auf die<br />

10


Unfähigkeit, das selbst erlittene Leid thematisieren <strong>zu</strong> können, verstanden<br />

werden und da<strong>mit</strong> n<strong>ich</strong>t unbedingt als Ausdruck eines empathischen Mitempfindens<br />

<strong>mit</strong> den Opfern.<br />

N<strong>ich</strong>t nur, daß viele Zeitzeugen noch heute an ihren eigenen schmerzvollen<br />

Erlebnissen und Erfahrungen während des <strong>Krieg</strong>es leiden, es besteht auch die<br />

Gefahr eines latenten Fortbestands einer militärischen Identität, verbunden<br />

<strong>mit</strong> dem Fortbestand <strong>der</strong> Wunsch Vorstellung einer Expansion des deutschen<br />

Herrschaftsbere<strong>ich</strong>es, wenn n<strong>ich</strong>t territorial, so doch wenigstens im Sinne<br />

wirtschaftl<strong>ich</strong>en Einflusses. Auf diese Gefahr eines — unter Umständen verdeckten<br />

— Fortbestands <strong>der</strong> militärischen Identität, selbst wenn sie aufgrund<br />

<strong>der</strong> politischen Verhältnisse an <strong>der</strong> Verwirkl<strong>ich</strong>ung gehin<strong>der</strong>t wird, hat schon<br />

Eric Erikson (1966: 23 f.) hingewiesen. Er diskutiert die Mögl<strong>ich</strong>keit, daß unerwünschte<br />

Identifikationen durch erwünschtere ersetzt werden. Dieser<br />

Überlegung folgend, könnte selbst ein Friedensengagement eine Gegenwehr<br />

gegen vorhandene unbewußte militärische Bedürfnisse sein.<br />

Ebensowenig, wie die betroffenen Zeitzeugen ihre Vergangenheit ohne die<br />

Vergegenwärtigung und Thematisierung ihrer biographisch relevanten Handlungen,<br />

Erfahrungen und Erlebnisse verarbeiten können, kann eine sozial wissenschaftl<strong>ich</strong>e<br />

Analyse <strong>der</strong> Bewältigung von <strong>Krieg</strong>serlebnissen die biographische<br />

Vergangenheit <strong>der</strong> Zeitzeugen unberücks<strong>ich</strong>tigt lassen. Zunächst muß<br />

vor allem rekonstruiert werden, was die Zeitzeugen während <strong>der</strong> <strong>Krieg</strong>s- und<br />

Nachkriegsjahre erlebt haben, welche <strong>zu</strong> bewältigenden Erfahrungen die Biographen<br />

in dieser historischen Zeitspanne überhaupt gemacht haben.<br />

Mit welchen krisenhaften Lebensbedingungen es während des <strong>Krieg</strong>es <strong>zu</strong><br />

leben galt, was die strukturellen Beson<strong>der</strong>heiten eines <strong>Krieg</strong>salltags sind und<br />

welche Mögl<strong>ich</strong>keiten die Menschen <strong>zu</strong>r Normalisierung dieses krisenhaften<br />

Alltags entwickeln, soll im folgenden auf wissenssoziologischer und biographietheoretischer<br />

Ebene diskutiert werden.<br />

1.2 Erleben eines krisenhaften Alltags im <strong>Krieg</strong> und dessen<br />

Renormalisierung<br />

Wie die einzelnen Zeitzeugen den <strong>Krieg</strong> erlebt haben, war je nachdem, wo sie<br />

ihn erlebten und wie sehr dieser <strong>Krieg</strong> ihre Lebensführung tangierte, sehr unterschiedl<strong>ich</strong>.<br />

Doch für die meisten wird s<strong>ich</strong> dieser <strong>Krieg</strong> <strong>zu</strong> irgendeinem<br />

Zeitpunkt spürbar auf ihren Alltag und ihr Leben ausgewirkt haben. Im <strong>Krieg</strong>,<br />

einem historischen Zeitabschnitt, dessen Verlauf und Ende n<strong>ich</strong>t vorhersehbar<br />

ist, geht die Normalität <strong>der</strong> Lebenswelt auf <strong>mehr</strong>fache Weise immer wie<strong>der</strong><br />

verloren. Es bedarf seitens <strong>der</strong> beteiligten Subjekte Strategien, <strong>mit</strong> dieser verlorenen<br />

Normalität <strong>zu</strong> leben, d.h. Strategien <strong>der</strong> Renormalisierung.<br />

Ganz unabhängig davon, wie dieser <strong>Krieg</strong> von den handelnden Subjekten<br />

wahrgenommen, definiert und ideologisch verklärt wurde, stellte er eine an-<br />

11


dauernde soziale, gesamtgesellschaftl<strong>ich</strong>e Krise dar, <strong>der</strong>en zeitl<strong>ich</strong>e und<br />

räuml<strong>ich</strong>e Ausdehnung ungewiß war. Die NS-Propaganda versuchte zwar,<br />

<strong>der</strong> deutschen Bevölkerung die Kalkulierbarkeit des <strong>Krieg</strong>sverlaufs und insbeson<strong>der</strong>e<br />

die räuml<strong>ich</strong>e Festlegung auf Gebiete außerhalb des Re<strong>ich</strong>sgebiets<br />

glaubhaft <strong>zu</strong> machen, doch erwiesen s<strong>ich</strong> diese ideologischen Orientierungen<br />

spätestens seit den beginnenden Luftangriffen auf das Re<strong>ich</strong>sgebiet, nach <strong>der</strong><br />

Nie<strong>der</strong>lage in Afrika und in Stalingrad, für die deutsche Bevölkerung <strong>zu</strong>nehmend<br />

als unglaubwürdig. Der <strong>Krieg</strong> zog s<strong>ich</strong> in die Länge, breitete s<strong>ich</strong> auf<br />

das Re<strong>ich</strong>sgebiet aus, und selbst ein individueller Rück<strong>zu</strong>g im Sinne eines<br />

„N<strong>ich</strong>t-Mehr-Mitkämpfens 44<br />

war nur noch unter Gefahr einer standrechtl<strong>ich</strong>en<br />

Erschießung mögl<strong>ich</strong>. Über die Mittel, diesen <strong>Krieg</strong> <strong>zu</strong> beenden, verfügten<br />

nur die Weisungsbefugten <strong>der</strong> Wehrmacht und <strong>der</strong> NSDAP bzw. <strong>der</strong> „Führer<br />

44 Adolf <strong>Hitler</strong> selbst. Die Angehörigen <strong>der</strong> „Gefolgschaft 44 — ob nun freiwillig<br />

o<strong>der</strong> erzwungenermaßen dabei — waren diesem Geschehen, dieser<br />

deutschen <strong>Krieg</strong>sführung eines „totalen <strong>Krieg</strong>es 44<br />

und ihren Folgen <strong>mehr</strong> o<strong>der</strong><br />

weniger hilflos ausgeliefert. In <strong>zu</strong>nehmendem Maße verschlechterte s<strong>ich</strong> die<br />

Versorgungslage, Verkehrssysteme brachen allmähl<strong>ich</strong> <strong>zu</strong>sammen, Ausgebombte<br />

wurden obdachlos, viele Menschen waren tagtägl<strong>ich</strong> <strong>mit</strong> dem Sterben<br />

an<strong>der</strong>er Menschen konfrontiert und <strong>der</strong> Gefahr des eigenen Todes ausgesetzt.<br />

Spätestens <strong>mit</strong> den Bombenangriffen o<strong>der</strong> dem Ein<strong>zu</strong>g <strong>zu</strong>r Wehrmacht<br />

wirkten s<strong>ich</strong> die politischen Verhältnisse, die s<strong>ich</strong> so viele <strong>der</strong> „Mitläufer 44<br />

und „inneren Emigranten 44<br />

vom Leibe halten wollten, auch direkt spürbar auf<br />

das einzelne „private 4 * Leben aus. War es bis dahin mögl<strong>ich</strong>, so <strong>zu</strong> leben, als<br />

hätte man <strong>mit</strong> dem politischen Geschehen n<strong>ich</strong>ts <strong>zu</strong> tun, als könnte man in<br />

Ruhe sein Leben führen, so wurde diese Gewißheit <strong>mit</strong> den Auswirkungen des<br />

<strong>Krieg</strong>es auf den un<strong>mit</strong>telbaren Lebensalltag erschüttert. Da<strong>mit</strong> war auch verbunden,<br />

daß s<strong>ich</strong> die Zeitzeugen <strong>zu</strong>mindest in Ansätzen fragen mußten, welchen<br />

Sinn dieser spürbare Einbruch „äußerer 44<br />

Verhältnisse in ihr Leben<br />

<strong>hatte</strong>.<br />

Sowohl auf <strong>der</strong> konkreten handlungspraktischen Ebene des Alltags wie auch<br />

auf <strong>der</strong> Ebene des politischen Bewußtseins löste die soziale Krise dieses <strong>Krieg</strong>es<br />

auch bei den einzelnen Subjekten Krisen aus. Vergegenwärtigt man s<strong>ich</strong><br />

die Situation und insbeson<strong>der</strong>e die Grenzerfahrung <strong>der</strong> Konfrontation <strong>mit</strong> dem<br />

mögl<strong>ich</strong>en eigenen Tod, in <strong>der</strong> s<strong>ich</strong> die Antizipation <strong>der</strong> Zukunft, die Hoffnungen<br />

und Wünsche nur noch auf die Frage des nackten Überlebens o<strong>der</strong> des<br />

Sterbens reduzierten, muß man s<strong>ich</strong> fragen: Wie war die Normalisierung dieses<br />

krisenhaften Alltags im Sinne eines reibungslosen Weiterfunktionierens<br />

überhaupt noch mögl<strong>ich</strong>? In einem Zeitalter und in einer Gesellschaft, in <strong>der</strong><br />

<strong>der</strong> Glaube an ein Weiterleben nach dem Tod recht brüchig geworden ist,<br />

könnte man s<strong>ich</strong> gedankenexperimentell ja vorstellen, daß <strong>mit</strong> dem Auftreten<br />

ständiger Todesgefahr die Menschen in Untätigkeit verharren, da alles Tätige<br />

auf eine ungewisse Zukunft verweist.<br />

12


Es muß also beim Auftreten von subjektiven Krisen, bei denen es <strong>zu</strong><br />

Stockungen <strong>der</strong> lebensweltl<strong>ich</strong>en Idealisierungen des „Ich kann immer wie<strong>der</strong>"<br />

und „Es geht weiter wie bisher" (Hussen 1929, Pär.74: 167) kommt,<br />

Mögl<strong>ich</strong>keiten für das Subjekt geben, diesen handelnd <strong>zu</strong> begegnen. Es muß<br />

Strategien geben, die <strong>der</strong> Aufrechterhaltung einer bedrohten Normalität — im<br />

Sinne eines n<strong>ich</strong>t stockenden „Flusses <strong>der</strong> Gewohnheiten", wie es William I.<br />

Thomas (1909) formuliert — dienen und die das Krisenhafte aus dem Horizont<br />

des Thematischen verdrängen. Karl Jaspers (1971:250) beschreibt dieses<br />

„Dethematisieren" wie folgt:<br />

„Man we<strong>ich</strong>t dem Leiden aus: bei s<strong>ich</strong>, indem man Fakta n<strong>ich</strong>t auffaßt, n<strong>ich</strong>t verarbeitet, n<strong>ich</strong>t<br />

durcherlebt; indem man seinen Horizont enghält; bei an<strong>der</strong>en, indem man s<strong>ich</strong> fernhält, s<strong>ich</strong><br />

rechtzeitig <strong>zu</strong>rückzieht, wo das Leiden unheilbar wird "<br />

Wie ist dieses Fernhalten des Leidens mögl<strong>ich</strong>? Hier wird <strong>zu</strong>nächst <strong>zu</strong> fragen<br />

sein, welche unterschiedl<strong>ich</strong>en Formen von Leiden, von Krisen es gibt.<br />

Im folgenden werden ideologische Krisen, die bei den späteren Analysen einzelner<br />

Biographien diskutiert werden, unberücks<strong>ich</strong>tigt bleiben.<br />

Im Zusammenhang <strong>der</strong> konkreten Auswirkungen des <strong>Krieg</strong>es auf den Lebensalltag<br />

<strong>der</strong> Menschen lassen s<strong>ich</strong> Krisen danach unterscheiden, ob sie<br />

durch die Durchbrechung <strong>der</strong> Idealisierung <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>holbarkeit alltägl<strong>ich</strong>er<br />

Routinen o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Idealisierung <strong>der</strong> Kontinuität des Lebens (Fischer 1982;<br />

1984) o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Idealisierung <strong>der</strong> Realisierbarkeit biographischer Entwürfe<br />

auftreten.<br />

Die Durchbrechung <strong>der</strong> Idealisierung <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>holbarkeit alltägl<strong>ich</strong>er<br />

Routinen bedeutet, daß man n<strong>ich</strong>t <strong>mehr</strong> davon ausgehen kann, daß morgen die<br />

Routinehandlungen des Heute noch mögl<strong>ich</strong> sein werden. Bei feindl<strong>ich</strong>en Angriffen<br />

war für jeden Miterlebenden die Aufrechterhaltung alltägl<strong>ich</strong>er Routinen<br />

infrage gestellt. Bei Bombenangriffen wußte man z.B. n<strong>ich</strong>t, ob danach<br />

<strong>der</strong> Strom noch funktionierte, ob es noch Wasser gab o<strong>der</strong> ob die Wohnung<br />

nach dem Angriff noch bewohnbar war. Darüber hinaus konnte we<strong>der</strong> vorausgesagt<br />

werden, wann Angriffe stattfanden, noch konnten diese verhin<strong>der</strong>t werden.<br />

Auch feindl<strong>ich</strong>e Attacken an <strong>der</strong> Front waren n<strong>ich</strong>t immer vorhersehbar.<br />

Der Soldat wußte n<strong>ich</strong>t, ob er seine gerade begonnene Mahlzeit würde beenden<br />

o<strong>der</strong> die Nacht würde schlafen können, ob seine Briefe den Empfanger erre<strong>ich</strong>en<br />

würden und wann er die Gefechtsstellung wie<strong>der</strong> würde verlassen<br />

können.<br />

Die Durchbrechung <strong>der</strong> iterativen Struktur <strong>der</strong> Alltagszeit kann — entsprechend<br />

den empirischen Befunden <strong>der</strong> Analyse von Lebensgesch<strong>ich</strong>ten chronisch<br />

Kranker von Wolfram Fischer (1982; 1985) — <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Einklammerung<br />

dieses unbestimmbaren Alltags und <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Entwicklung von an<strong>der</strong>en regelmäßigen<br />

Routinehandlungen „repariert" werden. Das „so-tun-als-ob" n<strong>ich</strong>ts<br />

Unerwartetes eintreffen wird, äußert s<strong>ich</strong> in <strong>der</strong> Grundhaltung, n<strong>ich</strong>t an morgen<br />

<strong>zu</strong> denken und statt dessen von Tag <strong>zu</strong> Tag <strong>zu</strong> leben. Diese Strategie, die<br />

13


s<strong>ich</strong> in einem Lebensgefühl äußert, das häufig <strong>mit</strong> einer fatalistischen Haltung<br />

verknüpft ist, war insbeson<strong>der</strong>e in den letzten <strong>Krieg</strong>s- und in den Nachkriegsmonaten<br />

in <strong>der</strong> deutschen Bevölkerung verbreitet. Eine an<strong>der</strong>e in dieser Zeit<br />

vorherrschende Strategie bestand darin, s<strong>ich</strong> beson<strong>der</strong>s auf die Vorbereitungen<br />

gegen die nächsten Angriffe <strong>zu</strong> konzentrieren, diese Vorbereitungen <strong>zu</strong><br />

immer wie<strong>der</strong>kehrenden Routinehandlungen werden <strong>zu</strong> lassen und auf <strong>der</strong>en<br />

Effektivität <strong>zu</strong> bauen. Durch diese Aktivitäten konnte die Zivilbevölkerung<br />

die unberechenbaren Auswirkungen des nächsten Luftangriffes wie auch die<br />

Impon<strong>der</strong>abilien des Einmarsches <strong>der</strong> feindl<strong>ich</strong>en Armeen vermeintl<strong>ich</strong> in<br />

den Griff bekommen. Man konnte s<strong>ich</strong> beson<strong>der</strong>e Mühe bei <strong>der</strong> Verdunkelung<br />

geben, den Koffer für den Luftschutzkeller regelmäßig packen, Vorrat an<br />

Wasser und Kerzen besorgen und die wertvollen Gegenstände vor dem Einmarsch<br />

<strong>der</strong> Feinde im Garten vergraben. Umfassen<strong>der</strong>e, staatl<strong>ich</strong> und privat<br />

initiierte Vorkehrungen waren z.B. die Evakuierungsmaßnahmen aus den<br />

Städten aufs Land.<br />

Bauen körperl<strong>ich</strong> gesunde Menschen in Friedenszeiten und insbeson<strong>der</strong>e in<br />

Zeiten, in denen s<strong>ich</strong> die Sterberate auf das höhere Alter konzentriert, auf eine<br />

prinzipiell offene Zukunft, so wird diese Idealisierung <strong>der</strong> Kontinuität des Lebens<br />

in <strong>Krieg</strong>szeiten brüchig. Inwiefern <strong>der</strong> einzelne seinen eigenen mögl<strong>ich</strong>en<br />

Tod antizipierte, war neben seiner Persönl<strong>ich</strong>keitsstruktur, seinem<br />

Grundgefuhl von Todesangst o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Gewißheit <strong>zu</strong> überleben abhängig von<br />

den objektiven Rahmenbedingungen, d.h. inwieweit er, seine Angehörigen<br />

und Freunde <strong>der</strong> Gefahr eines mögl<strong>ich</strong>en Todes ausgesetzt waren. Konfrontiert<br />

<strong>mit</strong> dem Sterben an<strong>der</strong>er Menschen, gezwungen s<strong>ich</strong> selbst in lebensgefahrl<strong>ich</strong>e<br />

Situationen <strong>zu</strong> begeben und <strong>zu</strong>gle<strong>ich</strong> in diese unentrinnbar verstrickt,<br />

wird das Denken und Handeln, das darauf ausger<strong>ich</strong>tet ist, daß man<br />

weiter leben wird, jedoch <strong>zu</strong>nehmend problematisch. Das Thematischwerden<br />

des eigenen mögl<strong>ich</strong>en Todes wird irgendwann und zwangsläufig unumgängl<strong>ich</strong>.<br />

Doch auch unter diesen Bedingungen ist es mögl<strong>ich</strong>, die Durchbrechung<br />

dieser Idealisierung <strong>zu</strong> reparieren und da<strong>mit</strong> das Thema Tod wie<strong>der</strong> in den Bere<strong>ich</strong><br />

des N<strong>ich</strong>tthematischen <strong>zu</strong> überfuhren. Fischer hat in seiner empirischen<br />

Analyse aufgezeigt, welche Mögl<strong>ich</strong>keiten das Subjekt hat, die Verlet<strong>zu</strong>ng <strong>der</strong><br />

Idealisierung <strong>der</strong> Kontinuität des Lebens <strong>mit</strong> Hilfe temporaler Modifikationen<br />

<strong>zu</strong> reparieren. Unter temporaler Modifikation versteht Fischer (1986: 369) die<br />

Mögl<strong>ich</strong>keit, „den Erfahrungs- und Erlebnisschwerpunkt aus <strong>der</strong> Gegenwart<br />

<strong>mit</strong> doppeltem Vergangenheits- und Zukunftshorizont heraus<strong>zu</strong>verlegen". Fischer<br />

unterscheidet zwischen Historisierung — <strong>der</strong> Verlagerung <strong>der</strong> zentralen<br />

Lebensperspektive in die Vergangenheit —, <strong>der</strong> Präsentifikation -— <strong>der</strong> Konzentration<br />

auf das Leben im „Hier und Jetzt" — und <strong>der</strong> Futurisierung — <strong>der</strong><br />

Verlegung <strong>der</strong> zentralen Lebensperspektive in die Zukunft.<br />

So konnten s<strong>ich</strong> auch die Zeitzeugen im Zweiten Weltkrieg, neben <strong>der</strong> Erinnerung<br />

an die guten alten Zeiten, durchaus in Gedanken auf ein Leben nach<br />

dem <strong>Krieg</strong> konzentrieren und lebensgesch<strong>ich</strong>tl<strong>ich</strong> relevante Entscheidungen,<br />

14


wie eine Heirat o<strong>der</strong> das Zeugen eines Kindes anläßl<strong>ich</strong> eines Fronturlaubs,<br />

für die Zukunft treffen. Die Konzentration auf das „Hier und Jetzt 4 *, das Ausblenden<br />

eines Denkens an morgen, war eine Reparaturstrategie <strong>der</strong> Zivilbevölkerung<br />

wie auch <strong>der</strong> Soldaten.<br />

Außer <strong>mit</strong> diesen Reparaturstrategien <strong>der</strong> temporalen Modifikation, d.h.<br />

dem „Tün-als-ob* 4<br />

das Leben weitergehen wird, konnte die Krisensituation<br />

auch da<strong>mit</strong> bewältigt werden, daß das Subjekt den Tod an <strong>der</strong> Front ideologisch<br />

verklärte. Indem <strong>der</strong> Tod an <strong>der</strong> Front als heldenhaft, ehrenvoll und vor<br />

allem sinnvoll definiert wurde, konnte die Angst vor diesem Tod verringert<br />

werden. Die mögl<strong>ich</strong>e Idealisierung des Todes muß insbeson<strong>der</strong>e bei <strong>der</strong> Analyse<br />

von <strong>Krieg</strong>serlebnissen Deutscher im Zweiten Weltkrieg, in einer Epoche,<br />

<strong>zu</strong> <strong>der</strong>en Weltanschauung n<strong>ich</strong>t nur die Wertlosigkeit des Lebens an<strong>der</strong>er, son<strong>der</strong>n<br />

auch die des eigenen gehörte, bedacht werden. Wesentl<strong>ich</strong> an <strong>der</strong> nationalsozialistischen<br />

Weltanschauung und <strong>der</strong> NS-Propaganda im Zweiten Weltkrieg<br />

war die Wertvorstellung, sein eigenes Leben für eine höhere Sache, fur<br />

„Führer, Volk und Vaterland** <strong>zu</strong> opfern. Jürgen Henningsen (1982: 350ff) ber<strong>ich</strong>tet<br />

darüber, daß seine NS-Sozialisation da<strong>zu</strong> gefuhrt hätte, daß er keine<br />

Angst vor dem Tod gehabt hätte:<br />

„Von heute aus gesehen, finde <strong>ich</strong> erstaunl<strong>ich</strong>, daß bei all den Bombenangriffen und Tieffliegerangriffen<br />

<strong>der</strong> kleine Junge nie Angst <strong>hatte</strong>. Je mulmiger es wurde, desto w<strong>ich</strong>tiger <strong>kam</strong> <strong>ich</strong> mir vor<br />

— als unser Haus ausbrannte, war das gerade<strong>zu</strong> ein ideologischer Orgasmus."<br />

Mit <strong>der</strong> ideologischen Verklärung des Todes für den Sieg einer Weltanschauung,<br />

eröffnet s<strong>ich</strong> dem Individuum ein Zukunftshorizont nach seinem Tode: sein<br />

Tod weist in die Zukunft, da <strong>mit</strong> ihm die angestrebte kollektive und weltl<strong>ich</strong>e Zukunft<br />

„erkämpft** werden kann (Rosenthal 1987 b: 394). Auch <strong>mit</strong> dem Sprung in<br />

eine an<strong>der</strong>e Sinnprovinz, die <strong>der</strong> Religion, eröffnet s<strong>ich</strong> dem Individuum, dessen<br />

weiteres Leben ungewiß ist, ein neuer „außer-weltl<strong>ich</strong>er** Zukunftshorizont: das<br />

Weiterleben nach dem Tod. Bei diesen Strategien handelt es s<strong>ich</strong> in gewisser<br />

Weise ebenfalls um temporale; wesentl<strong>ich</strong>er Unterschied <strong>zu</strong> den von Fischer<br />

(1982; 1985) diskutierten temporalen Modifikationen ist jedoch, daß das Subjekt<br />

hier einen mögl<strong>ich</strong>en Tod gerade n<strong>ich</strong>t ausblendet, son<strong>der</strong>n diesen viel<strong>mehr</strong> <strong>zu</strong>m<br />

Gegenstand seiner Reflexion macht. Das Subjekt „repariert** also die Verlet<strong>zu</strong>ng<br />

<strong>der</strong> Kontinuitätsidealisierung n<strong>ich</strong>t, son<strong>der</strong>n verleiht ihr einen Sinn; deshalb<br />

spreche <strong>ich</strong> in diesem Zusammenhang n<strong>ich</strong>t von einer temporalen Reparaturstrategie,<br />

son<strong>der</strong>n von einer sinnverleihenden Bewältigungsstrategie.<br />

Eine weitere Mögl<strong>ich</strong>keit fur das Auftreten von Krisen liegt in <strong>der</strong> Durchbrechung<br />

<strong>der</strong> Idealisierung <strong>der</strong> Realisierbarkeit biographischer Entwürfe, die<br />

wie die <strong>der</strong> Kontinuität des Lebens auf <strong>der</strong> Ebene von Lebenszeit liegt. Im Unterschied<br />

<strong>zu</strong> <strong>der</strong> allgemeinen Erwartung, daß man weiter leben wird, wird hier<br />

jedoch die Erfüllbarkeit konkreter Lebensentwürfe idealisiert. Ausgeblendet<br />

wird die emergente Struktur von Zukunft, die unerwarteten und unplanbaren<br />

Ereignisse und Folgen eigenen Handelns.<br />

15


Ideal iter geht <strong>der</strong> Biograph von <strong>der</strong> Annahme <strong>der</strong> prinzipiellen Realisierbarkeit<br />

seiner biographischen Entwürfe aus, davon, daß diese s<strong>ich</strong> in gewissem<br />

Maße in <strong>der</strong> Zukunft auch verwirkl<strong>ich</strong>en werden. Dabei unterstellt er die<br />

Planbarkeit von Zukunft. Beginnt er z.B. <strong>mit</strong> einer berufl<strong>ich</strong>en Ausbildung,<br />

nimmt er unhinterfragt an, daß er sie, wenn er selbst n<strong>ich</strong>t scheitert, auch<br />

beenden können wird, ihn also äußere Umstände n<strong>ich</strong>t daran hin<strong>der</strong>n werden.<br />

Ebenso geht eine junge Frau, die <strong>mit</strong> ihrem Verlobten den Tag <strong>der</strong> Hochzeit<br />

bereits festgelegt hat, von <strong>der</strong> Realisierbarkeit dieses Vorhabens aus.<br />

Dies ist prinzipiell die Idealisierung einer bestimmbaren Zukunft, in<br />

<strong>Krieg</strong>szeiten ist jedoch die mögl<strong>ich</strong>e Realisierung biographischer Entwürfe<br />

beson<strong>der</strong>s bedroht. Für die Zeitzeugen des Zweiten Weltkrieges konnten <strong>der</strong><br />

Ein<strong>zu</strong>g <strong>zu</strong>r Wehrmacht o<strong>der</strong> <strong>zu</strong>m Arbeitsdienst, die Bombardierung des eigenen<br />

Betriebs, Geschäfts- o<strong>der</strong> Wohnhauses o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Tod von Angehörigen<br />

biographische Entwürfe scheitern lassen o<strong>der</strong> <strong>der</strong>en Realisierungsmögl<strong>ich</strong>keiten<br />

dramatisch bedrohen. Vor allem in den letzten <strong>Krieg</strong>sjahren und -monaten<br />

wurde für die deutsche Bevölkerung die unbestimmbare, unplanbare Zukunft<br />

thematisch. Es war ungewiß, was nach einer Kapitulation aus Deutschland<br />

werden würde, welche Verän<strong>der</strong>ungen des politischen, gesellschaftl<strong>ich</strong>en Systems<br />

<strong>zu</strong> erwarten waren und vor allem, welche Auswirkungen diese auf die<br />

eigene Lebensführung haben würden. Die Furcht vor dieser unbestimmbaren<br />

Zukunft und insbeson<strong>der</strong>e dem <strong>zu</strong> erwartenden, jedoch n<strong>ich</strong>t kalkulierbaren<br />

Revancheverhalten <strong>der</strong> Sieger manifestierte s<strong>ich</strong> in dem allgemein bekannten<br />

Motto: „Genieße den <strong>Krieg</strong>, <strong>der</strong> Frieden wird fürchterl<strong>ich</strong>". Doch es gab auch<br />

diejenigen, die auf den Frieden o<strong>der</strong> auf die Befreiung hofften und nur noch<br />

in dem Gedanken an die s<strong>ich</strong> bald realisierende Zukunft eines zerschlagenen<br />

„Dritten Re<strong>ich</strong>es" lebten.<br />

Ob jemand in <strong>der</strong> Gegenwart eines faschistischen Deutschlands verharrte<br />

o<strong>der</strong> bereits in Gedanken an sein Leben in <strong>der</strong> Vergangenheit <strong>der</strong> deutschen<br />

militärischen Erfolge verweilte o<strong>der</strong> s<strong>ich</strong> ganz auf die Hoffnung einer an<strong>der</strong>en<br />

Zukunft konzentrierte, war abhängig von seiner Haltung <strong>zu</strong> diesem <strong>Krieg</strong> und<br />

und <strong>zu</strong> dem politischen System des Nationalsozialismus.<br />

L3 Die generationsspezifische Bedeutung <strong>der</strong> <strong>Krieg</strong>sjahre<br />

In welchen Situationen und <strong>zu</strong> welchem Zeitpunkt biographisch relevante<br />

Orientierungskrisen im Sinne <strong>der</strong> Durchbrechung <strong>der</strong> alltagsweltl<strong>ich</strong>en Idealisierungen<br />

bei den Zeitzeugen auftraten und <strong>zu</strong> welchen Strategien <strong>der</strong> Renormalisierung<br />

o<strong>der</strong> Bewältigung sie neigten, war abhängig von den konkreten<br />

Auswirkungen dieses <strong>Krieg</strong>es auf ihr Leben. Je nachdem, ob sie den Bombenangriffen<br />

in <strong>der</strong> Heimat ausgesetzt waren o<strong>der</strong> als Soldaten <strong>der</strong> fechtenden<br />

Truppe dem Feind von Anges<strong>ich</strong>t <strong>zu</strong> Anges<strong>ich</strong>t begegneten o<strong>der</strong> in <strong>der</strong> Etappe<br />

16


administrative Aufgaben erfüllten, erlebten sie den <strong>Krieg</strong> aus unterschiedl<strong>ich</strong>en<br />

Perspektiven. Des weiteren war das <strong>Krieg</strong>serleben geprägt von <strong>der</strong> biographischen<br />

Bedeutung, die <strong>der</strong> <strong>Krieg</strong> für ihr Leben jeweils <strong>hatte</strong>. Genau genommen<br />

erlebte also je<strong>der</strong> Zeitzeuge den <strong>Krieg</strong> aus einer an<strong>der</strong>en Perspektive.<br />

Doch abgesehen von <strong>der</strong> jeweils individuellen, biographischen<br />

Beson<strong>der</strong>heit eines Menschen, seiner einmaligen und einzigartigen Lebensgesch<strong>ich</strong>te,<br />

teilt je<strong>der</strong> Mensch seine Erfahrungen, die er in <strong>der</strong> sozialen Welt gemacht<br />

hat und noch machen wird, seine Vergangenheit, Gegenwart und antizipierte<br />

Zukunft <strong>mit</strong> an<strong>der</strong>en Menschen. Dabei verbinden ihn seine Erfahrungen<br />

<strong>mit</strong> manchen Mitmenschen <strong>mehr</strong> als <strong>mit</strong> an<strong>der</strong>en. Häufig denkt <strong>der</strong><br />

Sozialwissenschaftler bei geteilten Erlebniswelten an die Zugehörigkeit des<br />

Subjekts <strong>zu</strong> einer Sch<strong>ich</strong>t bzw. <strong>zu</strong> einem Milieu. Ein weiteres und im Zusammenhang<br />

geteilter historischer Erfahrungen ebenso wesentl<strong>ich</strong>es Kriterium<br />

gemeinsam geteilter Erlebniswelten ist die Zugehörigkeit <strong>zu</strong> einer Generation.<br />

Der Generationsbegriff umfaßt zwei Dimensionen des Erlebens historischer<br />

Ereignisse: die Dimension <strong>der</strong> aufgrund des gemeinsamen Lebensalters<br />

geteilten Kontexte sowie die <strong>der</strong> gemeinsam geteilten, erlebten Gesch<strong>ich</strong>te.<br />

Nach <strong>der</strong> Definiton von Karl Mannheim (1928) sind die Angehörigen einer<br />

Generation im historischen Strom des gesellschaftl<strong>ich</strong>en Geschehens verwandt<br />

gelagert:<br />

„N<strong>ich</strong>t das Faktum <strong>der</strong> in <strong>der</strong>selben chronologischen Zeit erfolgten Geburt, <strong>zu</strong>r selben Zeit<br />

Jung-, Erwachsen-, Altgewordenseins, konstituiert die gemeinsame Lagerung im sozialen Räume,<br />

son<strong>der</strong>n erst die daraus entstehende Mögl<strong>ich</strong>keit, an denselben Ereignissen, Lebensgehalten usw.<br />

<strong>zu</strong> partizipieren und noch <strong>mehr</strong>, von <strong>der</strong>selben Art <strong>der</strong> Bewußtseinssch<strong>ich</strong>tung aus dies <strong>zu</strong> tun..."<br />

(Mannheim 1928: 180)<br />

Generationsbildend sind also die objektiven Bedingungen und Zeitumstände,<br />

die Lebensverhältnisse in einer Zeitperiode, wenn sie von den Gle<strong>ich</strong>altrigen<br />

als prägend für ihr Leben erfahren werden. Innerhalb einer Generation<br />

unterscheidet Karl Mannheim Generationseinheiten, die auf unterschiedl<strong>ich</strong>e<br />

Weise auf die den Generations<strong>zu</strong>sammenhang stiftenden, gemeinsamen<br />

historisch-lebensgesch<strong>ich</strong>tl<strong>ich</strong>en Konstellationen antworten.<br />

Wie die einzelnen Geburtsjahrgänge s<strong>ich</strong> generationsspezifisch voneinan<strong>der</strong><br />

abgrenzen, wann eine Generation jahrgangsmäßig beginnt, d.h. ab welchem<br />

Zeitpunkt von einer neuen Generation gesprochen werden kann, ist<br />

nach diesem soziologischen Verständnis eine empirische Frage, die im Kontext<br />

<strong>der</strong> konkreten jeweiligen sozialen und historischen Verhältnisse und n<strong>ich</strong>t<br />

unabhängig von diesen <strong>zu</strong> beantworten ist. Schon gar n<strong>ich</strong>t läßt s<strong>ich</strong> die Generations<strong>zu</strong>gehörigkeit<br />

etwa in <strong>der</strong> Art schematisieren, daß alle 20 Jahre eine<br />

neue Generation beginnt.<br />

Betrachtet man die historische Situation <strong>der</strong> ersten Hälfe dieses Jahrhun<strong>der</strong>ts,<br />

so sind die Angehörigen <strong>der</strong> Geburtsjahrgänge von 1890 — 1930 mindestens<br />

nach drei Generationen <strong>zu</strong> unterscheiden: die wilhelminische Jugendgeneration,<br />

die Weimarer Jugendgeneration und die <strong>Hitler</strong>jugend-Generation 1 .<br />

17


Die Benennung <strong>der</strong> drei Generationen entsprechend ihrer Jugendzeit erfolgt<br />

in Verlegenheit um treffen<strong>der</strong>e und noch n<strong>ich</strong>t abgenutzte Beze<strong>ich</strong>nungen, die<br />

den Leser gle<strong>ich</strong>zeitig die jeweilige Generation erkennen lassen. Sie ist insofern<br />

problematisch, als sie — angelehnt an die Mannheimsche These <strong>der</strong> prägenden<br />

Wirkung <strong>der</strong> Jugendzeit — suggeriert, Generationen würden s<strong>ich</strong> jeweils<br />

nur in dieser Lebensphase konstituieren. Ich gehe jedoch davon aus, daß<br />

je nach historischen Umständen Generationen s<strong>ich</strong> in den unterschiedl<strong>ich</strong>sten<br />

Lebensphasen konstituieren können. Ebenso sind historische Phasen denkbar,<br />

in denen die Generations<strong>zu</strong>gehörigkeit weniger stark <strong>zu</strong> geteilten Erlebniswelten<br />

führt als <strong>zu</strong> an<strong>der</strong>en Zeiten (vgl. Spitzer 1973). Im folgenden wird deutl<strong>ich</strong><br />

werden, daß die Weimarer Jugendgeneration viel nachhaltiger durch die<br />

<strong>Krieg</strong>sjahre im jungen und <strong>mit</strong>tleren Erwachsenenalter während des Zweiten<br />

Weltkrieges geprägt wurde als durch ihre Jugend in <strong>der</strong> Weimarer Republik.<br />

Die wilhelminische Jugendgeneration, die etwa die Jahrgänge 1890-1900<br />

umfaßt, macht diejenigen aus, die Kindheit und Jugend im Kaiserre<strong>ich</strong> erlebten<br />

und als Jugendl<strong>ich</strong>e und junge Erwachsene den Ersten Weltkrieg <strong>mit</strong>erlebten.<br />

Insbeson<strong>der</strong>e die Männer dieser Generation, die als Halberwachsene in<br />

den Schützengräben des Ersten Weltkrieges erwachsen werden mußten, sind<br />

nachhaltig durch diesen — dem romantischen Image ä la von Clausewitz keineswegs<br />

entsprechenden — <strong>Krieg</strong> geprägt. Männer und Frauen dieser Generation<br />

erlebten das Ende des Kaiserre<strong>ich</strong>s und die darauf folgende Demokratisierung<br />

Deutschlands, eine wirtschaftl<strong>ich</strong> wie politisch instabile Epoche, die<br />

schon nach 15 Jahren wie<strong>der</strong> zerbrach.<br />

Die Lebensphase des frühen Erwachsenenalters, in <strong>der</strong> sie vor <strong>der</strong> Aufgabe<br />

stand, eine eigene berufl<strong>ich</strong>e wie familiale Existenz auf<strong>zu</strong>bauen, erlebte die<br />

wilhelminische Jugendgeneration in einer von Inflation und Weltwirtschaftskrise<br />

bestimmten Zeit.<br />

Bei Beginn des Zweiten Weltkrieges wurden die Männer dieser Generation,<br />

die weltkriegsgedienten Wehrpfl<strong>ich</strong>tigen <strong>der</strong> Geburtsjahrgänge 1893-1900, im<br />

<strong>mit</strong>tleren Lebensalter erneut an die Front geschickt.<br />

Die Angehörigen <strong>der</strong> Weimarer Jugendgeneration (ca. die Jahrgänge<br />

1906-1919), die meist noch während des Ersten Weltkrieges geboren sind und<br />

den Hunger häufig schon in den frühen Lebensjahren kennengelernt haben,<br />

sind als erste deutsche Generation in ihrer Kindheit und Jugend in einer demokratischen<br />

Republik sozialisiert worden. Im Unterschied <strong>zu</strong> den später Geborenen,<br />

<strong>der</strong> sogenannten <strong>Hitler</strong>jugend-Generation, haben sie noch vor <strong>der</strong><br />

Machtübergabe 1933, vor <strong>der</strong> Gle<strong>ich</strong>schaltung <strong>der</strong> Massenmedien und vor <strong>der</strong><br />

Totalisierung <strong>der</strong> staatl<strong>ich</strong>en Erziehungsinstanzen ihre politische Identität in<br />

einer pluralistischen Gesellschaft ausbilden können.<br />

Generationsbildend ist m.E. bei dieser Generation jedoch weniger die historische<br />

Konstellation während ihrer Jugendphase, son<strong>der</strong>n viel<strong>mehr</strong> das bei<br />

den Männer <strong>mit</strong> dem 18ten bzw. dem 19ten Lebensjahr beginnende kasernierte<br />

Leben in militärischen Organisationen, das meist bis ins <strong>mit</strong>tlere Erwachse-<br />

18


nenalter andauerte. Die meisten Männer dieser Generation haben den gesamten<br />

Zweiten Weltkrieg als Soldat erlebt und <strong>der</strong> Kern dieser Generation, die<br />

Angehörigen <strong>der</strong> Jahrgänge 1911 bis 1919, waren auch schon vor 1939 <strong>zu</strong>m<br />

Re<strong>ich</strong>sarbeitsdienst und <strong>zu</strong>m Wehrdienst eingezogen worden. Läßt man die<br />

Zeit <strong>der</strong> Gefangenschaft unberücks<strong>ich</strong>tigt, waren sie also bis <strong>zu</strong> zehn Jahren<br />

Angehörige einer militärischen Organisation 4 . Es waren jene Jahre <strong>der</strong> Lebenszeit,<br />

in denen für die weitere Lebensführung biographisch relevante Entscheidungen<br />

und Prozesse im berufl<strong>ich</strong>en wie familialen Bere<strong>ich</strong> stattfinden,<br />

in denen die berufl<strong>ich</strong>e Karriere stabilisiert und eine eigene Familie gegründet<br />

wird.<br />

Die Phase <strong>der</strong> Familiengründung und die s<strong>ich</strong> in Friedenszeiten in dieser<br />

Lebensphase festigende berufl<strong>ich</strong>e Identität überschnitt s<strong>ich</strong> bei den Männern<br />

dieser Generation jedoch <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Soldatenzeit. Sie konnten eine berufl<strong>ich</strong>e<br />

Identität außerhalb <strong>der</strong> Wehrmacht kaum ausbilden, und es ist daher naheliegend,<br />

daß das Soldatsein in ihrer Selbstwahrnehmung in gewisser Weise <strong>zu</strong>m<br />

Beruf wurde. Die von uns durchgeführten Gespräche ebenso wie die von Albert<br />

Lehmann (1983) o<strong>der</strong> die von <strong>der</strong> Forschergruppe um Lutz Niethammer<br />

(1986) vorgestellten Lebensgesch<strong>ich</strong>ten zeigen, daß diese Männer ihr Soldatsein<br />

häufig wie eine Erwerbstätigkeit, die man ordnungsgemäß <strong>zu</strong> erfüllen<br />

hat, verstanden.<br />

Viele Angehörige dieser Generation heirateten während <strong>der</strong> <strong>Krieg</strong>sjahre<br />

und be<strong>kam</strong>en ihre Kin<strong>der</strong> in dieser Zeit. Es handelt s<strong>ich</strong> um die Generation<br />

<strong>der</strong> frisch Vermählten und <strong>der</strong> jungen Eltern, die aufgrund des <strong>Krieg</strong>es ihr<br />

neues Leben meist nur in Gedanken und bei kurzen Heimaturlauben leben<br />

konnten. Die Männer kannten ihre Kin<strong>der</strong> — und häufig auch ihre Frauen —<br />

kaum. Die Frauen mußten in <strong>der</strong> Heimat allein für die Existenzs<strong>ich</strong>erung <strong>der</strong><br />

Familie sorgen und wurden darüber hinaus via <strong>Krieg</strong>sdienstverpfl<strong>ich</strong>tung in<br />

bisher Männern vorbehaltene Positionen und Tätigkeiten eingezogen. Dadurch<br />

waren sie extremen Belastungen ausgesetzt; <strong>zu</strong>gle<strong>ich</strong> jedoch gewannen<br />

sie eine den traditionellen Frauenrollen n<strong>ich</strong>t entsprechende Autonomie und<br />

Macht.<br />

Die Angehörigen dieser Generation, die —- nebenbei bemerkt — die Eltern<br />

<strong>der</strong> späteren 68er-Generation sind, <strong>hatte</strong>n vermutl<strong>ich</strong> nach <strong>Krieg</strong>sende die<br />

größten Probleme, s<strong>ich</strong> in ein ziviles Leben ein<strong>zu</strong>finden. Sie mußten s<strong>ich</strong> —<br />

nach Rückkehr <strong>der</strong> Männer aus <strong>der</strong> <strong>Krieg</strong>sgefangenschaft und <strong>der</strong> da<strong>mit</strong> einhergehenden<br />

Rückverweisung <strong>der</strong> Frauen auf die traditionellen Frauenrollen<br />

— in die Wirkl<strong>ich</strong>keit von Berufs- und Erwerbstätigkeit, vor allem aber von<br />

Ehe und Familie einfinden. Ehe und Familie waren zwar schon seit Jahren<br />

eine bestehende Wirkl<strong>ich</strong>keit, dieser fehlte jedoch die gelebte Praxis — sie bestand<br />

viel<strong>mehr</strong> vor allem aus Gedanken, Wünschen und Projektionen. Die<br />

Angehörigen <strong>der</strong> wilhelminischen Jugendgeneration hingegen konnten 1945<br />

an eine schon vor dem Zweiten Weltkrieg gelebte und bereits routinisierte berufl<strong>ich</strong>e<br />

und familiale Wirkl<strong>ich</strong>keit wie<strong>der</strong> anknüpfen. Die Angehörigen <strong>der</strong><br />

19


<strong>Hitler</strong>jugend-Generation dagegen standen 1945 am Beginn ihrer Berufs- und<br />

Familienlaufbahn; sie mußten s<strong>ich</strong> also n<strong>ich</strong>t in bereits Bestehendes einfügen.<br />

Die Angehörigen <strong>der</strong> <strong>Hitler</strong>jugend-Generation (ca. die Jahrgänge<br />

1922-1930), die Kindheit und Jugend im „Dritten Re<strong>ich</strong>" erlebt haben, sind<br />

in unvergle<strong>ich</strong>l<strong>ich</strong>er Weise durch die staatl<strong>ich</strong>en Erziehungsinstanzen wie<br />

Schule und NS-Jugendorganisation einem einheitl<strong>ich</strong>en Sozialisationsmilieu<br />

ausgesetzt gewesen. Diese von <strong>der</strong> NS-Propaganda als „Garanten <strong>der</strong> Zukunft"<br />

beze<strong>ich</strong>neten Kin<strong>der</strong> und Jugendl<strong>ich</strong>en wurden wohl noch am ehesten<br />

<strong>zu</strong> den Menschen sozialisiert, die s<strong>ich</strong> die nationalsozialistischen Ideologen<br />

erhofften. Analysen von Lebensgesch<strong>ich</strong>ten von Angehörigen <strong>der</strong><br />

<strong>Hitler</strong>jugend-Generation (Rosenthal 1986; 1987b) legen die Annahme nahe,<br />

daß die Männer <strong>der</strong> HJ-Generation <strong>zu</strong>gle<strong>ich</strong> am ehesten dem nationalsozialistischen<br />

Ideal des politischen Soldaten entsprachen, <strong>der</strong> bis <strong>zu</strong>m letzten für<br />

den Sieg des Nationalsozialimus kämpfte. Es ist an<strong>zu</strong>nehmen, daß für diese<br />

Generation die Zerschlagung des „Dritten Re<strong>ich</strong>es" enttäuschen<strong>der</strong> war als<br />

für die älteren Zeitgenossen und dem<strong>zu</strong>folge auch <strong>zu</strong> tiefergehenden<br />

Desillusionierungs- und Aufarbeitungsprozessen führte.<br />

Die <strong>Krieg</strong>sjahre des Zweiten Weltkrieges <strong>hatte</strong>n für die HJ-Generation eine<br />

vergle<strong>ich</strong>bare biographische Bedeutung wie die des Ersten Weltkrieges für die<br />

Jugend des wilhelminischen Kaiserre<strong>ich</strong>es. Die männl<strong>ich</strong>en Angehörigen bei<strong>der</strong><br />

Generationen erlebten ihren Eintritt ins Erwachsenenalter meist zeitgle<strong>ich</strong><br />

im Zusammenhang <strong>mit</strong> dem Statuswechsel <strong>zu</strong>m Soldaten; ihre Ausbildungsund<br />

Berufskarrieren wurden durch den Ein<strong>zu</strong>g <strong>zu</strong>m Militär unterbrochen. Mit<br />

den deutschen Nie<strong>der</strong>lagen zerbrachen für die Angehörigen bei<strong>der</strong> Generationen<br />

Illusionen und Hoffnungen. Das geflügelte Wort <strong>der</strong> <strong>Hitler</strong>jugend-<br />

Generation: „Wir wurden um unsere Jugend betrogen" gilt ebenso für diejenigen,<br />

die im Ersten Weltkrieg Jugendl<strong>ich</strong>e waren; sie trauern jeweils um den<br />

Verlust einer unbeschwerten Jugend. Doch die Erlebnishintergründe, die politische<br />

Sozialisation <strong>der</strong> Jugend des wilhelminischen Kaiserre<strong>ich</strong>es und des<br />

Nazi-Deutschlands ebenso wie die konkreten Bedingungen des Stellungskriegs<br />

von 1914-1918 und des Bewegungskrieges von 1939-1945 sowie die jeweilige<br />

Nachkriegssituation waren sehr unterschiedl<strong>ich</strong>, so daß s<strong>ich</strong> diese Generationen<br />

dennoch voneinan<strong>der</strong> unterscheiden.<br />

Die wilhelminische Jugendgeneration war die Elterngeneration <strong>der</strong> <strong>Hitler</strong>jungen<br />

und BDM-Mädchen; es war die Generation, von <strong>der</strong> s<strong>ich</strong> die <strong>Hitler</strong>jugendl<strong>ich</strong>en<br />

entsprechend <strong>der</strong> NS-Propaganda, <strong>der</strong><strong>zu</strong>folge diese immer noch<br />

an den Kaiser glaubte, abgrenzen sollten. Die NS-Pädagogen schme<strong>ich</strong>elten<br />

dem Selbstwertgefühl <strong>der</strong> Jugendl<strong>ich</strong>en, indem sie ihnen ver<strong>mit</strong>telten, daß die<br />

Gesellschaft aufgrund <strong>der</strong> überholten Orientierung <strong>der</strong> Elterngeneration beim<br />

Aufbau eines neuen Deutschlands maßgebl<strong>ich</strong> auf die Jugend angewiesen sei.<br />

Der Generationskonflikt zwischen Eltern und Kin<strong>der</strong>n wurde von <strong>der</strong> NS-<br />

Propaganda bzw. <strong>der</strong>en Erziehungsinstanzen also geschickt genützt, um die<br />

Jugend dem Einfluß <strong>der</strong> Eltern <strong>zu</strong> entziehen. N<strong>ich</strong>tsdestoweniger gab es auch<br />

20


weltanschaul<strong>ich</strong>e Übereinstimmungen zwischen Angehörigen bei<strong>der</strong> Generationen.<br />

Es gab Veteranen des Ersten Weltkrieges, die ihre Hoffnungen auf die<br />

Jugend des „Dritten Re<strong>ich</strong>es" setzten. Es waren diejenigen, die s<strong>ich</strong> trotz ihrer<br />

Fronterlebnisse n<strong>ich</strong>t <strong>zu</strong> Pazifisten entwickelt <strong>hatte</strong>n, die den <strong>Krieg</strong> viel<strong>mehr</strong><br />

verherrl<strong>ich</strong>ten und die auf die Wie<strong>der</strong>erlangung deutscher Vorherrschaft<br />

in Europa hofften. Sie teilten <strong>mit</strong> den nationalsozialistisch gesinnten Jugendl<strong>ich</strong>en<br />

des „Dritten Re<strong>ich</strong>es", die die Frontsoldaten des Ersten <strong>Krieg</strong>es bewun<strong>der</strong>ten,<br />

die Identifikation <strong>mit</strong> <strong>der</strong> NS-<strong>Krieg</strong>spolitik und die Hoffnung auf die<br />

Expansion des deutschen Herrschaftsbere<strong>ich</strong>es.<br />

Soweit die kurze Charakterisierung dieser drei Generationen, <strong>der</strong>en Angehörige<br />

den Zweiten Weltkrieg entsprechend ihrer jeweiligen Vergangenheit<br />

aus recht unterschiedl<strong>ich</strong>er Perspektive erlebt haben. Welche biographische<br />

Bedeutung <strong>der</strong> Zweite Weltkrieg für den einzelnen <strong>hatte</strong>, ob z.B. eine Frau<br />

ihre Kin<strong>der</strong> allein erziehen mußte, ob sie als Straßenbahnschaffnerin dienstverpfl<strong>ich</strong>tet<br />

wurde, ob ein Mann eingezogen wurde und da<strong>mit</strong> an seiner Berufslaufbahn<br />

gehin<strong>der</strong>t wurde, bestimmte <strong>zu</strong>nächst das chronologische Alter,<br />

das Geburtsdatum. Doch neben diesen aus dem Lebensalter resultierenden<br />

unterschiedl<strong>ich</strong>en Lebensbedingungen während des <strong>Krieg</strong>es war die biographische<br />

Bedeutung dieses <strong>Krieg</strong>es, die Art und Weise wie <strong>der</strong> Einzelne den<br />

<strong>Krieg</strong> erlebte, welche Haltung er gegenüber diesem <strong>Krieg</strong> einnahm, ob er begeistert<br />

für die Ideale des Nationalsozialismus kämpfte o<strong>der</strong> Pazifist war, welche<br />

Ängste und Hoffnungen er <strong>mit</strong> diesem <strong>Krieg</strong> verband, auch abhängig von<br />

seiner Generations<strong>zu</strong>gehörigkeit.<br />

1.4 Vergangenheitsbewältigung in erzählten Lebensgesch<strong>ich</strong>ten<br />

Komprimiert lassen s<strong>ich</strong> die bisherigen Überlegungen wie folgt <strong>zu</strong>sammenfassen:<br />

Das Erleben des Zweiten Weltkrieges war von den konkreten Auswirkungen<br />

dieses <strong>Krieg</strong>es auf den un<strong>mit</strong>telbaren Alltag <strong>der</strong> Zeitzeugen und <strong>der</strong><br />

biographischen Bedeutung dieses <strong>Krieg</strong>es fur ihr bereits gelebtes und <strong>zu</strong>künftiges<br />

Leben abhängig.<br />

Inwiefern determiniert nun das damalige <strong>Krieg</strong>serleben das heutige Leben<br />

<strong>mit</strong> dieser Vergangenheit, d.h. die Art und Weise <strong>der</strong> Bewältigung <strong>der</strong> <strong>Krieg</strong>sund<br />

NS-Vergangenheit? Dies ist die zentrale Frage <strong>der</strong> vorliegenden Studie.<br />

Es wird <strong>zu</strong> fragen sein, über welche unterschiedl<strong>ich</strong>en Strategien Zeitzeugen<br />

verfügen, um <strong>mit</strong> ihren <strong>Krieg</strong>serlebnissen leben <strong>zu</strong> können, und wie sie<br />

<strong>mit</strong> dem unlösbaren Zusammenhang von <strong>Krieg</strong> und Nationalsozialismus umgehen.<br />

Handelt es s<strong>ich</strong> für sie überhaupt um zwei Themen, o<strong>der</strong> sind <strong>Krieg</strong><br />

und Nationalsozialismus Bestandteile eines Themas?<br />

Um diesen Fragen nach<strong>zu</strong>gehen, wollen wir jedoch n<strong>ich</strong>t — wie in <strong>der</strong><br />

Einstellungs- und Umfrageforschung übl<strong>ich</strong> — von <strong>der</strong> jeweiligen Biographie<br />

21


<strong>der</strong> Zeitzeugen losgelöste Argumentationen analysieren, son<strong>der</strong>n die Verarbeitungsprozesse<br />

in ihrer Einbettung in den lebensgesch<strong>ich</strong>tl<strong>ich</strong>en Zusammenhang<br />

rekonstruieren. Wir wollen erfahren, wie die Zeitzeugen des „Dritten<br />

Re<strong>ich</strong>es* 4<br />

ihre Lebensgesch<strong>ich</strong>ten erzählen, wie sie den <strong>Krieg</strong> und den Nationalsozialismus<br />

in die Rekonstruktion ihrer biographischen Erfahrungen<br />

und Erlebnisse einbetten. Da<strong>mit</strong> können wir <strong>zu</strong>m einen die biographische Bedeutung<br />

des <strong>Krieg</strong>es und des Nationalsozialismus rekonstruieren, und wir<br />

können versuchen — soweit dies aus <strong>der</strong> Gegenwart mögl<strong>ich</strong> ist —, das damalige<br />

Erleben des <strong>Krieg</strong>es <strong>zu</strong> erfassen. Zum an<strong>der</strong>en können wir aufzeigen, inwiefern<br />

das Umgehen <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Vergangenheit die Biographien determiniert,<br />

die die Zeitzeugen in <strong>der</strong> Gegenwart ihres Erzählens <strong>mit</strong> Blick auf ihre Vergangenheit<br />

und ihre Zukunft schaffen.<br />

Wir gehen also davon aus, daß Strategien <strong>der</strong> Vergangenheitsbewältigung<br />

n<strong>ich</strong>t vom Leben des Biographen und seiner S<strong>ich</strong>t seines bisherigen und <strong>zu</strong>künftigen<br />

Lebens losgelöste Argumentationen sind, die den Alltagshandelnden<br />

in den öffentl<strong>ich</strong>en Diskussionen angeboten und von ihnen einfach übernommen<br />

werden. Diese Strategien, die meist hinter dem Rücken <strong>der</strong> Akteure<br />

die Art und Weise ihrer Rekonstruktion des bisherigen und <strong>zu</strong>künftigen Lebens<br />

bestimmen, entstehen viel<strong>mehr</strong> in den Handlungs<strong>zu</strong>sammenhängen, in<br />

denen die Zeitzeugen leben. Sie konstituierten s<strong>ich</strong> in <strong>der</strong> biographischen Vergangenheit,<br />

und gle<strong>ich</strong>zeitig wirken sie heute auf diese Vergangenheit reinterpretierend<br />

<strong>zu</strong>rück.<br />

Im folgenden soll <strong>mit</strong> einer Diskussion von erzählten Lebensgesch<strong>ich</strong>ten<br />

diesen Fragen nachgegangen werden. Auf <strong>der</strong> Grundlage eines kontrastiven<br />

Vergle<strong>ich</strong>s dieser Biographien werden weiterhin Annahmen über die generationsspezifischen<br />

Unterschiede in <strong>der</strong> Vergangenheitsbewältigung vorgestellt.<br />

Die biographischen Großerzählungen stammen aus einem Sample von 21 im<br />

Projekt<strong>zu</strong>sammenhang in Nordrhein-Westfalen geführten Interviews. In diesen<br />

Gesprächen baten wir die Zeitzeugen, ihr Leben konzentriert auf ihre<br />

<strong>Krieg</strong>serfahrungen <strong>zu</strong> erzählen. Genauere Hinweise über die Erhebung und<br />

Auswertung dieser Interviews sind dem methodischen Anhang <strong>zu</strong> entnehmen.<br />

Nach einer Globalanalyse aller Interviews haben wir sieben Interviews nach<br />

folgenden Kriterien für eine weitere Analyse ausgewählt: nach <strong>der</strong> Generations<strong>zu</strong>gehörigkeit;<br />

nach <strong>der</strong> Zugehörigkeit als Soldat <strong>zu</strong>r fechtenden Truppe<br />

o<strong>der</strong> <strong>zu</strong>r Etappe o<strong>der</strong> Zugehörigkeit <strong>zu</strong>r Zivilbevölkerung; nach <strong>der</strong> unterschiedl<strong>ich</strong>en<br />

Betroffenheit von <strong>der</strong> nationalsozialistischen <strong>Krieg</strong>spolitik und<br />

<strong>der</strong>en Folgen.<br />

Neben diesen formalen Kritierien, die die Auswahl bestimmten, interessierten<br />

uns noch bestimmte Beson<strong>der</strong>heiten <strong>der</strong> einzelnen Biographen, auf die <strong>ich</strong><br />

im folgenden eingehen möchte.<br />

Da bereits analysierte Lebensgesch<strong>ich</strong>ten von Angehörigen <strong>der</strong> HJ-Generation<br />

vorliegen (Rosenthal 1986; 1987b) und <strong>der</strong>en Ergebnisse auch in den<br />

Generationsvergle<strong>ich</strong> (vgl. Kap. 5.2) eingehen, wählten wir zwei Biographien<br />

22


aus, die <strong>der</strong> weiteren Aufhellung <strong>der</strong> Beson<strong>der</strong>heiten dieser Generation dienen<br />

sollten.<br />

Einmal handelt es s<strong>ich</strong> um die Biographie eines Mannes des Jahrgangs 1921,<br />

Herrn Acka, wie wir ihn genannt haben. An seiner Biographie sind wir interessiert,<br />

da Angehörige seiner Geburtskohorte zwischen <strong>der</strong> Jugendgeneration <strong>der</strong><br />

Weimarer Republik und <strong>der</strong> Generation <strong>der</strong> <strong>Hitler</strong>jugend stehen. Er war 1933<br />

bereits 12 Jahre alt und da<strong>mit</strong> <strong>der</strong> politischen Indoktrination in Schule und Jugendorganisation<br />

n<strong>ich</strong>t in dem Maße ausgesetzt wie die Spätergeborenen. Wie<br />

die Angehörigen <strong>der</strong> Jugendgeneration <strong>der</strong> Weimarer Republik war er verhältnismäßig<br />

lang — ab 1940 — als Soldat eingezogen. Bei seiner Lebensgesch<strong>ich</strong>te<br />

können wir also <strong>der</strong> Frage nachgehen, welcher Generation er näher steht und<br />

ob s<strong>ich</strong> daraus Annahmen über generationsabgrenzende Einschnitte ableiten<br />

lassen. Des weiteren besprechen wir die Lebensgesch<strong>ich</strong>te von Frau Heidt, die<br />

1927 geboren ist. <strong>Als</strong> Tochter eines schon im Ersten Weltkrieg aktiv gedienten<br />

Berufsoffiziers interessiert sie uns unter dem Aspekt <strong>der</strong> familialen Interaktion<br />

zwischen einem <strong>Krieg</strong>sveteranen und einem BDM-Mädchen. Außerdem —<br />

o<strong>der</strong> gerade deshalb — war sie als Rotkreuzschwester an <strong>der</strong> Front in einer <strong>der</strong><br />

Soldatenrolle vergle<strong>ich</strong>baren Position; ihre Lebensgesch<strong>ich</strong>te ist enger als für<br />

eine Frau übl<strong>ich</strong> <strong>mit</strong> dem Thema <strong>Krieg</strong> und aktiver <strong>Krieg</strong>seinsatz verknüpft.<br />

Die Weimarer-Jugendgeneration ist <strong>mit</strong> vier Personen, zwei Männern und<br />

zwei Frauen, vertreten. Die Lebensgesch<strong>ich</strong>te von Frau Borke, die 1912 in<br />

Lettland geboren wurde und da<strong>mit</strong> unter an<strong>der</strong>en politischen Verhältnissen als<br />

die Jugend <strong>der</strong> Weimarer Republik aufwuchs, steht bespielhaft für diejenigen,<br />

die schon <strong>mit</strong> Beginn des Zweiten Weltkrieges ihre Heimat verloren. Bei <strong>der</strong><br />

Fallanalyse dieser Lebensgesch<strong>ich</strong>te kann man <strong>der</strong> interessanten Frage nachgehen,<br />

wie jemand heute über diesen <strong>Krieg</strong> und die NS-Politik denkt, die in<br />

einer deutschnationalen Familie aufwuchs und aufgrund <strong>der</strong> nationalsozialistischen<br />

<strong>Krieg</strong>spolitik zwar „heim ins Deutsche Re<strong>ich</strong>" konnte, da<strong>mit</strong> jedoch<br />

die Heimat für immer verlor.<br />

Die Lebensgesch<strong>ich</strong>te von Frau Schild, die 1915 geboren ist und während<br />

des <strong>Krieg</strong>es Hausfrau und Mutter zweier kleiner Kin<strong>der</strong> war, haben wir ausgewählt,<br />

da sie sehr detailliert Bombenangriffe auf Hamburg schil<strong>der</strong>te. Außerdem<br />

gehört sie <strong>zu</strong> den Frauen, die bemüht sind, s<strong>ich</strong> als unpolitische, auf das<br />

Hausfrau- und Muttersein beschränkte Frau dar<strong>zu</strong>stellen.<br />

Bei den Männern handelt es s<strong>ich</strong> um Herrn Langenbach, <strong>der</strong> 1914 geboren<br />

ist, s<strong>ich</strong> 1933 <strong>zu</strong>m Re<strong>ich</strong>sarbeitsdienst meldete, 1935 <strong>zu</strong>m zweijährigen Wehrdienst<br />

eingezogen wurde und 1939 <strong>zu</strong>m <strong>Krieg</strong>sdienst. Bis auf eine kurze Zeit<br />

bei <strong>Krieg</strong>sende erlebte er den <strong>Krieg</strong> in <strong>der</strong> Etappe. Herr Sallmann, Jahrgang<br />

1915, <strong>der</strong> 1936 <strong>zu</strong>m RAD und 1937 <strong>zu</strong>m Wehrdienst und direkt anschließend<br />

1939 <strong>zu</strong>m <strong>Krieg</strong>sdienst eingezogen wurde, vertritt im Kontrast da<strong>zu</strong> den Soldaten<br />

<strong>der</strong> fechtenden Truppe. Beide Männer gehören so<strong>zu</strong>sagen <strong>zu</strong>m Kern <strong>der</strong><br />

Jugendgeneration <strong>der</strong> Weimarer Republik, <strong>zu</strong> den Jahrgängen, die am längsten<br />

bei <strong>der</strong> Wehrmacht waren.<br />

23


Aus den Lebensgesch<strong>ich</strong>ten von den Angehörigen <strong>der</strong> wilhelminischen Jugendgeneration<br />

diskutieren wir die Biographie von Herrn Vogel (Jahrgang<br />

1899), einem Veteranen des Ersten Weltkrieges, <strong>der</strong> 1939 wie<strong>der</strong>um <strong>zu</strong>r Wehrmacht<br />

eingezogen wurde. Er interessiert uns, weil er das in Gesprächen <strong>mit</strong><br />

seiner Generation auffallende Ausblenden des Themas Nationalsozialismus<br />

beson<strong>der</strong>s markant betreibt 5 .<br />

Wie <strong>der</strong> Leser im weiteren feststellen wird, waren mindestens zwei <strong>der</strong> im<br />

folgenden vorgestellten Biographen Zeugen des — wie Hannah Arendt (1986)<br />

es so <strong>zu</strong>treffend beze<strong>ich</strong>net — NS-Verwaltungsmassenmordes und mögl<strong>ich</strong>erweise<br />

in irgendeiner Funktion auch darin verstrickt. Da sie versuchten, dies<br />

in ihrer Darstellung <strong>zu</strong> kaschieren, haben die Interviewer, die <strong>mit</strong> ihnen sprachen,<br />

es <strong>zu</strong>nächst auch n<strong>ich</strong>t bemerkt. Wir wählten ihre Lebensgesch<strong>ich</strong>ten<br />

aus, weil wir die Lebensgesch<strong>ich</strong>ten zweier Soldaten <strong>der</strong> Etappe analysieren<br />

wollten. Was „Etappe 44<br />

in diesen Fällen bedeutete, haben wir erst anhand <strong>der</strong><br />

Analyse <strong>der</strong> transkribierten Interviews erkennen können.<br />

Gegen diese Art <strong>der</strong> Auswahl könnte nun eingewendet werden, wir würden<br />

in erster Linie Ausnahmefalle besprechen, die nur selten auftreten. S<strong>ich</strong>er, es<br />

gibt z.B. nur wenige Frauen aus Lettland in <strong>der</strong> Bundesrepublik, doch bei genauerer<br />

Betrachtung einzelner Biographien werden diese immer <strong>zu</strong> sogenannten<br />

Ausnahmefallen. Den im Sinne von „häufig auftretend 44<br />

typischen Fall<br />

gibt es nur als sozialwissenschaftl<strong>ich</strong>e Konstruktion. Es ist auch n<strong>ich</strong>t unser<br />

Anliegen, Aussagen über Verteilungen und Häufigkeiten <strong>zu</strong> machen; dies<br />

wäre ein Anspruch, <strong>mit</strong> dem man die Abs<strong>ich</strong>ten einer hermeneutischen Fallrekonstruktion<br />

völlig verkennen würde. Unser Ziel ist es n<strong>ich</strong>t, den typischen<br />

Fall <strong>zu</strong> suchen, son<strong>der</strong>n die Typik eines jeden Falles <strong>zu</strong> rekonstruieren, d.h.<br />

heraus<strong>zu</strong>finden, welchen Typus von Vergangenheitsbewältigung er repräsentiert.<br />

Typik verstehen wir also n<strong>ich</strong>t in einem numerischen Sinne, sie erklärt<br />

s<strong>ich</strong> n<strong>ich</strong>t über die Häufigkeit des Auftretens, son<strong>der</strong>n über die konstituierenden<br />

Momente einer Biographie. Jede Biographie repräsentiert eine gesellschaftl<strong>ich</strong><br />

mögl<strong>ich</strong>e und da<strong>mit</strong> auch allgemein gültige. Je nach den Kriterien<br />

bzw. den Konstrukten, die die Sozial Wissenschaftler an sie anlegen, stimmt<br />

sie <strong>mit</strong> an<strong>der</strong>en Biographien überein o<strong>der</strong> unterscheidet s<strong>ich</strong> von an<strong>der</strong>en.<br />

Kriterium des „Vergle<strong>ich</strong>ens 44<br />

ist in <strong>der</strong> vorliegenden Studie die Art und Weise<br />

<strong>der</strong> Vergangenheitsbewältigung.<br />

Anmerkungen<br />

1 Vgl. die Artikel <strong>zu</strong>m sog. Historiker-Streit; abgedruckt in: „Historiker-Streit". München, Zür<strong>ich</strong>:<br />

Piper 1987.<br />

2 Zur Diskussion <strong>der</strong> Kriterien sozialer Krisen vgl. O. Rammstedt (1977).<br />

3 Der Leser mag s<strong>ich</strong> vielle<strong>ich</strong>t an die von Helmut Schelsky (1957) diskutierten Generationen<br />

erinnert fühlen. Schelsky konzipiert seine drei Generationen jedoch nur unter dem Aspekt<br />

<strong>der</strong> „Verhaltensgestalt" während <strong>der</strong> Jugendphase, die er nach dem Kriterium des Verhältnisses<br />

<strong>der</strong> Jugend <strong>zu</strong>r Gesellschañ definiert, und geht n<strong>ich</strong>t auf die historischen Erfahrungen in<br />

24


an<strong>der</strong>en Lebensphasen ein. Doch selbst die historischen Lebensumstande während <strong>der</strong> Jugendphase<br />

werden m.E. bei ihm n<strong>ich</strong>t ausre<strong>ich</strong>end berücks<strong>ich</strong>tigt. So scheut er s<strong>ich</strong> n<strong>ich</strong>t, die<br />

Angehöngen <strong>der</strong> <strong>Hitler</strong>jugend und <strong>der</strong> politischen Jugendbewegung in den zwanziger Jahren<br />

— so auch <strong>der</strong> proletarischen Jugend — <strong>zu</strong> einer Generation <strong>zu</strong> rechnen und <strong>der</strong>en Unterschiede<br />

dabei <strong>zu</strong> nivillieren. Dies gelingt ihm <strong>mit</strong> den Kriterien <strong>der</strong> Partizipationswünsche<br />

<strong>der</strong> Jugend am öffentl<strong>ich</strong>-gesellschaftl<strong>ich</strong>en Leben und <strong>der</strong> Orientierung an <strong>der</strong> Erwachscnenwelt,<br />

die auf die „politische Jugend", im Unterschied <strong>zu</strong>r Generation <strong>der</strong> Jugendbewegung<br />

um die Jahrhun<strong>der</strong>twende, <strong>zu</strong>traf.<br />

Vgl. die von Lutz Niethammer (1986) diskutierten Lebensläufe von Angehörigen dieser Generation;<br />

einer seiner Gesprächspartner meinte von diesen Jahren beim Militär: „Die Jahre<br />

weift man n<strong>ich</strong>t, wo man die heute hinsetzen soll".<br />

Die Autorin hat parallel <strong>zu</strong>r vorliegenden Projektstudie Veteranen des Ersten Weltkrieges in<br />

Hessen interviewt. Diese Gespräche dienten als „Vergle<strong>ich</strong>sfolie" für die Fallauswertung von<br />

Herrn Vogel.<br />

25


2. Lebensgesch<strong>ich</strong>ten von Frauen<br />

Vorbemerkungen<br />

Bei den folgenden Lebensgesch<strong>ich</strong>ten wurden die persönl<strong>ich</strong>en Daten anonymisiert.<br />

Abgesehen von Namen verän<strong>der</strong>ten wir Orts- und Berufsangaben und<br />

solche Sachverhalte, die <strong>zu</strong>r Interpretation <strong>der</strong> Lebensgesch<strong>ich</strong>te n<strong>ich</strong>t von<br />

Bedeutung waren.<br />

Auch innerhalb <strong>der</strong> wie<strong>der</strong>gegebenen Interviewpassagen haben wir Anonymisierungen<br />

vorgenommen.<br />

Soweit es s<strong>ich</strong> rekonstruieren läßt, folgt die Darstellung <strong>der</strong> Lebensgesch<strong>ich</strong>ten<br />

<strong>der</strong> Aufsch<strong>ich</strong>tung <strong>der</strong> biographischen Erlebnisse in <strong>der</strong> Abfolge <strong>der</strong><br />

chronologischen Zeit.<br />

Die wie<strong>der</strong>gegebenen Interviewpassagen sind wortwörtl<strong>ich</strong>e Transkriptionen<br />

ohne Interpunktion (Kommata bedeuten eine kurze Pause). Die Transkriptionsze<strong>ich</strong>en<br />

finden Sie im Anhang. Es wurden keine stilistischen Verbesserungen<br />

vorgenommen, um die Authentizität <strong>der</strong> gesprochenen Sprache <strong>zu</strong><br />

erhalten und um keine vorschnellen Interpretationen <strong>mit</strong> wesentl<strong>ich</strong>en Än<strong>der</strong>ungen<br />

<strong>der</strong> Konnotation vor<strong>zu</strong>nehmen, die bei einer Überset<strong>zu</strong>ng in die<br />

Schriftsprache zweifellos geschehen. Um die Lesbarkeit jedoch etwas <strong>zu</strong> verbessern,<br />

haben wir manchen Stellen le<strong>ich</strong>t geglättet, d.h. Versprecher, Wie<strong>der</strong>holungen,<br />

„ans" und „hms" dann weggelassen, wenn diese <strong>zu</strong>r Interpretation<br />

<strong>der</strong> Textstelle n<strong>ich</strong>t notwendig waren.<br />

Bei Schwierigkeiten beim Verstehen <strong>der</strong> Textstellen empfiehlt es s<strong>ich</strong>, die<br />

Stellen laut vor<strong>zu</strong>lesen.<br />

27


Martina Becka /Christiane<br />

Grote<br />

2.1 Erika Schild: „Ich war verliebt und verlobt und verheiratet<br />

und kr<strong>ich</strong>te Kin<strong>der</strong> und da<strong>mit</strong> war mein Horizont total erschöpft"<br />

2.1.1 Die Gesprächssituation<br />

Das Interview <strong>mit</strong> Erika Schild fand im Herbst 1986 in ihrer Wohnung in Bochum<br />

statt, die Frau Schild gemeinsam <strong>mit</strong> <strong>der</strong> jüngeren ihrer beiden Töchter<br />

bewohnt. Den Gesprächskontakt ver<strong>mit</strong>telte ihre ältere Tochter. Das Interview<br />

wurde von zwei Projekt<strong>mit</strong>arbeiterinnen geführt. Während an<strong>der</strong>e Interviewpartnerinnen<br />

anges<strong>ich</strong>ts <strong>der</strong> ungewohnten Interviewsituation gerade <strong>zu</strong> Beginn<br />

des Gesprächs oftmals nervös und uns<strong>ich</strong>er waren, machte Frau Schild<br />

einen s<strong>ich</strong>tl<strong>ich</strong> gelassenen Eindruck. Da sie selbst zehn Jahre lang als Sekretärin<br />

am Bergbau-Museum in Bochum beschäftigt war, <strong>hatte</strong> sie keinerlei Berührungsängste<br />

<strong>mit</strong> <strong>der</strong> Wissenschaft und ihren Vertreterinnen.<br />

Seit 1979 ist Frau Schild verwitwet und seit 1980 aus dem Berufsleben ausgeschieden.<br />

Sie macht einen aktiven und vielseitig interessierten Eindruck<br />

und scheint von ihrem Leben noch viel <strong>zu</strong> erwarten.<br />

Zunächst erzählte Frau Schild in einer ca. dreiviertelstündigen Eingangserzählung<br />

ausführl<strong>ich</strong> über die <strong>Krieg</strong>s- und die frühe Nachkriegszeit. Im Nachfrageteil<br />

standen dann ihre Kindheit und die Nachkriegszeit bis hin <strong>zu</strong>r Gegenwart<br />

thematisch im Vor<strong>der</strong>grund. Die Zeit zwischen 1933 und 1938 berührte<br />

sie dagegen kaum.<br />

Nach Abschluß <strong>der</strong> ersten Auswertungsschritte waren noch einige Fragen<br />

offen, auf die das Interview keine Antwort geben konnte. Wir entschlossen<br />

uns daher, Frau Schild um ein weiteres Interview <strong>zu</strong> bitten. Dieses Gespräch<br />

wurde von einer <strong>der</strong> beiden Interviewerinnen allein geführt.<br />

2.1.2 Kindheit und Schulzeit: Die Abgren<strong>zu</strong>ng vom proletarischen Milieu ihrer<br />

Herkunftsfamilie<br />

Erika Schild wurde im Dezember 1915 als sechstes Kind einer Arbeiterfamilie<br />

in einer westfälischen Kleinstadt geboren. Zu diesem Zeitpunkt, dem zweiten<br />

<strong>Krieg</strong>sjahr des Ersten Weltkrieges, war ihr Vater bereits an <strong>der</strong> Front. Sie hat<br />

zwei ältere Schwestern und drei Brü<strong>der</strong>. Ihre Mutter beschreibt sie als gläubige<br />

Christin; ihren Vater, SPD-Mitglied und Maurer von Beruf, beze<strong>ich</strong>net<br />

sie als Freidenker 1 . Das Freidenkertum des Vaters führte, so erinnert s<strong>ich</strong><br />

Erika Schild heute, oftmals <strong>zu</strong> Streitigkeiten zwischen den Eltern. Ihre Äußerungen<br />

über den Vater offenbaren ein ambivalentes Verhältnis sowohl gegenüber<br />

seiner sozialen Stellung als auch gegenüber seiner politischen Haltung.<br />

28


Auf die erste Nachfrage, ob sie s<strong>ich</strong> erinnere, was ihr ihre Eltern über den<br />

Ersten Weltkrieg erzählt hätten, antwortet Frau Schild:<br />

„nee vom Ersten Weltkrieg weiß <strong>ich</strong> n<strong>ich</strong> viel mein Vater, wurde gle<strong>ich</strong> Soldat das weiß <strong>ich</strong> —<br />

denn <strong>ich</strong> nehme an <strong>ich</strong> bin Ende Dezember geboren daß er an Ostern Urlaub gekriegt hat ((lacht))<br />

und m<strong>ich</strong> gemacht hat ne und dann fuhr <strong>der</strong> ja wie<strong>der</strong> weg und <strong>kam</strong> auch so am letzten Tag wie<strong>der</strong>"<br />

(14/1)<br />

Dies ist die erste Stelle im Interview, an <strong>der</strong> <strong>der</strong> Vater erwähnt wird. Erika<br />

Schild führt ihn ledigl<strong>ich</strong> als <strong>Krieg</strong>steilnehmer ein, <strong>der</strong> sie während eines Heimaturlaubs<br />

zeugte. An <strong>Krieg</strong>serzählungen ihres Vaters erinnert sie s<strong>ich</strong> kaum<br />

— sie meint heute, ihr Vater habe seine Soldatenzeit wohl „n<strong>ich</strong>t mal so<br />

schlimm" erlebt. Im Gegensatz <strong>zu</strong>m Vater ist ihr ein ehemaliger Lehrer, Herr<br />

Sengewald, in lebhafter Erinnerung, wie die un<strong>mit</strong>telbar nachfolgende Stelle<br />

zeigt:<br />

B: „und <strong>kam</strong> auch so am letzten Tag wie<strong>der</strong> ((<strong>der</strong> Vater)) aber was = <strong>ich</strong> = Ihnen=da = noch =<br />

sagen = kann = <strong>ich</strong> = weiß = n<strong>ich</strong> = ob=das = von = Interesse = is = fur = Sie das weiß <strong>ich</strong> von<br />

Sengewald = is Ihnen Herr Sengewald ein Begriff das war <strong>der</strong> spätere Stadtrat hier ... und<br />

das war mein Lehrer<br />

I: mhm<br />

B: mein Volksschullehrer und <strong>der</strong> hat m<strong>ich</strong> so geför<strong>der</strong>t daß <strong>ich</strong> ihm also ewig <strong>zu</strong> Dank verpfl<strong>ich</strong>tet<br />

bin" (14/4)<br />

Im Vergle<strong>ich</strong> <strong>zu</strong> dem eher blaß dargestellten Vater spr<strong>ich</strong>t aus dieser wie<br />

vielen weiteren Schil<strong>der</strong>ungen des Lehrers, die interessanterweise meist <strong>mit</strong><br />

Ausfuhrungen über den Vater verknüpft sind, eine tiefe Bewun<strong>der</strong>ung, ja Verehrung.<br />

Mit ihm, dem Lehrer und ehemaligen Offizier, konnte s<strong>ich</strong> Erika<br />

Schild als Kind eher identifizieren als <strong>mit</strong> ihrem Vater, <strong>der</strong> nur einfacher Soldat<br />

war. Während sie für die politische Gesinnung des Vaters kein Verständnis<br />

<strong>hatte</strong>, auch wenig davon erzählt, bewun<strong>der</strong>te sie den Offizier, <strong>der</strong> nach seiner<br />

Rückkehr aus dem Ersten Weltkrieg in <strong>der</strong> SPD aktiv war.<br />

Wie sehr Erika Schild bis heute den Vater <strong>mit</strong> dem Lehrer vergle<strong>ich</strong>t bzw.<br />

den Lehrer anstelle des Vaters bewun<strong>der</strong>t, zeigt s<strong>ich</strong>, als sie — in <strong>der</strong> Abs<strong>ich</strong>t,<br />

über die antifaschistische Gesinnung des Vaters <strong>zu</strong> erzählen — erneut auf den<br />

Lehrer <strong>zu</strong> sprechen kommt. Es geht um einen Rathausbesuch des Vaters, bei<br />

dem er s<strong>ich</strong> weigerte, <strong>mit</strong> „Heil <strong>Hitler</strong>" <strong>zu</strong> grüßen:<br />

„ja heute würde <strong>ich</strong> meinen Vater bewun<strong>der</strong>n, denn = eingeschoben mal = eben = mein = Väter<br />

mußte, im <strong>Krieg</strong> mal aufs Rathaus kommen und es war ja übl<strong>ich</strong> o<strong>der</strong> <strong>der</strong> deutsche Gruß hieß<br />

ja Heil <strong>Hitler</strong> n<strong>ich</strong> und <strong>der</strong> <strong>kam</strong> dahin und sachte Guten Morgen, und dann machte man ihn darauf<br />

aufmerksam, daß das Heil <strong>Hitler</strong> hieß und mein Vater hat s<strong>ich</strong> geweigert, das <strong>zu</strong> sagen er is<br />

auch davongekommen er is n<strong>ich</strong> etwa, wie Herr Sengewald <strong>der</strong> dann oft ins Gefängnis <strong>kam</strong> o<strong>der</strong><br />

in Schutzhaft wie sie es auch nennen wollten n<strong>ich</strong> und so ne, mein Vater ist es n<strong>ich</strong> vielle<strong>ich</strong>t,<br />

schien er ihnen einfach n<strong>ich</strong>t w<strong>ich</strong>tig genug o<strong>der</strong> <strong>zu</strong> alt dafür das weiß <strong>ich</strong> n<strong>ich</strong> aber andre sind<br />

auch in Schutzhaft hieß das damals ja genommen worden un ab ins KZ o<strong>der</strong> ins Gefängnis und<br />

Herr Sengewald war ein paarmal da ne, <strong>der</strong> aber auch immer Rückgrat bewiesen hat n<strong>ich</strong>t ein<br />

einziges Mal nachgegeben hat ne, na = ja = und = so mein Vater auch wollt <strong>ich</strong> grade sagen"<br />

(17/38)<br />

29


Nach Erika Schilds Einschät<strong>zu</strong>ng war ihr Vater den nationalsozialistischen<br />

Machthabers für eine Verhaftung „einfach n<strong>ich</strong>t w<strong>ich</strong>tig genug o<strong>der</strong> <strong>zu</strong> alt 44 .<br />

Sie stellt heraus, daß sein Verhalten n<strong>ich</strong>t, wie das des bewun<strong>der</strong>ten Lehrers,<br />

eine harte Bestrafung nach s<strong>ich</strong> zog. Auf das mutige Auftreten ihres Vaters war<br />

sie n<strong>ich</strong>t stolz, sie läßt es vergle<strong>ich</strong>sweise unbedeutend erscheinen. Ihre Darstellung<br />

ist statt dessen um die Gerangnisaufenthalte und die politische Standfestigkeit<br />

von Herrn Sengewald zentriert, <strong>der</strong> den Behörden, im Unterschied<br />

<strong>zu</strong> ihrem Vater, „w<strong>ich</strong>tig genug 44<br />

für die Inhaftierung war. Heute ist s<strong>ich</strong> Frau<br />

Schild bewußt, daß sie dem Vater Unrecht getan hat, denn sie meint: „ja heute<br />

würde <strong>ich</strong> meinen Vater bewun<strong>der</strong>n 44 .<br />

Wie die Fallanalyse verdeutl<strong>ich</strong>te, war sie damals jedoch eher bestrebt, s<strong>ich</strong><br />

vom Herkunftsmilieu ihrer Familie <strong>zu</strong> lösen und s<strong>ich</strong> ab<strong>zu</strong>grenzen. Bei <strong>der</strong><br />

Genese und Realisierung dieses Bedürfnisses spielte <strong>der</strong> Lehrer eine w<strong>ich</strong>tige<br />

Rolle: Er wurde <strong>zu</strong> ihrem För<strong>der</strong>er, verhalf ihr <strong>zu</strong> einem Stipendium für den<br />

Besuch eines Gymnasiums und nahm auf diese Weise Einfluß auf ihre Schullaufbahn.<br />

Nach vierjähriger Schulzeit fand die Zehnjährige um 1925 so Zutritt<br />

<strong>zu</strong> einer Welt, die s<strong>ich</strong> von <strong>der</strong> ihrer Herkunftsfamilie deutl<strong>ich</strong> unterschied: Das<br />

Gymnasium besuchten vorwiegend Kin<strong>der</strong> aus wohlhabenden Familien. Frau<br />

Schild erinnert s<strong>ich</strong>, daß <strong>zu</strong> Beginn eines jeden Schuljahres neben den Namen<br />

auch die Berufebeze<strong>ich</strong>nung des Vaters ins Klassenbuch eingetragen werden<br />

mußte. Im Vergle<strong>ich</strong> <strong>zu</strong> den Berufepositionen an<strong>der</strong>er Väter <strong>hatte</strong> ihr Vater als<br />

Maurer einen Beruf <strong>mit</strong> geringem Sozialprestige: „<strong>der</strong> rangierte in <strong>der</strong> Liste<br />

dieses Klassenbuches bestimmt ganz unten 44 . Erika Schild schämte s<strong>ich</strong> ihrer<br />

Herkunft und fand es z.B. „entsetzl<strong>ich</strong> 44 , Schulbücher gespendet <strong>zu</strong> bekommen.<br />

<strong>Als</strong> <strong>der</strong> Vater von ihr for<strong>der</strong>te, am 1. Mai, dem Kampftag <strong>der</strong> Arbeiter, <strong>zu</strong> Hause<br />

<strong>zu</strong> bleiben, war es ihr unangenehm, s<strong>ich</strong> in <strong>der</strong> Schule dafür entschuldigen <strong>zu</strong><br />

müssen. Um so <strong>mehr</strong> bemühte sie s<strong>ich</strong>, „immer vornedran und ganz beliebt 44<br />

<strong>zu</strong> sein. So begann sie allmähl<strong>ich</strong>, ihr Herkunftsmilieu <strong>zu</strong> verleugnen, um s<strong>ich</strong><br />

ihren Mitschülerinnen an<strong>zu</strong>passen und n<strong>ich</strong>t ausgegrenzt <strong>zu</strong> werden.<br />

Für die Heranwachsende war Armut <strong>mit</strong> Peinl<strong>ich</strong>keit und Scham behaftet.<br />

Eine Erzählung über einen Besuch ihrer Schulklasse bei einer armen Familie<br />

<strong>zu</strong>r Weihnachtszeit macht dies deutl<strong>ich</strong>:<br />

„<strong>ich</strong> seh noch das Haus wie so ne schmale Stiege rauf und es roch so nach armen Leuten die,<br />

und oben saß die Mutter <strong>mit</strong> ihren etl<strong>ich</strong>en kleinen Kin<strong>der</strong>n und wir bescherten und sangen und<br />

also η Weihnachtslied und lieferten unsere Geschenke ab und <strong>ich</strong> finde das=das war so schreckl<strong>ich</strong><br />

für uns war das ne Sensation n<strong>ich</strong> also <strong>ich</strong> fand das hernach also, fürchterl<strong>ich</strong> ne (2)... so in<br />

ganzem Publikum da, fend <strong>ich</strong> schreckl<strong>ich</strong>" (17 /1)<br />

„Es roch so nach armen Leuten 44<br />

— die Armut wird sinnl<strong>ich</strong> wahrnehmbar:<br />

s<strong>ich</strong>tbar, riechbar. Erika Schild fühlte s<strong>ich</strong> in <strong>der</strong> Rolle <strong>der</strong> mildtätigen Gönnerin<br />

n<strong>ich</strong>t wohl: Sie spürte wohl das Voyeuristische, das in dieser Geste lag,<br />

denn für die Schulklasse war diese Weihnachtsbescherung „ne Sensation 44 . Sie<br />

selbst fand das Erlebnis später „fürchterl<strong>ich</strong> 44 . Erika Schild stand zwischen<br />

zwei Welten.<br />

30


Ihre Distanz <strong>zu</strong> ihrem Herkunftsmilieu wirft auch ein neues L<strong>ich</strong>t auf die<br />

fast schwärmerische Bewun<strong>der</strong>ung, die Frau Schild noch heute fur ihren ehemaligen<br />

Lehrer hegt: Obwohl er wie ihr Vater Mitglied <strong>der</strong> SPD war, konnte<br />

sie s<strong>ich</strong> <strong>mit</strong> ihm, <strong>der</strong> nach dem Zweiten Weltkrieg eine w<strong>ich</strong>tige kommunalpolitische<br />

Rolle spielte, le<strong>ich</strong>ter identifizieren. Ihm gegenüber empfindet sie<br />

Dankbarkeit, weil er ihr <strong>zu</strong> ihrem Aufstieg aus dem Herkunftsmilieu verholten<br />

hat.<br />

Hier deutet s<strong>ich</strong> ein Strukturmoment dieser Biographie an: Erika Schild ist<br />

angetrieben von dem Bedürfnis, ihr Herkunftsmilieu, dessen sie s<strong>ich</strong> schämt,<br />

hinter s<strong>ich</strong> <strong>zu</strong> lassen, sozial auf<strong>zu</strong>steigen und ein höheres Sozialprestige als<br />

ihre Eltern <strong>zu</strong> erre<strong>ich</strong>en. Hier, so können wir vermuten, boten s<strong>ich</strong> für Erika<br />

Schild vor allem zwei Wege an: Der Aufstieg über eine eigene Berufslaufbahn<br />

o<strong>der</strong> über eine ,,gute Partie 44 , d.h. über eine Ehe.<br />

2.1.3 Die Vorkriegszeit: Der soziale Aufstieg<br />

1933 verließ Erika Schild nach <strong>der</strong> Mittleren Reife das Gymnasium, obwohl<br />

sie eigentl<strong>ich</strong> das Abitur angestrebt <strong>hatte</strong>. Statt dessen besuchte sie nun die<br />

Höhere Handelsschule. Die geplante Schulkarriere war da<strong>mit</strong> für Erika Schild<br />

beendet. Diese Statuspassage war für sie problematisch, da ihr weiteres Fortkommen<br />

nun behin<strong>der</strong>t <strong>zu</strong> sein schien. Ihre Ausführungen über die genaueren<br />

Umstände dieses Schulabbruchs bleiben allerdings unklar:<br />

„meine Mutter war gestorben und <strong>ich</strong> <strong>kam</strong> <strong>zu</strong>r Höheren Handelsschule <strong>ich</strong> mußte also dies <strong>ich</strong><br />

konnte kein Abitur machen abgebrochen = und = da wollt <strong>ich</strong> aber auch n<strong>ich</strong> sein mein Vater<br />

wollte überhaupt daß <strong>ich</strong> in die Partei ginge und mögl<strong>ich</strong>st so auf die Spinnerei o<strong>der</strong> jedenfalls in<br />

die Fabrik und <strong>mit</strong> für die, un = so, das alles wollt <strong>ich</strong> n<strong>ich</strong>t m<strong>ich</strong> genierte das sogar eigentl<strong>ich</strong>**<br />

(17 /30)<br />

Wir erfahren, daß die Mutter gestorben war und Erika daraufhin die Schule<br />

wechselte. Der Text legt die Interpretation nahe, daß durch den Tod <strong>der</strong> Mutter<br />

<strong>der</strong> weitere Besuch des Gymnasiums unmögl<strong>ich</strong> wurde bzw. daß <strong>der</strong> Vater ihn<br />

n<strong>ich</strong>t gestattete. Sein Wunsch war, wie Frau Schild hier andeutet, daß seine<br />

Tochter in „die Partei 44 , die SPD also, eintreten und danach als Arbeiterin <strong>zu</strong>m<br />

Unterhalt <strong>der</strong> Familie beitragen sollte. Der Vater <strong>hatte</strong> also fur Erika einen Lebensweg<br />

vor Augen, <strong>der</strong> in <strong>der</strong> proletarischen Tradition <strong>der</strong> Familie stand.<br />

Doch ,/ias alles 44<br />

genierte sie. Kategorisch lehnte sie alles ab, was <strong>mit</strong> dem proletarischen<br />

Milieu und <strong>der</strong> politischen Überzeugung ihres \&ters <strong>zu</strong> tun <strong>hatte</strong>.<br />

Nach Abschluß <strong>der</strong> Höheren Handelsschule im Jahre 1933 begann sie n<strong>ich</strong>t,<br />

in einer Fabrik <strong>zu</strong> arbeiten, son<strong>der</strong>n nahm eine Stelle als „Hilfe 44<br />

in einer Konditorei<br />

an. Es ist ihr w<strong>ich</strong>tig <strong>zu</strong> betonen, daß dies ein „sehr feines jüdisches 44<br />

Geschäft war:<br />

„unser ganz, feines Konfitürengeschäft <strong>ich</strong> weiß jeden Morgen, mußt <strong>ich</strong> da die einzelnen Pralinen<br />

putzen, <strong>mit</strong> nem ganz feinen Staubtuch da<strong>mit</strong> „des immer" wirkl<strong>ich</strong> wahr dann wurde jeden<br />

Tag neu, auf silbernen Tabletts geputzt** (18/33)<br />

31


Wenn es ihr schon n<strong>ich</strong>t mögl<strong>ich</strong> war, das Abitur <strong>zu</strong> machen, so war doch<br />

<strong>zu</strong>mindest das Milieu ihres Arbeitsplatzes etwas „Besseres". Ihre Orientierung<br />

am bürgerl<strong>ich</strong>en Milieu findet ihren Nie<strong>der</strong>schlag auch in <strong>der</strong> Wahrnehmung<br />

des SA-Terrors gegen die jüdische Geschäftsinhaberin:<br />

„Löwenstein hießen die, aus einer sehr feinen alten jüdischen Familie, ein Bru<strong>der</strong> war als Offizier<br />

in dem Ersten Weltkrieg gefallen und so die warn also wirkl<strong>ich</strong> seit Jahrhun<strong>der</strong>ten hier ansässig<br />

(l) und da <strong>kam</strong>en SS nee SA-Leute (1) und bumsten so gegen die Tür und <strong>ich</strong> mache auf und<br />

rums warn die im Laden drin (1) beschimpften sie da <strong>mit</strong> irgendwelchen, Huren Sauen sowas n<strong>ich</strong>,<br />

und <strong>ich</strong> ging raus <strong>ich</strong> <strong>hatte</strong> dann eigentl<strong>ich</strong> immer Mut muß <strong>ich</strong> sagen wenn <strong>ich</strong> das heute überlege,<br />

ging raus und sagte schämt ihr euch n<strong>ich</strong>t die hat genauso ihren Bru<strong>der</strong> im <strong>Krieg</strong> verloren wie die<br />

ari<strong>der</strong>en und die drückten m<strong>ich</strong> einfach an die Seite <strong>ich</strong> war damals also achtzehn n<strong>ich</strong>, ja äh und<br />

schlössen das Geschäft auch wie äh alle Geschäfte <strong>zu</strong> <strong>der</strong> Zeit, n<strong>ich</strong> alle jüdischen Geschäfte un<br />

un Fensterscheiben eingeschmissen" (18/20)<br />

Bei den Ereignissen, von denen hier die Rede ist, handelt es s<strong>ich</strong> offenbar<br />

um den re<strong>ich</strong>sweit von <strong>der</strong> NSDAP inszenierten Boykott aller jüdischen Geschäfte,<br />

Rechtsanwälte und Ärzte im April 1933. Erika Schilds Empörung<br />

rührte vor allem daher, daß die Inhaberin <strong>der</strong> Konditorei einer „sehr feinen alten<br />

jüdischen Familie" angehörte, die schon seit Jahrhun<strong>der</strong>ten ortsansässig<br />

war und <strong>der</strong>en Mitglie<strong>der</strong> sogar als Offiziere im Ersten Weltkrieg gekämpft<br />

<strong>hatte</strong>n. S<strong>ich</strong> selbst stellt sie als geistesgegenwärtige und mutige junge Frau dar,<br />

die s<strong>ich</strong> sogar den ungehobelten SA-Männern entgegen<strong>zu</strong>stellen wagte. In dieser<br />

Beschreibung schimmert Stolz auf. Während sie s<strong>ich</strong> über die Terrorakte<br />

<strong>der</strong> SA sehr entrüstet, erwähnt sie fast beiläufig, daß die Inhaberin die Konditorei<br />

nur wenige Monate später — vermutl<strong>ich</strong> infolge <strong>der</strong> s<strong>ich</strong> verschärfenden<br />

antise<strong>mit</strong>ischen Atmosphäre — geschlossen habe.<br />

Erika Schild war nun arbeitslos und mußte s<strong>ich</strong> eine neue Stelle suchen. Sie<br />

fand eine Beschäftigung als Hausmädchen in einer „sehr feinen" Familie, wie<br />

sie wie<strong>der</strong>um hervorhebt. Zwei Jahre später, 1936, wechselte die <strong>mit</strong>tlerweile<br />

21jährige als Büroanfangerin in einen großen technischen Betrieb, bei dem sie<br />

bis <strong>zu</strong> ihrer Heirat im Frühjahr 1938 beschäftigt blieb.<br />

Wie schon erwähnt, arbeitet die Biographin die Zeit von 1933 bis 1938 im<br />

ersten Interview erzählerisch n<strong>ich</strong>t weiter aus. Es ist an<strong>zu</strong>nehmen, daß diese<br />

erzählerische Lücke <strong>mit</strong> dem scheinbaren „Stillstand" in Erika Schilds Biographie<br />

<strong>zu</strong> tun hat: In diesen fünf Jahren „jobbte" sie <strong>zu</strong>nächst als ungelernte<br />

Aushilfe in einer Konditorei, dann als Haushaltshilfe, schließl<strong>ich</strong> als Bürokraft.<br />

<strong>Als</strong> herausragendes Erlebnis aus diesen Jahren ist ihr ledigl<strong>ich</strong> eine Begegnung<br />

<strong>mit</strong> ihrem ehemaligen Lehrer in Erinnerung, von dem sie im zweiten Interview<br />

erzählt:<br />

„und dann <strong>kam</strong> Herr Sengewald mein, sehr geliebter Lehrer hinein und <strong>der</strong> <strong>kam</strong> bei Thyssen<br />

rein als <strong>ich</strong> im Empfang saß und <strong>ich</strong> sprang gle<strong>ich</strong> auf er war <strong>zu</strong>rückhaltend erst und sah m<strong>ich</strong><br />

erst so prüfend an er wollte wohl keinen in Bedrängnis bringen und <strong>ich</strong> fiel ihm so annähernd um<br />

en Hals und sachte wie schön aber <strong>ich</strong> war so bestürzt darüber diese jammervolle Gestalt... wir<br />

liebten ihn sehr und <strong>ich</strong> hab hinterher geheult das fallt mir jetzt wie<strong>der</strong> ein"<br />

32


Zwar ber<strong>ich</strong>tet Frau Schild über ihre Bestür<strong>zu</strong>ng anges<strong>ich</strong>ts <strong>der</strong> äußeren Erscheinung<br />

von Herrn Sengewald, doch wir erfahren n<strong>ich</strong>ts über Ursachen, die<br />

näheren Umstände und den politischen Kontext <strong>der</strong> nationalsozialistischen Verfolgung<br />

ihres Lehrers. Wie auch bei an<strong>der</strong>en Themen, von denen im folgenden<br />

noch die Rede sein wird, blendet sie die Verfolgungs- und Vern<strong>ich</strong>tungspolitik<br />

des „Dritten Re<strong>ich</strong>es 44<br />

aus und vermeidet es, sie beim Namen <strong>zu</strong> nennen.<br />

Im August 1937 heiratete Erika Schild, 21jährig, Egon Schild, einen gutsituierten,<br />

zehn Jahre älteren Mann, <strong>der</strong> einen w<strong>ich</strong>tigen Posten in <strong>der</strong> Speditionsbranche<br />

bekleidete. Mit dieser Heirat gelang ihr <strong>der</strong> Sprung in eine gesellschaftl<strong>ich</strong><br />

angesehenere Position. Sie gab ihren Beruf auf und war bis in<br />

die späten fünfziger Jahre n<strong>ich</strong>t <strong>mehr</strong> berufstätig. Ende 1938 <strong>kam</strong> ihre älteste<br />

Tochter, Elisabeth, <strong>zu</strong>r Welt.<br />

Egon Schild <strong>hatte</strong> im Rahmen seiner Tätigkeit in <strong>der</strong> Speditionsbranche <strong>mit</strong><br />

<strong>der</strong> staatl<strong>ich</strong> forcierten Emigration <strong>der</strong> jüdischen Bevölkerung <strong>zu</strong> tun, die im<br />

Jahr 1938 von <strong>der</strong> NSDAP noch massiver als bisher vorangetrieben wurde.<br />

Genauere Details über die Tätigkeit ihres Mannes, in wessen Auftrag er handelte<br />

und welche Aufgaben er konkret <strong>zu</strong> erfüllen <strong>hatte</strong>, erfahren wir jedoch<br />

n<strong>ich</strong>t. Er war entwe<strong>der</strong> fur den Transport des Eigentums jüdischer Emigranten<br />

o<strong>der</strong> <strong>der</strong>en <strong>zu</strong>rückgelassenen Besitz <strong>zu</strong>ständig:<br />

„es war übrigens so mein Mann war ja, Spediteur n<strong>ich</strong> ... und dann sollten ja die Juden, das<br />

damals, das Land verlassen dürfen <strong>ich</strong> glaube <strong>mit</strong> fünftausend Mark und äh Klamotten die sie tragen<br />

konnten und sonst n<strong>ich</strong>ts ne und diese Juden, des warn alles sehr re<strong>ich</strong>e, Meyer und große<br />

Kaufhäuser und Grünewald und un Salomon und Löwenberg und so (1) und mein Mann sollte damals,<br />

diese Juden, äh, exportiern also äh äh ausreisen ihnen ihre äh es gab damals so=so nen Kistenverschlag<br />

da kommt- soviel = konnten = se = <strong>mit</strong>nehmen" (21 / 39)<br />

Es ist an<strong>zu</strong>nehmen, daß Herr Schild in die „Arisierung 44<br />

jüdischen Besitzes,<br />

d.h. die Beschlagnahme und den Zwangsverkauf jüdischen Vermögens an<br />

„Arier 44 , verwickelt war 2 . Bei diesen Geschäften machten n<strong>ich</strong>t nur Staat und<br />

Partei erhebl<strong>ich</strong>e Gewinne, son<strong>der</strong>n auch diverse Unternehmen. Frau Schild<br />

will an dieser Stelle aber auch deutl<strong>ich</strong> machen, daß es ihrem Mann unangenehm<br />

war, s<strong>ich</strong> am jüdischen Eigentum <strong>zu</strong> bere<strong>ich</strong>ern. Er sei deshalb froh gewesen,<br />

diese Aufgabe an seinen Freund Otto delegieren <strong>zu</strong> können. In direktem<br />

Anschluß an das obige Zitat fahrt sie fort:<br />

„und mein Mann war ja Spediteur und das wollte er n<strong>ich</strong>t, er sachte das kann <strong>ich</strong> n<strong>ich</strong>t <strong>ich</strong> kann<br />

den Leuten n<strong>ich</strong>t diese Sachen da, wegnehmen o<strong>der</strong>, wollte er n<strong>ich</strong> und dieser Otto <strong>der</strong> fiel<br />

immer=<strong>der</strong>=war, immer, ganz re<strong>ich</strong> o<strong>der</strong> ganz arm und <strong>der</strong> fiel immer auf die Füße ... und Otto<br />

<strong>der</strong> war Feuer und Flamme dafür, <strong>der</strong> hat son, Fingerspitzengefühl dafür gehabt un son Geruch<br />

was lukrativ war un mein Mann überhaupt n<strong>ich</strong>t n<strong>ich</strong> mein Mann war eher ein Künstler ... und<br />

sacht das kann <strong>ich</strong> n<strong>ich</strong>t, und Otto sachte dann mach <strong>ich</strong> das und mein Mann hat ihn dann angelernt<br />

und ihm das beigebracht, also die Berechnung und das Verpacken" (22/4)<br />

Auf welcher Seite Frau Schilds Sympathie liegt, auf <strong>der</strong> Seite des Freundes,<br />

<strong>der</strong> „Fingerspitzengefühl 44 dafür <strong>hatte</strong>, was „lukrativ 44 war, o<strong>der</strong> auf <strong>der</strong> Seite<br />

33


ihres Mannes, <strong>der</strong> „eher ein Künstler" war, bleibt unklar. Herr Schild jedenfalls<br />

delegierte diese Beschäftigung, die ihm selbst unangenehm war, an seinen<br />

Freund. Keineswegs zog er s<strong>ich</strong> also, wie <strong>der</strong> Text <strong>zu</strong>nächst nahelegt, völlig<br />

aus diesem Tätigkeitsfeld <strong>zu</strong>rück.<br />

Frau Schilds Ausfuhrungen lassen auch erkennen, wie sie das von den Nationalsozialisten<br />

propagandistisch verwendete Bild vom „re<strong>ich</strong>en Juden" reproduziert.<br />

In ihren Augen verfugte die jüdische Bevölkerung über unermeßl<strong>ich</strong>en<br />

Luxus:<br />

„und dann ham die den Otto oft re<strong>ich</strong> beschenkt=des=warn also Juden die (1) wenn sie n<strong>ich</strong><br />

Juden gewesen wären, dann würden wir sagen aus ersten Familien stammten n<strong>ich</strong>, und die <strong>hatte</strong>n<br />

re<strong>ich</strong>e Sachen so <strong>ich</strong> weiß=<strong>ich</strong>=erinnere m<strong>ich</strong> dran er kriegte ein wun<strong>der</strong>bares Geschirr für<br />

zwölf Personen nur <strong>mit</strong> Fischservice je<strong>der</strong> Teller einzeln bemalt <strong>mit</strong> einem an<strong>der</strong>n Fisch o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>m<br />

Obst und sowas n<strong>ich</strong> un=und die wohnten hier am Graben, und das is en Patrizierhaus gewesen<br />

n<strong>ich</strong> und Sie können s<strong>ich</strong> n<strong>ich</strong>t vorstellen Tepp<strong>ich</strong>e lagen übereinan<strong>der</strong>" (22/25)<br />

In diesem Textausschnitt klingt Erika Schilds Bewun<strong>der</strong>ung für die „feine<br />

Gesellschaft" und <strong>der</strong>en Lebensstil an. Mit <strong>der</strong> Formulierung „wenn sie n<strong>ich</strong><br />

Juden gewesen wären, dann würden wir sagen (daß sie) aus ersten Familien<br />

stammten n<strong>ich</strong>" gibt sie aber gle<strong>ich</strong>zeitig <strong>zu</strong> erkennen, daß die gesellschaftl<strong>ich</strong>e<br />

Stellung dieser Menschen in ihren Augen durch ihr „Jüdisch-Sein" beeinträchtigt<br />

wurde.<br />

Mit <strong>der</strong> Schil<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Tätigkeit ihres Mannes steht das Thema <strong>der</strong> jüdischen<br />

Verfolgung zwar im Raum, doch Frau Schild vermeidet es, näher darauf<br />

ein<strong>zu</strong>gehen. So antwortet sie beispielsweise auf die Frage, ob sie das Schicksal<br />

ihrer ehemaligen Arbeitgeberin weiter verfolgt habe: „ja <strong>ich</strong> glaube die sind<br />

noch rechtzeitig rausgekommen". Wenig später jedoch korrigiert sie s<strong>ich</strong> und<br />

meint, daß sie n<strong>ich</strong>ts Genaues über das Schicksal dieser Frau sagen könne:<br />

„was aus dieser Frau geworden is weiß <strong>ich</strong> n<strong>ich</strong>t aber sie sind alle ins KZ gekommen das weiß<br />

<strong>ich</strong> wohl aber wie sie überlebt hat und ob überhaupt, weiß <strong>ich</strong> n<strong>ich</strong>" (23 / 3)<br />

Erika Schild entzieht s<strong>ich</strong> einem Nachdenken darüber, ob auch diese Frau,<br />

<strong>zu</strong> <strong>der</strong> sie eine persönl<strong>ich</strong>e Beziehung <strong>hatte</strong>, im Konzentrationslager getötet<br />

worden ist. Sie beruhigt s<strong>ich</strong> statt dessen <strong>mit</strong> dem Gedanken an eine mögl<strong>ich</strong>e<br />

Emigration. Auch die oben zitierte Schil<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Tätigkeit ihres Mannes<br />

dient n<strong>ich</strong>t einer kritischen Reflexion seiner o<strong>der</strong> ihrer eigenen Vergangenheit.<br />

Der Hinweis auf die Funktion ihres Mannes bei <strong>der</strong> Emigration jüdischer Bürger<br />

steht viel<strong>mehr</strong> im Kontext eines Entlastungsarguments, das <strong>mit</strong> dem Hinweis<br />

auf die Auswan<strong>der</strong>ungsmögl<strong>ich</strong>keit das Ausmaß des nationalsozialistischen<br />

Terrors ab<strong>zu</strong>schwächen sucht.<br />

Wir können resümieren, daß Erika Schild we<strong>der</strong> die Tätigkeit ihres Mannes<br />

reflektiert noch s<strong>ich</strong> in die Perspektive <strong>der</strong> verfolgten Menschen jüdischen<br />

Glaubens hineinversetzt. Die Emigration ist fur sie ohnehin kaum bedrückend,<br />

da sie behauptet, daß die Auswan<strong>der</strong>er im Gegensatz <strong>zu</strong> den Menschen,<br />

die später in „Massentransporten" in die Konzentrationslager gebracht<br />

34


wurden, „rechtzeitig, selber, von s<strong>ich</strong> aus" gegangen seien. Auf die späteren<br />

„Massentransporte" will Frau Schild allerdings trotz Intervention <strong>der</strong> Interviewerinnen<br />

n<strong>ich</strong>t eingehen: Sie lenkt das Thema wie<strong>der</strong> auf die „re<strong>ich</strong>en" Juden,<br />

die „rechtzeitig" emigrierten.<br />

Auch in ihren Ausfuhrungen <strong>zu</strong>m Novemberpogrom des Jahres 1938, <strong>der</strong><br />

sogenannten Re<strong>ich</strong>skristallnacht, zeigt sie wenig Empathie fur die Lage <strong>der</strong><br />

jüdischen Bevölkerung:<br />

„des war äh ne ganze Menge (1) des war schon ne dolle Sache damals (I) und<br />

wir=warn=aber=echt schockiert weil wir nie so äh politisch o<strong>der</strong> äh extrem, überhaupt n<strong>ich</strong>t nationalsozialistisch<br />

warn also daß so ne Synagoge des war ja immerhin ne Kultstätte" (2. Interview)<br />

Die Formulierung „des war schon ne dolle Sache damals" wirkt in diesem<br />

Zusammenhang befremdl<strong>ich</strong>, verwendet man sie doch meistens, wenn man<br />

von etwas Ungewöhnl<strong>ich</strong>em o<strong>der</strong> Überraschendem spr<strong>ich</strong>t. Frau Schild ist<br />

denn auch sehr bemüht, diesem Eindruck entgegen<strong>zu</strong>wirken, wenn sie beteuert:<br />

„und wir=warn=aber=echt schockiert". Ihren Schock anges<strong>ich</strong>ts <strong>der</strong> damaligen<br />

Vorgänge rechtfertigt Frau Schild <strong>mit</strong> ihrer und ihres Mannes unpolitischer<br />

Haltung, aus <strong>der</strong> heraus ihnen die Zerstörung einer Kultstätte unverständl<strong>ich</strong><br />

gewesen sei. Sie seien nie „so politisch" gewesen, wenigstens n<strong>ich</strong>t<br />

so „extrem", näml<strong>ich</strong> nationalsozialistisch. Zwar verurteilt Frau Schild den<br />

Synagogenbrand, doch deutet ihr Hinweis, daß es s<strong>ich</strong> „immerhin" um eine<br />

Kultstätte handelte, eher auf eine Bestür<strong>zu</strong>ng über die Entehrung eines Bauwerks<br />

<strong>mit</strong> hoher kultureller und religiöser Bedeutung hin als auf eine Bestür<strong>zu</strong>ng<br />

über die systematische Zerstörung jüdischen Lebens.<br />

2.1.4 Der <strong>Krieg</strong> als unerwartetes Naturereignis<br />

Den <strong>Krieg</strong>sausbruch im September 1939 erlebte Erika Schild in einer westfälischen<br />

Kleinstadt. Ihre persönl<strong>ich</strong>en Erinnerungen an den Beginn des <strong>Krieg</strong>es<br />

schil<strong>der</strong>t sie gle<strong>ich</strong> <strong>zu</strong> Anfang des Interviews:<br />

„da war <strong>ich</strong> also grade verheiratet zwei Jahre und <strong>hatte</strong> ein Kind gekr<strong>ich</strong>t, die Elisabeth war,<br />

zehn Monante alt, und eines Morgens saß <strong>ich</strong> dann in <strong>der</strong> Küche-das wird wohl <strong>der</strong> erste o<strong>der</strong><br />

zweite September gewesen sein und da <strong>kam</strong> also durchs Radio daß <strong>der</strong> <strong>Krieg</strong> ausgebrochen war,<br />

am Nach<strong>mit</strong>tag <strong>zu</strong>vor, wir wohnten in Bünde in <strong>der</strong> Bahnhofsstraße ((holt Luft)) war mir aufgefallen<br />

daß hier immer<strong>zu</strong> Flugzeuge rü herkommen, das war stundenlang (1) da dachten wir naja was<br />

soll das bedeuten das is ja eigentüml<strong>ich</strong> Manöver gabs ja noch n<strong>ich</strong>t, und am nächsten Morgen<br />

<strong>kam</strong> durchs Radio <strong>ich</strong> futterte gerade mein Baby und da <strong>kam</strong> daß wir=in=l\>len einmarschiert<br />

waren und da begann <strong>der</strong> <strong>Krieg</strong> da blieb einem vor Angst allerdings das Herz stecken=<strong>ich</strong> bin ja<br />

grade noch im Ersten Weltkrieg geboren und was wir von unsern Eltern wußten also Angst <strong>hatte</strong><br />

man schon obwohl damals n<strong>ich</strong> so die Zivilbevölkerung betroffen war" (1 /30)<br />

Obwohl Frau Schild, wie wir gesehen haben, <strong>mit</strong> nationalsozialistischer Politik<br />

hautnah in Berührung gekommen war, schil<strong>der</strong>t sie den Beginn des <strong>Krieg</strong>es<br />

wie ein für sie völlig unerwartetes Naturereignis, indem sie s<strong>ich</strong> ganz auf<br />

die Perspektive einer nur <strong>mit</strong> den alltägl<strong>ich</strong>en Routinen beschäftigten Haus-<br />

35


frau und Mutter beschränkt und den <strong>Krieg</strong> ohne Vorgesch<strong>ich</strong>te und Initiatoren<br />

— scheinbar wie von selbst —- beginnen läßt. Mit <strong>der</strong> Nachr<strong>ich</strong>t „<strong>Krieg</strong>" verband<br />

sie eine Angst, die auf Erfahrungen aus <strong>der</strong> Kindheit <strong>zu</strong>rückging. „Ja<br />

und dann, <strong>hatte</strong> man erst große Angst 44<br />

setzt die Biographin ihre Schil<strong>der</strong>ung<br />

des <strong>Krieg</strong>sanfanges fort: Zunächst stand die Angst vor dem Unbekannten und<br />

Ungewissen im Vor<strong>der</strong>grund, dessen Konsequenzen n<strong>ich</strong>t ab<strong>zu</strong>sehen waren.<br />

Doch dann wurde diese Angst von den Routinen des <strong>Krieg</strong>salltags, die aus <strong>der</strong><br />

Perspektive <strong>der</strong> Mutter vor allem auf die Lebens<strong>mit</strong>telbeschaffung ger<strong>ich</strong>tet<br />

waren, eingeholt:<br />

„ja und dann, <strong>hatte</strong> man erst große Angst, dann gab es ja die Lebens<strong>mit</strong>telkarten ging das los,<br />

das war aber am Anfang re<strong>ich</strong>l<strong>ich</strong> und man kr<strong>ich</strong>te auch noch von seinen Verwandten auch noch<br />

geliefert also da <strong>hatte</strong> man keinen Hunger" (2/2)<br />

Zu Beginn <strong>hatte</strong> <strong>der</strong> <strong>Krieg</strong> kaum Einfluß auf die alltägl<strong>ich</strong>en Lebensumstände,<br />

man mußte n<strong>ich</strong>t hungern, und auch die Bombenangriffe gehörten<br />

noch n<strong>ich</strong>t <strong>zu</strong>m Alltag. Kurzfristig griff <strong>der</strong> <strong>Krieg</strong> aber doch in das Leben <strong>der</strong><br />

Familie ein: Herr Schild be<strong>kam</strong> einen Stellungsbefehl. Er <strong>hatte</strong> jedoch Glück,<br />

denn er wurde — wie seine Frau meint, da einige Rekruten „überzählig 44<br />

waren<br />

— aufgrund seines Alters <strong>zu</strong>rückgestellt. Die drohende Trennung, <strong>der</strong> sie<br />

<strong>zu</strong>nächst entgangen war, ließ in Erika Schild den Wunsch nach einem zweiten<br />

Kind erwachen. In dieser Situation wollte sie, daß ihr wenigstens ein Kind als<br />

„Ersatz 44<br />

für den Mann bliebe. Ein halbes Jahr später wurde sie schwanger<br />

und erlebte — im Sommer 1941 — einen Luftangriff <strong>mit</strong>. Ihrer Meinung nach<br />

<strong>hatte</strong> dieser Angriff folgenschwere Auswirkungen auf die Gesundheit ihres<br />

Sohnes:<br />

„und in <strong>der</strong> Nebenstraße fiel ne Bombe und <strong>ich</strong> war im dritten Monat und furchtbar bange (1)<br />

und hab=da=wohl= solchen Schreck gekriegt daß dieses Kind im dritten Monat setzen so die<br />

Extre<strong>mit</strong>äten beim Embryo — äh das wurde geboren <strong>mit</strong> einem Klumpfuß das bedeutete hinterher<br />

daß dieses Kind sechs Jahre in Gips lag und das unter Bomben" (2 /18)<br />

Ihr Mann war <strong>zu</strong> diesem Zeitpunkt bereits <strong>zu</strong>m Geschäftsführer eines <strong>mit</strong>telständischen<br />

Unternehmens aufgestiegen und schon vor diesem Luftangriff<br />

nach Hamburg versetzt worden. Erika Schild konnte ihm <strong>zu</strong>nächst n<strong>ich</strong>t folgen,<br />

da sie Schwierigkeiten <strong>hatte</strong>n, eine Wohnung <strong>zu</strong> finden. Erst im November<br />

1941 zog sie — inzwischen im sechsten Monat schwanger — <strong>mit</strong> ihrer<br />

Tochter Elisabeth nach Hamburg.<br />

Erneut erhielt ihr Mann eine Einberufung, doch auch diesmal entging er <strong>der</strong><br />

Rekrutierung: Durch ein Telegramm des Re<strong>ich</strong>sverkehrsministeriums sei er<br />

wegen seiner Beschäftigung in einem kriegsw<strong>ich</strong>tigen Betrieb unabkömml<strong>ich</strong><br />

gestellt und entlassen worden. Erika Schild erzählt, daß ihr Mann große Angst<br />

vor <strong>der</strong> Front gehabt habe:<br />

„mein Mann war überhaupt n<strong>ich</strong> militärisch o<strong>der</strong> soldatisch eingestellt alles an<strong>der</strong>e als das<br />

n<strong>ich</strong>, <strong>hatte</strong> furchtbare Angst und kr<strong>ich</strong>te auch vor lauter Wi<strong>der</strong>stand so ein Magengeschwür n<strong>ich</strong><br />

also später mußte=er=behandelt=werden" (31 /40)<br />

36


Im März 1942 brachte Erika Schild ihren Sohn Martin <strong>zu</strong>r Welt. Das Verhältnis<br />

<strong>zu</strong> ihrem Sohn scheint <strong>zu</strong>nächst schwierig gewesen <strong>zu</strong> sein. Wenn von<br />

ihm die Rede ist, nennt sie ihn n<strong>ich</strong>t bei seinem Namen. Martin — im Gegensatz<br />

<strong>zu</strong> ihrer Tochter, die sie gle<strong>ich</strong> <strong>zu</strong> Beginn des Interviews <strong>mit</strong> ihrem Vornamen<br />

eingeführt hat —, son<strong>der</strong>n spr<strong>ich</strong>t von ihm in distanzierter Form als von<br />

„diesem Kind", z.B. „da war das Kind eineinviertel des Kleine und die Elisabeth<br />

war so na (2) vier Jahre alt" o<strong>der</strong> „dieses- äh <strong>der</strong> Junge". Erst später in<br />

ihrer biographischen Großerzählung — und das bedeutet auch: <strong>zu</strong> einem späteren<br />

Zeitpunkt in <strong>der</strong> Lebensgesch<strong>ich</strong>te — nennt sie ihn bei seinem Namen,<br />

Martin. Wir vermuten, daß diese unpersönl<strong>ich</strong>-distanzierte Art, in <strong>der</strong> sie<br />

über ihren Sohn und dessen erste Lebensjahre spr<strong>ich</strong>t, <strong>mit</strong> seiner Körperbehin<strong>der</strong>ung<br />

<strong>zu</strong>sammenhängt. Für Erika Schild wird <strong>der</strong> äußerl<strong>ich</strong>e Makel ihres<br />

Kindes, beson<strong>der</strong>s im Kontext <strong>der</strong> nationalsozialistischen Vererbungslehre<br />

und <strong>der</strong> daraus resultierenden Euthanasiemaßnahmen, sehr schmerzhaft gewesen<br />

sein. Während des Interviews ist ihr w<strong>ich</strong>tig dar<strong>zu</strong>legen, daß die Behin<strong>der</strong>ung<br />

ihres Sohnes keinesfalls so gew<strong>ich</strong>tig gewesen sei, daß er im Sinne <strong>der</strong><br />

nationalsozialistischen Vererbungslehre als „lebensunwertes Leben" gegolten<br />

habe:<br />

B: „er zog den Fuß dann nach ne das war alles, ABER wenn <strong>Hitler</strong> geblieben war dann war<br />

er ganz bestimmt, glaub <strong>ich</strong> schon, sterilisiert worden o<strong>der</strong> sowas n<strong>ich</strong><br />

I: mhm<br />

B: n<strong>ich</strong> äh lebensunwertes Leben war=er=n<strong>ich</strong>=gewesen ganz s<strong>ich</strong>er n<strong>ich</strong>t" (21 /1)<br />

1943 erlebte Erika Schild <strong>mit</strong> ihrer Familie die alliierten Luftangriffe, die<br />

<strong>zu</strong>r Zerstörung großer Teile Hamburgs führten. Von Churchill und Roosevelt<br />

auf <strong>der</strong> Konferenz von Casablanca beschlossen, <strong>hatte</strong>n die Luftangriffe <strong>der</strong><br />

Alliierten auf deutsche Städte das Ziel, durch Vern<strong>ich</strong>tung <strong>der</strong> Wohnbezirke<br />

die Rüstungsproduktion <strong>zu</strong>m Erliegen <strong>zu</strong> bringen. „Innerhalb von zehn Tagen<br />

waren in <strong>der</strong> drittgrößten Stadt des Re<strong>ich</strong>es 62 Prozent des Wohnraumes zerstört<br />

o<strong>der</strong> schwer beschädigt, etwa 35000-40000 Menschen getötet worden."<br />

(Zipfel 1970: 203)<br />

Egon Schild war inzwischen nach Dessau versetzt worden und <strong>kam</strong> nur an<br />

den Wochenenden nach Hamburg, um seine Familie <strong>zu</strong> besuchen. An einem<br />

dieser Wochenenden erlebte Familie Schild den ersten Angriff auf Hamburg:<br />

„<strong>der</strong> erste Angriff auf Hamburg (2) und ringsrum war schon alles zieml<strong>ich</strong> getroffen auch bei<br />

uns aber des warn dann nur so Fensterscheiben und Wasser wir=<strong>hatte</strong>n=dann=also kein Wasser<br />

<strong>mehr</strong> da weiß <strong>ich</strong> noch (1) da hat Sonntagmorgen mein Mann so im Garten drin (1) so nach Wan<strong>der</strong>vogelart<br />

dann (1) Ofen gebaut und heißes Wasser gemacht weil wir entsetzl<strong>ich</strong> schwarz aussahen<br />

und so rochen nach Brand und Ruß und sowas, dann harn wir da gebadet in som großen Bott<strong>ich</strong><br />

im Garten da (1) und sind dann also ganz sauber in die nächste Bombennacht gegangen und<br />

dann äh HAT es uns erwischt n<strong>ich</strong>" (3 / 24)<br />

Die erste Nacht überstand die Familie Schild noch recht glimpfl<strong>ich</strong>. Am<br />

darauffolgenden Tag nahm sie eine Nachbarsiamilie auf, <strong>der</strong>en Haus zerstört<br />

worden war. Doch wie die letzte Sequenz des obigen Zitats schon erkennen<br />

37


läßt, „erwischte* 4<br />

es die Schilds dann doch. In <strong>der</strong> nächsten Nacht blieb auch<br />

ihr Haus n<strong>ich</strong>t verschont, und sie verließen in Panik den Keller, in dem sie<br />

Schutz gesucht <strong>hatte</strong>n. Dabei verloren sie den Sohn, den sie im Durcheinan<strong>der</strong><br />

<strong>der</strong> Flucht jener Nachbarin in den Arm gedrückt <strong>hatte</strong>n, die sie am Vortag aufgenommen<br />

<strong>hatte</strong>n. Wie dramatisch diese Situation war, zeigt das folgende Zitat:<br />

„und da gab er ((Egon Schild)) dieses- äh den Jungen <strong>der</strong> Frau Jelden und die rast an ihm vorbei<br />

raus aus dem Haus <strong>mit</strong> ihrer Familie n<strong>ich</strong>, <strong>zu</strong> fünfen <strong>hatte</strong>n wir die aufgenommen, und die war<br />

war weg, die harn wir auch im Leben nie wie<strong>der</strong> gesehen n<strong>ich</strong> und DIE <strong>hatte</strong>n unser Kind <strong>mit</strong> und<br />

wir wollten hinterherlaufen das ging aber n<strong>ich</strong> weil da fünf Luftminen runter<strong>kam</strong>en und die bei<br />

den draußen und da fiel son glühen<strong>der</strong> Dachbalken zwischen die und uns und da könnt <strong>ich</strong> n<strong>ich</strong>t<br />

drunterhergrabbeln weil <strong>ich</strong> ja Elisabeth trug inzwischen war unser Haus schon bis <strong>zu</strong>r äh also<br />

<strong>der</strong> Keller die Decke brach schon und es brannte was=wir=ja=aber=n<strong>ich</strong>=wußten=bis=obenhin<br />

ne, es war fürchterl<strong>ich</strong> ... und dann sin wir in som- weggelaufen und <strong>ich</strong> hab immer gekuckt<br />

ob <strong>ich</strong> mein Kind n<strong>ich</strong> sah und es schien mir dahinten auch sowas <strong>zu</strong> liegen aber es ging n<strong>ich</strong>- <strong>ich</strong><br />

<strong>hatte</strong> das Elisabeth aufm Arm und mußte das= retten=das, ganz entsetzl<strong>ich</strong>" (4/12)<br />

Zunächst konnte s<strong>ich</strong> Frau Schild <strong>mit</strong> ihrem Mann und ihrer Tochter in ein<br />

an<strong>der</strong>es Mietshaus retten, das aber selbst bald den Bomben <strong>zu</strong>m Opfer fiel.<br />

Die Evakuierung <strong>der</strong> Hamburger Bevölkerung in die Vororte begann, und die<br />

Familie wurde in einer „hübschen kleinen Villa 44<br />

untergebracht. Von hier aus<br />

machte s<strong>ich</strong> Herr Schild auf die Suche nach dem verlorenen Sohn, den er<br />

schließl<strong>ich</strong> unter einer Eisenbahnbrücke bei jener Familie, die sie aufgenommen<br />

<strong>hatte</strong>n, wie<strong>der</strong>fand. Das Kind war zwar verstört, aber unverletzt. Die<br />

Freude darüber ließ die Familie den materiellen Verlust — das Haus <strong>mit</strong> ihrem<br />

gesamten Besitz war völlig zerstört — vergessen.<br />

In solch bedrohl<strong>ich</strong>en Situationen war Frau Schild emotional völlig<br />

blockiert:<br />

B: „i- i- <strong>ich</strong> bin total, also- äh geschockt dann n<strong>ich</strong> also <strong>ich</strong> kann n<strong>ich</strong>ts sagen <strong>ich</strong> kann dann<br />

auch n<strong>ich</strong>t sofort weinen <strong>ich</strong> kann erst (1) morgen<br />

I: Sie sind blockiert da<br />

B: ja total gescho- man ist auch fast betäubt, man = man schrei- <strong>ich</strong> jedenfalls man schreit<br />

n<strong>ich</strong>t, is einfach, <strong>ich</strong> jedenfalls un mein Mann auch bin ganz still un=un, so ohne (1) und<br />

denkt auch gar n<strong>ich</strong>t so an äußere Theatralik o<strong>der</strong> sowas" (24 / 36)<br />

Erika Schild befand s<strong>ich</strong> in einem Zustand des Schocks o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Betäubung<br />

und war ganz auf die Bewältigung <strong>der</strong> alltägl<strong>ich</strong>en Routinen konzentriert.<br />

Nur <strong>mit</strong> dem Notwendigsten bekleidet, verließ die Familie wenig später<br />

Hamburg. Nach <strong>mehr</strong>tägiger, umwegre<strong>ich</strong>er Fahrt in einem Eisenbahnwaggon<br />

erre<strong>ich</strong>te sie Weimar, wo sie bei den Schwiegereltern Aufnahme fand.<br />

Von dieser beschwerl<strong>ich</strong>en Fahrt ist <strong>der</strong> Erzählerin in beson<strong>der</strong>er Erinnerung,<br />

daß ihr auf dem Bahnhof von Braunschweig zwei Decken, in die sie ihren<br />

Sohn Martin gewickelt <strong>hatte</strong>, gestohlen wurden. Sie konnte den Dieb dann<br />

noch auf dem Bahnsteig stellen und griff ihn öffentl<strong>ich</strong> an, obwohl sie wußte,<br />

daß sie den Betreffenden da<strong>mit</strong> in Lebensgefahr bringen konnte. Noch heute<br />

ist aus ihrer Darstellung nur die Entrüstung heraus<strong>zu</strong>hören, die sie in dieser<br />

Situation empfunden haben muß:<br />

38


„nem Kind direkt die Decken noch weg<strong>zu</strong>ziehn das war ja wohl <strong>der</strong> Gipfel n<strong>ich</strong>, das hab <strong>ich</strong><br />

übel genommen aber dieses und die Leute da die, also da. und da sind ja auch immer welche<br />

die so ganz äh hun<strong>der</strong>tfünfzigprozentig Nationalsozialisten warn und die schrien denn gle<strong>ich</strong> erschießen<br />

erschießen na das wollt <strong>ich</strong> n<strong>ich</strong>" (25/36)<br />

Ihr haben s<strong>ich</strong> jene Situationen am stärksten eingeprägt, die ganz konkret<br />

<strong>mit</strong> ihrer Rolle als Mutter <strong>zu</strong> tun <strong>hatte</strong>n. Sie nahm es dem Dieb persönl<strong>ich</strong><br />

„über 4 , daß er ihrem Kind ein Unrecht antat. Ihre damalige Empörung ist in<br />

ihrer Darstellung bis heute lebendig. Durch die Art und Weise ihrer Darstellung<br />

ze<strong>ich</strong>net sie <strong>zu</strong>gle<strong>ich</strong> auch ein Bild ihrer selbst als tatkräftige, eigenständige<br />

Frau, die auch <strong>mit</strong> schwierigen Situationen fertig <strong>zu</strong> werden versteht. Es<br />

ist Erika Schilds Identität als Mutter, die die Perspektive konstituiert, aus <strong>der</strong><br />

sie ihre Lebensgesch<strong>ich</strong>te rekonstruiert.<br />

In dem Gespräch <strong>mit</strong> uns hält es Erika Schild für notwendig <strong>zu</strong> erklären,<br />

weshalb ihr Mann in dieser Situation n<strong>ich</strong>t die Initiative ergriff. Sie stellt ihn<br />

— wie schon in an<strong>der</strong>en Textpassagen — als passiv dar:<br />

„mein Mann war immer viel <strong>zu</strong> schüchtern also <strong>der</strong> konnte n<strong>ich</strong>t hamstern o<strong>der</strong> beim Bauern<br />

fragen ob wir Kirschen kriegen konnten dann achtete er immer auf die Kin<strong>der</strong> und sachte<br />

geh=du=ma=denn du kannst das besser" (25/25)<br />

Vermutl<strong>ich</strong> war es für Erika Schild w<strong>ich</strong>tig, die aktiv Handelnde in <strong>der</strong> Familie<br />

<strong>zu</strong> sein. Aktives Planen und Eingreifen und das Gefühl, die Verantwortung<br />

für die Familie <strong>zu</strong> tragen, ermögl<strong>ich</strong>ten es ihr offenbar, ihre Angst während<br />

<strong>der</strong> Luftangriffe <strong>zu</strong> beherrschen und ein Gefühl <strong>der</strong> Kontrolle selbst in einem<br />

unkalkulierbaren <strong>Krieg</strong>salltag <strong>zu</strong> behalten.<br />

Doch auch Frau Schild konnte die Bedrohl<strong>ich</strong>keit dieses <strong>Krieg</strong>es und das<br />

Schreckl<strong>ich</strong>e, was sie <strong>mit</strong>erlebt <strong>hatte</strong>, n<strong>ich</strong>t völlig beiseite schieben. Um die<br />

orthopädische Behandlung ihres Sohnes fort<strong>zu</strong>setzen, mußte sie <strong>mit</strong> ihm in regelmäßigen<br />

Abständen von Weimar nach Erfurt fahren Bei einer dieser Fahrten<br />

nach Erfurt brachen ihre angestauten Ängste hervor:<br />

„<strong>ich</strong> <strong>hatte</strong> diesen Schrecken von Hamburg wie <strong>ich</strong> dachte ganz gut verwunden <strong>ich</strong> wußte gar<br />

n<strong>ich</strong>t was <strong>mit</strong> mir los war, geh <strong>mit</strong> Brü<strong>der</strong>chen also <strong>mit</strong> dem Dings <strong>zu</strong> ner Kin<strong>der</strong>ärztin und sachte<br />

<strong>ich</strong> möchte gerne für des Kind sechzig Gramm Butter <strong>mehr</strong> haben denn er liegt in Gips und<br />

braucht s<strong>ich</strong>er <strong>mehr</strong> ne — weinte aber fürchterl<strong>ich</strong> dabei ne, und da sagt die Ärztin <strong>zu</strong> mir ja aber<br />

was is denn <strong>mit</strong> Ihnen da sach=<strong>ich</strong>=des=weiß=<strong>ich</strong>=auch=n<strong>ich</strong>, und dann erzählt <strong>ich</strong> ihr das un<br />

dann stellte die bei mir einen schweren Nerven<strong>zu</strong>sammenbruch fest und dann kr<strong>ich</strong>te <strong>ich</strong> so<br />

zweinsechzig Komma fünf Gramm Butter n<strong>ich</strong> das weiß <strong>ich</strong> noch also dieser Zusammenbruch<br />

<strong>kam</strong> bei mir ein halbes Jahr später n<strong>ich</strong>" (26 /17)<br />

Ein halbes Jahr lang waren Erika Schilds Ängste und ihr Schock während<br />

und nach den Bombenangriffen unterdrückt, sie konzentrierte s<strong>ich</strong> auf die Bewältigung<br />

<strong>der</strong> Notwendigkeiten des Alltags. Auch überdeckte die Sorge um<br />

das Überleben <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> die Ängste um das eigene Leben: „<strong>ich</strong> <strong>hatte</strong> gar<br />

n<strong>ich</strong> an m<strong>ich</strong>- <strong>zu</strong> <strong>der</strong> Zeit dachte man auch- Mütter o<strong>der</strong> Väter ganz bestimmt<br />

n<strong>ich</strong>t an s<strong>ich</strong>=son<strong>der</strong>n=immer=nur=dieses=Überleben daß die Kin<strong>der</strong>"<br />

39


(26/31). Sie <strong>hatte</strong> die Anspannung und die Angst während <strong>der</strong> Bombenangriffe<br />

n<strong>ich</strong>t verarbeitet. Diese Gefühle führten in einem Augenblick <strong>zu</strong>m Nerven<strong>zu</strong>sammenbruch,<br />

in dem keine akute Gefahr <strong>mehr</strong> drohte und keine un<strong>mit</strong>telbare<br />

Notwendigkeit bzw. Mögl<strong>ich</strong>keit <strong>mehr</strong> bestand, in <strong>der</strong> Rolle <strong>der</strong> Zupackenden<br />

und Aktiven Halt <strong>zu</strong> finden.<br />

Wegen <strong>der</strong> großen Entfernung zwischen Weimar und dem Arbeitsplatz des<br />

Mannes zog die Familie im Mai 1944, als s<strong>ich</strong> die deutsche Nie<strong>der</strong>lage schon<br />

abze<strong>ich</strong>nete, in eine Kleinstadt in <strong>der</strong> Nähe von Dessau. Da Wohnungen in jener<br />

Zeit schwer <strong>zu</strong> finden waren, mieteten sie einen Laden. An die Umstände,<br />

unter denen sie dort lebten, erinnert s<strong>ich</strong> Frau Schild <strong>mit</strong> Abscheu:<br />

„wir wohnten in einem ganz entsetzl<strong>ich</strong>en Haus es war so das Unterste eigentl<strong>ich</strong> so sozial n<strong>ich</strong><br />

so also schreckl<strong>ich</strong> voller Ratten, Mäusen, Läusen und all so was, schreckl<strong>ich</strong>e Sprache spr<strong>ich</strong>t<br />

man da auch das is halb berlinerisch und halb sächsisch also es is fürchterl<strong>ich</strong>" (9/23)<br />

Man gewinnt den Eindruck, daß die Orientierung an äußerl<strong>ich</strong>er Normalität<br />

das Korsett war, <strong>mit</strong> dem es Erika Schild gelang, die Bedrohung und den<br />

Schrecken des <strong>Krieg</strong>es im Alltag <strong>zu</strong> bewältigen. Gegen die Gefahr eines sozialen<br />

Abstieges o<strong>der</strong> dessen äußere Anze<strong>ich</strong>en konnte sie s<strong>ich</strong> wehren, ihre<br />

ganze Tüchtigkeit einsetzen, um dem entgegen<strong>zu</strong>wirken, während sie <strong>der</strong> Bedrohung<br />

durch den <strong>Krieg</strong> weitgehend hilflos ausgeliefert war. Läuse, so meint<br />

sie, seien für sie <strong>der</strong> „tiefste Punkt 44<br />

gewesen:<br />

„das war so schreckl<strong>ich</strong> für m<strong>ich</strong> das war <strong>der</strong>— tiefste Punkt den <strong>ich</strong> moralisch da erre<strong>ich</strong>te —<br />

also das war ganz schreckl<strong>ich</strong> Läuse — des — war gab es ja auch eigentl<strong>ich</strong> n<strong>ich</strong> ... ganz eigentüml<strong>ich</strong><br />

das hat m<strong>ich</strong> tief getroffen" (42/17)<br />

Auf die Nachr<strong>ich</strong>t, daß auch ihre Tochter Elisabeth Läuse bekommen <strong>hatte</strong>,<br />

reagierte sie vergle<strong>ich</strong>sweise heftig. Rückblickend ist offenbar Erika Schild<br />

selbst über diese Heftigkeit überrascht, denn sie meint: „ganz eigentüml<strong>ich</strong> das<br />

hat m<strong>ich</strong> tief getroffen 44 . Diese Reaktion wird vor dem Hintergrund verständl<strong>ich</strong>,<br />

daß Läuse <strong>zu</strong> haben für Erika Schild bedeutete, s<strong>ich</strong> körperl<strong>ich</strong> <strong>zu</strong> vernachlässigen<br />

und Gefahr <strong>zu</strong> laufen, in die Asozialität ab<strong>zu</strong>gleiten und s<strong>ich</strong> selbst auf<strong>zu</strong>geben.<br />

Solange es ihr jedoch gelang, eine Alltagsnormalität aufrecht<strong>zu</strong>erhalten,<br />

fühlte sie s<strong>ich</strong> in <strong>der</strong> Lage, den mör<strong>der</strong>ischen Lebensumständen <strong>zu</strong> trotzen.<br />

<strong>Als</strong> das <strong>Krieg</strong>sende und die Nie<strong>der</strong>lage n<strong>ich</strong>t <strong>mehr</strong> auf<strong>zu</strong>halten waren, sollte<br />

auch in ihrer Stadt <strong>der</strong> von Goebbels propagierte End<strong>kam</strong>pf in all seiner Sinnlosigkeit<br />

geführt werden. Egon Schild wurde <strong>zu</strong>m Volkssturm eingezogen.<br />

Frau Schild erinnert s<strong>ich</strong>, daß ihr Mann zweimal an Übungen teilnahm, bei<br />

denen er den Umgang <strong>mit</strong> Waffen lernen sollte. Sie konnte jedoch dieses letzte<br />

Aufgebot n<strong>ich</strong>t ernst nehmen:<br />

„das war das allerletzte Aufgebot und da <strong>kam</strong> er ((ihr Mann)) eines Sonntag morgens da vorbei<br />

und <strong>ich</strong> stand am Fenster und <strong>ich</strong> mußte so fürchterl<strong>ich</strong> lachen und mein Mann auch — über diese<br />

Jammerfiguren wenn die da vielle<strong>ich</strong>t den <strong>Krieg</strong> noch <strong>mit</strong> än<strong>der</strong>n wolln des=war=so=blödsinnig"<br />

(47/28)<br />

40


Der Volkssturm war in Frau Schilds Augen n<strong>ich</strong>t nur das letzte, son<strong>der</strong>n das<br />

„í///é>rletzte kt<br />

Aufgebot. In dieser Steigerung klingt Geringschät<strong>zu</strong>ng an, <strong>mit</strong><br />

<strong>der</strong> sie die „Jammerfiguren", „Kin<strong>der</strong> und Krüppel und alte Männer" hinter<br />

ihrer Gardine stehend betrachtete. Diese Menschen waren bei realistischer<br />

Betrachtung n<strong>ich</strong>t <strong>mehr</strong> in <strong>der</strong> Lage, das Blatt <strong>zu</strong> wenden und Deutschland<br />

noch <strong>zu</strong>m Sieg <strong>zu</strong> verhelfen. Ihr Lachen könnte also das Lachen <strong>der</strong>jenigen<br />

sein, die das Ende des sogenannten Dritten Re<strong>ich</strong>es herbeisehnte und nun sein<br />

letztes Zucken <strong>mit</strong> Häme und Genugtuung verfolgte. Doch hat s<strong>ich</strong> Erika<br />

Schild in dem gesamten Interview bisher n<strong>ich</strong>t als politisch engagiert <strong>zu</strong> erkennen<br />

gegeben. Hier scheint es viel<strong>mehr</strong> das Lachen <strong>der</strong> Verzweiflung über<br />

die n<strong>ich</strong>t <strong>mehr</strong> ab<strong>zu</strong>wendende Nie<strong>der</strong>lage <strong>der</strong> Deutschen gewesen <strong>zu</strong> sein<br />

sein, über die sie s<strong>ich</strong> anges<strong>ich</strong>ts des „allerletzten" Aufgebotes n<strong>ich</strong>t <strong>mehr</strong> <strong>zu</strong><br />

täuschen vermochte. Darin deutet s<strong>ich</strong> eine Haltung an, die s<strong>ich</strong> in vielen Interviews<br />

wie<strong>der</strong>findet: Zwar identifizierte s<strong>ich</strong> Frau Schild n<strong>ich</strong>t unbedingt<br />

<strong>mit</strong> <strong>der</strong> Politik des NS-Regimes vor dem Zweiten Weltkrieg, doch <strong>der</strong> <strong>Krieg</strong><br />

selbst wurde dann gewissermaßen „nationalisiert". Der nationalsozialistische<br />

Eroberungsfeld<strong>zu</strong>g wurde <strong>zu</strong> einem <strong>Krieg</strong> <strong>der</strong> Deutschen. Dieses Deutungsmuster<br />

findet s<strong>ich</strong> vor allem im „Mythos des unpolitischen Soldaten**, ein Begriff,<br />

<strong>der</strong> von Gabriele Rosenthal (1987 a) geprägt und für das Kollektiv <strong>der</strong><br />

Wehrmachtsangehörigen beschrieben worden ist. Die Entpolitisierung des<br />

Zweiten Weltkrieges erlaubt aber auch <strong>der</strong> Zivilbevölkerung, die Identifikation<br />

<strong>mit</strong> dem <strong>Krieg</strong>sziel eines deutschen Sieges bekennen <strong>zu</strong> können, ohne<br />

s<strong>ich</strong> da<strong>mit</strong> in dem Geständnis, s<strong>ich</strong> <strong>mit</strong> <strong>der</strong> nationalsozialistischen Politik<br />

identifiziert <strong>zu</strong> haben, <strong>zu</strong> verfangen.<br />

Doch kommen wir <strong>zu</strong>nächst <strong>zu</strong>r Rekonstruktion <strong>der</strong> Erlebnisse von Frau<br />

Schild <strong>zu</strong>rück. Egon Schild wurde also noch <strong>zu</strong>m Volkssturm eingezogen,<br />

doch <strong>kam</strong> dieses „allerletzte Aufgebot** n<strong>ich</strong>t <strong>mehr</strong> <strong>zu</strong>m Einsatz, es fand keine<br />

Feindberührung <strong>mehr</strong> statt. Ein riesiger Flüchtlingsstrom ergoß s<strong>ich</strong> über das<br />

Land; die Elbwiesen waren „übersät** <strong>mit</strong> flüchtenden Menschen, „soweit<br />

man nur gucken konnte**.<br />

Im April 1945 rückte die Front näher, und feindl<strong>ich</strong>e Geschosse brachen in<br />

die Frühlingsidylle ein, die anges<strong>ich</strong>ts <strong>der</strong> drohenden Situation um so intensiver<br />

erlebt wurde:<br />

„und dann saßen wir am letzten Tag in unserem Haus es war also ein wun<strong>der</strong>schöner Frühlingstach<br />

.. und in dem Garten stand ein Mandelbäumchen und das blühte, das blühte so wun<strong>der</strong>schön<br />

und so vielversprechend und so — so lebendig, und die Sonne schien und wir saßen noch einmal<br />

so r<strong>ich</strong>tig vertraut ... und wir saßen da in <strong>der</strong> Sonne vor diesem Mandelbäumchen und dachten<br />

— also des Leben geht wirkl<strong>ich</strong> weiter und <strong>mit</strong> einem Mal <strong>kam</strong>en da Granaten angeflogen"<br />

(35/37)<br />

Vor <strong>der</strong> näher rückenden Front floh die Familie gemeinsam <strong>mit</strong> Freunden<br />

in R<strong>ich</strong>tung Westen. Um ihre Kin<strong>der</strong> — aber wohl auch s<strong>ich</strong> selbst — ab<strong>zu</strong>lenken,<br />

erzählte Frau Schild Gesch<strong>ich</strong>ten o<strong>der</strong> rezitierte Ged<strong>ich</strong>te. Diese Situa-<br />

41


tionen, in denen sie s<strong>ich</strong> ihren Kin<strong>der</strong>n sehr nahe fühlte, gehören für sie <strong>zu</strong> den<br />

„schönen 44<br />

Momenten des <strong>Krieg</strong>es. Schon nach wenigen Tagen konnte die Zivilbevölkerung<br />

in ihre Wohnungen <strong>zu</strong>rückkehren. Da<strong>mit</strong> war auch für Frau<br />

Schild und ihre Familie die Flucht beendet.<br />

Im Zusammenhang <strong>mit</strong> ihrer Rückkehr ber<strong>ich</strong>tet sie über den „ersten<br />

<strong>Krieg</strong>stoten 44 , den sie gesehen habe. Sie erinnert s<strong>ich</strong>, beim Einbiegen in eine<br />

Straße beinahe über ihn „gestolpert 44<br />

<strong>zu</strong> sein. Ihre Erinnerung an diesen<br />

Le<strong>ich</strong>nam als den „ersten <strong>Krieg</strong>stoten 44<br />

weist daraufhin, daß sie <strong>der</strong> neuen Situation,<br />

näml<strong>ich</strong> Zeugin am Schauplatz von Kampfhandlungen <strong>zu</strong> sein, eine<br />

qualitativ an<strong>der</strong>e Bedeutung <strong>zu</strong>mißt als ihren Erlebnissen im bombardierten<br />

Hamburg, wo sie s<strong>ich</strong>erl<strong>ich</strong> auch Tote gesehen hat. Diese Bombenopfer subsumiert<br />

sie offenbar n<strong>ich</strong>t unter das Thema „<strong>Krieg</strong> 44 .<br />

Im April 1945 war für Frau Schild <strong>der</strong> <strong>Krieg</strong> <strong>zu</strong> Ende. Von einem Fenster<br />

ihrer Wohnung aus konnte sie beobachten, wie sowjetische Soldaten auf amerikanische<br />

trafen:<br />

„von da <strong>kam</strong>en die Russen <strong>mit</strong> Musik und von hier, <strong>kam</strong>en die Amerikaner un die trafen s<strong>ich</strong><br />

vor meinem Fenster n<strong>ich</strong>, und umarmten s<strong>ich</strong> und küßten s<strong>ich</strong> und das war also ein ganz großes<br />

HalIo=un=<strong>ich</strong>=stand=so verborgen hinter dem Fenster" (7/15)<br />

Erika Schild <strong>hatte</strong>, wenn n<strong>ich</strong>t auf einen Sieg <strong>der</strong> Nationalsozialisten, so<br />

doch auf einen deutschen Sieg gehofft, und die deutsche Nie<strong>der</strong>lage löste bei<br />

ihr ein Gefühl <strong>der</strong> Bitterkeit aus:<br />

„und eigentl<strong>ich</strong> nur Mutter und Ehefrau war politisch damals gar n<strong>ich</strong>t interessiert n<strong>ich</strong> gar n<strong>ich</strong><br />

aber das hat-hat doch sehr getroffen und da merkt man eben doch daß man Deutsche war und daß<br />

alles ein Jammer und alles umsonst gewesen ist" (45/28)<br />

Es war schon von jener Haltung die Rede, die den Zweiten Weltkrieg „nationalisierte<br />

44<br />

und da<strong>mit</strong> von seiner politischen Anrüchigkeit <strong>zu</strong> befreien versuchte.<br />

Aus dieser Haltung heraus empfand auch Erika Schild Enttäuschung<br />

über die deutsche Nie<strong>der</strong>lage. Da sie s<strong>ich</strong> aber n<strong>ich</strong>t <strong>mit</strong> den politischen Zielen<br />

und Aussagen des Nationalsozialismus identifizierte, löste dessen Zerschlagung<br />

keine Krise aus. Sie verstand s<strong>ich</strong> nun selbst als Opfer, das dem Sieger<br />

unterlegen war. Indem sie s<strong>ich</strong> als politisch n<strong>ich</strong>t engagiert darstellt, fühlt<br />

sie s<strong>ich</strong> von einem Verstricktsein in den Nationalsozialismus und von einer<br />

Auseinan<strong>der</strong>set<strong>zu</strong>ng <strong>mit</strong> ihm befreit; eine Auseinan<strong>der</strong>set<strong>zu</strong>ng <strong>mit</strong> den Leiden<br />

<strong>der</strong> Opfer des Nationalsozialismus zwingt s<strong>ich</strong> ihr subjektiv n<strong>ich</strong>t auf.<br />

2.1.5 Die Nachkriegszeit<br />

Die ersten Monate nach <strong>der</strong> deutschen Kapitulation verbrachte Erika Schild<br />

<strong>mit</strong> ihren Kin<strong>der</strong>n in <strong>der</strong> sowjetisch besetzten Zone. Aus <strong>der</strong> Anfangszeit <strong>der</strong><br />

Besat<strong>zu</strong>ng sind ihr die Ströme durchziehen<strong>der</strong> Soldaten auf dem Weg nach<br />

Westen gegenwärtig. Sie ze<strong>ich</strong>net ein fast romantisches Bild von Pänjepfer-<br />

42


den, Planwagen und singenden Soldaten, das s<strong>ich</strong> ihr beson<strong>der</strong>s eingeprägt<br />

hat.<br />

Frau Schilds Erinnerungen an die erste Nachkriegszeit in <strong>der</strong> sowjetisch besetzten<br />

Zone kreisen dann durchweg um Begegnungen <strong>mit</strong> Angehörigen <strong>der</strong><br />

sowjetischen Besat<strong>zu</strong>ngsmacht o<strong>der</strong> <strong>mit</strong> Tschechen und Polen. In ihren Erzählungen<br />

über Durchsuchungen, Plün<strong>der</strong>ungen und ihre allgegenwärtige Angst<br />

vor einer Vergewaltigung werden ihr damaliges Mißtrauen und ihre Antipathie<br />

gegenüber <strong>der</strong> slawischen Bevölkerung vernehmbar. Noch heute entrüstet sie<br />

s<strong>ich</strong> beispielsweise über einen Vorfall, bei dem <strong>der</strong> Sohn eines ihr bekannten<br />

Gutsbesitzers, ein entlassener deutscher Offizier <strong>mit</strong> einer Beinprothese, von<br />

den ehemaligen „Fremdarbeitern" des Gutes <strong>zu</strong> Boden gestoßen wurde:<br />

„Aber diesen Mann den haben dann die Bolen und die Tschechen den Sohn n<strong>ich</strong> <strong>der</strong> also deutscher<br />

Offizier war /und ein Holzbein schon <strong>hatte</strong> ((leise)) haben die den umgerissen in unserer<br />

Strafte hun<strong>der</strong>t Meter vor unserer Wohnung haben ihn auf die Erde geschmissen <strong>der</strong> konnte natürl<strong>ich</strong><br />

n<strong>ich</strong> die Dings zerbrochen so so schreckl<strong>ich</strong> waren die" (49/6)<br />

Das Verhalten <strong>der</strong> Polen und Tschechen ruft hier wie an vielen an<strong>der</strong>en Stellen<br />

ihre Empörung hervor. Das Leid und Unrecht, das den Fremdarbeitern<br />

durch Zwangsverpfl<strong>ich</strong>tung und Verschleppung, durch Zwangsarbeit und<br />

schlechte Lebensbedingungen <strong>zu</strong>gefügt wurde, thematisiert sie hingegen<br />

n<strong>ich</strong>t.<br />

In dieser Zeit lebte Frau Schild in <strong>der</strong> ständigen Angst vor Vergewaltigungen,<br />

die häufig vor<strong>kam</strong>en. Sie erinnert s<strong>ich</strong> an die Leidensgesch<strong>ich</strong>te einer<br />

Bekannten, die während ihrer Flucht den Tod zweier ihrer Kin<strong>der</strong>, die an Hunger<br />

und Krankheit gestorben waren, <strong>zu</strong> betrauern <strong>hatte</strong> und die <strong>mehr</strong>ere Male<br />

vergewaltigt wurde:<br />

„die Ilse war so alt wie <strong>ich</strong>, also damals — warn wir so 26 vielle<strong>ich</strong>t — o<strong>der</strong> so rum, ja <strong>ich</strong><br />

wurde 30 ja ja, und die Ilse war also gekommen in meim Alter- <strong>hatte</strong> ne Schippkarrc, vom Bauern<br />

irgendwo so- organisiert hieß das, da warn die losgefahrn von, „wie hieß denn <strong>der</strong> Ort bloß noch"<br />

... <strong>mit</strong> dieser Schippkarre tausende: von Kilometern da <strong>hatte</strong> sie — zwei Kin<strong>der</strong> drin — eins ist<br />

unterwegs gestorben, an Syphillis — eins is verhungert, des eine Kind mußt sie also auf <strong>der</strong><br />

Strecke lassen <strong>mit</strong> ihrer Mutter <strong>mit</strong> ihrer Tante und zwei Kin<strong>der</strong>n aus Gütersloh hier die wir aufgenommen<br />

<strong>hatte</strong>n weil das ja drüben s<strong>ich</strong>er schien <strong>der</strong> Osten n<strong>ich</strong> ... und die junge Frau die da also<br />

in meim Alter die is 30 mal vergewaltigt worden n<strong>ich</strong> ((holt Luft)) und <strong>der</strong> sind die Haare ausgegangen<br />

noch hier in ... die konnte also ohne Kopftuch gar n<strong>ich</strong> <strong>mehr</strong> — gehn das war so schreckl<strong>ich</strong><br />

und das is ne ganz ganz feine Familie" (41 /31)<br />

Auch in dieser emotional vorgetragenen Textpassage ist es Frau Schild w<strong>ich</strong>tig<br />

hervor<strong>zu</strong>heben, daß ihre Bekannte einer „feinen Familie" entstammt. <strong>Als</strong><br />

beson<strong>der</strong>s schreckl<strong>ich</strong> empfindet sie, daß die Betroffene auch äußerl<strong>ich</strong>, durch<br />

den Verlust ihrer Haare, vom Schicksal geze<strong>ich</strong>net war. Hier darf <strong>der</strong> Symbolgehalt<br />

von Haaren, <strong>der</strong>en Verlust oft als demütigende und traumatische Erfahrung<br />

erlebt wird, n<strong>ich</strong>t außer acht gelassen werden. Daß sie Gefühle von Leid<br />

und Schmerz im Zusammenhang <strong>mit</strong> ihrer Freundin kaum <strong>zu</strong>lassen kann, mag<br />

auch ein Ausdruck ihrer Umgehensweise <strong>mit</strong> eigenen Gefühlen sein.<br />

43


Für Frau Schild war es selbstverständl<strong>ich</strong>, <strong>mit</strong> ihrer Familie die sowjetische<br />

Zone <strong>zu</strong> verlassen und in den Westen <strong>zu</strong> gehen. Anfang Februar 1946 gelang<br />

es ihrem Mann, illegal die Grenze <strong>zu</strong> den westl<strong>ich</strong>en Besat<strong>zu</strong>ngszonen <strong>zu</strong><br />

überschreiten. Im Westen erhielt ihr Mann den ersten Interzonenpaß. Erst<br />

nach einem halben Jahr war es ihm mögl<strong>ich</strong>, seine Familie wie<strong>der</strong> <strong>zu</strong> besuchen.<br />

Erika Schild <strong>hatte</strong> s<strong>ich</strong> in <strong>der</strong> Zwischenzeit schon Pässe besorgt, um gemeinsam<br />

<strong>mit</strong> ihrem Mann und ihren Kin<strong>der</strong>n ausreisen <strong>zu</strong> können. Alles<br />

schien s<strong>ich</strong> nach Wunsch <strong>zu</strong> entwickeln, doch dann be<strong>kam</strong> sie auf dem Bahnsteig<br />

<strong>mit</strong> dem diensthabenden Soldaten Schwierigkeiten. Dieser wollte zwar<br />

ihren Mann und die Kin<strong>der</strong>, n<strong>ich</strong>t aber sie selbst ausreisen lassen. <strong>Als</strong> auch<br />

<strong>der</strong> sowjetische Ortskommandant ihr n<strong>ich</strong>t weiterhelfen konnte, entschloß sie<br />

s<strong>ich</strong>, „schwarz 44<br />

über die Grenze <strong>zu</strong> fahren. <strong>Als</strong> <strong>der</strong> Zug einfuhr, wandte sie<br />

s<strong>ich</strong> an den deutschen Zugführer <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Bitte, sie über die Grenze <strong>zu</strong><br />

„schmuggeln 44 . Die Schilds konnten s<strong>ich</strong> in einem Gepäckwagen verstecken<br />

und durchlebten noch einmal dramatische Minuten, als <strong>der</strong> sowjetische Soldat<br />

den Zug n<strong>ich</strong>t passieren ließ, son<strong>der</strong>n nach ihnen suchte. <strong>Als</strong> <strong>der</strong> Zug s<strong>ich</strong> endl<strong>ich</strong><br />

in Bewegung gesetzt <strong>hatte</strong>, wurden sie von englischen Offizieren entdeckt.<br />

Frau Schild meint, durch ihr selbstbewußtes Auftreten die Situation gerettet<br />

und die Familie vor weiteren Schwierigkeiten bewahrt <strong>zu</strong> haben:<br />

„und <strong>der</strong> Englän<strong>der</strong> <strong>hatte</strong> so nen großen Scheinwerfer und sachte whats that n<strong>ich</strong>t und zeigte auf<br />

m<strong>ich</strong> und die Kin<strong>der</strong> ne und da sagte ihm <strong>der</strong> deutsche Zugführer also mein Mann hätte den Interzonenpaß<br />

Nummer eins und <strong>ich</strong> hätte nen Stempel und sowieso, und dann sachte <strong>der</strong> / rauskommen<br />

((ganz barsch)) ... und in <strong>der</strong> Not da bin <strong>ich</strong> immer also <strong>ich</strong> fantasier=<strong>ich</strong>=weiß=n<strong>ich</strong>t=wie=das=kommt<br />

wie <strong>ich</strong> reagierte da sacht <strong>ich</strong> <strong>zu</strong> dem Englän<strong>der</strong> da I can't please take my child<br />

und da nahm er dieses Kind auf den Arm und trug es da durch an diesem offenen fährenden Zug<br />

vorbei" (13/2)<br />

Die Weiterfahrt verlief dann sehr angenehm; die Schilds wurden von den<br />

vorwiegend englischen Mitreisenden verwöhnt. Über Braunschweig und Hannover<br />

ging es weiter bis nach Hamburg. Auf den Bahnhöfen wurde Erika<br />

Schild <strong>mit</strong> dem Elend <strong>der</strong> Flüchtenden konfrontiert:<br />

„<strong>ich</strong> hab sowas nie gesehn an=an Not und Jammer und Verkommenheit und=und=un sowas,<br />

unterhalb des Bahnhofs war <strong>der</strong> Bunker (1) ganz schreckl<strong>ich</strong> Soldaten die weggelaufen warn Mütter<br />

und Dirnen und schlimme Männer un so=also ganz schreckl<strong>ich</strong>" (13/31)<br />

Die Konfrontation <strong>mit</strong> dem Elend <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en löste bei ihr aber n<strong>ich</strong>t nur<br />

Schrecken und Entsetzen, son<strong>der</strong>n vor allem ein Gefühl des Abgestoßenseins<br />

aus. Ihre Schil<strong>der</strong>ung drückt weniger Empathie <strong>mit</strong> dem Schicksal dieser<br />

Menschen als viel<strong>mehr</strong> Abscheu und Verachtung aus. Erinnern wir uns noch<br />

einmal an Frau Schilds Entsetzen darüber, daß ihre Kin<strong>der</strong> Läuse <strong>hatte</strong>n. Sie<br />

war auch unter schwierigsten äußeren Bedingungen offenbar noch bemüht,<br />

die äußere Form <strong>zu</strong> wahren. „Verkommenheit 44<br />

war für sie also n<strong>ich</strong>t nur ein<br />

Produkt <strong>der</strong> Lebensumstände, son<strong>der</strong>n ein Ze<strong>ich</strong>en des Aufgebens. So <strong>hatte</strong><br />

Frau Schild neben <strong>der</strong> körperl<strong>ich</strong>en Verkommenheit wohl auch die <strong>der</strong> geistigen<br />

„Verkommenheit 44<br />

vor Augen. Zumindest zieht sie argumentativ keine<br />

44


Verbindung zwischen dem <strong>Krieg</strong> und dem Zustand <strong>der</strong> Menschen. Diese waren<br />

viel<strong>mehr</strong> die Verkörperung dessen, wovon sie s<strong>ich</strong> abgrenzen wollte.<br />

Von November 1946 an lebte die Familie wie<strong>der</strong> in Hamburg. Obwohl Egon<br />

Schild in dieser Zeit wie<strong>der</strong> erwerbstätig war, die Familie also über genügend<br />

Geld verfügte, be<strong>kam</strong>en auch die Schilds die allgemeine Lebens<strong>mit</strong>telknappheit<br />

<strong>zu</strong> spüren; Frau Schild ber<strong>ich</strong>tet, daß sie sehr gehungert hätten. Auch unter<br />

dem eiskalten Winter 1946/47 <strong>hatte</strong> die Familie Schild sehr <strong>zu</strong> leiden.<br />

Dennoch ist ihr diese Zeit auch in guter Erinnerung. Sie meint rückblickend,<br />

daß „es immer wun<strong>der</strong>schön und sehr gemütl<strong>ich</strong>* 4<br />

gewesen sei. Hier muß<br />

wohl offen bleiben, ob Frau Schild damals schon ihre Lebenssituation „herrl<strong>ich</strong>*<br />

4<br />

fand o<strong>der</strong> ob dies <strong>mehr</strong> die romantisierend-verklärende Erinnerung <strong>der</strong><br />

heute Siebzigjährigen ist. Jedenfalls konnten die Schilds langsam <strong>zu</strong> einem<br />

normalen Familienalltag <strong>zu</strong>rückkehren.<br />

2.1.6 Das politische Erwachen Erika Schilds<br />

1948 siedelte Familie Schild nach Bochum um. Hier fand sie Kontakt <strong>zu</strong> einem<br />

„evangelischen philosophischen Kreis 44 , <strong>der</strong> von einer Theologin geleitet<br />

wurde und <strong>der</strong> CDU nahestand. Im Rahmen dieses Gesprächskreises be<strong>kam</strong><br />

Erika Schild die Gelegenheit, in Bonn an <strong>der</strong> ersten Debatte über die Wie<strong>der</strong>bewaffnung<br />

<strong>der</strong> Bundesrepublik teil<strong>zu</strong>nehmen. Dort lernte sie auch einige <strong>der</strong><br />

führenden politischen Persönl<strong>ich</strong>keiten <strong>der</strong> ersten Nachkriegsjahre, unter ihnen<br />

Adenauer und Schumacher, kennen, wie sie stolz ber<strong>ich</strong>tet. Ihrer Meinung<br />

nach erhielt sie hier die ersten Anstöße <strong>zu</strong> einer politischen Auseinan<strong>der</strong>set<strong>zu</strong>ng:<br />

„und <strong>ich</strong> wurde auch durch das Bundeshaus geschleift und durfte <strong>zu</strong>hörn und sowas und das,<br />

fand <strong>ich</strong> schon, da=bin = <strong>ich</strong> eigentl<strong>ich</strong> war s<strong>ich</strong>er <strong>der</strong> Anstoß- wach geworden hah =<br />

denen=schon mal <strong>zu</strong>gehört n<strong>ich</strong> o<strong>der</strong> m<strong>ich</strong> interessiert" (57/8)<br />

Zur Wie<strong>der</strong>bewaffnungsdebatte nimmt Frau Schild in <strong>der</strong> obigen Textpassage<br />

keine Stellung, doch wäre es gerade diese Debatte gewesen, die bei ihr,<br />

die selbst unter dem <strong>Krieg</strong> gelitten hat, eine Reflexion ihrer Erfahrungen im<br />

politischen Kontext hätte in Gang setzen können. Sie meint heute nur, daß ihr<br />

damals nie <strong>der</strong> Gedanke gekommen sei, daß die Wie<strong>der</strong>bewaffnung <strong>der</strong> Bundesrepublik<br />

<strong>zu</strong> einem neuen <strong>Krieg</strong> führen könne. Liest man ihren Ber<strong>ich</strong>t über<br />

diese Zeit, scheint sie hauptsächl<strong>ich</strong> von dem sozialen Prestige <strong>der</strong> Personen,<br />

<strong>mit</strong> denen sie <strong>zu</strong>sammen<strong>kam</strong>, beeindruckt gewesen <strong>zu</strong> sein.<br />

Trotz ihrer Kontakte <strong>zu</strong> CDU-Mitglie<strong>der</strong>n trat Erika Schild <strong>der</strong> CDU n<strong>ich</strong>t<br />

bei. Sie scheint viel<strong>mehr</strong> in einer gewissen Distanz <strong>zu</strong> dieser Partei geblieben<br />

<strong>zu</strong> sein. Jedenfalls begründet sie ihren n<strong>ich</strong>t erfolgten Eintritt in die CDU <strong>mit</strong><br />

ihrer sozialdemokratischen Herkunft, erinnert in diesem Zusammenhang an<br />

ihren Vater. <strong>Als</strong> „Kind vom Sozialdemokraten 44 habe sie „die Nase voll 44 von<br />

<strong>der</strong> Kirche gehabt und sei überhaupt schon „von Zuhause infiziert 44<br />

gewesen.<br />

45


Nach Frau Schilds Ans<strong>ich</strong>t waren diese ersten Berührungen <strong>mit</strong> <strong>der</strong> großen<br />

Politik ein Anstoß, „wach" <strong>zu</strong> werden und aus dem Hausfrauendasein heraus<strong>zu</strong>treten.<br />

Den eigentl<strong>ich</strong>en Wendepunkt, <strong>der</strong> ihr <strong>zu</strong> einem verän<strong>der</strong>ten politischen<br />

Bewußtsein verholfen habe, sieht sie jedoch in ihrer Beschäftigung als<br />

Sekretärin am Bergbau-Museum in Bochum von 1967 an.<br />

In <strong>der</strong> Zwischenzeit <strong>hatte</strong> Erika Schild 1953, <strong>mit</strong> 37 Jahren, ihr drittes Kind,<br />

eine Tochter, <strong>zu</strong>r Welt gebracht. Vier Jahre später, 1957, nahm sie eine Stelle<br />

als Sekretärin in einem Industriebetrieb an. Dort blieb sie zehn Jahre.<br />

Seit 1966 arbeitete sie als Sekretätin am Bergbau-Museum in Bochum, wo<br />

sie <strong>mit</strong> jungen, sozialdemokratischen Historikern in Berührung <strong>kam</strong> und u.a.<br />

für ein Projekt <strong>zu</strong>r Gesch<strong>ich</strong>te des Wi<strong>der</strong>stands gegen den Nationalsozialismus<br />

im Ruhrgebiet tätig war. Ihre Berufstätigkeit an diesem Museum stellt für<br />

sie einen Wendepunkt in ihrem politischen Engagement dar:<br />

„eigentl<strong>ich</strong> erst durch das Museum daß <strong>ich</strong> so (2) wach geworden bin, is ja klar die Themen lagen<br />

aufm Tisch n<strong>ich</strong> und <strong>ich</strong> mußte m<strong>ich</strong> da<strong>mit</strong> beschäftigen tats=auch=gern=und =<br />

da=gingen=mir=irgend wie=erst=die=Augen=auf' (59/35)<br />

Es war die politisch aktive Zeit <strong>der</strong> Studentenbewegung, in <strong>der</strong> auch eine<br />

kritische Beschäftigung <strong>mit</strong> dem Nationalsozialismus gefor<strong>der</strong>t wurde. Frau<br />

Schild meint, dadurch <strong>zu</strong>r Auseinan<strong>der</strong>set<strong>zu</strong>ng ermuntert worden <strong>zu</strong> sein —<br />

die Themen hätten, wie sie sagt, „auf dem Tisch" gelegen. Zu den Themen,<br />

auf die sie „hingestupst" worden sei, habe auch das „Dritte Re<strong>ich</strong>" und insbeson<strong>der</strong>e<br />

<strong>der</strong> sozialdemokratische Wi<strong>der</strong>stand gehört.<br />

Man könnte nun erwarten, daß Frau Schild im Interview auch inhaltl<strong>ich</strong> <strong>zu</strong><br />

ihrer Politisierung Stellung nimmt, daß sie uns ihre Reflexion des Nationalsozialismus<br />

und ihre heutige Haltung verdeutl<strong>ich</strong>t. Doch dies bleibt aus. Dagegen<br />

ist sie bemüht, von s<strong>ich</strong> das Bild <strong>der</strong> unpolitischen Hausfrau und Mutter<br />

<strong>zu</strong> ze<strong>ich</strong>nen. Es ist diese Perspektive, die die Auswahl und den Darstellungsmodus<br />

<strong>der</strong> erzählten Gesch<strong>ich</strong>ten steuert. Frau Schild entpolitisiert da<strong>mit</strong> ihre<br />

Vergangenheit: Sie war keine aktive Nationalsozialistin und fühlt s<strong>ich</strong> n<strong>ich</strong>t in<br />

den Nationalsozialismus verstrickt. Der <strong>Krieg</strong> ist n<strong>ich</strong>t die Folge nationalsozialistischer<br />

Politik, son<strong>der</strong>n br<strong>ich</strong>t wie ein Naturereignis in ihren Alltag ein.<br />

Sie gehört dem großen Kollektiv <strong>der</strong> duldenden Mitläuferinnen an. Dennoch<br />

kann s<strong>ich</strong> auch Frau Schild dem Gefühl <strong>der</strong> Mitverantwortung n<strong>ich</strong>t völlig entziehen.<br />

Dies wird deutl<strong>ich</strong>, als <strong>der</strong> nationalsozialistische Völkermord noch<br />

einmal thematisch wird. In diesem Fall wird dieses Thema von einer <strong>der</strong> beiden<br />

Interviewerinnen angesprochen, nachdem Frau Schild zwar schon an früheren<br />

Stellen über jüdische Mitbürger geredet, s<strong>ich</strong> einer Auseinan<strong>der</strong>set<strong>zu</strong>ng<br />

<strong>mit</strong> dem nationalsozialistischen Massenmord aber weitgehend durch den Hinweis<br />

auf die Emigrationsmögl<strong>ich</strong>keit entzogen hat. Nun gefragt, wann sie<br />

denn von den Verbrechen des Nationalsozialismus erfahren habe, antwortet<br />

sie, während <strong>der</strong> zwölfjährigen nationalsozialistischen Herrschaft n<strong>ich</strong>ts da-<br />

46


von gewußt <strong>zu</strong> haben. Die Formel „wir haben von n<strong>ich</strong>ts gewußt" ist von <strong>der</strong><br />

bundesrepublikanischen Bevölkerung immer wie<strong>der</strong> <strong>zu</strong> hören. Man kann s<strong>ich</strong><br />

jedoch fragen, worauf s<strong>ich</strong> diese Unwissenheit bezieht. Frau Schild wußte jedenfalls<br />

verhältnismäßig viel, hat sie doch die Bedrängnis <strong>der</strong> jüdischen Bevölkerung<br />

schon vor <strong>Krieg</strong>sbeginn hautnah erlebt. Während <strong>der</strong> Zeit bei Verwandten<br />

in Weimar hat sie in un<strong>mit</strong>telbarer Nähe des Konzentrationslagers<br />

Buchenwald gelebt. Im Interview hebt sie hervor, daß sie jedoch erst durch die<br />

Nürnberger Prozesse „davon" erfahren habe. Doch wovon ist die Rede? Mit<br />

„davon" meint Erika Schild vermutl<strong>ich</strong> die Zahl <strong>der</strong> Ermordeten und die Vorgehensweise<br />

<strong>der</strong> Mör<strong>der</strong>, die Vern<strong>ich</strong>tung durch Vergasung.<br />

Von den Abtransporten <strong>der</strong> jüdischen Bevölkerung und dem ihr drohenden<br />

Unheil hat sie jedenfalls in gewisser Weise Kenntnis gehabt. Beispielsweise<br />

erzählt sie — allerdings unter dem Motto, „davon n<strong>ich</strong>ts gewußt <strong>zu</strong> haben" —<br />

von einer Situation, in <strong>der</strong> ihr Mann auf dem Heimweg von seinem Arbeitsplatz<br />

<strong>zu</strong>fallig in einen Transport jüdischer Bürger geraten war:<br />

B: „und da war <strong>der</strong> Zug voll von Juden die in die Ostsee auf die Hermann Guslow hieß die glaub<br />

<strong>ich</strong> gebracht wurden und da alle ä ä umgebracht worden sind, er hat des n<strong>ich</strong>t gewußtalso=er=stieg=in<br />

den Zug wie immer (1) er sachte er <strong>kam</strong> dann nach Hause da w — da war<br />

so erledigt also, und das war dann aber schon, fast Kriechsende n<strong>ich</strong>t da hat<br />

I: hm<br />

B: man dann wahrscheinl<strong>ich</strong> diese letzten äh — Juden ja woher sind die denn gekommen von<br />

Magdeburg (1) <strong>ich</strong> weiß n<strong>ich</strong> ob da en KZ war, die=hat=man=dann aber auch schreckl<strong>ich</strong>,<br />

umgebra- hernach wurde das so erzählt daß die —" (51 /25)<br />

Unklar ist, warum ihr Mann nach seinem Erlebnis „so erledigt" war, wenn<br />

er damals von n<strong>ich</strong>ts gewußt hat. Klar ist nur, daß er vor dem erschrak, was<br />

er da sah — und dies mag <strong>mehr</strong> gewesen sein, als er bisher gewußt <strong>hatte</strong>. Frau<br />

Schild verbirgt n<strong>ich</strong>t, daß sie von Konzentrationslagern wußte. Dieses Wissen<br />

ist für sie aber n<strong>ich</strong>t sehr bedrückend, da sie s<strong>ich</strong> als jemand darstellt, die damals<br />

naiv und unpolitisch <strong>der</strong> NS-Propaganda vertraute. In diesem Zusammenhang<br />

erinnert sie s<strong>ich</strong> an den antibritischen Propagandafilm „Ohm Krüger",<br />

in dem dargestellt wurde, daß die Englän<strong>der</strong> während des Burenkrieges<br />

die Konzentrationslager „erfunden" hätten. Auch erzählt sie über eine Vergeltungsaktion<br />

<strong>der</strong> Deutschen, die sie entsprechend <strong>der</strong> NS-Propaganda damals<br />

n<strong>ich</strong>t weiter hinterfragt habe:<br />

B: „wir wurden ja gefuttert <strong>zu</strong>m Beispiel <strong>ich</strong>=weiß=n<strong>ich</strong> ob Ihnen das en Begriff noch is Lidice<br />

I: hmm<br />

Β: Lidice is en Dorf in Polen gewesen und da harn se <strong>ich</strong> glaube jedes — zweiten o<strong>der</strong> so erschossen<br />

und Kin<strong>der</strong> — WIR, wir die Deutschen erschossen n<strong>ich</strong> ((holt Luft)) weil die Deutschen<br />

da irgendwie, heimtückische o<strong>der</strong> sowas umgelecht wurden so wurd es erzählt n<strong>ich</strong> und da<br />

harn wir dann auch jeden zweiten und auch Kin<strong>der</strong> Lidices (1)<br />

erschossen=<strong>ich</strong>=weiß=aber=auch gar n<strong>ich</strong>t daß man s<strong>ich</strong> da n<strong>ich</strong> <strong>mehr</strong> Gedanken drüber<br />

gemacht werdn, WARSCHAU das Ghetto das wußten wir doch gar n<strong>ich</strong>t" (51 /11)<br />

Zwar bekennt Frau Schild, diese Aktion damals n<strong>ich</strong>t hinterfragt <strong>zu</strong> haben,<br />

doch wird im Zitat deutl<strong>ich</strong>, daß sie s<strong>ich</strong> bis heute noch n<strong>ich</strong>t genauer <strong>mit</strong> dem<br />

47


Geschehenen auseinan<strong>der</strong>gesetzt hat, denn ihre Ausführungen stimmen <strong>mit</strong><br />

den historischen Tatsachen n<strong>ich</strong>t überein. Ihre Darstellung einer Vergeltungsaktion<br />

läßt eher an den „Bromberger Blutsonntag" denken, bei dem in Bromberg<br />

polnische Geiseln als Vergeltung für polnische Übergriffe auf Deutsche<br />

umgebracht worden sind. Das Dorf Lidice, das entgegen Frau Schilds Darstellung<br />

n<strong>ich</strong>t in Polen, son<strong>der</strong>n in Böhmen liegt, wurde dagegen am 10. Juni<br />

1942 von <strong>der</strong> SS als „Vergeltung" für das Attentat auf Heydr<strong>ich</strong> zerstört. Die<br />

Männer wurden erschossen, die Frauen und Kin<strong>der</strong> in ein Konzentrationslager<br />

verschleppt. Lassen wir diese Verwechselung dahingestellt. Vermutl<strong>ich</strong><br />

vermischt Frau Schild ihr heutiges Wissen <strong>mit</strong> <strong>der</strong> damaligen propagandistischen<br />

Ausschlachtung von Übergriffen <strong>der</strong> polnischen Bevölkerung auf Deutsche<br />

in Polen. Zu ihrer Entlastung führt sie jedenfalls an, von <strong>der</strong> Propaganda<br />

so „gefüttert" worden <strong>zu</strong> sein, daß sie s<strong>ich</strong> keine Gedanken <strong>mehr</strong> gemacht<br />

habe. Auffallig ist im obigen Zitat die Verwendung des Pronomens: Wir, die<br />

Deutschen also, hätten die Greueltaten vollbracht. Erika Schild bezieht s<strong>ich</strong> in<br />

dieses Kollektiv <strong>mit</strong> ein. Sie grenzt hier also n<strong>ich</strong>t die „unschuldigen" Deutschen<br />

von den schuldigen Nationalsozialisten ab. Heute kann sie s<strong>ich</strong> n<strong>ich</strong>t<br />

<strong>mehr</strong> erklären, warum sie n<strong>ich</strong>t weiter gefragt und gedacht hätten. Dahinter<br />

steht u.E. auch ein teilweises Eingeständnis einer eigenen Verantwortung —<br />

<strong>zu</strong>mindest für den kollektiven Verleugnungsprozeß, an dem sie <strong>mit</strong>gewirkt<br />

hat. Im Interview ist Erika Schild jedenfalls bemüht, ihre eigene Bereitschaft<br />

<strong>zu</strong> demonstrieren, s<strong>ich</strong> <strong>mit</strong> dem Schicksal <strong>der</strong> Juden auseinan<strong>der</strong><strong>zu</strong>setzen. Sie<br />

erzählt, wie sie anläßl<strong>ich</strong> einer Mittelmeerkreuzfahrt Israel besucht hat und<br />

dort <strong>mit</strong> Israelis polnischer Herkunft ins Gespräch <strong>kam</strong>:<br />

„vor dem Schiff im Hafen da war ein, ein Stand son=son, ein Stand da war ne alte Frau und<br />

η alter Mann, die vielle<strong>ich</strong>t gar n<strong>ich</strong> so alt warn, aber sie warn auch aus — sie warn polnische Juden<br />

sind hergekommen n<strong>ich</strong> und <strong>ich</strong> unterhielt m<strong>ich</strong>=<strong>mit</strong>=denen weil <strong>ich</strong> immer neugierig bin<br />

un sowas auch <strong>zu</strong> erfahren und kaufte ihr ganz viel ab und mobilisierte das ganze Schiff un die<br />

Passagiere daß sie da kauften un=wir=ham=den=ganzen=Stand=leer=gekauft= <strong>ich</strong>=hab=noch=ne=entzückende=Abendtasche=da=gekauft<br />

und die Frau umarmte m<strong>ich</strong> dann er wollte<br />

n<strong>ich</strong>ts wissen <strong>der</strong> Mann war, verbittert aber sie, umarmte m<strong>ich</strong> dann und sagte /küßte m<strong>ich</strong><br />

((leise)) und sachte Shalom=Shalom <strong>ich</strong> weiß Sie kommen wie<strong>der</strong>" (53/22)<br />

Frau Schild beze<strong>ich</strong>net in dieser Sequenz das spezifische Objekt ihrer Neugierde<br />

n<strong>ich</strong>t näher, son<strong>der</strong>n beläßt es bei dem Hinweis, daß sie immer neugierig<br />

sei, „sowas" <strong>zu</strong> hören. In diesem Gespräch erfuhr sie, daß sie es <strong>mit</strong> polnischen<br />

Überlebenden <strong>der</strong> Shoa <strong>zu</strong> tun <strong>hatte</strong>. <strong>Als</strong> Reaktion darauf mobilisierte<br />

sie ihre Mitpassagiere und kaufte „den ganzen Stand leer". Sie ist stolz, dem<br />

Ehepaar <strong>zu</strong> einer hohen Tageseinnahme verholfen <strong>zu</strong> haben. Diese hilflos anmutende<br />

Aktion scheint Ausdruck ihres Bedürfnisses, s<strong>ich</strong> von ihrer Mitschuld<br />

<strong>zu</strong> befreien und vor allem durch die Sympathie eines Menschen jüdischen<br />

Glaubens entlastet <strong>zu</strong> werden. Dahinter steht die Hoffnung, heute ein<br />

Stück <strong>der</strong> großen Schuld von damals abtragen <strong>zu</strong> können. Dies erfor<strong>der</strong>t jedoch,<br />

daß die jüdischen Menschen diese Hilfe auch akzeptieren und dafür<br />

48


dankbar sind und n<strong>ich</strong>t — wie dort geschehen — ihr Angebot verbittert ablehnen.<br />

Neben <strong>der</strong> Beteuerung, „von n<strong>ich</strong>ts gewußt <strong>zu</strong> haben", versucht Frau<br />

Schild, die politische Verantwortung <strong>der</strong> Deutschen durch den Hinweis <strong>zu</strong> relativieren,<br />

daß solche Verbrechen auch von Angehörigen an<strong>der</strong>er Nationen<br />

begangen wurden und werden. Dies ist <strong>der</strong> Versuch, die Deutschen als Kollektiv<br />

<strong>zu</strong> entlasten, die Verbrechen des Nationalsozialismus als Problem <strong>der</strong><br />

menschl<strong>ich</strong>en Spezies schlechthin erscheinen <strong>zu</strong> lassen und s<strong>ich</strong> da<strong>mit</strong> <strong>der</strong><br />

Frage <strong>der</strong> moralischen und politischen Haftung <strong>der</strong> Deutschen n<strong>ich</strong>t steilen <strong>zu</strong><br />

müssen:<br />

B: „aber das können Sie glauben wenn Ihnen jemand sagt daß er davon n<strong>ich</strong>ts gewußt hat wirkl<strong>ich</strong><br />

(2) wenn <strong>ich</strong> mir vorstelle <strong>ich</strong> hab den Film gesehn wo die da vergast wurden /o<strong>der</strong> die<br />

((nuschelt)) (1) die Gas<strong>kam</strong>mer=sie- also schreckl<strong>ich</strong>=schreckl<strong>ich</strong><br />

I: also man kanns glaub <strong>ich</strong> auch nie begreifen, <strong>ich</strong> hab m<strong>ich</strong> ja jetzt jahrelang da<strong>mit</strong> auseinan<strong>der</strong>gesetzt<br />

—<br />

B: NUR, scheint mir es is gar n<strong>ich</strong>, so einzigartig wie es uns vielle<strong>ich</strong>t jetzt, scheint w — wir<br />

sind = wirkl<strong>ich</strong>=schwer=man=hälLs=n<strong>ich</strong>t=für mögl<strong>ich</strong> glauben=Sie woan<strong>der</strong>s gibt es<br />

auch so schlimme Sachen n<strong>ich</strong> mal zwischen Juden also Afghanistan" (53/40)<br />

2.1.7 Die biographische Gesamts<strong>ich</strong>t von Erika Schild<br />

„Ich war verliebt und verlobt und verheiratet und kr<strong>ich</strong>te Kin<strong>der</strong> und da<strong>mit</strong><br />

war mein Horizont total erschöpft".<br />

Auf diesen Nenner bringt Erika Schild ihr Leben während des „Dritten Re<strong>ich</strong>es".<br />

Während sie in den späteren Jahren ihren „Horizont" erweitert, s<strong>ich</strong><br />

auch politisch interessiert hat, war ihr Leben während des Nationalsozialismus<br />

ausschließl<strong>ich</strong> durch ihre Rolle als Hausfrau und Mutter bestimmt. Die<br />

Perspektive <strong>der</strong> unpolitischen Hausfrau und Mutter konstituiert sowohl Erika<br />

Schilds Erzählung über den familialen biographischen Strang als auch über<br />

die gesellschaftl<strong>ich</strong>en Verhältnisse und den <strong>Krieg</strong>sverlauf.<br />

Frau Schilds Erleben <strong>der</strong> gesellschaftl<strong>ich</strong>-politischen Rahmenbedingungen<br />

ihres Lebens war insbeson<strong>der</strong>e bis <strong>zu</strong>m <strong>Krieg</strong>sbeginn maßgebl<strong>ich</strong> dadurch geprägt,<br />

dem proletarischen Milieu ihres Elternhauses den Rücken <strong>zu</strong> kehren<br />

und sozial auf<strong>zu</strong>steigen. Ihr Streben nach Loslösung und Abwendung vom<br />

proletarischen Milieu ließ auch keine Identifikation <strong>mit</strong> <strong>der</strong> politischen Überzeugung<br />

des Vaters <strong>zu</strong>. Sie orientierte s<strong>ich</strong> jedoch n<strong>ich</strong>t an einer an<strong>der</strong>en politischen<br />

Weltanschauung, sie orientierte s<strong>ich</strong> nur „weg" vom Politischen.<br />

Wie für viele an<strong>der</strong>e war <strong>der</strong> Weg nach oben für sie n<strong>ich</strong>t le<strong>ich</strong>t. Sie gehörte<br />

in <strong>der</strong> Schule <strong>zu</strong> den Außenseiterinnen, mußte ihre Ausbildungswünsche aufgeben<br />

und dann ohne berufl<strong>ich</strong>e Qualifikation für ihren Lebensunterhalt sorgen.<br />

Diese biographischen Erfahrungen haben, so kann man annehmen, u.a.<br />

da<strong>zu</strong> geführt, daß Erika Schild hart gegen s<strong>ich</strong> selbst wurde, s<strong>ich</strong> n<strong>ich</strong>t <strong>zu</strong>gestehen<br />

konnte, unter ihrem Leben und ihren Erlebnissen <strong>zu</strong> leiden.<br />

49


Der Zweite Weltkrieg begann, als Erika Schild gerade verheiratet war und<br />

ihr Leben s<strong>ich</strong> hätte konsolidieren sollen. In den nächsten Jahren wirkte s<strong>ich</strong><br />

<strong>der</strong> <strong>Krieg</strong> nachhaltig auf ihre Lebensführung aus: Die Familie wurde ausgebombt,<br />

mußte ihren Wohnort verlassen und <strong>mit</strong> <strong>der</strong> ständigen Lebensbedrohung<br />

leben. In dieser Situation, als Mutter zweier Kin<strong>der</strong>, von denen eines behin<strong>der</strong>t<br />

war und <strong>der</strong> beson<strong>der</strong>en Fürsorge seiner Mutter bedurfte, wurde Erika<br />

Schilds gesamte Kraft von <strong>der</strong> Aufrechterhaltung <strong>der</strong> Alltagsroutinen absorbiert.<br />

Zum Nachdenken blieb wenig Zeit. Insofern ist die Verengung ihrer<br />

Perspektive auf die <strong>der</strong> unpolitischen Hausfrau und Mutter naheliegend: ihr<br />

damaliges Erleben <strong>der</strong> <strong>Krieg</strong>sjahre war durch diese Rolle bestimmt.<br />

Das Interview legt uns nahe, Erika Schild habe s<strong>ich</strong> damals <strong>mit</strong> den ideologischen<br />

Zielen und Idealen des Nationalsozialismus n<strong>ich</strong>t identifiziert und<br />

fühlte s<strong>ich</strong> deshalb bis heute n<strong>ich</strong>t in die politischen Umstände ihres Lebens<br />

verstrickt. Doch sollten wir uns n<strong>ich</strong>t all<strong>zu</strong> bereitwillig <strong>mit</strong> dieser Interpretation<br />

<strong>zu</strong>frieden geben. Warum, so könnte man fragen, muß sie das Bild <strong>der</strong> unpolitischen<br />

Hausfrau und Mutter, <strong>der</strong>en Horizont s<strong>ich</strong> in Ehe und Familie erschöpfte,<br />

dann so strapazieren? Hat diese Perspektive n<strong>ich</strong>t noch eine tiefergehende<br />

Bedeutung für Erika Schilds Auseinan<strong>der</strong>set<strong>zu</strong>ng <strong>mit</strong> <strong>der</strong> nationalsozialistischen<br />

Vergangenheit? Wir meinen, daß Frau Schild dieses Bild ihrer<br />

selbst benötigt, um s<strong>ich</strong> <strong>der</strong> weiteren Reflexion ihrer Vergangenheit <strong>zu</strong> entziehen.<br />

Mit dem Selbstbild <strong>der</strong> unpolitischen Hausfrau und Mutter konnte und<br />

kann sie s<strong>ich</strong> selbst beruhigen. Wer unpolitisch war, lautet die dahinterliegende<br />

Argumentation, trägt für die Verbrechen keine Verantwortung. Ihre Erinnerungen<br />

an den nationalsozialistischen Terror gegenüber <strong>der</strong> jüdischen Bevölkerung,<br />

den sie als Angestellte eines jüdischen Geschäfts und als Frau eines<br />

Spediteurs, <strong>der</strong> wohl <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Arisierung jüdischen Besitzes <strong>zu</strong> tun <strong>hatte</strong>,<br />

selbst erlebt hat, bedrücken sie deshalb kaum. Sie beruhigt s<strong>ich</strong> <strong>mit</strong> dem<br />

Schein-Entlastungsargument <strong>der</strong> Auswan<strong>der</strong>ungsmögl<strong>ich</strong>keit.<br />

Mit dieser Reparaturstrategie, die wir „Entpolitisierung" nennen, soll die<br />

NS-Vergangenheit wie<strong>der</strong> normalisiert werden. Das Ungewöhnl<strong>ich</strong>e an Frau<br />

Schilds Rekonstruktion ihrer Lebensgesch<strong>ich</strong>te ist die Durchgängigkeit, <strong>mit</strong><br />

<strong>der</strong> sie diese Strategie einsetzt, eine Mögl<strong>ich</strong>keit, die s<strong>ich</strong> wegen des Geschlechtsrollenverständnisses<br />

eher Frauen als Männern anbietet. Frau Schild<br />

macht s<strong>ich</strong> selbst die Stereotypen <strong>der</strong> unwissenden, naiven Frau ohne gesellschaftspolitischen<br />

Horizont <strong>zu</strong> eigen — eine „Beschränktheit", die ein Mann<br />

wohl kaum <strong>zu</strong> seiner Entlastung anführen würde. Diese sozial anerkannte<br />

„Beschränktheit" auf Kin<strong>der</strong> und Herd ist für sie ein „Schild", das sie von <strong>der</strong><br />

Reflexion ihrer Vergangenheit entlastet und sie vor <strong>der</strong> For<strong>der</strong>ung nach Legitimation<br />

und bohrenden Fragen nach <strong>der</strong> eigenen politischen Haftung schützt.<br />

Dieses „Schild", um diese Metapher noch weiter <strong>zu</strong> bemühen, hat auch durch<br />

den Prozeß ihrer Politisierung nach 1945 kaum Risse bekommen; ihr neu erwachendes<br />

Interesse fur Politik klammert entscheidende Aspekte des sogenannten<br />

Dritten Re<strong>ich</strong>es aus. Auch ihre Umwelt wird ihr n<strong>ich</strong>t auferlegt ha-<br />

50


en, die aufgebauten Schutzmauern <strong>zu</strong> durchbrechen. Sie kann das Bild <strong>der</strong><br />

unpolitischen Hausfrau und Mutter ja gerade deshalb vermeintl<strong>ich</strong> ohne Ges<strong>ich</strong>tsverlust<br />

bemühen, weil es ein gesellschaftl<strong>ich</strong> auch heute noch anerkanntes<br />

Stereotyp ist.<br />

Anmerkungen<br />

1 <strong>Als</strong> „Freidenker" werden solche Menschen beze<strong>ich</strong>net, die ihr Denken nur von den Gesetzen<br />

des menschl<strong>ich</strong>en Verstandes abhängig wissen wollen und s<strong>ich</strong> n<strong>ich</strong>t dem Glaubenszwang einer<br />

Religion unterwerfen. <strong>Als</strong> Bewegung erstarkte das Frcidenkcrtum vor allem im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t<br />

unter dem Einfluß <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Naturwissenschaften und des Darwinismus.<br />

2 Die Summe von 5000 Re<strong>ich</strong>smark, von <strong>der</strong> in dem Zitat die Rede ist, bezieht s<strong>ich</strong> nach den<br />

Verordnungen von 1938 allerdings n<strong>ich</strong>t auf die Summe, die die jüdische Bevölkerung <strong>mit</strong> ins<br />

Ausland nehmen durfte, son<strong>der</strong>n spielte eine Rolle bei <strong>der</strong> „Verordnung über die Anmeldung<br />

jüdischen Vermögens", die eine Registrierung des Vermögensstandes eines jeden Deutschen<br />

jüdischen Glaubens o<strong>der</strong> Abstammung vorsah, sofern er die Summe von 5000 Re<strong>ich</strong>smark<br />

überschritt. Zum Vermögen gehörten sämtl<strong>ich</strong>e Werte wie Schmuck und Kunstgegenstände,<br />

aber auch Renten- und Versorgungsansprüche. Die Ausführungen <strong>der</strong> Historiker Joachim Meynert<br />

und Friedhelm Schäfer machen deutl<strong>ich</strong>, welch geringe Mögl<strong>ich</strong>keiten <strong>der</strong> jüdischen<br />

Bevölkerung blieben, Bargeld und Wertgegenstände ins Ausland aus<strong>zu</strong>führen: „Bereits vor<br />

den im Zuge des Novemberpogroms erlassenen Verordnungen bot die Emigration dem deutschen<br />

Re<strong>ich</strong> <strong>mit</strong> seiner allgemein gegen die Ausreise von Deviseninlän<strong>der</strong>n ger<strong>ich</strong>teten Devisenbewirtschaftung<br />

— alle inländischen Vermögenswerte waren devisenrechtl<strong>ich</strong> gesperrt,<br />

Bargeld durfte im Laufe <strong>der</strong> Jahre in immer geringerem Maße <strong>mit</strong>gefühlt werden — ein wirkungvolles<br />

Mittel, s<strong>ich</strong> des inländischen Vermögens <strong>der</strong> jüdischen Emigranten <strong>zu</strong> bemächtigen.<br />

Das jüdische Ehepaar K. und R.F. durfte Anfang 1939 bei <strong>der</strong> Ausreise nach England<br />

ledigl<strong>ich</strong> RM 15,— in bar <strong>mit</strong>nehmen, das gesamte übrige Vermögen mußte in Deutschland<br />

bleiben." (MeynertISchäfer 1983: 87)<br />

51


Sigrid<br />

Matzick<br />

2.2 Ursula Borke: „Dein persönl<strong>ich</strong>es Leben ... das ist vorbei"<br />

2.2.1 Vorbemerkung<br />

Der Rekonstruktion <strong>der</strong> Biographie von Frau Borke sollen ein kurzer Lebenslauf<br />

sowie einige Erläuterungen <strong>zu</strong>r beson<strong>der</strong>en historischen Situation Lettlands<br />

vorangestellt werden. Sie sind für das Verständnis ihrer Lebensgesch<strong>ich</strong>te<br />

erfor<strong>der</strong>l<strong>ich</strong> und sollen den Leserinnen vorab eine Orientierung ermögl<strong>ich</strong>en.<br />

Frau Borke gehörte <strong>der</strong> ca 3,8 %igen Min<strong>der</strong>heit <strong>der</strong> deutschen Bevölkerung<br />

Lettlands an (vgl. Garleff\976: 163), die außerordentl<strong>ich</strong> stark um ihre kulturelle<br />

und nationale Eigenständigkeit bemüht war und n<strong>ich</strong>t <strong>zu</strong>letzt durch ihre<br />

Position als ethnische Min<strong>der</strong>heit ein ausgeprägtes Nationalbewußtsein ausgebildet<br />

<strong>hatte</strong>. 1912 in <strong>der</strong> Nähe von Riga, <strong>der</strong> späteren Hauptstadt Lettlands, geboren,<br />

waren Kindheit und Jugend insbeson<strong>der</strong>e durch die Auswirkungen des<br />

Ersten Weltkrieges und <strong>der</strong> russischen Revolution geprägt. <strong>Als</strong> 1939 nach Abschluß<br />

des deutsch-sowjetischen N<strong>ich</strong>tangriffspaktes eine Beset<strong>zu</strong>ng Lettlands<br />

durch die Rote Armee bevorstand, verließ Frau Borke gle<strong>ich</strong> <strong>mit</strong> <strong>der</strong> ersten<br />

Umsiedlungsmaßnahme ihr Heimatland. Zunächst lebte sie in Breslau<br />

und anschließend in dem von den Deutschen okkupierten Posen. Anfang 1945<br />

flüchtete sie nach Süddeutschland und erlebte dort <strong>mit</strong> dem Einmarsch <strong>der</strong><br />

französischen Armee das <strong>Krieg</strong>sende.<br />

Bereits diese Kurzbiographie verdeutl<strong>ich</strong>t, daß Frau Borkes Lebenslauf<br />

maßgebl<strong>ich</strong> durch historisch relevante Ereignisse geprägt ist, die n<strong>ich</strong>t <strong>zu</strong>letzt<br />

<strong>zu</strong> ihrem Heimatverlust geführt haben. Zum besseren Verständnis <strong>der</strong> Lebensgesch<strong>ich</strong>te<br />

sollen die folgenden Erläuterungen <strong>zu</strong>r Gesch<strong>ich</strong>te Rigas und Lettlands<br />

dienen. Riga, im 13. Jh. als deutsche Stadt gegründet, stellte eine kulturelle<br />

Metropole <strong>der</strong> Ostseeprovinzen dar. Seit dem 18. Jh. unterstand die Stadt<br />

dem zaristischen Rußland.<br />

Während des Ersten Weltkrieges besetzten deutsche Truppen 1915 Kurland,<br />

im Februar 1918 Livland und Riga. Im November 1918 proklamierten die an<br />

Eigenstaatl<strong>ich</strong>keit interessierten Letten die unabhängige demokratische Republik<br />

Lettland <strong>mit</strong> Riga als Hauptstadt. Die Unabhängigkeit wurde Lettland jedoch<br />

noch n<strong>ich</strong>t <strong>zu</strong>gestanden, denn die sowjetische Armee besetzte das Land.<br />

Daraufhin bildete s<strong>ich</strong> in Lettland eine deutsch-baltische Landeswehr, die —<br />

unterstützt von deutschen Freicorps — Riga <strong>zu</strong>rückerobern konnte. 1920 <strong>kam</strong><br />

es dann erneut <strong>zu</strong>r Staatsgründung Lettlands, das aus Kurland und Livland gebildet<br />

wurde.<br />

Mit <strong>der</strong> demokratischen Regierungsform Lettlands stellten die baltischen<br />

Deutschen n<strong>ich</strong>t <strong>mehr</strong> traditionsgemäß die Führungssch<strong>ich</strong>t (vgl. Hehn 1982:<br />

52


9), denn ihre auf Stän<strong>der</strong>echt und Großgrundbesitz beruhende Stellung und<br />

ihre Position als Träger <strong>der</strong> autonomen Verfassungen <strong>der</strong> ehemaligen baltischen<br />

Provinzen war aufgehoben. Der Ausgang des Ersten Weltkrieges und<br />

die von <strong>der</strong> lettischen Regierung durchgeführten Agrarreformen im Jahr 1920<br />

<strong>hatte</strong>n bewirkt, daß <strong>der</strong> „ausschließl<strong>ich</strong> in <strong>der</strong> Hand des deutsch-baltischen<br />

Adels befindl<strong>ich</strong>e Großgrundbesitz" enteignet wurde (Garleff 1976: 5). Die<br />

Agrargesetzgebung sollte eine Umverteilung des Landbesitzes bewirken, die<br />

einerseits gegen den Einfluß <strong>der</strong> kommunistischen Sozial- und Wirtschaftspolitik<br />

ger<strong>ich</strong>tet war und an<strong>der</strong>erseits <strong>der</strong> bisherigen deutschen Führungssch<strong>ich</strong>t<br />

die wirtschaftl<strong>ich</strong>e Basis für ihren politischen Einfluß entziehen sollte (vgl.<br />

Rauch 1970: 80).<br />

Die Position <strong>der</strong> deutschen Min<strong>der</strong>heit, die wie an<strong>der</strong>e ethnische Min<strong>der</strong>heiten<br />

(Russen, Polen, Juden) bestimmte Rechte <strong>zu</strong>gestanden be<strong>kam</strong> (z.B. politische<br />

Vertretung im Parlament, Schulautonomie, Kulturautonomie), wurde<br />

nun in ihrer Bedeutung gemin<strong>der</strong>t. Nachdem die baltischen Deutschen <strong>mit</strong> <strong>der</strong><br />

Staatsgründung Lettlands offiziell <strong>zu</strong>r ethnischen Min<strong>der</strong>heit erklärt worden<br />

waren, konzentrierten sie s<strong>ich</strong> um so <strong>mehr</strong> auf die „Erhaltung ihres deutschen<br />

Volkstums" (vgl. Hehn 1982: 73).<br />

Das politische Leben in Lettland <strong>der</strong> zwanziger Jahre war durch kurzfristig<br />

amtierende Regierungen gekennze<strong>ich</strong>net. Verstärkt wurde die parlamentarische<br />

Krise durch die ungefähr ab 1929 spürbare Weltwirtschaftskrise, die s<strong>ich</strong><br />

in Absatzschwierigkeiten, erhöhter Arbeitslosigkeit und Preisrückgängen<br />

auswirkte. In dieser Krisensituation ergriff 1934 eine autoritäre Regierung <strong>mit</strong><br />

Unterstüt<strong>zu</strong>ng des Militärs die Macht, verhängte den <strong>Krieg</strong>s<strong>zu</strong>stand und erließ<br />

eine „lettländische Ermächtigungsverordnung" (vgl. Garleff 1976: 186).<br />

Es folgten bald darauf neben dem Verbot aller politischen Parteien auch erhebl<strong>ich</strong>e<br />

Einschränkungen <strong>der</strong> Rechte <strong>der</strong> deutschen Min<strong>der</strong>heit, z.B. Verbot<br />

des Gebrauchs <strong>der</strong> deutschen Sprache, Auflösung und Enteignung <strong>der</strong> alten<br />

deutschen Gilden, begrenzte berufl<strong>ich</strong>e und soziale Aufstiegsmögl<strong>ich</strong>keiten<br />

etc. (vgl. Hehn 1982: 410- Trotz dieser Einschränkungen gelang es den baltischen<br />

Deutschen, ihr Kultur- und Bildungswesen <strong>mit</strong> finanzieller Unterstüt<strong>zu</strong>ng<br />

aus dem Deutschen Re<strong>ich</strong> (durch das Auswärtige Amt, durch den Verein<br />

für die Auslandsdeutschen), die von 1933/34 an <strong>zu</strong>nahmen, aufrecht<strong>zu</strong>erhalten.<br />

Diese Unterstüt<strong>zu</strong>ngen sowie Aufenthalts- und Ausbildungsmögl<strong>ich</strong>keiten<br />

im Deutschen Re<strong>ich</strong> führten da<strong>zu</strong>, „daß s<strong>ich</strong> die nationalsozialistische<br />

Machtergreifung alsbald auch auf die Gestaltung <strong>der</strong> Beziehungen zwischen<br />

den baltischen Deutschen und dem Re<strong>ich</strong> aus<strong>zu</strong>wirken begann. Sie bewirkte<br />

eine Steigerung <strong>der</strong> Intensiät <strong>der</strong> Verbindungen und <strong>zu</strong>gle<strong>ich</strong>, daß die junge<br />

deutsch-baltische Generation unter den Einfluß und in den Sog <strong>der</strong> nationalsozialistischen<br />

Ideologie geriet 44 (Hehn 1982: 34).<br />

Die baltischen Deutschen r<strong>ich</strong>teten s<strong>ich</strong> <strong>zu</strong>nehmend nach dem nationalsozialistischen<br />

Deutschen Re<strong>ich</strong> aus und empfanden s<strong>ich</strong> aufgrund ihrer Nationalität<br />

diesem <strong>zu</strong>gehörig. Daher entschied s<strong>ich</strong> ein großer Teil <strong>der</strong> deutschen<br />

53


Bevölkerung bereits im Jahr 1939 für die Umsiedlung. Zudem befürchtete die<br />

deutsche Bevölkerung, nachdem <strong>der</strong> deutsch-sowjetische N<strong>ich</strong>tangriffspakt<br />

abgeschlossen war, unter sowjetische Herrschaft <strong>zu</strong> geraten (vgl. Myllyniemi<br />

1979: 540-<br />

Aufgrund des <strong>Hitler</strong>-Stalin-Paktes fiel Lettland im Juni 1940 an die Sowjetunion<br />

und wurde am 5.8.1940 als Sowjetrepublik eingeglie<strong>der</strong>t. Im Juli 1941<br />

wurde Lettland abermals von deutschen Truppen besetzt und 1944/45 von <strong>der</strong><br />

Roten Armee <strong>zu</strong>rückerobert.<br />

2.2.2 Kindheit: das ist also das Ausschlaggebende in meinem Leben'<br />

Frau Ursula Borke wurde 1912 in einem Vorort von Riga, <strong>der</strong> späteren Hauptstadt<br />

<strong>der</strong> 1920 gebildeten Republik Lettland, geboren und verbrachte dort<br />

Kindheit und Jugend. Wie sie <strong>mehr</strong>mals im Interview betont, stammt sie aus<br />

einer angesehenen Familie: beide Großväter seien sehr wohlhabende Kaufleute<br />

gewesen und hätten bedeutende Positionen gehabt.<br />

Ihr Vater <strong>hatte</strong> Theologie studiert und war als Pastor tätig. 1903 <strong>hatte</strong> er im<br />

Alter von etwa 30 Jahren Ursulas Mutter geheiratet. Wie wir den wenigen Informationen<br />

entnehmen können, die Frau Borke uns über ihre Mutter gibt, besaß<br />

diese musikalisches Talent, <strong>hatte</strong> eigentl<strong>ich</strong> Geigerin werden wollen, wofür<br />

sie vor <strong>der</strong> Heirat eine Ausbildung im Ausland absolviert <strong>hatte</strong>. Die Musik<br />

blieb jedoch nur ein Hobby, da sie s<strong>ich</strong> nach <strong>der</strong> Heirat hauptsächl<strong>ich</strong> dem<br />

Haushalt und ihren vier Kin<strong>der</strong>n widmete.<br />

1903 wurde Hanne, 1907 Arnold, 1912 Ursula und 1913 ihr jüngster Bru<strong>der</strong><br />

Fritz geboren. Frau Borkes Darstellung <strong>zu</strong>folge sind sie und ihre Geschwister<br />

zwar christl<strong>ich</strong> erzogen worden, hätten jedoch in dieser Beziehung keine<br />

strenge Erziehung erfahren. Ihr Vater habe s<strong>ich</strong> keineswegs pietistisch verhalten<br />

und sie beispielsweise auch n<strong>ich</strong>t <strong>zu</strong>r ständigen Teilnahme an seinen Gottesdiensten<br />

ermahnt. Insgesamt hätten sie eine schöne und unbeschwerte<br />

Kindheit verlebt, da insbeson<strong>der</strong>e ihr Vater, wenn auch an christl<strong>ich</strong>en Moralprinzipien<br />

orientiert, liberal gewesen sei. Vor allem Ursula und Fritz, die beiden<br />

„süßen Kleinen 44 , hätten s<strong>ich</strong> im Gegensatz <strong>zu</strong> ihren älteren Geschwistern<br />

viele Kin<strong>der</strong>stre<strong>ich</strong>e erlauben dürfen. Insbeson<strong>der</strong>e Ursula wurde offens<strong>ich</strong>tl<strong>ich</strong><br />

vom Vater bevor<strong>zu</strong>gt behandelt:<br />

„etwas hab <strong>ich</strong> einmal gehört da warn Sie ja Kind da behalten Sie sowas hab <strong>ich</strong> mal jehört wie<br />

meine Mutter <strong>zu</strong> ihm sachte, wenn das Kind am Vor<strong>mit</strong>tag dir sacht es will einen Ball haben dann<br />

hat es das am Nach<strong>mit</strong>tag so jeht das n<strong>ich</strong>" (K7/254) 1 .<br />

Die Zuneigung des Vaters <strong>zu</strong> seiner jüngeren Tochter vermochte Ursula für<br />

s<strong>ich</strong> und ihre Geschwister aus<strong>zu</strong>nutzen, „denn <strong>ich</strong> wußte ja auch wie <strong>ich</strong> meinen<br />

Vater um den Finger <strong>zu</strong> wickeln <strong>hatte</strong> 44<br />

(K7/265).<br />

Frau Borke meint heute von s<strong>ich</strong>, damals auch ein recht eigenwilliges Kind<br />

gewesen <strong>zu</strong> sein. Ihre Eltern hätten erzählt, sie sei oftmals n<strong>ich</strong>t le<strong>ich</strong>t <strong>zu</strong> len-<br />

54


ken gewesen: „wenn <strong>ich</strong> irgendwas n<strong>ich</strong>t wollte dann konnten se s<strong>ich</strong> auf en<br />

Kopf stellen". Sie habe in solchen Momenten ihren Eltern erklärt, sie habe<br />

„eine Gouvernante und das erlaubt meine Gouvernante n<strong>ich</strong>t 44 . Die Gouvernante,<br />

die nur in ihrer kindl<strong>ich</strong>en Phantasie existierte, habe im Badezimmer<br />

oben auf dem Wasserkessel gelebt und „Fräulein Luft 44<br />

geheißen. Ihr Vater<br />

„sachte, wenn Fräulein Luft n<strong>ich</strong>t erlaubt <strong>hatte</strong>, dann war die Welt <strong>zu</strong> Ende 44 ,<br />

aber „sie haben m<strong>ich</strong> <strong>mit</strong> Fräulein Luft leben lassen 44<br />

(K7/120).<br />

Mit dieser vorläufigen Charakterisierung ihres Elternhauses sei <strong>zu</strong>gle<strong>ich</strong><br />

auch die in <strong>der</strong> weiteren Lebensgesch<strong>ich</strong>te immer bedeuten<strong>der</strong> werdende<br />

Orientierung am Vater angedeutet. Diese wird verständl<strong>ich</strong>, wenn man Ursula<br />

Borkes Kindheitserfahrungen betrachtet.<br />

Frau Borke erzählt, daß ihre Kindheit maßgebl<strong>ich</strong> durch die Ereignisse<br />

während des Ersten Weltkrieges geprägt gewesen sei. Befragt nach ihren persönl<strong>ich</strong>en<br />

<strong>Krieg</strong>serfahrungen, beginnt sie ihre lebensgesch<strong>ich</strong>tl<strong>ich</strong>e Erzählung<br />

wie folgt:<br />

„und habe als Fünfjährige schon ahm den ganzen Ersten Weltkriech <strong>mit</strong>erlebt" (3/9)<br />

Auffallend und erklärungsbedürftig ist an ihrer einleitenden Äußerung, daß<br />

sie im Jahr 1917 im Alter von fünf Jahren den von 1914 bis 1918 andauernden<br />

ganzen Ersten Weltkrieg <strong>mit</strong>erlebt haben will.<br />

Zunächst ist davon aus<strong>zu</strong>gehen, daß Frau Borke den Interviewerinnen offens<strong>ich</strong>tl<strong>ich</strong><br />

verdeutl<strong>ich</strong>en will, bereits als Kind unvergeßl<strong>ich</strong>e und einschneidende<br />

<strong>Krieg</strong>serfahrungen gemacht <strong>zu</strong> haben. Diese werden offenbar <strong>mit</strong> dem<br />

Jahr 1917 sowie durch ihre beson<strong>der</strong>e Bedeutung insgesamt <strong>mit</strong> dem Ersten<br />

Weltkrieg verbunden. 1917 war das Jahr <strong>der</strong> Oktoberrevolution in Rußland,<br />

die auch in Lettland <strong>zu</strong> starken Kämpfen führte. Frau Borke bezieht s<strong>ich</strong> also<br />

zeitl<strong>ich</strong> auf die Phase, in <strong>der</strong> Riga von <strong>der</strong> Revolution betroffen und von <strong>der</strong><br />

Revolutionsarmee eingenommen worden war, bis die deutsche kaiserl<strong>ich</strong>e Armee<br />

1918 die Stadt besetzte. Ihre Erinnerungen an den Ersten Weltkrieg sind<br />

also an die Erfahrungen <strong>mit</strong> <strong>der</strong> revolutionären Phase und sowjetischen Besat<strong>zu</strong>ng<br />

Rigas verbunden. Ihre folgende Äußerung bestätigt uns diese Annahme:<br />

„mein Vater war also Pastor das <strong>hatte</strong> <strong>ich</strong> ja schon gesagt und <strong>ich</strong> <strong>hatte</strong> als Fünfjährige <strong>mit</strong>erlebt<br />

acht Haussuchungen und drei Verhaftungen von meinem Vater" (3 /11)<br />

Die <strong>der</strong> deutsch-baltischen Obersch<strong>ich</strong>t angehörende Familie Borke war<br />

also konkret von <strong>der</strong> revolutionären Umwäl<strong>zu</strong>ng Rußlands bedroht. Die Tatsache,<br />

daß Frau Borke den Beruf des Vaters wie<strong>der</strong>holt angibt und ihn hier im<br />

Zusammenhang <strong>mit</strong> Hausdurchsuchungen und Verhaftungen erwähnt, legt die<br />

Interpretation nahe, daß <strong>der</strong> Vater — vor dem Hintergrund <strong>der</strong> Durchset<strong>zu</strong>ng<br />

<strong>der</strong> marxistisch-leninistischen Weltanschauung — als Vertreter des protestantischen<br />

Glaubens politisch verfolgt wurde. Ob ihr Vater allein durch seinen<br />

Beruf bzw. seine Position gefährdet war o<strong>der</strong> ob er darüber hinaus auch politisch<br />

aktiv war und s<strong>ich</strong> gegen die marxistisch-leninistische Politik engagierte,<br />

läßt Frau Borke offen.<br />

55


Was hier für die Rekonstruktion <strong>der</strong> Biographie Frau Borkes relevant ist, ist<br />

ihre Erfahrung, im Alter von fünf Jahren die Gefahrdung ihres Vaters <strong>mit</strong>erlebt<br />

<strong>zu</strong> haben. Die Bedrohung des Vaters, die Trennung von ihm und seine vermutl<strong>ich</strong><br />

ständige Gefahrdung sind offens<strong>ich</strong>tl<strong>ich</strong> <strong>der</strong>art einschneidende Erfahrungen<br />

gewesen, daß Frau Borke die gesamte Zeit des Ersten Weltkrieges <strong>mit</strong><br />

den Erinnerungen an das Jahr 1917 bzw. konkret <strong>mit</strong> den Verhaftungen des Vaters<br />

von des Sowjets verbindet. Neben <strong>der</strong> Angst um den Vater wird sie auch<br />

eine Bedrohung <strong>der</strong> ganzen Familie empfunden haben.<br />

Diese Kindheitserfahrungen müssen sehr prägend gewesen sein, wie Frau<br />

Borke uns <strong>mit</strong> folgen<strong>der</strong> resümieren<strong>der</strong> Einschät<strong>zu</strong>ng verdeutl<strong>ich</strong>t: „dieses,<br />

das is also das Ausschlachjebende in meinem Leben". Ihre Äußerung enthält<br />

die Deutung, daß diese Erfahrungen ihr weiteres Leben entscheidend beeinflußt<br />

haben. Es läßt s<strong>ich</strong> vermuten, daß gerade diese <strong>zu</strong> einer intensiven<br />

Orientierung am Vater und gle<strong>ich</strong>zeitig <strong>zu</strong> einer starken Abneigung gegen<br />

seine Feinde geführt haben. Im Fortgang ihrer Erzählung zeigt s<strong>ich</strong>, daß sie<br />

ein tiefgehendes Ressentiment gegen die russische Bevölkerung und da<strong>mit</strong><br />

korrespondierend auch gegen den Kommunismus entwickelt hat:<br />

„<strong>ich</strong> hab ein Russentrauma und auch wenn <strong>ich</strong> un mir körperl<strong>ich</strong> ir-irjendwie schlecht geht<br />

o<strong>der</strong> sonstwas dann träum <strong>ich</strong> immer <strong>ich</strong> werd vom Russen verfolgt <strong>ich</strong> lauf vorm Russen, nech<br />

also dieses Trauma is jeblieben" (3/22)<br />

Bezieht man weitere Passagen des Interviews <strong>mit</strong> ein, so wird deutl<strong>ich</strong>, wie<br />

stark ihre Angst und Abneigung gegen die „Bolschewiken 44<br />

gewesen sein<br />

muß. Sogar auf ihren Vater hätten sie und ihre Geschwister, als dieser gerade<br />

aus <strong>der</strong> Haft entlassen und unrasiert nach Hause gekommen sei, einmal sehr<br />

erschreckt reagiert, weil sie ihn für einen „Bolschewiken 44<br />

hielten:<br />

„<strong>ich</strong> weiß nur wir sahen meinen Vater an <strong>der</strong> saß da <strong>mit</strong> nem großen Bart wir haben nur jebrüllt<br />

Bolschewik und wech warn wir" (8 /14)<br />

Ihre Angst vor den „Bolschewikenkerlen 44<br />

war hauptsächl<strong>ich</strong> in Erfahrungen<br />

<strong>der</strong> Hausdurchsuchungen und Verhaftungen des Vaters, <strong>der</strong> „drei Monate<br />

immer <strong>mit</strong> Abständen im Gefängnis 44<br />

saß, begründet.<br />

An die dritte, ihrer Meinung nach „schlimmste Verhaftung 44<br />

kann sie s<strong>ich</strong><br />

heute noch erinnern, da sie damals <strong>zu</strong>gesehen habe, wie ihr Vater <strong>zu</strong>sammen<br />

<strong>mit</strong> einem befreundeten Pastor abgeholt worden sei; dessen Ehefrau habe ihr<br />

folgendes erklärt:<br />

„da sachte sie ja die sind abgeholt worden und, oh=ohne Jrunde einfach weil sie Deutsche warn<br />

weil se Pastore warn undsoweiter das jenüchte" (6 / 9)<br />

Auch wenn sie als Kind die Verhaftungsgründe n<strong>ich</strong>t vollkommen verstehen<br />

konnte, da sie die politischen Hintergründe kognitiv s<strong>ich</strong>erl<strong>ich</strong> noch n<strong>ich</strong>t begreifen<br />

konnte, be<strong>kam</strong> sie dennoch ver<strong>mit</strong>telt, daß ihrem Vater Unrecht geschah:<br />

„da<strong>zu</strong> warn Se schon irjendwie jee<strong>ich</strong>t und ahm wie soll <strong>ich</strong> ihnen sajen das hat man alles schon<br />

gle<strong>ich</strong> irgendwie <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Muttermilch <strong>mit</strong>jekr<strong>ich</strong>t" (6/23)<br />

56


Auffallend an Frau Borkes Ausführungen ist insgesamt, daß sie uns über die<br />

politische Auffassung und Tätigkeit ihres Vaters im Unklaren läßt. Sie versucht,<br />

den Eindruck <strong>zu</strong> erwecken, ihr Vater sei allein wegen seiner Tätigkeit<br />

als Pastor und seiner Zugehörigkeit <strong>zu</strong>r deutschen Nationalität inhaftiert worden.<br />

Ledigl<strong>ich</strong> am Rande bemerkt sie, daß er <strong>zu</strong>mindest während des <strong>Krieg</strong>es<br />

Leiter <strong>der</strong> Stadtmission und des Offiziersheimes war. Inwieweit er in dieser<br />

Funktion gegen die sowjetische Besat<strong>zu</strong>ng gewirkt hat, erfahren wir n<strong>ich</strong>t.<br />

Die Tatsache, daß ihr Väter in <strong>der</strong> „Zitadelle 44<br />

inhaftiert war, wo die<br />

„schlimmsten Gefangenen 44<br />

saßen, läßt vermuten, daß er s<strong>ich</strong> <strong>mehr</strong> o<strong>der</strong> weniger<br />

für die Verteidigung des Landes gegen den als bedrohl<strong>ich</strong> wahrgenommenen<br />

Kommunismus engagierte. <strong>Als</strong> Leiter des Offiziersheimes wird ihm<br />

das von seiner Position her mögl<strong>ich</strong> gewesen sein. Daß Frau Borke s<strong>ich</strong> n<strong>ich</strong>t<br />

näher da<strong>zu</strong> äußert, <strong>zu</strong>mal sie ansonsten sehr ausfuhrl<strong>ich</strong> und detailliert erzählt,<br />

verweist darauf, daß sie seine vergangenen politischen Aktivitäten <strong>zu</strong><br />

verharmlosen und <strong>zu</strong> entpolitisieren versucht. So antwortet sie beispielsweise<br />

auf die Frage, ob ihr Vater politisch aktiv gewesen sei, sehr allgemein <strong>mit</strong> den<br />

Worten, „bis <strong>zu</strong> einem gewissen Grad ist je<strong>der</strong> Balte politisch 44 .<br />

Mit <strong>der</strong> Erzählung ihrer Kindheitserfahrungen versucht Frau Borke uns <strong>zu</strong><br />

verdeutl<strong>ich</strong>en, wie s<strong>ich</strong> ihre zeitlebens anhaltende Abneigung gegen den Kommunismus<br />

herausgebildet hat. Neben den bereits genannten Verhaftungen des<br />

Vaters und den Hausdurchsuchungen ist ihre Abneigung vor allem auch durch<br />

Besuche im Gefängnis bestätigt und verstärkt worden:<br />

„und links und rechts standen so zwei Bolschewikenkerle natürl<strong>ich</strong> auch wie<strong>der</strong> <strong>mit</strong> dem aufjepflanzten<br />

Bajonett (1) ja die warn ganz harmlos <strong>ich</strong> re<strong>ich</strong>te na so durch dieses Jitter da durch diese<br />

(Trauen) da durch meine Hand mein Vater nahm se n<strong>ich</strong> und sachte du darfst mir n<strong>ich</strong> die Hand<br />

jeben und im selben Moment <strong>hatte</strong> <strong>ich</strong> auch hier von links und rechts die Bajonette an meiner<br />

Taille n<strong>ich</strong> und da hab <strong>ich</strong> den groß angeguckt und den an<strong>der</strong>n groß angeguckt ja es fiel kein Wort<br />

und dann war als sie ja sahen das <strong>ich</strong> meine Hand <strong>zu</strong>rückzog passierte auch weiter n<strong>ich</strong>ts" (12 / 36)<br />

So furchtlos wie in dieser Situation sei sie jedoch n<strong>ich</strong>t immer gewesen,<br />

son<strong>der</strong>n sie habe auch oft große Angst empfunden. Frau Borke erzählt von einem<br />

Mann <strong>mit</strong> einem „wi<strong>der</strong>l<strong>ich</strong>en Jes<strong>ich</strong>t also Sie sahen dem Kerl schon an<br />

also, was für ein entsetzl<strong>ich</strong>er Typ das war vor dem <strong>hatte</strong> <strong>ich</strong> wahnsinnige Angst<br />

44 . Die Angst vor diesem Mann habe da<strong>zu</strong> geführt, daß sie ihn, nachdem<br />

Riga von deutsch-baltischen Truppen im Jahr 1919 besetzt und dadurch die sowjetische<br />

Besat<strong>zu</strong>ngsmacht abgelöst worden war, bestraft sehen wollte. So<br />

habe sie ihren Vater gle<strong>ich</strong>, als er aus <strong>der</strong> Haft entlassen worden war, gefragt,<br />

was <strong>mit</strong> diesem Mann geschehen sei: „da ist meine erste Frage jewesen hat<br />

man den Matrosen erschossen eh <strong>ich</strong> überhaupt juten lach sachte 4 \ Ihre damalige<br />

kindl<strong>ich</strong>e Reaktion beze<strong>ich</strong>net sie heute als empfindungslos, d.h. ihrer<br />

Meinung nach ist „man in dieser Zeit sehr roh 44<br />

geworden. Zu dieser Einschät<strong>zu</strong>ng<br />

gelangt sie auch, wenn sie s<strong>ich</strong> an ihre „Kin<strong>der</strong>spiele 44<br />

<strong>mit</strong> Le<strong>ich</strong>en<br />

während <strong>der</strong> revolutionären Phase in Riga erinnert:<br />

57


„diese Straßenkämpfe da lagen doch diese Le<strong>ich</strong>en auf einmal auf <strong>der</strong> Straße (1) wir warn, so<br />

verroht das weiß <strong>ich</strong> da ging <strong>ich</strong> <strong>mit</strong> meinem Vetter da war son ahm ne Anlage das nannte man<br />

son Katzenbuckel (1) und da lach hier ein Bolschewik und dann en bißchen weiter en zweiter erst<br />

sprangen wir über den einen dann sprangen wir über den zweiten und dann harn wir gesacht können<br />

wir über zwei auch springen kommt wir schieben sie <strong>zu</strong>sammen (2) nech, so verroht warn<br />

se=es=warn es warn keine Menschen für uns diese Bolschewiken" (K8/634)<br />

Die „Bolschewiken" waren von ihr und ihren Spiel<strong>kam</strong>eraden quasi entmenschl<strong>ich</strong>t<br />

worden. Christl<strong>ich</strong>e Werte wie Nächstenliebe o<strong>der</strong> Mitmenschl<strong>ich</strong>keit<br />

konnte sie ihnen gegenüber n<strong>ich</strong>t empfinden, waren sie doch eine Bedrohung<br />

des Vaters und da<strong>mit</strong> auch <strong>der</strong> ganzen Familie. Das Feindbild vom<br />

„Russen", das s<strong>ich</strong> später erhalten und verstärkt hat, <strong>hatte</strong> Frau Borke also bereits<br />

in ihrer frühesten Kindheit ausgebildet. Insgesamt dürften die Erfahrungen<br />

während <strong>der</strong> revolutionären Phase und konkret die Inhaftierungen des Vaters<br />

da<strong>zu</strong> beigetragen haben, daß s<strong>ich</strong> die Familie um so stärker <strong>zu</strong>sammenschloß.<br />

So sei <strong>der</strong> Tag <strong>der</strong> Entlassung des Vaters aus dem Gefängnis, einen Tag<br />

nachdem am 22.5.1919 Riga von <strong>der</strong> Volksdeutschen baltischen Landeswehr<br />

besetzt worden war, <strong>zu</strong> einem Familienfeiertag geworden. Ihr Vater habe<br />

„furchtbares Jlück jehabt daß und wir auch nech eben daß er noch lebte und<br />

dieser dreiundzwanz<strong>ich</strong>ste Mai das is für m<strong>ich</strong> immer ein beson<strong>der</strong>er Tach jewesen"<br />

(13/37).<br />

Ein Onkel und ein Vetter Frau Borkes hingegen, die <strong>zu</strong>r gle<strong>ich</strong>en Zeit wie<br />

ihr Vater im Gefängnis gesessen <strong>hatte</strong>n, wurden erschossen. Empörend war<br />

und ist für Frau Borke, daß die Familie von <strong>der</strong>en Tod erst sehr spät erfuhr und<br />

man ihr <strong>zu</strong>dem noch das Essen, auf das sie selbst verz<strong>ich</strong>tete, abgenommen<br />

<strong>hatte</strong>:<br />

„<strong>ich</strong> seh uns noch da an diesem ganz großen Eßtisch sitzen und Linsen und Mäusedreck sortieren<br />

und wir wußten daß wir n<strong>ich</strong>t eine einzige Linse davon kriejen daß=daß das alles ins Jefangnis<br />

wird und das wurde auch ins Jefangnis jebracht <strong>zu</strong> meinem Onkel und <strong>zu</strong> meinem Vetter die schon<br />

längst erschossen waren und daß wir diese Namen das stand erst Wochen später in <strong>der</strong> Roten<br />

Fahne" (13/18)<br />

Bald nachdem <strong>der</strong> Vater aus <strong>der</strong> Haft entlassen worden war, übersiedelte Familie<br />

Borke nach Berlin, weil <strong>der</strong> Vater weiterhin gefährdet war: „als er aus<br />

em Gefängnis <strong>kam</strong> da is ihm nahegelegt worden daß er also das Baltikum verlassen<br />

soll, weil das alles viel <strong>zu</strong> gefährdet war"(16/21). Der Vater übernahm<br />

in Berlin eine Pfarrei. Nach einem halben Jahr ging er <strong>zu</strong>nächst ohne seine Familie<br />

nach Riga <strong>zu</strong>rück. <strong>Als</strong> Lettland dann nach einem weiteren halben Jahr<br />

eigenständige Republik <strong>mit</strong> parlamentarisch-demokratischer Staatsform<br />

wurde, holte er seine Familie nach. „<strong>Als</strong> <strong>der</strong> Friede geschlossen war", sei er<br />

wie<strong>der</strong> als Pastor beschäftigt worden und habe später auch ein höheres Kirchenamt<br />

übernehmen können.<br />

Zusammenfassend läßt s<strong>ich</strong> festhalten, daß Frau Borke bereits in ihrer<br />

Kindheit ein tiefgehendes Feindbild <strong>der</strong> „Russen" und „Bolschewiken" entwickelt<br />

<strong>hatte</strong>, das ihrer Meinung nach auch in ihrem weiteren Leben aus-<br />

58


schlaggebend gewesen sei. Betrachten wir nun im folgenden, inwiefern dieses<br />

„Russentrauma" ihren weiteren Werdegang beeinflußt hat.<br />

2.2.3 Das Leben in Lettland: Die Aufrechterhaltung des Deutschtums<br />

Während Frau Borke recht ausführl<strong>ich</strong> über ihre Kindheit bis <strong>zu</strong>m 8. Lebensjahr<br />

erzählt, erfahren wir über ihre weitere Zeit in Lettland bis <strong>zu</strong> ihrem 27.<br />

Lebensjahr 1939, als sie aus <strong>der</strong> Heimat vertrieben wurde, kaum etwas. Auffallend<br />

ist das auch insofern, als die Interviewerinnen <strong>mehr</strong>mals nach persönl<strong>ich</strong>en<br />

Erfahrungen während dieser Zeit fragen. Frau Borke antwortet auf<br />

diese Fragen jeweils sehr knapp und beschreibt allgemein das Leben in Riga<br />

aus <strong>der</strong> Perspektive <strong>der</strong> „Aufrechterhaltung des Deutschtums":<br />

,.ja das is neunzehn jewesen und dann harn wir eben noch bis 1939 Ruhe gehabt also meine ganzen<br />

Ahnen die sitzen da von sechzehnhun<strong>der</strong>teiniges n<strong>ich</strong> äh und darauf is <strong>der</strong> Balte überhaupt<br />

sehr stolz das wir uns deutsch erhalten haben und auch unsere deutschen Schulen jehabt haben<br />

und <strong>zu</strong> Hause deutsch jesprochen haben o<strong>der</strong> auch in völlig deutscher Jesellschaft hier leben jelebt<br />

haben" (14/18)<br />

Frau Borke geht auf Fragen nach ihrer Jugendzeit n<strong>ich</strong>t ein. Statt dessen<br />

schil<strong>der</strong>t sie ansatzweise die gesellschaftl<strong>ich</strong>e Situation, wie sie s<strong>ich</strong> vor allem<br />

für die deutsche Min<strong>der</strong>heit darstellte. Dabei erfahren wir ledigl<strong>ich</strong>, daß —<br />

vermutl<strong>ich</strong> nach dem Inkrafttreten <strong>der</strong> lettländischen „Ermächtigungsverordnung",<br />

die nach 1934 <strong>zu</strong>r Err<strong>ich</strong>tung <strong>der</strong> Diktatur in Lettland führte (vgl .Garleff<br />

1976: I860 — die deutsche Minorität stark in ihren Rechten eingeschränkt<br />

war. So wurde beispielsweise <strong>der</strong> deutsche Sprachgebrauch in <strong>der</strong> Öffentl<strong>ich</strong>keit<br />

verboten, und es wurde die Schulautonomie <strong>der</strong> Min<strong>der</strong>heiten endgültig<br />

aufgehoben (vgl. Garleff1976: 179). Die Auswirkungen <strong>der</strong> verän<strong>der</strong>ten politischen<br />

Machtverhältnisse werden von Frau Borke jedoch nur angedeutet und<br />

n<strong>ich</strong>t weiter ausgeführt. Sie spr<strong>ich</strong>t von einem „wun<strong>der</strong>schönen Leben", das<br />

jedoch n<strong>ich</strong>t immer einfach gewesen sei:<br />

„und, wir harn an s<strong>ich</strong> ein wun<strong>der</strong>bares Leben jehabt ein sehr freies Leben jehabt also diese<br />

ganze Enge und dieser ganze Neid das kannte man n<strong>ich</strong>t es war kein einfaches Leben n<strong>ich</strong> weil<br />

Sie s<strong>ich</strong> ja überall durchsetzen mußten aber privat war das ein wun<strong>der</strong>schönes Leben <strong>mit</strong> sehr viel<br />

Jesellschaften" (17/5)<br />

Während sie im privaten Kreis <strong>der</strong> „deutschen Volksgemeinschaft" ein „wun<strong>der</strong>schönes"<br />

und „freies" Leben <strong>hatte</strong>, mußte sie s<strong>ich</strong> ansonsten in <strong>der</strong> Öffentl<strong>ich</strong>keit<br />

als baltische Deutsche durchsetzen. Mit <strong>der</strong> Orientierung an <strong>der</strong> Erhaltung<br />

o<strong>der</strong> mögl<strong>ich</strong>erweise sogar Ausweitung des „deutschen Volkstums" war<br />

gle<strong>ich</strong>zeitig eine starke Abgren<strong>zu</strong>ng gegen Angehörige an<strong>der</strong>er Gesellschaftsgruppen<br />

verbunden. Deutl<strong>ich</strong> wird das an Frau Borkes folgenden Äußerungen:<br />

„wenn Sie in einem Lokal warn ja Se können Essen gehen aber so wie hier tanzen o<strong>der</strong> sowas<br />

<strong>kam</strong> überhaupt n<strong>ich</strong> in Frage, <strong>mit</strong> einem Letten Russen o<strong>der</strong> Juden tanzten Se n<strong>ich</strong> das machte<br />

man einfach n<strong>ich</strong> nech" (17 /16)<br />

59


Das Interesse an <strong>der</strong> „Aufechterhaltung des Deutschtums" ging also so<br />

weit, daß sie vermutl<strong>ich</strong> n<strong>ich</strong>t nur beim Tanzen, son<strong>der</strong>n generell Kontakte <strong>zu</strong>r<br />

übrigen Bevölkerung Lettlands weitgehend vermieden haben wird. Inwiefern<br />

es s<strong>ich</strong> bei dieser Abgren<strong>zu</strong>ng um rassistische Ressentiments handelte, wird<br />

aus Frau Borkes Ausführungen n<strong>ich</strong>t ers<strong>ich</strong>tl<strong>ich</strong>. Im Anschluß an oben zitierte<br />

Textstelle versucht sie <strong>zu</strong>nächst, ihr Verhalten <strong>mit</strong> <strong>der</strong> schwierigen Situation<br />

<strong>der</strong> Deutschen <strong>zu</strong> begründen:<br />

„und das darf man n<strong>ich</strong> weil man ja n<strong>ich</strong> wußte wer is das is das en Deutscher is das en an<strong>der</strong>er<br />

es gab einfach <strong>zu</strong> schwiel- <strong>zu</strong> viele Schwierigkeiten berufl<strong>ich</strong> <strong>hatte</strong>n sie äh darf <strong>ich</strong> Ihnen noch Tee<br />

eingießen" (17/34)<br />

Frau Borke konkretisiert die Schwierigkeiten jedoch n<strong>ich</strong>t weiter, br<strong>ich</strong>t<br />

statt dessen das Thema ab und widmet s<strong>ich</strong> in <strong>der</strong> Rolle einer aufmerksamen<br />

Gastgeberin den Interviewerinnen. <strong>Als</strong> sie in ihrem Ber<strong>ich</strong>t fortfahrt, bezieht<br />

sie s<strong>ich</strong> wie<strong>der</strong>um nur allgemein auf das Leben in Riga, geht dabei jedoch<br />

n<strong>ich</strong>t <strong>mehr</strong> auf die politischen Verhältnisse ein.<br />

Wir erfahren, daß sie viel für die Schule habe lernen müssen und kaum an<br />

irgendwelchen Vergnügungen o<strong>der</strong> Freizeitgestaltungen teilgenommen habe.<br />

Das disziplinierte Lernen in <strong>der</strong> Schule habe ihr eine gute Allgemeinbildung<br />

verschafft, die die Kin<strong>der</strong> heute n<strong>ich</strong>t <strong>mehr</strong> ver<strong>mit</strong>telt bekämen. Wie sie ihre<br />

Schulzeit erlebte und welche Beziehungen sie <strong>zu</strong> gle<strong>ich</strong>altrigen Klassen<strong>kam</strong>eraden<br />

<strong>hatte</strong>, wird n<strong>ich</strong>t ers<strong>ich</strong>tl<strong>ich</strong>. Offens<strong>ich</strong>tl<strong>ich</strong> will Frau Borke betonen,<br />

daß sie in ihrer Jugend hauptsächl<strong>ich</strong> <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Schule und später <strong>mit</strong> ihrer Ausbildung<br />

als Chemielaborantin beschäftigt war:<br />

„ja also hmm w- wie hat s<strong>ich</strong> das Leben gespielt also Riga <strong>mit</strong> <strong>mit</strong> Schule ja und dann hatt <strong>ich</strong><br />

meine Ausbildung jehabt ja und dann <strong>kam</strong> ja schon die ganze Umsiedlung" (26/21)<br />

Es drängt s<strong>ich</strong> die Vermutung auf, daß Frau Borke über ihre Zeit als Erwachsene<br />

in Lettland n<strong>ich</strong>t erzählen möchte. Einerseits spr<strong>ich</strong>t sie von einem<br />

schönen und freien Leben in „deutscher Gesellschaft", das sie aber n<strong>ich</strong>t <strong>mit</strong><br />

konkreten Erlebnissen näher beschreibt, und an<strong>der</strong>erseits verweist sie darauf,<br />

vollkommen durch ihre Ausbildung beansprucht gewesen <strong>zu</strong> sein, so daß sie<br />

eigentl<strong>ich</strong> auch kaum etwas über ihr Leben in Lettland bis <strong>zu</strong>m 27. Lebensjahr<br />

erzählen könne.<br />

An Frau Borkes Schil<strong>der</strong>ung ist bemerkenswert, daß sie ihre Jugend als entscheidende<br />

Lebensphase ausblendet, in <strong>der</strong> entsprechend den gesellschaftl<strong>ich</strong>en<br />

Erwartungen neben <strong>der</strong> Berufsausbildung vor allem Heirat und Familiengründung<br />

stattfinden. Selbst wenn man berücks<strong>ich</strong>tigt, daß Frau Borke keine Ehe<br />

eingegangen ist und auch keine eigene Familie gegründet hat, ist da<strong>mit</strong> die Ausblendung<br />

ihrer persönl<strong>ich</strong>en Erfährungen bis <strong>zu</strong>m 27. Lebensjahr 1939 noch<br />

n<strong>ich</strong>t erklärt. Ebenso bleibt unklar, warum Frau Borke immer wie<strong>der</strong> in be<strong>zu</strong>g<br />

auf ihre Zeit in Lettland ihr damaliges Interesse an <strong>der</strong> „Aufrechterhaltung des<br />

Deutschtums" erwähnt und von einem „wun<strong>der</strong>schönen Leben" spr<strong>ich</strong>t, jedoch<br />

biographische Erlebnisse auch in diesem Zusammenhang n<strong>ich</strong>t erzählt.<br />

60


Es liegt die Interpretation nahe, daß Frau Borke die Zeit in <strong>der</strong> Republik<br />

Lettland aufgrund eines starken politischen Engagements ausklammert, über<br />

das sie s<strong>ich</strong> n<strong>ich</strong>t äußern möchte. Dies erscheint unter dem Aspekt plausibel,<br />

daß sie s<strong>ich</strong> aufgrund ihrer Identifikation <strong>mit</strong> dem „Deutschtum" stark an<br />

dem auch in Lettland <strong>zu</strong> Beginn <strong>der</strong> 30er Jahre aufkeimenden Nationalsozialismus<br />

orientiert und für dessen Ideale gekämpft haben mag. Der Einfluß des<br />

Nationalsozialismus fand in <strong>der</strong> sogenannten „Erneuerungsbewegung" seinen<br />

Ausdruck, die den „nationalen Gedanken" als R<strong>ich</strong>tschnur für jeden baltischen<br />

Deutschen setzen wollte: „Die Zeit vom Beginn <strong>der</strong> 30er Jahre bis <strong>zu</strong>r<br />

Umsiedlung wurde beson<strong>der</strong>s im lettländischen Deutschtum bestimmt von<br />

ungewöhnl<strong>ich</strong> scharfen Auseinan<strong>der</strong>set<strong>zu</strong>ngen um die Politik <strong>der</strong> Volksgruppe.<br />

Hierbei sah s<strong>ich</strong> die durch staatl<strong>ich</strong>e Maßnahmen immer <strong>mehr</strong> in die<br />

Defensive gedrängte politische Führung einer wachsenden oppositionellen<br />

Strömung ausgesetzt, die in ihren Zielen und Methoden weitgehend vom deutschen<br />

Nationalsozialismus beeinflußt war und ihre Anhängerschaft <strong>zu</strong>nehmend<br />

in <strong>der</strong> deutschbaltischen Jugend fand. Diese erfuhr oft ihre Berufsausbildung<br />

im Deutschen Re<strong>ich</strong> und kehrte ... in <strong>der</strong> Hoffnung <strong>zu</strong>rück, s<strong>ich</strong> neue<br />

Gestaltungsmögl<strong>ich</strong>keiten und neuen Einfluß im beengten Tätigkeitsbere<strong>ich</strong><br />

<strong>der</strong> Heimat erkämpfen <strong>zu</strong> können" (Garleff 1976: 1880·<br />

Wenn Frau Borke s<strong>ich</strong> in irgendeiner Weise für nationalsozialistische Ziele<br />

eingesetzt hat, ist es verständl<strong>ich</strong>, wenn sie dies heute n<strong>ich</strong>t unbedingt preisgeben<br />

möchte, denn da<strong>mit</strong> würde sie s<strong>ich</strong> <strong>der</strong> Frage nach <strong>der</strong> Beteiligung am Nationalsozialismus<br />

und nach <strong>der</strong> Verantwortung für seine Durchset<strong>zu</strong>ng stellen<br />

müssen. Sie müßte s<strong>ich</strong> dann folgl<strong>ich</strong> <strong>zu</strong>gle<strong>ich</strong> <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Politik auseinan<strong>der</strong>setzen,<br />

<strong>mit</strong> <strong>der</strong> sie s<strong>ich</strong> identifizierte und die letztendl<strong>ich</strong> u.a. <strong>zu</strong> ihrem Heimatverlust<br />

führte.<br />

Im Zusammenhang <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Frage nach Frau Borkes politischem Engagement<br />

in Lettland muß berücks<strong>ich</strong>tigt werden, daß Frau Borke bereits im März<br />

1939 „vorausging" und nach Deutschland fuhr, um „auch einmal ein Stück<br />

Deutschland <strong>zu</strong> erleben". Daß sie s<strong>ich</strong> aus politischen Gründen da<strong>zu</strong> entschlossen<br />

haben muß, wird an folgen<strong>der</strong> Äußerung deutl<strong>ich</strong>:<br />

„wir waren sehr deutsch eingestellt, und auf jeden Fall das Deutschtum erhalten n<strong>ich</strong>, und als<br />

<strong>ich</strong> damals 1939 (1) also im März nach Deutschland jing da hab <strong>ich</strong> bei unserer deutschen Volksgemeinschaft<br />

ein Papier unterschreiben müssen daß <strong>ich</strong> <strong>zu</strong>rückkomm (1) also daß <strong>ich</strong> n<strong>ich</strong> in<br />

Deutschland bleib weil <strong>ich</strong> den Deutschen, das einlach, keiner sollte abwan<strong>der</strong>n da<strong>mit</strong> die deutsche<br />

Truppe n<strong>ich</strong> <strong>zu</strong> klein wird nech (1)" (68/9)<br />

Frau Borke war also offens<strong>ich</strong>tl<strong>ich</strong> in <strong>der</strong> „deutschen Volksgemeinschaft",<br />

einer Organisation ohne öffentl<strong>ich</strong>-rechtl<strong>ich</strong>en Charakter, organisiert. Diese<br />

Organisation war von <strong>der</strong> autoritären Regierung Lettlands n<strong>ich</strong>t verboten worden:<br />

„Mit <strong>der</strong> Err<strong>ich</strong>tung des autoritären Staatsregimes 1934 wurden alle politischen<br />

Parteien aufgelöst und verboten. Da<strong>mit</strong> verloren auch die Deutschen<br />

ihre bisher von <strong>der</strong> lettländischen Regierung und vom lettischen Volk anerkannte<br />

Vertretung und Führung. Die „Volksgemeinschaft" war <strong>der</strong> lettischen<br />

61


Öffentl<strong>ich</strong>keit als Spitzenorganisation und Wortfuhrerin des baltischen<br />

Deutschtums im Grunde (noch) völlig unbekannt" (Hehn 1982:14). Die<br />

„Deutsch-Baltische Volksgemeinschaft" ging 1928 aus <strong>der</strong> „Zentrale<br />

deutschbaltischer Arbeit" hervor und diente den Deutschen <strong>zu</strong>r „För<strong>der</strong>ung<br />

und Erhaltung ihres kulturellen Besitzstandes und ihrer sozialen Aufgaben"<br />

(Hehn 1982: 13). <strong>Als</strong> vordringl<strong>ich</strong>e Aufgaben galten <strong>der</strong> Erhalt des „Deutschtums",<br />

das s<strong>ich</strong> durch Abwan<strong>der</strong>ungen nach dem Ersten Weltkrieg erhebl<strong>ich</strong><br />

dezimiert <strong>hatte</strong>, die För<strong>der</strong>ung deutsch-baltischer Kulturarbeit und die Verbesserung<br />

<strong>der</strong> Berufsauss<strong>ich</strong>ten und Existenzmögl<strong>ich</strong>keiten <strong>der</strong> deutschen Bevölkerung<br />

(vgl. Hehn 1982: 14). Frau Borke scheint s<strong>ich</strong> aktiv an <strong>der</strong> Verwirkl<strong>ich</strong>ung<br />

dieser Aufgaben beteiligt <strong>zu</strong> haben, denn auch ihre Berufswahl war<br />

<strong>mit</strong> einem politischen Interesse verbunden:<br />

„daher bin <strong>ich</strong> auch Chemielaborantin geworden, daß wir alle in handwerkl<strong>ich</strong>e Berufe <strong>zu</strong>rückjingen,<br />

weil wir sachten sonst haben (1) eine an<strong>der</strong>e Mögl<strong>ich</strong>keit besteht n<strong>ich</strong> das Deutschtum <strong>zu</strong><br />

erhalten wenn wir jetzt n<strong>ich</strong> hier einen Grundstock von Handwerkern werden und mein Bru<strong>der</strong><br />

<strong>der</strong> ging in die Goldschmiede (9) also das war eine ganze Umwäl<strong>zu</strong>ng gekommen 44 (82/7)<br />

Es ging Frau Borke anscheinend n<strong>ich</strong>t nur um die „Aufrechterhaltung des<br />

Deutschtums" in dem Sinne, daß sie s<strong>ich</strong> für gle<strong>ich</strong>berechtigte Chancen und<br />

berufl<strong>ich</strong>er Aufstiegsmögl<strong>ich</strong>keiten sowie für die Anerkennung deutscher<br />

Kultur einsetzte, son<strong>der</strong>n sie engagierte s<strong>ich</strong> darüber hinaus offens<strong>ich</strong>tl<strong>ich</strong> für<br />

verän<strong>der</strong>te Machtverhältnisse und r<strong>ich</strong>tete ihr Leben durch eine bestimmte<br />

Berufswahl auf dieses Ziel aus. Sie spr<strong>ich</strong>t von einer „ganzen Umwäl<strong>zu</strong>ng",<br />

die s<strong>ich</strong> vermutl<strong>ich</strong> auf die staatl<strong>ich</strong>e Regierungsform und auf die bestehende<br />

Gesellschaftsstruktur Lettlands bezieht, und formuliert da<strong>mit</strong> implizit einen<br />

Führungsanspruch <strong>der</strong> Deutschen in Lettland.<br />

Inwiefern Frau Borke <strong>mit</strong> <strong>der</strong> nationalsozialistischen Ideologie übereinstimmte,<br />

läßt s<strong>ich</strong> an dieser Stelle s<strong>ich</strong>erl<strong>ich</strong> n<strong>ich</strong>t entscheiden. Sollte s<strong>ich</strong> jedoch<br />

die vorläufige Interpretation als triftig erweisen, daß sie in Lettland in <strong>der</strong><br />

Deutsch-baltischen Volksgemeinschaft organisiert war und aktiv an einer gesellschaftl<strong>ich</strong>en<br />

Umwäl<strong>zu</strong>ng <strong>mit</strong>wirkte, so orientierte sie s<strong>ich</strong> da<strong>mit</strong> <strong>zu</strong>mindest<br />

an <strong>der</strong> Idee vom „Großdeutschen Re<strong>ich</strong>". Ihren folgenden Äußerungen läßt s<strong>ich</strong><br />

entnehmen, daß sie damals an Deutschland und vermutl<strong>ich</strong> auch an <strong>der</strong> nationalsozialistischen<br />

Entwicklung außerordentl<strong>ich</strong> stark interessiert war:<br />

„<strong>ich</strong> war also vor, ja die Umsiedlung muß im, im Oktober gewesen, <strong>ich</strong> war im, ja im März 39<br />

schon nach Deutschland gegangen ... weil <strong>ich</strong> auch einmal ein Stück Deutschland erleben wollte 44<br />

(1/9)<br />

Mögl<strong>ich</strong>erweise versprach s<strong>ich</strong> Frau Borke, wie ihre deutschen Landsleute,<br />

von <strong>der</strong> rasch erstarkten Entwicklung des Nationalsozialismus auch eine Verbesserung<br />

ihrer eigenen Situation in Lettland. Unabhängig davon, welche<br />

Ziele sie konkret <strong>mit</strong> dem Nationalsozialismus verband und wie stark sie <strong>mit</strong><br />

seiner Ideologie übereinstimmte, können wir allgemein feststellen, daß sie<br />

ihre Hoffnungen und ihre Zukunft auf das Deutsche Re<strong>ich</strong> projizierte. Wie sie<br />

62


vor diesem Hintergrund die Umsiedlung bzw. den Heimatverlust erlebte, werden<br />

wir im folgenden Abschnitt betrachten.<br />

2.2.4 Umsiedlung und Orientierungsphase im Deutschen Re<strong>ich</strong><br />

Seit März 1939 befand s<strong>ich</strong> Frau Borke, wie bereits erwähnt, in Berlin, wo sie<br />

ungefähr nach einem halben Jahr den <strong>Krieg</strong>sbeginn <strong>mit</strong>erlebte. Damals habe<br />

sie <strong>mit</strong> dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges überhaupt n<strong>ich</strong>t gerechnet:<br />

„gar n<strong>ich</strong> gar n<strong>ich</strong> das is so plötzl<strong>ich</strong> jekommen das se gar kein Jedanken fassen konnten daß:<br />

Kriech geben wird" (26/28)<br />

Kurz nach <strong>Krieg</strong>sbeginn wurde die Umsiedlung <strong>der</strong> deutschen Bevölkerung<br />

Lettlands ins Deutsche Re<strong>ich</strong> vorbereitet, da nach Abschluß des deutschsowjetischen<br />

N<strong>ich</strong>tangriffspaktes und insbeson<strong>der</strong>e nach den sowjetischen<br />

Verträgen <strong>mit</strong> den baltischen Staaten über die Einräumung militärischer Stützpunkte<br />

die sowjetische Beset<strong>zu</strong>ng Lettlands erwartet werden konnte (vgl.<br />

Hehn 1982: 85). Frau Borke erzählt, daß sie von <strong>der</strong> Umsiedlung aus einer<br />

<strong>Hitler</strong>-Rede im Radio erfahren habe:<br />

„so haben wir eigentl<strong>ich</strong> erst erfahren daß wir von da wech müssen durch eine Rede die er<br />

((<strong>Hitler</strong>)) in Danz<strong>ich</strong> jehalten hat (1) wir warn zieml<strong>ich</strong>: äh also, sind alle zieml<strong>ich</strong> vor den Kopf<br />

geschlagen worden" (27/11)<br />

Die Nachr<strong>ich</strong>t von <strong>der</strong> Umsiedlung löste bei Frau Borke Bestür<strong>zu</strong>ng aus,<br />

bedeutete sie doch einen, wenn auch mögl<strong>ich</strong>erweise nur vorübergehenden,<br />

Heimatverlust. Darüber hinaus konnte sie s<strong>ich</strong> von Deutschland aus n<strong>ich</strong>t <strong>mit</strong><br />

ihren Angehörigen in Verbindung setzen, so daß sie n<strong>ich</strong>t in Erfahrung bringen<br />

konnte, ob und wann sie umgesiedelt würden.<br />

Frau Borke erzählt im Anschluß an die oben zitierte Textstelle relativ ausführl<strong>ich</strong><br />

von den enttäuschenden Erfahrungen ihrer Familie. Insbeson<strong>der</strong>e ihren<br />

Vater zitiert sie, indem sie aus seinen autobiographisch verfaßten Ber<strong>ich</strong>ten<br />

vorliest. Die Bedeutung dieser Erfahrungen <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Umsiedlung, die Frau<br />

Borke selbst n<strong>ich</strong>t <strong>mit</strong>erlebte, wird aus <strong>der</strong> Gegenwartsperspektive noch dadurch<br />

verstärkt, daß ihr heute die Rückkehr nach Lettland verschlossen ist.<br />

Im folgenden werden vor diesem Hintergrund die schriftl<strong>ich</strong> fixierten Erfahrungen<br />

Herrn Borkes, auf die die Befragte immer wie<strong>der</strong> rekurriert, wie<strong>der</strong>gegeben,<br />

um ihre Deutungsmuster und Handlungsorientierungen, die s<strong>ich</strong><br />

an denen des Vaters ausr<strong>ich</strong>teten, auf<strong>zu</strong>zeigen.<br />

Ihre Familie <strong>hatte</strong> s<strong>ich</strong>, wohl n<strong>ich</strong>t <strong>zu</strong>letzt durch die Erfahrungen <strong>mit</strong> <strong>der</strong><br />

russischen Revolution, für die Umsiedlung ins Deutsche Re<strong>ich</strong> entschieden<br />

und <strong>kam</strong> von Riga aus <strong>mit</strong> dem Schiff im Oktober 1939 nach Posen, das bereits<br />

von <strong>der</strong> deutschen Wehrmacht annektiert worden war und <strong>zu</strong>m Re<strong>ich</strong>sgau<br />

Wartheland gehörte. <strong>Als</strong> Angehörige <strong>der</strong> ehemals deutschen Obersch<strong>ich</strong>t<br />

Lettlands erfuhren sie jedoch im Deutschen Re<strong>ich</strong> n<strong>ich</strong>t den erwarteten Re-<br />

63


spekt, was Frau Borke den Erzählungen und autobiographisch verfaßten Ber<strong>ich</strong>ten<br />

ihres Vaters entnimmt:<br />

„da <strong>kam</strong>en wir ja alle erst in Lager (2) und unsere kleinen Leute, die auch vom Lande <strong>kam</strong>en,<br />

die harn sehr schnell bei <strong>der</strong> Umsiedlung alle ihre Sachen verkauft (1) und wir lagen dann in Riga<br />

in Schulsälen und so weiter und, als dann die Schiffe <strong>kam</strong>en da <strong>hatte</strong>n=wer natürl<strong>ich</strong> versucht die<br />

als erste wech<strong>zu</strong>kriejen (1) also es war n<strong>ich</strong>t die Elite die <strong>zu</strong>erst an<strong>kam</strong> .. die Elite <strong>kam</strong> so<strong>zu</strong>sagen<br />

<strong>zu</strong>m Schluß (2) und diese Elite harn se wun<strong>der</strong>bar behandelt (3) t4<br />

(K7/283)<br />

Der „Empfang 44<br />

war in je<strong>der</strong> Hins<strong>ich</strong>t für die Borkes enttäuschend. N<strong>ich</strong>t<br />

nur, daß sie als Auslandsdeutsche n<strong>ich</strong>t begeistert aufgenommen wurden, sie<br />

fühlten s<strong>ich</strong> auch entsprechend ihrem Standesbewußtsein unter ihrer Würde<br />

behandelt. Das läßt s<strong>ich</strong> wie<strong>der</strong>um den Ber<strong>ich</strong>ten des Vaters entnehmen, die<br />

Frau Borke während des Interviews vorliest:<br />

„also in den einzelnen Klassenzimmern warn auf <strong>der</strong> Diele Fußboden n<strong>ich</strong> Strohschütten ausgebreitet<br />

(1) aber schon von früheren Lagerbesuchern zerrieben, <strong>zu</strong> den bisher freundl<strong>ich</strong>en Empfangen<br />

die wir=an an<strong>der</strong>en Stellen die wir erlebt <strong>hatte</strong>n <strong>kam</strong> nun auch die Ansprache des Lagerkommandanten,<br />

<strong>der</strong> uns begrüßte <strong>der</strong> Herr Ordensjunker teilte uns dann <strong>mit</strong>, er hätte schon<br />

in zwei früheren Transporten die Balten genügend kennengelernt, er habe s<strong>ich</strong> davon überzeugen<br />

können daß die Balten undiszipliniert und eine verkommene Gesellschañ seien, er mache darauf<br />

aufmerksam daß in seinem Lager Ordnung herrschen müsse, daß n<strong>ich</strong> jestohlen werden dürfe und<br />

daß er <strong>mit</strong> eiserner Strenge jede Unordnung und Wi<strong>der</strong>setzl<strong>ich</strong>keit rügen und bestrafen würde (1)<br />

im Warthegau müsse auch Aufbauarbeit geleistet werden, da<strong>zu</strong> taugten die Balten scheinbar wenig,<br />

weil sie faul, Parasiten und Menschen <strong>mit</strong> Baronsmanieren wären (1) das Dritte Re<strong>ich</strong> brauche<br />

solche Menschen n<strong>ich</strong>, er werde deshalb schon in seinem Lager <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Umerziehung beginnen,<br />

da<strong>mit</strong> die Balten merken das es ihnen <strong>zu</strong>gewiesene Plätze für das Volk <strong>zu</strong> arbeiten <strong>hatte</strong>n,<br />

Heil <strong>Hitler</strong> 44<br />

(K7/393)<br />

Diese unfreundl<strong>ich</strong>e, als erniedrigend empfundene Begrüßung war für Familie<br />

Borke eine schmerzvolle Erfahrung, <strong>hatte</strong> sie s<strong>ich</strong> doch bislang am nationalsozialistischen<br />

Deutschland orientiert und dort ihre nationalen Interessen<br />

und Ziele vertreten gesehen, für die sie s<strong>ich</strong> in Lettland eingesetzt <strong>hatte</strong>.<br />

Das wurde nach ihrer Umsiedlung jedoch keineswegs honoriert, und sie wurde<br />

n<strong>ich</strong>t so ohne weiteres in die deutsche Volksgemeinschaft aufgenommen. Da<strong>mit</strong><br />

befand sie s<strong>ich</strong> <strong>zu</strong>nächst in einer ähnl<strong>ich</strong>en Lage wie in Lettland, wo sie auch<br />

als Min<strong>der</strong>heit stets um ihre Rechte und Anerkennung kämpfen mußte.<br />

<strong>Als</strong> ihre Familie von Posen aus nach Breslau zog, wo ihr Vater dann als Pastor<br />

angestellt wurde, lebte Frau Borke ca. ab März 1940 wie<strong>der</strong> bei ihr. Daß<br />

Frau Borke so ausführl<strong>ich</strong> von <strong>der</strong> Umsiedlung und den da<strong>mit</strong> verbundenen<br />

Enttäuschungen erzählt, obwohl sie diese selbst n<strong>ich</strong>t <strong>mit</strong>erlebt hat, verweist<br />

darauf, daß sie in <strong>der</strong> folgenden Zeit in gle<strong>ich</strong>er Weise desillusioniert worden<br />

sein muß. Denn sie meint in diesem Zusammenhang:<br />

„na ja also es Deutschland ((spr<strong>ich</strong>t kurz und abgehackt)) war für uns eine ganz große Enttäuschung<br />

schon in Posen und in Breslau, wir sind eigentl<strong>ich</strong> (3) a-angesehen worden als Eindringlinge<br />

die hier nach Deutschland jekommen sind 44 (28/30)<br />

In Breslau wird <strong>der</strong> Familie ein „arisiertes 44<br />

Wohnhaus <strong>zu</strong>geteilt, dessen jüdischer<br />

Besitzer ausziehen mußte. Frau Borke beruhigt s<strong>ich</strong> selbst <strong>mit</strong> dem<br />

64


Argument, daß dieser ohnehin sein Haus habe aufgeben müssen, so daß sie<br />

folgl<strong>ich</strong> n<strong>ich</strong>ts <strong>mit</strong> seinem Aus<strong>zu</strong>g <strong>zu</strong> tun gehabt habe.<br />

Frau Borke erzählt, obwohl sie insgesamt zwei Jahre in Breslau gelebt hat,<br />

relativ wenig über diese Zeit zwischen 1940 und 1942. Wir erfahren, daß sie<br />

im Labor eines „Wehrmachtsbetriebes 4 * gearbeitet hat, erhalten aber keine genauen<br />

Angaben darüber, ob sie in ihrem Beruf als Chemielaborantin tätig war<br />

und in was für einem Betrieb sie beschäftigt war. Sie erzählt ledigl<strong>ich</strong>, daß sie<br />

<strong>zu</strong> ihrem Chef ein gutes Verhältnis gehabt und ihm <strong>zu</strong> verdanken habe, n<strong>ich</strong>t<br />

kriegsdienstverpfl<strong>ich</strong>tet worden <strong>zu</strong> sein. Das „Los einer Nachr<strong>ich</strong>tenhelferin<br />

4t sei ihr „erspart 44 geblieben, weil ihr Chef sie <strong>mit</strong> einer Flasche Kognak<br />

„losgekauft 44 und s<strong>ich</strong> <strong>mit</strong> den „Herren 44 unterhalten habe. „In solchen Dingen<br />

44 habe sie „viel viel Jlück 44 gehabt.<br />

Frau Borke verharmlost im folgenden ihr Verhältnis <strong>zu</strong> den Nazis, indem sie<br />

behauptet, sie hätte s<strong>ich</strong> n<strong>ich</strong>t um <strong>der</strong>en Politik gekümmert und s<strong>ich</strong> n<strong>ich</strong>t bevormunden<br />

o<strong>der</strong> einschränken lassen. Sie und ihre Familie seien „im Grunde<br />

genommen auch furchtbar unbedarft und naiv 44<br />

gewesen, was sie <strong>zu</strong> belegen<br />

versucht:<br />

<strong>Als</strong> Angehörige <strong>der</strong> SS ihrer Mutter das Mutterkreuz brachten, habe diese<br />

es <strong>mit</strong> folgenden Worten abgelehnt: „danke sehr aber das können Se wie<strong>der</strong><br />

<strong>mit</strong>nehmen, <strong>ich</strong> habe meine Kin<strong>der</strong> für m<strong>ich</strong> selbst jeboren und n<strong>ich</strong> für<br />

Deutschland 44 (70/ 11).<br />

Sie selbst sei in Breslau von <strong>der</strong> Ortsverwaltung, als sie in ihrer Freizeit Hosen<br />

getragen habe, <strong>mit</strong> den Worten „eine deutsche Frau läuft n<strong>ich</strong>t in Hosen<br />

rum 44<br />

gerügt worden. Frau Borke habe damals wie folgt reagiert:<br />

„ja ja is gut hab <strong>ich</strong> jesacht und fert<strong>ich</strong> n<strong>ich</strong> und dann nach paar Wochen kr<strong>ich</strong>t <strong>ich</strong> wie<strong>der</strong> noch<br />

en Anruf, wir haben ihnen ja schon einmal gesacht, daß eine deutsche Frau n<strong>ich</strong> in Hosen herumläuft<br />

(1) hab=<strong>ich</strong>=ihnen =jesacht und jetzt erklären Sie mir bitte was haben Hosen <strong>mit</strong> Nationalsozialismus<br />

<strong>zu</strong> tun und dann harn die aufjehängt n<strong>ich</strong>" (71 /13)<br />

Offens<strong>ich</strong>tl<strong>ich</strong> konnte s<strong>ich</strong> Frau Borke n<strong>ich</strong>t <strong>mit</strong> dem typischen Bild einer<br />

deutschen Frau, wie es die nationalsozialistische Ideologie propagierte, identifizieren.<br />

Ihrer rhetorischen Gewandtheit, <strong>der</strong> die Ortsverwaltung n<strong>ich</strong>t gewachsen<br />

war, <strong>hatte</strong> sie es <strong>zu</strong> verdanken, daß ihr Verhalten letztendl<strong>ich</strong> n<strong>ich</strong>t<br />

sanktioniert wurde. Das in ihrer Antwort s<strong>ich</strong>tbare Selbstbewußtsein und Ausdrucksvermögen,<br />

das sie entsprechend ihrer bildungsbürgerl<strong>ich</strong>en Sch<strong>ich</strong>t<strong>zu</strong>gehörigkeit<br />

ausgebildet <strong>hatte</strong> und das ihr ein gewisses Überlegenheitsgefühl<br />

<strong>zu</strong>mindest gegenüber Partei<strong>mit</strong>glie<strong>der</strong>n in niedriger Position ver<strong>mit</strong>telt haben<br />

dürfte, zeigt s<strong>ich</strong> auch in an<strong>der</strong>en kritischen Situationen. Ihr Verhalten belegt<br />

jedoch n<strong>ich</strong>t, wie Frau Borke uns eigentl<strong>ich</strong> nahelegen möchte, daß sie dem<br />

deutschen Faschismus gegenüber indifferent o<strong>der</strong> gar kritisch eingestellt war.<br />

An ihren Äußerungen über Konzentrationslager wird deutl<strong>ich</strong>, daß sie die nationalsozialistischen<br />

Menschenrechtsverlet<strong>zu</strong>ngen und organisierten Gewaltverbrechen<br />

damals n<strong>ich</strong>t wahrnehmen wollte.<br />

65


Obwohl ihr Vater in <strong>der</strong> oben beschriebenen Situation eher besorgt reagierte<br />

und meinte, „du redest d<strong>ich</strong> noch einmal ins KZ 44 , hätten beide — wie Frau<br />

Borke betont — n<strong>ich</strong>t an die Informationen über KZs glauben können:<br />

12: „aber wie <strong>kam</strong> das denn daß dieser Ausdruck entstanden is äh du kommst noch mal ins KZ<br />

B: wenn einer irgendwie <strong>zu</strong> ahm <strong>zu</strong> offen seine Meinung sachte<br />

12: ja aber ahm<br />

B: aber keiner nein nein an die KZs wir hams n<strong>ich</strong> jeglaubt, wir hams n<strong>ich</strong> jeglaubt<br />

12: aber trotzdem wurde dieser Satz dann<br />

B: <strong>der</strong> ja <strong>der</strong> Satz war da .... es sickerte mal wie wie soll <strong>ich</strong> Ihnen sagen es sickerte mal durch<br />

aber man hats n<strong>ich</strong> jeglaubt .. n<strong>ich</strong> praktisch haben Se es n<strong>ich</strong> jesehn und Sie haben es n<strong>ich</strong><br />

jeglaubt .. das war einfach son Ausdruck nech" (71 /21)<br />

Betrachtet man die weiteren Ausführungen, so wird deutl<strong>ich</strong>, daß Frau<br />

Borke „es" durchaus gesehen hat und ihr „n<strong>ich</strong>t glauben 44<br />

viel<strong>mehr</strong> eine<br />

Wahrnehmungsabwehr bedeutete:<br />

„Sie habens n<strong>ich</strong> jeglaubt (1) <strong>ich</strong> bin dann einmal in Berlin jewesen (2) und auf <strong>der</strong> Rückfahrt<br />

<strong>ich</strong> weiß n<strong>ich</strong> ob das ein Konzentrationslager war .... und da sah <strong>ich</strong> Jestalten laufen war ja Sommer,<br />

die <strong>hatte</strong>n nur ne Badehose an und da hab <strong>ich</strong> mir jedacht das sind doch keine Menschen,<br />

so mager kann doch kein Mensch sein .. von solche kleine Hütten ... da hab <strong>ich</strong> meinem Vater<br />

das wohl <strong>zu</strong> Hause erzählt da hab=<strong>ich</strong>=jesacht das kann doch gar n<strong>ich</strong> wahr sein, da sachte noch<br />

mein Vater du hast d<strong>ich</strong> wohl versehn (1) sowas kann es gar n<strong>ich</strong> geben n<strong>ich</strong> n<strong>ich</strong> (4) äh Konzentrationslager<br />

da sacht er nur du wirst noch ins Kazette" (69 / 5)<br />

Prägnanter, als Frau Borke es hier macht, läßt s<strong>ich</strong> ihre Wahrnehmungsabwehr<br />

wohl n<strong>ich</strong>t auf den Punkt bringen. Interpretiert man die Äußerung des<br />

Vaters, so wird deutl<strong>ich</strong>, daß die Familie zwar von Konzentrationslagern gewußt<br />

hat, jedoch n<strong>ich</strong>t darüber sprechen wollte. Das zeigt s<strong>ich</strong> auch an folgen<strong>der</strong><br />

Begebenheit, die s<strong>ich</strong> später in Posen ereignete:<br />

„wir haben <strong>ich</strong> hab eine Bekannte einmal in Posen jetroffen, äh die sachte mir (1) <strong>mit</strong> meiner<br />

Schwester <strong>zu</strong>sammen (1) und die mir sachte wir haben heute in unser () einen Polen jekr<strong>ich</strong>t <strong>der</strong><br />

war r<strong>ich</strong>t<strong>ich</strong> jekreuzigt (3) un da harn wir jesacht das is n<strong>ich</strong> wahr und da hat sie jesacht ja es is<br />

wahr .. un nachher harn wir jesacht <strong>zu</strong> ihr die spinnt harn wir nur gesacht, und dann hat sie uns<br />

jesacht jeht doch abends mal auf den Bahnhof und seht euch dort die Züge an, die gehn (3) und,<br />

wir sind n<strong>ich</strong> jegangen nachts nech es (1) Sie mußten am nächsten lach <strong>zu</strong>r Arbeit und Sie habens<br />

n<strong>ich</strong> jeglaubt" (68/20)<br />

Frau Borke war also durchaus in Situationen gekommen, in denen sie <strong>mit</strong><br />

den Verbrechen des NS un<strong>mit</strong>telbar bzw. <strong>mit</strong>telbar konfrontiert war. Dennoch<br />

wollte sie s<strong>ich</strong> offens<strong>ich</strong>tl<strong>ich</strong> weiter keine Gedanken darüber machen und von<br />

den faschistischen Greueltaten n<strong>ich</strong>ts wissen. Sie entschuldigt ihre Handlungsweise,<br />

den Informationen n<strong>ich</strong>t nachgegangen <strong>zu</strong> sein, <strong>mit</strong> dem scheinbar<br />

objektiven Zwang, daß sie <strong>zu</strong>r Arbeit mußte und deswegen nachts n<strong>ich</strong>t<br />

<strong>mehr</strong> auf den Bahnhof gehen wollte. Da<strong>mit</strong> konnte sie ihr Gewissen beruhigen,<br />

die Greueltaten aus ihrer Wahrnehmung ausblenden und s<strong>ich</strong> darauf berufen,<br />

n<strong>ich</strong>ts gesehen <strong>zu</strong> haben. Auf diese Weise scheint es ihr gelungen <strong>zu</strong><br />

sein, die unangenehme Realität <strong>zu</strong> leugnen.<br />

Auch in an<strong>der</strong>er Hins<strong>ich</strong>t zeigt s<strong>ich</strong>, daß Frau Borke da<strong>zu</strong> neigt, bedrohl<strong>ich</strong>e<br />

Realitätsaspekte <strong>zu</strong> leugnen. Deutl<strong>ich</strong> wird das an ihrer Erzählung über<br />

66


den Tod ihrer Mutter, die „ganz plötzl<strong>ich</strong> an einem Gehirnschlag starb 4 *, nachdem<br />

sie 14 Tage krank gewesen war. Frau Borke konnte ihren Tod <strong>zu</strong> dem Zeitpunkt<br />

n<strong>ich</strong>t ertragen und tat so, als ob ihre Mutter nur verreist wäre. Der unerwartete<br />

Tod ihrer Mutter sei, wie sie heute meint, eine <strong>der</strong> schlimmsten Erfahrungen<br />

ihres Lebens gewesen. Zudem brachte er für sie weitere Belastungen:<br />

„weil <strong>der</strong> ganze Haushalt alles lach plötzl<strong>ich</strong> auf mir nech und da hab <strong>ich</strong> gar keine Zeit jehabt<br />

um meine Mutter <strong>zu</strong> trauern (1) weil <strong>ich</strong> äh mein Bru<strong>der</strong> aus dem Felde und da hab <strong>ich</strong> gar keine<br />

Zeit jehabt um meine Mutter <strong>zu</strong> trauern (1) weil <strong>ich</strong> äh mein Bru<strong>der</strong> aus dem Felde <strong>kam</strong> (1) und<br />

<strong>ich</strong> ihm das gar n<strong>ich</strong> zeigen durfte auch n<strong>ich</strong> <strong>zu</strong>r Beerdigung n<strong>ich</strong> weil er neben mir saß (1) und<br />

<strong>ich</strong> hab immer mir mir vorjeredet sie is ja nur verreist" (93/15)<br />

Diese Zeit war auch deswegen sehr schwer, weil sie neben ihrem Beruf den<br />

Haushalt fuhren mußte und s<strong>ich</strong> außerdem für ihren Vater verantwortl<strong>ich</strong><br />

fühlte, <strong>der</strong> stark unter dem Tod seiner Frau litt: „nach dem Tode meiner Mutter<br />

da wollte er n<strong>ich</strong> <strong>mehr</strong> er war ja auch schon sehr alt 44 (52/ 19).<br />

<strong>Als</strong> ihre Mutter beerdigt wurde, seien wie<strong>der</strong> die „Goldfasane 44<br />

gekommen<br />

und hätten ihr diesmal das Mutterkreuz gebracht. Während ihre Mutter damals<br />

abgelehnt habe, habe sie es nun angenommen.<br />

Nach dem Tod <strong>der</strong> Mutter und aufgrund <strong>der</strong> da<strong>mit</strong> verbundenen <strong>zu</strong>sätzl<strong>ich</strong>en<br />

Belastungen entschied sie s<strong>ich</strong>, <strong>zu</strong>sammen <strong>mit</strong> ihrem Vater nach Posen<br />

<strong>zu</strong> ihrer Schwester <strong>zu</strong> ziehen. Ob diese Entscheidung allein dadurch begründet<br />

war, daß sie s<strong>ich</strong> von ihrer Schwester Unterstüt<strong>zu</strong>ng im Haushalt und bei<br />

<strong>der</strong> Versorgung ihres Vaters versprach, ist unklar. Zufrieden sei sie jedoch<br />

n<strong>ich</strong>t <strong>mit</strong> dem Um<strong>zu</strong>g nach Posen gewesen, da sie künftig n<strong>ich</strong>t <strong>mehr</strong> so ohne<br />

weiteres vom sogenannten Warthegau aus nach Breslau <strong>zu</strong> ihrer Arbeitsstelle<br />

fahren konnte:<br />

„wenn sie nu von Breslau nach Posen wollten (1) dann brauchten se eine Genehmigung von da<br />

das se da hereinkommen n<strong>ich</strong> also das warn so tausend Schwier<strong>ich</strong>keiten die man heute gar n<strong>ich</strong><br />

<strong>mehr</strong> hat n<strong>ich</strong> .... ahm ja nein weil das ja noch eben so viel Polen warn da harn se das immer so<br />

vom Re<strong>ich</strong> jetrennt noch n<strong>ich</strong> .. und wenn <strong>ich</strong> mal nach Posen <strong>zu</strong>m Besuch wollte, dann mußte<br />

mein alter Chef m<strong>ich</strong> anfor<strong>der</strong>n sonst war <strong>ich</strong> da gar n<strong>ich</strong> hereinjekommen nech 44 (K6 / 535)<br />

Daß man n<strong>ich</strong>t problemlos herumreisen konnte, <strong>hatte</strong> sie bereits erfahren,<br />

wenn sie von Breslau aus nach Posen fähren wollte. Die Gründe dieser<br />

Schwierigkeiten waren ihr bekannt, denn sie meint, „weil das ja noch eben so<br />

viel Polen warn da harn se das immer so vom Re<strong>ich</strong> jetrennt noch 44 . Diese Äußerung<br />

zeigt, daß sie von <strong>der</strong> Aufteilung Polens und <strong>zu</strong>mindest von <strong>der</strong> Aussiedlung<br />

großer Teile <strong>der</strong> polnischen Bevölkerung gewußt haben dürfte. Auch<br />

an dieser Stelle denkt Frau Borke n<strong>ich</strong>t darüber nach, was die Aussiedlung,<br />

aber auch die von den Nationalsozialisten organisierten Menschenrechtsverlet<strong>zu</strong>ngen<br />

für die polnische Bevölkerung bedeutet hat.<br />

Die Zeit in Posen und Breslau thematisiert Frau Borke grundsätzl<strong>ich</strong> unter<br />

dem Aspekt, daß sie dort insgesamt zieml<strong>ich</strong> enttäuscht worden seien, da sie<br />

dort ebenso wie in Lettland als Fremde galten:<br />

67


„in Lettland <strong>hatte</strong>n die Letten immer gesacht (1) ( ) also fahr in deine Heimat, was wollt ihr<br />

Deutschen hier (1) ahm, die Polen waren wir wollten ja gar n<strong>ich</strong> <strong>zu</strong> den Polen kommen n<strong>ich</strong> das<br />

wußten se ja gar n<strong>ich</strong> wie das alles vor s<strong>ich</strong> geht (2) ahm äh ((stockt))" (81 /17)<br />

2.2.5 Parteipolitische Aktivitäten in Posen: Das „Zählen von Polen"<br />

Nachdem Frau Borke <strong>zu</strong>sammen <strong>mit</strong> ihrem Vater nach Posen gezogen war, arbeitete<br />

sie <strong>zu</strong>nächst weiterhin in besagtem „Wehrmachtsbetrieb 44<br />

in Breslau.<br />

Da sie den Haushalt übernahm, ihren Vater auch teilweise bei dessen Arbeit<br />

als Pastor begleitete und s<strong>ich</strong> selbst unter schwierigen Umständen Arbeit aus<br />

Breslau beschaffen mußte, sei sie in dieser Zeit außerordentl<strong>ich</strong> stark belastet<br />

gewesen:<br />

„se konnten gar n<strong>ich</strong> so ohne weiteres im Krieje aufhörn, <strong>ich</strong> habe mir dann aus dem Labor wo<br />

<strong>ich</strong> in Breslau jearbeitet hab die Arbeit jeholt, und nebenbei dann Haushalt jeführt aber auf die<br />

Dauer jing das gar n<strong>ich</strong> un das war praktisch gar n<strong>ich</strong> durch<strong>zu</strong>führn se kr<strong>ich</strong>ten ja kaum Schlaf<br />

nech" (53/8)<br />

Daraufhin beschloß sie, ihre berufl<strong>ich</strong>e Tätigkeit auf<strong>zu</strong>geben, was s<strong>ich</strong> jedoch<br />

n<strong>ich</strong>t als einfach erwies, denn ihr damaliger Chef habe sie n<strong>ich</strong>t „freigeben<br />

44<br />

wollen, als sie ihm ihren Entschluß <strong>mit</strong>teilte, und habe gegen sie beim<br />

Arbeitsger<strong>ich</strong>t Klage eingere<strong>ich</strong>t. Die rechtl<strong>ich</strong>e Auseinan<strong>der</strong>set<strong>zu</strong>ng sei <strong>zu</strong><br />

ihren Gunsten entschieden worden, so daß sie ihre Tätigkeit habe beenden<br />

können.<br />

Später habe sie wie<strong>der</strong> eine Stelle als Chemielaborantin angenommen;<br />

wann und unter welchen Umständen das geschah, erfahren wir n<strong>ich</strong>t. Sie arbeitete<br />

bis <strong>zu</strong>m Tage ihrer Flucht im Januar 1945. Frau Borke erzählt, daß sie<br />

damals insbeson<strong>der</strong>e die Zusammenarbeit <strong>mit</strong> einem polnischen Assistenten<br />

als äußerst unangenehm empfand:<br />

„als <strong>ich</strong> in Posen <strong>mit</strong> em Polen da <strong>zu</strong>sammengearbeitet habe also (2) <strong>ich</strong> hab se versucht gle<strong>ich</strong>wertig<br />

<strong>zu</strong> behandeln, mein Chef war ein Re<strong>ich</strong>sdeutscher <strong>ich</strong> hab <strong>mit</strong> einem Polen <strong>zu</strong>sammenjearbeitet<br />

sach <strong>ich</strong> <strong>kam</strong> dahin also, da waren noch zwei an<strong>der</strong>e Polen und da hab <strong>ich</strong> ihm ach da war<br />

ein polnischer Assistent also das ganze Labor bestand hauptsächl<strong>ich</strong> aus Polen (1) dieser polnische<br />

Assistent war wi<strong>der</strong>l<strong>ich</strong>, ein wi<strong>der</strong>l<strong>ich</strong>er Hund (1) <strong>der</strong> s<strong>ich</strong> auch <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Putzhilfe einjelassen <strong>hatte</strong><br />

eine Deutsche wie eine Deutsche s<strong>ich</strong> <strong>mit</strong>, also so herablassen kann, <strong>ich</strong> hab n<strong>ich</strong>ts gegen die die<br />

Polen nech aber in solchen Situationen man muß eine gewisse Würde bewahren n<strong>ich</strong>" (83/3)<br />

Gle<strong>ich</strong>zeitig behauptet Frau Borke, sie habe eigentl<strong>ich</strong> „früher nie gegen<br />

die Polen was gehabt* 4 , obwohl ihre Erzählung eine an<strong>der</strong>e Einstellung verdeutl<strong>ich</strong>t,<br />

die wohl eher handlungsleitend war. In ihrer Argumentation wird<br />

nur die Nationalität erwähnt; aus welchem Grund <strong>der</strong> polnische Assistent ein<br />

„wi<strong>der</strong>l<strong>ich</strong>er Hund** gewesen sein soll, wird n<strong>ich</strong>t näher erläutert. Mit dem<br />

Verweis auf seine ethnische Zugehörigkeit scheint ihrer Meinung nach alles<br />

belegt <strong>zu</strong> sein. Ihre weitere Äußerung, die deutsche „Putzhilfe** habe s<strong>ich</strong><br />

da<strong>zu</strong> „herabgelassen**, <strong>mit</strong> dem polnischen Assistenten ein Verhältnis ein<strong>zu</strong>gehen,<br />

bestätigt diese Vermutung.<br />

68


Ihrem Chef — einem Re<strong>ich</strong>sdeutschen, wie sie betont — habe sie damals<br />

aufgrund <strong>der</strong> unerträgl<strong>ich</strong>en „Zusammenarbeit 41<br />

<strong>mit</strong> dem polnischen Assistenten<br />

<strong>mit</strong>geteilt, daß entwe<strong>der</strong> <strong>der</strong> polnische Assistent o<strong>der</strong> sie gehen werde.<br />

Mit <strong>der</strong> Begründung, daß <strong>der</strong> polnische Assistent aber ohnehin das Labor<br />

habe verlassen müssen, es deshalb keine weiteren Probleme gegeben habe,<br />

bagatellisiert sie auch hier, wie beim jüdischen Hausbesitzer in Breslau, das<br />

Schicksal dieser Menschen und ihren eigenen Vorteil daraus. Sie habe ihrem<br />

Chef auch vorgeworfen, daß er seine „Untergebenen 44<br />

n<strong>ich</strong>t r<strong>ich</strong>tig behandeln<br />

und in die Arbeit einweisen würde:<br />

„<strong>ich</strong> hab meinem Chef auch vorjeworfen daß er n<strong>ich</strong>t versteht dies polnische (I) Publikum <strong>zu</strong><br />

behandeln (I) also äh seine Untergebenen hab=<strong>ich</strong> = jesacht so kann man n<strong>ich</strong> <strong>mit</strong> Untergebenen<br />

umgehen, die <strong>kam</strong>en alle <strong>zu</strong> mir und frachten was se machen sollten (1) da <strong>hatte</strong> er eine auch in<br />

son, ja Straflager versetzen lassen weil se n<strong>ich</strong> so tat wie er wollte da=hab=<strong>ich</strong> = jesacht das is<br />

doch ein Wahnsinn was Sie jemacht haben, dadurch kriegen Sie doch n<strong>ich</strong> diese Symphatien dieser<br />

Frau das kann man doch in aller Freundl<strong>ich</strong>keit sagen" (83/18)<br />

Einerseits kritisierte Frau Borke also die mangelnden Führungsqualitäten<br />

ihres Vorgesetzten, die sie <strong>zu</strong>mindest teilweise aus<strong>zu</strong>gle<strong>ich</strong>en wußte; an<strong>der</strong>erseits<br />

fand sie seine Maßnahme, eine Polin in ein „Straflager versetzen 44<br />

<strong>zu</strong> lassen,<br />

<strong>zu</strong> rigoros. Ihrer Meinung nach resultierte sein unangemessenes Verhalten<br />

aus einem völligen „Unverständnis 44<br />

den Polen gegenüber, denn sie meint:<br />

Rieses Unverständnis em Polen gegenüber das is ein HtaAnsinn was er jemacht hat (2) und er<br />

stand immer völl<strong>ich</strong> je- st- betroffen da wenn <strong>ich</strong> ihm das sachte so kann man n<strong>ich</strong>t Untergebene<br />

behandeln <strong>zu</strong>mal n<strong>ich</strong>t Aus- Auslän<strong>der</strong>" (84/28)<br />

Warum man vor allem Auslän<strong>der</strong> bei <strong>der</strong> Arbeit strikt anleiten sollte, führt<br />

Frau Borke lei<strong>der</strong> n<strong>ich</strong>t näher aus. Es ist davon aus<strong>zu</strong>gehen, daß sie hier<br />

grundsätzl<strong>ich</strong> die Notwendigkeit betont, es müßten klare, auf den unterlegenen<br />

Status <strong>der</strong> Auslän<strong>der</strong> abgestimmte Handlungsprinzipien eingehalten werden.<br />

Darüber hinaus enthält ihr Einwand mögl<strong>ich</strong>erweise die strategisch bedeutsame<br />

Überlegung, unnötige Zwangsmaßnahmen o<strong>der</strong> willkürl<strong>ich</strong>es und<br />

<strong>zu</strong> nachlässiges Handeln könnten Feindschaft und Gegenwehr hervorrufen.<br />

<strong>Als</strong> Frau Borke von <strong>der</strong> Zeit in Posen erzählt, erfahren wir nebenbei durch<br />

Nachfragen von ihren parteipolitischen Aktivitäten und von denen ihres Vaters,<br />

die sie selbst verharmlost bzw. als bedeutungslos ausweist. Ihr Vater habe<br />

ein Abze<strong>ich</strong>en „als Deutscher 44<br />

tragen müssen, das er s<strong>ich</strong> allerdings selbst<br />

über den Altherrenbund, einer NS-Vereinigung von Akademikern, beschafft<br />

habe. Ebenso wie ihr Vater sei sie n<strong>ich</strong>t NSDAP-Mitglied gewesen und habe<br />

s<strong>ich</strong> auch n<strong>ich</strong>t politisch engagiert, dennoch aber ein Parteiabze<strong>ich</strong>en getragen:<br />

„und äh <strong>ich</strong> hab en Parteiabze<strong>ich</strong>en jetragen, aber <strong>ich</strong> war n<strong>ich</strong> in <strong>der</strong> Partei <strong>ich</strong> war nur Anwärter<br />

von <strong>der</strong> Partei" (86/2)<br />

Frau Borke benutzt im weiteren diese von <strong>der</strong> Partei vorgesehene Anwärterschaft<br />

in ihrer Argumentation, um ihre Beteiligung als selbstverständl<strong>ich</strong>e,<br />

69


weil ihr auferlegte und daher bedeutungslose Angelegenheit dar<strong>zu</strong>stellen.<br />

Prinzipiell scheint sie aber gegen ihre Position als Anwärterin <strong>der</strong> Partei n<strong>ich</strong>ts<br />

gehabt <strong>zu</strong> haben, denn auf die Frage, wie sie das Parteiabze<strong>ich</strong>en erhalten<br />

habe, antwortet sie:<br />

„da wurde <strong>ich</strong> <strong>zu</strong>r (Landes) <strong>zu</strong> dieser Parteistelle (1) äh ahm, jeholt und da harn sie jesacht wir<br />

geben ihnen dieses Parteiabze<strong>ich</strong>en, Se müssen ja eins haben (1) und Sie sind Anwärterin für die<br />

Partei, gut hab <strong>ich</strong> gesacht is in Ordnung nech <strong>ich</strong> hab gesacht und und das Buch wo is das, da<br />

ham se gesacht Buch kriegen se n<strong>ich</strong> hab <strong>ich</strong> gesacht gut kriech <strong>ich</strong> kein Buch ne hab m<strong>ich</strong> gar<br />

n<strong>ich</strong> drum gekümmert <strong>mehr</strong>" (87 / 32)<br />

Des weiteren versucht sie <strong>zu</strong> belegen, daß sie an parteipolitischen Aktivitäten<br />

kein Interesse gezeigt habe. Sie sei n<strong>ich</strong>t <strong>zu</strong> den Frauenschaftsabenden gegangen<br />

und habe deswegen sogar Schwierigkeiten bekommen, da ihre Nachbarin<br />

sie bei <strong>der</strong> betreffenden Hauptfrauenschaftsfuhrerin angezeigt habe:<br />

„und dann mußten wir immer <strong>zu</strong> solchen Frauenschaftsabenden gehen und <strong>ich</strong> jing n<strong>ich</strong> hin (1)<br />

und da sachte sie warum kommen Sie n<strong>ich</strong> da=hab=<strong>ich</strong>=jesacht was soll <strong>ich</strong> denn da (1) sacht <strong>ich</strong>,<br />

das is so pri<strong>mit</strong>iv was einem da jeboten wird einmal bin <strong>ich</strong> dajewesen <strong>ich</strong> sach was soll <strong>ich</strong> denn<br />

da (1) und da sacht se kann <strong>ich</strong> das weiterjeben hab <strong>ich</strong> gesacht bitte schön n<strong>ich</strong>" (86/32)<br />

Die Ablehnung <strong>der</strong> Frauenschaft war nun keineswegs politisch motiviert,<br />

lag also n<strong>ich</strong>t an einer grundsätzl<strong>ich</strong>en Kritik an <strong>der</strong> NSDAP und ihren Organisationen,<br />

son<strong>der</strong>n hing <strong>mit</strong> dem niedrigen Bildungsniveau dieser Frauentreffen<br />

<strong>zu</strong>sammen. Das erklärte sie auch <strong>der</strong> Hauptfrauenschaftsfuhrerin, vor<br />

<strong>der</strong> sie s<strong>ich</strong> verantworten mußte:<br />

„sach <strong>ich</strong> das is <strong>ich</strong> steh im Beruf (1) <strong>ich</strong> muß meinen Vater versorgen <strong>ich</strong> muß Feldpostbriefe<br />

schreiben hab <strong>ich</strong> jesacht, äh wa <strong>ich</strong> brauche ihre Feldpostbriefe n<strong>ich</strong> <strong>ich</strong> hab meine eigenen (1)<br />

und da sacht sie, ja soll <strong>ich</strong> Se anzeigen <strong>ich</strong>, <strong>ich</strong> hab jesacht, was wollen Se denn anzeigen wollen<br />

Sie anzeigen das Sie s<strong>ich</strong>, was Sie mir bieten, <strong>ich</strong> bin doch keine fö/fcschülerin hab <strong>ich</strong> gesacht<br />

was Sie da bieten da müssen Sie mir was an<strong>der</strong>es bieten" (87 /11)<br />

Da sie <strong>der</strong> Hauptfrauenschaftsfuhrerin überzeugend darlegen konnte, daß sie<br />

ohnehin genug leiste und beispielsweise auch Feldpostbriefe schreibe, sei sie<br />

n<strong>ich</strong>t angezeigt worden. Sie hätten s<strong>ich</strong> darauf geeinigt, daß Frau Borke künftig<br />

„ihr Mädchen 44<br />

hinschicken werde, die auch Volksdeutsche gewesen sei.<br />

<strong>Als</strong> Anwärterin <strong>der</strong> Partei mußte sie jedoch auch gewisse Aufgaben übernehmen.<br />

So habe sie in einem ihr <strong>zu</strong>geteilten Gebiet in Posen die polnische<br />

Bevölkerung „zählen müssen 44 . Frau Borke erzählt davon, als hätte es s<strong>ich</strong> um<br />

eine harmlose Tätigkeit gehandelt, die die Polen fast grundlos beunruhigte:<br />

„da mußten die Polen immer wie<strong>der</strong> also jezählt werden und ahm d al- <strong>ich</strong> sollte also die Polen<br />

da in meinem Bezirk da zahlen <strong>ich</strong> weiß n<strong>ich</strong> alle 3 Monate mußte das jemacht werden (1) und<br />

diese armen Polen die <strong>hatte</strong>n natürl<strong>ich</strong> fürchtbare Angst immer wenn <strong>ich</strong> <strong>zu</strong> ihnen jing dann wollten<br />

se n<strong>ich</strong> aufmachen .... <strong>ich</strong> zeig doch keinen an sacht=<strong>ich</strong> <strong>ich</strong> muß ja nur aufschreiben wieviel<br />

Personen da sind, kümmer m<strong>ich</strong> doch sonst um gar n<strong>ich</strong>ts" (88/6)<br />

Frau Borke verharmlost ihre Tätigkeit, indem sie diese als bloße Zählerei<br />

beschreibt und die gesamten Bedingungen, unter denen sie stattgefunden haben<br />

wird, sowie <strong>der</strong>en Folgen ausblendet. Sie negiert gle<strong>ich</strong>zeitig vollkom-<br />

70


men die begründete Angst <strong>der</strong> Polen vor Aussiedlungen, Deportationen und<br />

Zwangsverschickungen, die die deutsche Besat<strong>zu</strong>ngsmacht im sogenannten<br />

Warthegau vornahm. Denn bereits Ende Oktober/Anfang Februar 1939 begann<br />

die erste Phase, in <strong>der</strong> bis Ende Februar 1940 eine Million <strong>der</strong> polnischen<br />

Bevölkerung ihr Heimatland verlassen sollte (vgl. Deutschland im<br />

Zweiten Weltkrieg, Bd. 1, 1974:470). Die deutschen Okkupanten beabs<strong>ich</strong>tigten<br />

<strong>mit</strong> diesen Zwangsumsiedlungen letztendl<strong>ich</strong> eine „restlose Entpolnisierung<br />

44 , was auch Frau Borke bekannt gewesen ein dürfte. Indem Frau Borke<br />

ihre Aufgabe losgelöst von diesem Kontext beschreibt und die organisierten<br />

Verbrechen gegen die polnische Bevölkerung ausklammert, muß sie s<strong>ich</strong> n<strong>ich</strong>t<br />

<strong>der</strong> Frage nach <strong>der</strong> eigenen Beteiligung und Verantwortung stellen. Ferner<br />

blendet sie da<strong>mit</strong> auch aus, daß Land und Besitz <strong>der</strong> polnischen Bevölkerung<br />

u.a. von den angesiedelten Volksdeutschen, die wie Frau Borke „heim ins<br />

Re<strong>ich</strong> 44<br />

<strong>kam</strong>en, in Anspruch genommen wurden, so daß die bestehende Parallele<br />

zwischen ihrer Ansiedlung und <strong>der</strong> massenhaften Aussiedlung <strong>der</strong> Polen<br />

n<strong>ich</strong>t in ihr Bewußtsein rückt.<br />

Daß ihre Aufgabe vor dem Hintergrund einer angestrebten „Germanisierung<br />

44<br />

<strong>der</strong> annektierten polnischen Gebiete stand, muß ihr m.E. auch bekannt<br />

gewesen sein. Denn sie äußert s<strong>ich</strong> wie folgt:<br />

„ahm=ahm == ahm <strong>ich</strong> sagte schon also auf auf einen Deutschen <strong>kam</strong>en neun Bolen und die Polen<br />

die lebten alle in den sojenannten Hinterwohnungen nech ... und da mußten Se Pe- Polen<br />

durchjezählt werden und das mußten Se dann namentl<strong>ich</strong> weitermelden, meine Listen wurden nie<br />

fert<strong>ich</strong>" (89/12)<br />

Dadurch, daß ihre Listen angebl<strong>ich</strong> nie vollständig gewesen sind und sie<br />

stets nach dem Prinzip gehandelt habe, keinen Menschen an<strong>zu</strong>zeigen o<strong>der</strong> <strong>zu</strong><br />

verraten, kann sie ihre Tätigkeit als harmlos darstellen.<br />

In <strong>der</strong> gle<strong>ich</strong>en Weise erzählt sie auch von <strong>der</strong> Arbeit ihrer Schwester, die<br />

in einer „Landesdienststelle" tätig gewesen sei und s<strong>ich</strong> <strong>mit</strong> Ahnennachweisen<br />

befaßt habe. Ihre Schwester habe wie sie die Unterlagen nie vervollständigt<br />

und insbeson<strong>der</strong>e baltische Landsleute n<strong>ich</strong>t verraten. Für beide galt das<br />

Prinzip, „einen Landsmann hat man in keiner Weise verraten, ob er jüdisches<br />

Blut <strong>hatte</strong> o<strong>der</strong> n<strong>ich</strong> 44 . Das hätten sie bereits von Kindheit an in ihrem Elternhaus<br />

gelernt:<br />

„wissen Se das is Ihnen von klein auf anjezeigt worden das is eine Schweinerei das tut man n<strong>ich</strong>,<br />

jenauso wie petzen 44 (89/33)<br />

So wie sie in <strong>der</strong> Familie <strong>zu</strong>sammengehalten hätten, seien sie auch vor allem<br />

den baltischen Deutschen gegenüber solidarisch gewesen. Dieses Handlungsprinzip<br />

bezieht Frau Borke auch auf den Gedanken einer Volksgemeinschaft,<br />

die insbeson<strong>der</strong>e in Krisenzeiten <strong>zu</strong>sammenhalten müsse. Sie selbst habe wie<br />

ihr Vater die Meinung vertreten, „im <strong>Krieg</strong> darf es keine Gegenströmung geben<br />

44 , selbst wenn man <strong>mit</strong> <strong>Hitler</strong> und seiner Politik n<strong>ich</strong>t einverstanden gewesen<br />

sei:<br />

71


„im Kricje darf also n<strong>ich</strong> irjendwie Gegenströmung sein im gle<strong>ich</strong>en Volk, wenn man n<strong>ich</strong> <strong>zu</strong>sammenhält,<br />

dann kann man keinen Kriech gewinnen was nach dem <strong>Krieg</strong> kommt, setzt <strong>Hitler</strong><br />

ab soviel ihr wollt" (55/29)<br />

Aus dieser Perspektive betrachtet sie auch das Attentat auf <strong>Hitler</strong> vom 20.<br />

Juli 1944. Abgesehen davon, daß ihrer Meinung nach ein Deutscher ohnehin<br />

n<strong>ich</strong>t <strong>zu</strong> einem Attentat fähig ist, sei die „Uneinigkeit des deutschen Volkes 44<br />

ein bedeuten<strong>der</strong> Fehler gewesen, <strong>der</strong> von den Verantwortl<strong>ich</strong>en in seinem Ausmaß<br />

n<strong>ich</strong>t bedacht worden sei:<br />

„in Posen waren wir sehr <strong>zu</strong>frieden, daß ihm n<strong>ich</strong>ts passiert war (2) äh: n<strong>ich</strong> aus Liebe <strong>zu</strong> <strong>Hitler</strong><br />

(1) son<strong>der</strong>n weil auf einen Deutschen neun Polen noch <strong>kam</strong>en .... haben in <strong>der</strong> Wehrmacht große<br />

Truppentransporte stattgefunden ahm das is lei<strong>der</strong> alles (1) äh von den Herren n<strong>ich</strong>t r<strong>ich</strong>t<strong>ich</strong><br />

durchdacht worden" (54/9)<br />

Wenn das Attentat erfolgre<strong>ich</strong> verlaufen wäre, hätte anschließend zwischen<br />

Polen und Deutschen ein „wahnsinniges Blutbad 44<br />

stattgefunden. Aus diesem<br />

Grunde sei ihrer Meinung nach diese Aktion von vornherein ab<strong>zu</strong>lehnen gewesen,<br />

da s<strong>ich</strong>erl<strong>ich</strong> auch Racheakte <strong>der</strong> Polen <strong>zu</strong> befurchten gewesen seien.<br />

Das Jahr 1944 war fur Frau Borke <strong>mit</strong> schmerzvollen Erfahrungen verbunden,<br />

da ihr jüngerer Bru<strong>der</strong> Fritz „für Großdeutschland 44<br />

gefallen war. Fritz,<br />

<strong>der</strong> in <strong>der</strong> HJ organisiert war, <strong>hatte</strong> s<strong>ich</strong> freiwillig an die Front in <strong>der</strong> UdSSR<br />

begeben. Für ihn, wie für die meisten baltischen Deutschen, sei eine freiwillige<br />

Meldung selbstverständl<strong>ich</strong> gewesen. Dort sei er aber schon bald durch<br />

eine Mine verwundet worden, woraufhin ihm beide Beine amputiert werden<br />

mußten. „Gott sei Dank is er gestorben 44 , meint sie, denn „ein Mann ohne<br />

Beine, das war doch kein Mann gewesen 44 .<br />

Im Juli 1944 fiel ein „guter Bekannter 44<br />

von ihr, <strong>der</strong> — wie sie nach seinem<br />

Tod erfahren habe — Heiratsabs<strong>ich</strong>ten gehabt habe. Im nachhinein meint sie,<br />

daß sie einen Heiratsantrag von ihm angenommen hätte.<br />

Im Herbst des gle<strong>ich</strong>en Jahres erhielt sie eine weitere schlimme Nachr<strong>ich</strong>t.<br />

Seit September 1944 galt ihr Vetter als vermißt, und noch heute weiß sie n<strong>ich</strong>t,<br />

was <strong>mit</strong> ihm geschehen ist. Er sei ihr wie ein Bru<strong>der</strong> gewesen, denn sie seien<br />

in Riga <strong>zu</strong>sammen aufgewachsen und hätten auch ihre Jugendzeit gemeinsam<br />

verbracht.<br />

Frau Borke meint, daß sie diese Zeit als sehr schmerzvoll erlebt und damals<br />

<strong>zu</strong>m ersten Mal gedacht habe, „es ist <strong>zu</strong> Ende":<br />

„ja das war auch ne schlimme Zeit das war auch schlimm .... ja, das war zieml<strong>ich</strong> bitter war<br />

das aber da hatt <strong>ich</strong> wohl das Gefühl es ist <strong>zu</strong> Ende n<strong>ich</strong> und nach <strong>der</strong> Flucht sowieso (1) da <strong>hatte</strong>n<br />

Sie sowieso n<strong>ich</strong>ts nech und (2)" (78/23)<br />

2.2.6 Flucht und <strong>Krieg</strong>sende: Der psychische Zusammenbruch<br />

<strong>Als</strong> Familie Borke erfahren <strong>hatte</strong>, daß ihre Familienangehörigen an <strong>der</strong><br />

Front gefallen waren o<strong>der</strong> als vermißt galten, und es vor allem hieß, „<strong>der</strong> Ansturm<br />

auf Posen hat begonnen**, bereitete sie relativ schnell ihre Flucht vor.<br />

72


Zusammen <strong>mit</strong> ihrem Vater, ihrer Schwester und einer fünfjährigen N<strong>ich</strong>te<br />

verließ Frau Borke Ende Januar 1945 Posen <strong>mit</strong> dem Zug. Frau Borke erinnert<br />

s<strong>ich</strong> noch an die unzähligen Verwundeten, die sie damals sah. Auch eine Begegnung<br />

<strong>mit</strong> ungefähr 14- bis 16-jährigen <strong>Hitler</strong>jungen, die trotz auss<strong>ich</strong>tsloser<br />

Lage an <strong>der</strong> Ostfront gegen die Rote Armee kämpfen wollten, kann Frau<br />

Borke n<strong>ich</strong>t vergessen:<br />

„also <strong>mit</strong> einer Begeisterung sind die ((<strong>Hitler</strong>jungen)) da in den Tod reinjefahm in einem voll <strong>ich</strong><br />

leeren Zuch (2) aber Sie konnten die n<strong>ich</strong> aufhalten .... <strong>ich</strong> konnte nur schreien und rufen kommt<br />

<strong>mit</strong> uns (3) also dies Bild seh <strong>ich</strong> auch noch immer diese vier Jungs, das sind so Bil<strong>der</strong> die Sie<br />

n<strong>ich</strong> loswerden diese, Stadt in <strong>der</strong> Auflösung (2) und diese Jungs" (66/10)<br />

<strong>Als</strong> <strong>der</strong> Zug an<strong>kam</strong>, in den sie einsteigen wollten, entstand ein hektisches<br />

Gedrängel. Dabei wurde ihre fünfjährige N<strong>ich</strong>te unter den stehenden Zug gedrängt.<br />

Frau Borke schrie daraufhin laut und konnte sie glückl<strong>ich</strong>erweise wie<strong>der</strong><br />

hervorziehen, ohne daß ihr dadurch etwas geschah. <strong>Als</strong> sie dann endl<strong>ich</strong><br />

<strong>zu</strong>sammen in den Zug einsteigen wollten, wurde ihr Vater daran gehin<strong>der</strong>t.<br />

Verschiedene Frauen versuchten ihn auf<strong>zu</strong>halten, weil sie <strong>der</strong> Meinung waren,<br />

daß alle Männer in Posen bleiben sollten. Sie reagierte in dieser Situation<br />

energisch und entgegnete den Frauen, „dieser alte Mann kann in Posen auch<br />

n<strong>ich</strong>ts <strong>mehr</strong> machen". <strong>Als</strong> sie s<strong>ich</strong> dann in den Zug gedrängt <strong>hatte</strong>n, habe sie<br />

jedoch kaum etwas empfinden können:<br />

„und dann saßen wir nun glückl<strong>ich</strong> drin es war, <strong>ich</strong> weiß n<strong>ich</strong> man <strong>hatte</strong> keine Jefuhle <strong>mehr</strong> (1)<br />

Sie <strong>hatte</strong>n auch we<strong>der</strong> in diesen sechzehn Stunden Sie harn es war eisig kalt Sie harn n<strong>ich</strong> jefrorn<br />

Sie <strong>hatte</strong>n keinen Hunger Sie <strong>hatte</strong>n keinen Durst wir <strong>hatte</strong>n ja n<strong>ich</strong>ts <strong>zu</strong> essen n<strong>ich</strong>" (66/17)<br />

Ob ihr damals bereits bewußt wurde, daß <strong>der</strong> <strong>Krieg</strong> verloren und das Ziel<br />

eines „Großdeutschen Re<strong>ich</strong>es", auf das sie gehofft <strong>hatte</strong>, gescheitert war, erfahren<br />

wir an dieser Stelle n<strong>ich</strong>t. Die Tragweite ihrer Flucht konnte sie damals<br />

in dieser Situation wohl kaum erfassen. Frau Borke erzählt uns, daß sie damals<br />

auf eine ihr typische Weise reagiert habe:<br />

„<strong>ich</strong> bin in solchen Momenten eiskalt <strong>ich</strong> bin ahm nachher immer aufjerecht... ja da Jon sei<br />

Dank is mir diese Gabe also meine Schwester war ja auch auf em, auf <strong>der</strong> Flucht, die war in einem<br />

Heulen und (1) <strong>ich</strong> war äh völl<strong>ich</strong> völl<strong>ich</strong> kalt n<strong>ich</strong> .. das kommt hinter mir, her," (59/1)<br />

Ihre Reaktion sei dann später eingetreten, als sie nach <strong>der</strong> Flucht in einer<br />

Kleinstadt in <strong>der</strong> Nähe von Konstanz wohnten, wo auch einer ihrer Onkel<br />

lebte. Frau Borke erzählt von einer tiefgehenden Krise, in die sie geraten sei.<br />

Ausgelöst worden sei sie in dem Moment, als die Heimkehrer nach Hause <strong>kam</strong>en<br />

und ihr bewußt geworden sei, daß keiner <strong>mehr</strong> <strong>zu</strong> ihnen kommen werde.<br />

Sie sei regelrecht „durchgedreht" und „hysterisch" geworden, hätte sogar ihren<br />

Vater, <strong>mit</strong> dem sie nie gestritten <strong>hatte</strong>, angeschrien. Frau Borke muß s<strong>ich</strong><br />

in einem Zustand völliger Verzweiflung und einem psychischen Zusammenbruch<br />

nahe befunden haben, was s<strong>ich</strong> ihren folgenden Äußerungen entnehmen<br />

läßt:<br />

73


„das war gle<strong>ich</strong> nach <strong>der</strong> Flucht nachmals <strong>der</strong> Kriech vorbei war da bin <strong>ich</strong> r<strong>ich</strong>t<strong>ich</strong> durchjedreht<br />

(l) und ahm (1) äh (2) ja war=<strong>ich</strong> da r<strong>ich</strong>t<strong>ich</strong> hysterisch also <strong>ich</strong> jebs ohne weiteres <strong>zu</strong> (1)<br />

ahm (2) als anfingen die Heimkehrer nach Hause <strong>zu</strong> kommen (1) und <strong>ich</strong> wußte das <strong>zu</strong> uns keiner<br />

<strong>mehr</strong> kommt, weil die alle tot warn n<strong>ich</strong>, da bin <strong>ich</strong> r<strong>ich</strong>t<strong>ich</strong> ausjeflippt <strong>ich</strong> kann jetzt schon noch<br />

(heulen) noch bald wie<strong>der</strong> anfangen darüber <strong>zu</strong> heulen" (48/3)<br />

Vermutl<strong>ich</strong> wurde die Trauer um den Verlust ihrer Familienangehörigen<br />

noch dadurch verstärkt, daß ihr bewußt wurde, wie nutzlos <strong>der</strong>en Einsatz und<br />

persönl<strong>ich</strong>es Engagement an <strong>der</strong> Front gewesen waren. Noch heute leidet Frau<br />

Borke unter <strong>der</strong> schmerzvollen Erfahrung, daß s<strong>ich</strong> insbeson<strong>der</strong>e ihre baltischen<br />

Landsleute und Familienangehörigen <strong>mit</strong> ihrem Leben für einen „deutschen<br />

Endsieg" geopfert <strong>hatte</strong>n, ohne daß dadurch etwas erre<strong>ich</strong>t worden sei.<br />

Auch ihre eigenen Zukunftsvorstellungen und Ideale, die sie <strong>mit</strong> dem Nationalsozialismus<br />

verbunden <strong>hatte</strong>, waren für Frau Borke <strong>mit</strong> dem verlorenen<br />

<strong>Krieg</strong> gescheitert. Zu dem Zeitpunkt dachte sie, „alles ist aus" und „das Leben<br />

ist jetzt <strong>zu</strong> Ende":<br />

„nach <strong>der</strong> Flucht wie <strong>ich</strong> schon sachte da hab <strong>ich</strong> mir immer gedacht also es is erledigt nech<br />

,das Leben' is jetzt <strong>zu</strong> Ende, bißchen früh aber es is () dein persönl<strong>ich</strong>es Leben also das intimste<br />

und was du dir gewünscht hast, das is vorbei" (92/15)<br />

Mit dem verlorenen <strong>Krieg</strong> sah Frau Borke auch ihr persönl<strong>ich</strong>es Leben als<br />

gescheitert an. Denn n<strong>ich</strong>t nur die ersehnte Zukunft eines Großdeutschen Re<strong>ich</strong>es<br />

war verloren, son<strong>der</strong>n gle<strong>ich</strong>zeitig sei ihr auch vollkommen klar gewesen,<br />

daß sie keinen Lebenspartner <strong>mehr</strong> finden und da<strong>mit</strong> auch keine eigene Familie<br />

gründen werde. Der Mann, den sie geheiratet hätte, war im <strong>Krieg</strong> gefallen.<br />

Obwohl Frau Borke <strong>zu</strong>nächst keinen Sinn <strong>mehr</strong> in ihrem Leben finden<br />

konnte, wußte sie dennoch weiterhin ihren Lebensalltag <strong>zu</strong> organisieren. Dabei<br />

habe auch <strong>der</strong> Glaube an Gott, vermutl<strong>ich</strong> aber auch die Sorge um den Vater<br />

geholfen.<br />

Wie bereits erwähnt, war Frau Borke in eine Kleinstadt in <strong>der</strong> Nähe von<br />

Konstanz geflüchtet, wo sie durch den Einmarsch <strong>der</strong> Franzosen das <strong>Krieg</strong>sende<br />

erlebte. Sie erzählt, daß s<strong>ich</strong> die deutsche Bevölkerung den Franzosen<br />

gegenüber „schlimm" verhalten habe:<br />

„ja schlimm war es wie die deutsche Bevölkerung s<strong>ich</strong> den Franzosen gegenüber benommen hat<br />

(1) hab <strong>ich</strong> n<strong>ich</strong> verstanden und das werd <strong>ich</strong> n<strong>ich</strong>t verstehn, die sind den Franzosen <strong>mit</strong> Blumen<br />

entjejenjegangen und=da harn wir jesacht tut das n<strong>ich</strong>, und dann warn se furchtbar empört d=<strong>der</strong><br />

Franzose ... hat da einfach in die Menge hereingeschossen und die warn dann wild empört d=<strong>der</strong><br />

Franzose <strong>der</strong> ... hat da einfach in die Menge hereinjeschossen und wir kommen <strong>mit</strong> Blumen wir<br />

harn <strong>ich</strong> hab jesacht ja <strong>ich</strong> hab euch das doch gle<strong>ich</strong> gesacht tut das n<strong>ich</strong>" (33 /17)<br />

Obwohl sie selbst damals äußerst resigniert und hoffnungslos gewesen sein<br />

dürfte, behielt sie dennoch ihre selbstbewußte Haltung beim Einmarsch <strong>der</strong><br />

Franzosen und übernahm n<strong>ich</strong>t so ohne weiteres die Rolle eines unterwürfigen<br />

Verlierers. Deutl<strong>ich</strong> wird das an einer Auseinan<strong>der</strong>set<strong>zu</strong>ng <strong>mit</strong> einem französischen<br />

Offizier, bei <strong>der</strong> sie hartnäckig auf den Ersatz einer zerbrochenen<br />

Fensterscheibe bestand:<br />

74


„dann sachte er, ja sie haben wahrscheinl<strong>ich</strong> auch im Hotel <strong>mit</strong> einem Franzosen jetanzt (1) nein<br />

hab <strong>ich</strong> jesacht <strong>ich</strong> hab n<strong>ich</strong> <strong>mit</strong> einem Franzosen jetanzt (1) ja aber das tun doch alle deutschen<br />

Mädchen na =ja=hab=<strong>ich</strong> = jesacht tun viele <strong>ich</strong> n<strong>ich</strong> <strong>ich</strong> habs n<strong>ich</strong> jetan (2) und <strong>ich</strong> sach, wissen<br />

Se was <strong>ich</strong> werde ihnen sajen (1) Sie sind, Sie sind hier nach Deutschland einmarschiert, Sie sitzen<br />

jetz hier und bestimmen über uns, Sie sind unser Feind (I) und <strong>mit</strong> Feinden tanz <strong>ich</strong> n<strong>ich</strong><br />

<strong>ich</strong>=sacht wenn die Zeit kommt das alles s<strong>ich</strong> beruhigt hat dann bin <strong>ich</strong> auch bereit wie<strong>der</strong> <strong>mit</strong><br />

einem Franzosen <strong>zu</strong> tanzen (2) und <strong>ich</strong> hah die Fensterscheiben jekr<strong>ich</strong>t" (35/16)<br />

Daß Frau Borke in dieser Zeit handlungs- und durchset<strong>zu</strong>ngsfähig blieb, gelang<br />

ihr m.E. vor allem auch deswegen, weil sie ihre vergangenen politischen<br />

Aktivitäten n<strong>ich</strong>t grundsätzl<strong>ich</strong> hinterfragte. Nach wie vor <strong>hatte</strong> sie ein Selbstwertgefühl<br />

als Deutsche, denn auch nach 1945 wurde die bereits in <strong>der</strong> Kindheit<br />

entstandene Orientierung am Deutschtum n<strong>ich</strong>t <strong>zu</strong> einem ideologischen<br />

Problem.<br />

Nach <strong>Krieg</strong>sende erre<strong>ich</strong>te Frau Borke problemlos ihre Entnazifizierung:<br />

„da mußte man ja, also entnazifiziert werden (1) dann bin <strong>ich</strong> hinjegangen <strong>zu</strong>m Rathaus und hab<br />

mein Parteiabze<strong>ich</strong>en abjegeben und da harn sie gesacht wo is ihr Parteibuch hab=<strong>ich</strong> = jesacht<br />

hab <strong>ich</strong> nie gehabt (1) <strong>ich</strong> war nur Anwärter <strong>ich</strong> hab gar kein Papier jehabt 'drüber* <strong>ich</strong> hab auch<br />

n<strong>ich</strong> jehabt (1) ja da müssen Sie entnazifiziert werden, gut hab <strong>ich</strong> gesacht werd <strong>ich</strong> entnazifiziert<br />

(1).... dieses Papierchen hab <strong>ich</strong> noch heute, das <strong>ich</strong> entnazifiziert bin also mir is überhaupt n<strong>ich</strong>ts<br />

passiert" (86/5)<br />

Frau Borke wußte darüber hinaus auch, den tägl<strong>ich</strong>en Lebensunterhalt fur<br />

s<strong>ich</strong> und ihren Vater <strong>zu</strong> organisieren. Gle<strong>ich</strong> nach <strong>der</strong> Flucht habe sie wie<strong>der</strong><br />

als Chemielaborantin in einem Labor arbeiten können, jedoch sei die persönl<strong>ich</strong>e<br />

Beziehung <strong>zu</strong>m Chef außerordentl<strong>ich</strong> schlecht gewesen, und sie habe<br />

s<strong>ich</strong> gegen ihn durchsetzen müssen. <strong>Als</strong> er sie beschuldigte, Geld entwendet<br />

<strong>zu</strong> haben, re<strong>ich</strong>te sie beim Arbeitsger<strong>ich</strong>t Klage gegen ihn ein. Gle<strong>ich</strong>zeitig<br />

kündigte sie ihre Arbeit, da ihr die ungerechtfertigten Beschuldigungen und<br />

schlechten Arbeitsbeziehungen un<strong>zu</strong>mutbar erschienen. Anschließend r<strong>ich</strong>tete<br />

sie s<strong>ich</strong> eine Nähwerkstatt ein und finanzierte da<strong>mit</strong> den Lebensunterhalt.<br />

Bis 1947, als sie <strong>zu</strong>sammen <strong>mit</strong> ihrem Vater direkt nach Konstanz umzog, beschäftigte<br />

sie s<strong>ich</strong> <strong>mit</strong> Näharbeiten.<br />

2.2.7 Nachkriegszeit: „hier hat mein Leben aufgehört"<br />

Frau Borke lebte ab 1947 <strong>mit</strong> ihrem Vater <strong>zu</strong>sammen in Konstanz. Dort<br />

<strong>hatte</strong> <strong>der</strong> bereits 73jährige eine Anstellung als Pastor in einem psychiatrischen<br />

Landeskrankenhaus erhalten. Sie selbst war dort wie<strong>der</strong> als Chemielaborantin<br />

beschäftigt. Zunächst lebten sie in einem Flüchtlingslager, in dem auch die<br />

Frau eines ehemals hohen Parteifunktionärs, <strong>der</strong> 1945 Selbstmord begangen<br />

<strong>hatte</strong>, aufgenommen worden war. Frau Borke lernte diese Frau kennen und<br />

freundete s<strong>ich</strong> <strong>mit</strong> ihr an. Diese Freundschaft, durch die sie viel über die Nazis<br />

erfuhr, ist aber schließl<strong>ich</strong> durch folgende Begebenheit beendet worden:<br />

„meine Freundschaft <strong>mit</strong> ihr wenn mans Freundschaft nennen will ja (1) äh sie is unjerecht behandelt<br />

worden und äh ahm (1) jing auseinan<strong>der</strong>, als <strong>ich</strong> eines Tages bei ihr war, das war <strong>zu</strong> Weih-<br />

75


nachten da <strong>hatte</strong> se eine Weihnachtsdecke einen wun<strong>der</strong>schönen Brokat (1) ahm also das is ein gutes<br />

Ze<strong>ich</strong>en ihre Angestellten haben viele Sachen fur sie gerettet da sacht <strong>ich</strong> son wun<strong>der</strong>schönen<br />

Brokat hab <strong>ich</strong> noch nie gesehn, wo harn Sie den eigentl<strong>ich</strong> her da sachte se mir ach das is<br />

das Gewand eines römischen Priesters das hat mein Mann mal <strong>mit</strong>jebracht und daraus hab <strong>ich</strong> mir<br />

dann diese Decke gemacht (1) und da war bei mir <strong>der</strong> Ofen aus (1) also das war mir so wi<strong>der</strong>l<strong>ich</strong>"<br />

(K8/230)<br />

Es waren die Enteignung und Zweckentfremdung eines priesterl<strong>ich</strong>en Gewandes,<br />

die Frau Borke vor allem als Tochter eines Pastors befremdeten und<br />

sie die Freundschan aufkündigen ließen.<br />

Doch ihre christl<strong>ich</strong> geprägten Wert- und Moral Vorstellungen weisen auch<br />

Grenzen auf, denn auf die Frage, ob sie etwas von <strong>der</strong> Euthanasie erfahren<br />

hätte, antwortet sie wie folgt:<br />

„da <strong>hatte</strong> <strong>ich</strong> selbst große Schwierigkeiten (1) als <strong>ich</strong> nach Konstanz <strong>kam</strong>, erstens <strong>hatte</strong> <strong>ich</strong> Angst<br />

vor den Kranken jehabt (1) und: äh <strong>ich</strong> wurde da<strong>mit</strong> n<strong>ich</strong> fert<strong>ich</strong> das hier so viele Kranke herumlau<br />

fen also, wo sie als normaler Mensch sajen die sind total unnormal, die werden nie normal (1) und<br />

normale Menschen in Bunkern saßen (1) und n<strong>ich</strong>ts <strong>zu</strong> essen <strong>hatte</strong>n und n<strong>ich</strong>ts an<strong>zu</strong>ziehen <strong>hatte</strong>n<br />

und die hier alle, also an denen .. äußerl<strong>ich</strong> <strong>der</strong> <strong>Krieg</strong> spurlos vorbeigegangen is nech, wohnten<br />

weiter in Heimen .... da hab <strong>ich</strong> manchmal jesacht also irgendwie kann <strong>ich</strong> das n<strong>ich</strong> verstehn und<br />

kr<strong>ich</strong> n<strong>ich</strong> die Enden <strong>zu</strong>sammen (2) also äh=äh für m<strong>ich</strong> war das damals irjendwie un-irjendwie<br />

M/ibegreiflieh die Normalen die=die (1) saßen da wie Verrückten ((lacht)) und die Verrückten die<br />

liefen da herum wie die Normalen" (51/30)<br />

Frau Borke bezieht s<strong>ich</strong> s<strong>ich</strong> hierbei auf die in Konstanz bestehende kirchl<strong>ich</strong>e<br />

Versorgung geistig und körperl<strong>ich</strong> Behin<strong>der</strong>ter sowie psychisch Kranker<br />

in <strong>der</strong> Nachkriegszeit, die ihrer Meinung nach n<strong>ich</strong>ts vom Weltgeschehen <strong>mit</strong>bekommen<br />

hätten. Sie meint, die „Welt war verdreht", denn anstelle <strong>der</strong><br />

„Normalen" erhielten die „Unnormalen" die begrenzt <strong>zu</strong>r Verfügung stehenden<br />

Unterstüt<strong>zu</strong>ngsleistungen.<br />

Während <strong>der</strong> Nachkriegszeit, wo sie s<strong>ich</strong>erl<strong>ich</strong> anges<strong>ich</strong>ts des verlorenen<br />

<strong>Krieg</strong>es und <strong>der</strong> Desillusionierung über ihre Zukunft äußerst resigniert und<br />

hoffnungslos gewesen sein dürfte, kümmerte s<strong>ich</strong> Frau Borke intensiv um ihren<br />

Vater. Seit dem Tod ihrer Mutter im Jahr 1942 habe sie ihren Vater betreut<br />

und s<strong>ich</strong> stets <strong>mit</strong> ihm in Eintracht befunden — bis auf die bereits erwähnte<br />

psychische Krise. In Konstanz habe sie s<strong>ich</strong> <strong>mit</strong> ihm, obwohl sie auf engstem<br />

Raum hätten <strong>zu</strong>sammenleben müssen, auch sehr gut verstanden:<br />

„<strong>ich</strong> hab meinen Vater 13 Jahre betreut, <strong>ich</strong> habe <strong>mit</strong> ihm (2) neun Jahre in einem Zimmer leben<br />

müssen ((langsam gesprochen)) (3) wir haben uns son Wandschirm gemacht, da<strong>mit</strong> die Betten jetrennt<br />

wird <strong>ich</strong> habe kein an<strong>der</strong>n Raum jekr<strong>ich</strong>t obwohl <strong>ich</strong> hun<strong>der</strong>tmal drum jebeten hab (1) und<br />

habe jesacht das is unnatürl<strong>ich</strong> (1) aber es hat alles n<strong>ich</strong>ts jeholfen (2) und <strong>ich</strong> bin sehr stolz darauf<br />

wir haben uns in diesen 9 Jahren kein Mal gezankt, kein Mal*' (47 /17)<br />

Im Jahr 1956 starb ihr Vater, nachdem sie ihn <strong>zu</strong> Hause ungefähr vier Monate<br />

gepflegt <strong>hatte</strong>. Die Zeit während seiner Krankheit beze<strong>ich</strong>net sie als<br />

außerordentl<strong>ich</strong> schwierig, jedoch sei sie gle<strong>ich</strong>zeitig auch wun<strong>der</strong>schön gewesen.<br />

Der Tod ihres Vaters sei wie <strong>der</strong> ihrer Mutter eine <strong>der</strong> schmerzvollsten<br />

Erfährungen ihres Lebens überhaupt gewesen. Berücks<strong>ich</strong>tigt man, daß nach<br />

76


dem verlorenen <strong>Krieg</strong> aus ihrer Perspektive für sie die Zukunft zerbrochen war<br />

und sie vermutl<strong>ich</strong> vor allem durch die intensive Betreuung des Vetters ihren Lebensmut<br />

n<strong>ich</strong>t aufgegeben <strong>hatte</strong>, so dürfte ihr nach seinem Tod das weitere Leben<br />

als vollkommen sinnlos erschienen sein. Denn <strong>der</strong> Mensch, <strong>mit</strong> dem sie<br />

zeitlebens fast ohne Unterbrechung <strong>zu</strong>sammengelebt und für den sie die letzten<br />

Jahre stets gesorgt <strong>hatte</strong>, war gestorben.<br />

Kaum war <strong>der</strong> Vater gestorben, wurde ihr die von <strong>der</strong> Kirche <strong>zu</strong>geteilte Wohnung<br />

gekündigt. Aufgrund des damals bestehenden knappen Wohnraumes fand<br />

sie bald darauf unter äußerst schwierigen Bedingungen eine sehr kleine Wohnung,<br />

die außerdem noch feucht war. Sie wohnte dort von 1956 bis 1969, bis sie<br />

eine bessere Wohnung erhielt, in <strong>der</strong> sie noch heute lebt. Frau Borke meint, daß<br />

sie in diesem feuchten Wohnraum, in dem sie insgesamt 13 Jahre gelebt hat,<br />

Asthma und Bronchitis bekommen hat. Ihre Krankheit sowie die Tätsache, daß<br />

sie es als ansonsten sehr durchset<strong>zu</strong>ngsfähige Frau <strong>der</strong>art lange in dem schlechten<br />

Wohnraum aushielt, verweisen m.E. darauf, daß Frau Borke s<strong>ich</strong> n<strong>ich</strong>t<br />

<strong>mehr</strong> aktiv für ein „besseres" Leben einsetzen und ihre Zukunft planen<br />

mochte. Deutl<strong>ich</strong> wird das auch an ihrer Antwort auf die am Ende des Interviews<br />

gestellte Frage, ob sie gerne von ihrem Leben erzählt habe:<br />

„ach wissen Sie (2) irjendwie gehen die Gedanken ja immer irjendwie <strong>mit</strong> und Sie sajen hier hat<br />

mein Leben aufgehört, alles an<strong>der</strong>e war nur noch Pfl<strong>ich</strong>t und naja man mußte leben n<strong>ich</strong> man mußte<br />

kämpfen um vorwärts <strong>zu</strong> kommen" (K7 / 567)<br />

2.2.8 Ein Leben in Fremdheit<br />

Bereits in <strong>der</strong> Kindheit <strong>hatte</strong> Ursula Borke milieuspezifische Handlungsorientierungen<br />

und Deutungsmuster internalisiert, die zeitlebens von Bedeutung<br />

waren. Sozialisiert in einem <strong>der</strong> bildungsbürgerl<strong>ich</strong>en Sch<strong>ich</strong>t <strong>zu</strong>gehörigen<br />

deutschnationalen Milieu in Lettland, <strong>hatte</strong> sie als Kind intuitiv die gesellschaftspolitische<br />

Einstellung ihrer Eltern übernommen. Unterstützt wurde<br />

diese Einstellung durch die Erfahrungen während <strong>der</strong> russischen Revolution,<br />

als insbeson<strong>der</strong>e ihr Vater, aber auch die ganze Familie gefährdet war. Diese Erfahrungen<br />

dürften neben <strong>der</strong> Ausbildung einer politischen Einstellung auch bewirkt<br />

haben, daß s<strong>ich</strong> eine enge Orientierung am Vater und eine intensive familiäre<br />

Bindung ergaben, die in Frau Borkes Leben handlungsorientierend blieben.<br />

Die Verhaftungen des Vaters durch die Sowjets führten aber vor allem <strong>zu</strong><br />

einem tiefgehenden Ressentiment gegen die kommunistische Weltanschauung<br />

und ihre Vertreter.<br />

Während ihrer Jugend und <strong>der</strong> Zeit als junge Erwachsene waren die in <strong>der</strong><br />

Kindheit ausgebildeten Orientierungen weiterhin handlungs- und entscheidungsrelevant.<br />

Frau Borke thematisiert immer wie<strong>der</strong> die Situation <strong>der</strong> deutschen<br />

Min<strong>der</strong>heit in Lettland, die während <strong>der</strong> Zeit <strong>der</strong> lettländischen Demokratie<br />

in ihren Rechten <strong>zu</strong>nächst eingeschränkt worden war, und ihr Interesse an<br />

<strong>der</strong> „Aufrechterhaltung des Deutschtums".<br />

77


Auffallend ist, daß Frau Borke keine persönl<strong>ich</strong>en Erfahrungen erzählt, obwohl<br />

sie Lettland als ihre Heimat begreift und dort die normalerweise ereignisre<strong>ich</strong><br />

verlaufende Jugendphase verlebte. Die Ausblendung ihrer persönl<strong>ich</strong>en<br />

Erfahrungen vom ungefähr 8. bis <strong>zu</strong>m 27. Lebensjahr hängt vermutl<strong>ich</strong> <strong>mit</strong> ihrem<br />

damaligen politischen Engagement fur den „Erhalt des Deutschtums 44<br />

<strong>zu</strong>sammen.<br />

Unter Berücks<strong>ich</strong>tigung <strong>der</strong> historischen Ereignisse ist davon aus<strong>zu</strong>gehen,<br />

daß Frau Borke s<strong>ich</strong> <strong>mit</strong> dem auch in Lettland <strong>zu</strong> Beginn <strong>der</strong> 30er Jahre<br />

aufkeimenden Nationalsozialismus identifizierte. Bestätigt wird das im weiteren<br />

durch das Datum, daß sie bereits im Frühjahr 1939 „vorausging, um auch<br />

einmal ein Stück Deutschland <strong>zu</strong> erleben 44 . In diesem Zusammenhang erfahren<br />

wir auch, daß sie im Verein fur die Auslandsdeutschen organisiert war, <strong>der</strong> s<strong>ich</strong><br />

im weitesten Sinne für das „Deutschtum 44<br />

einsetzte und Aufenthalts- und Ausbildungsmögl<strong>ich</strong>keiten<br />

im Deutschen Re<strong>ich</strong> ermögl<strong>ich</strong>te.<br />

Ihre Orientierung an <strong>der</strong> nationalsozialistischen Politik zeigt, daß sie s<strong>ich</strong> —<br />

wie viele Baltendeutsche — eine Erstarkung <strong>der</strong> deutschen Kultur auch in ihrer<br />

Heimat Lettland versprach. Interessiert am Nationalsozialismus, setzte sie s<strong>ich</strong><br />

da<strong>mit</strong> jedoch für eine Machtpolitik ein, die <strong>zu</strong>nächst <strong>zu</strong>r Umsiedlung ab Oktober<br />

1939 und schließl<strong>ich</strong> <strong>zu</strong> ihrem Heimatverlust führte.<br />

Vorerst betrachtete Frau Borke, wie ihre Familie, die s<strong>ich</strong> selbstverständl<strong>ich</strong><br />

aufgrund ihrer deutschnationalen Interessen und antikommunistischen Haltung<br />

für eine Umsiedlung ins Deutsche Re<strong>ich</strong> entschieden <strong>hatte</strong>, die Zeit in Breslau<br />

und Posen als vorübergehend. Sie mußte jedoch die enttäuschende Erfahrung<br />

machen, daß sie trotz ihrer deutschen Nationalität als Fremde galt und dementsprechend<br />

behandelt wurde. Auch wenn sie damals als „Eindringlinge 44<br />

galten,<br />

verbanden Frau Borke und ihr Vater dennoch große Hoffnungen <strong>mit</strong> <strong>der</strong> nationalsozialistischen<br />

Politik, und sie engagierten s<strong>ich</strong> für die Partei, indem sie parteipolitische<br />

Aufgaben übernahmen.<br />

Heute versucht Frau Borke jedoch, s<strong>ich</strong> als politisch unbedarft hin<strong>zu</strong>stellen<br />

und ihre damaligen Aktivitäten <strong>zu</strong> verharmlosen. So erzählt sie von ihrer Tätigkeit<br />

in Posen, wo sie als Anwärterin <strong>der</strong> Partei „Polen habe zählen müssen 44 , als<br />

ob es s<strong>ich</strong> dabei nur um eine harmlose und ihr auferlegte Aufgabe gehandelt<br />

hätte. Sie versucht ferner, s<strong>ich</strong> als <strong>der</strong> Partei gegenüber kritisch distanziert dar<strong>zu</strong>stellen,<br />

doch ihre geringfügigen Meinungsverschiedenheiten verweisen auf<br />

ihr bildungsbürgerl<strong>ich</strong>es Überlegenheitsgefuhl gegenüber Partei<strong>mit</strong>glie<strong>der</strong>n in<br />

niedriger Position und waren keineswegs politisch motiviert. Insgesamt wird<br />

aus ihren Erzählungen deutl<strong>ich</strong>, daß sie s<strong>ich</strong> — wie auch in Lettland — <strong>mit</strong> <strong>der</strong><br />

Idee <strong>der</strong> Überlegenheit <strong>der</strong> Deutschen identifizierte, keine Einwände gegen den<br />

deutschen Nationalsozialismus <strong>hatte</strong> und am Prinzip des „Zusammenhalts <strong>der</strong><br />

deutschen Volksgemeinschaft 44<br />

festhielt.<br />

Indem Frau Borke ihre politischen Aktivitäten losgelöst von <strong>der</strong> sogenannten<br />

„Aufbauarbeit im Warthegau 44<br />

beschreibt und die organisierten Menschenrechtsverlet<strong>zu</strong>ngen<br />

gegen die polnische Bevölkerung ausklammert, muß sie s<strong>ich</strong><br />

n<strong>ich</strong>t <strong>der</strong> Frage nach <strong>der</strong> eigenen Beteiligung und Verantwortung stellen. Da<strong>mit</strong><br />

78


erre<strong>ich</strong>t sie aber n<strong>ich</strong>t nur eine Verharmlosung ihres politischen Engagements,<br />

son<strong>der</strong>n vermeidet gle<strong>ich</strong>zeitig eine Auseinan<strong>der</strong>set<strong>zu</strong>ng <strong>mit</strong> <strong>der</strong> nationalsozialistischen<br />

Politik, für die sie s<strong>ich</strong> eingesetzt <strong>hatte</strong> und die letztendl<strong>ich</strong> <strong>zu</strong> ihrem<br />

Heimatverlust gefuhrt <strong>hatte</strong>.<br />

Bewußt wird ihr das teilweise nach <strong>der</strong> Flucht, als <strong>der</strong> <strong>Krieg</strong> verloren war und<br />

<strong>mit</strong> dem NS verbundene Zukunftsentwürfe sinnlos wurden. Neben <strong>der</strong> Trauer<br />

um ihre verlorenen Familienangehörigen erkannte sie offens<strong>ich</strong>tl<strong>ich</strong>, daß <strong>der</strong>en<br />

persönl<strong>ich</strong>er Einsatz an <strong>der</strong> Front wie ihr eigenes Engagement letztl<strong>ich</strong> vergebl<strong>ich</strong><br />

gewesen waren. Sämtl<strong>ich</strong>e Zukunftsvorstellungen und Ideale, die sie <strong>mit</strong><br />

dem NS verbunden <strong>hatte</strong>, sah sie <strong>mit</strong> dem verlorenen <strong>Krieg</strong> als gescheitert an.<br />

Aus dieser Perspektive gab es für sie nach 1945 in ihrem Leben keine Zukunft<br />

<strong>mehr</strong>, für die es s<strong>ich</strong> ein<strong>zu</strong>setzen lohnte.<br />

Diese persönl<strong>ich</strong>e Krise führte jedoch n<strong>ich</strong>t <strong>zu</strong> einer weitergehenden Auslegung<br />

<strong>der</strong> nationalsozialistischen Politik, so daß ihr eine Neuorientierung und<br />

Ablösung von den alten, überkommenden Wertvorstellungen n<strong>ich</strong>t gelang. Frau<br />

Borke bekennt s<strong>ich</strong> noch heute implizit <strong>zu</strong> diesem Kapitel deutscher Vergangenheit<br />

und hält an ihren deutschnationalen Interessen fest; ihre eigene Beteiligung<br />

durch die Übernahme politischer Aufgaben im Deutschen Re<strong>ich</strong> versucht sie dabei<br />

aus<strong>zu</strong>blenden und <strong>zu</strong> verharmlosen.<br />

Indem Frau Borke ihre Vergangenheit in politischer Hins<strong>ich</strong>t n<strong>ich</strong>t hinterfragte,<br />

konnte sie vermutl<strong>ich</strong> trotz ihrer persönl<strong>ich</strong>en Krise nach <strong>Krieg</strong>sende und<br />

insbeson<strong>der</strong>e nach dem Tod ihres Vaters weiterhin handlungsfähig bleiben. Eine<br />

auss<strong>ich</strong>tsre<strong>ich</strong>e und befriedigende Zukunft sah sie für s<strong>ich</strong> jedoch n<strong>ich</strong>t <strong>mehr</strong>, da<br />

sie in ihre Heimat Lettland n<strong>ich</strong>t <strong>zu</strong>rückkehren konnte und es keine Ideale gab,<br />

für die es s<strong>ich</strong> ein<strong>zu</strong>setzen lohnte. Frau Borke war zwar weiterhin in ihrem Beruf<br />

als Chemielaborantin tätig, jedoch im berufl<strong>ich</strong>en wie privaten Leben n<strong>ich</strong>t sozial<br />

integriert. Sie bewegte s<strong>ich</strong> einzig in dem Kreis ihrer deutsch-baltischen<br />

Landsleute, <strong>mit</strong> denen sie ihre Erinnnerungen an Lettland teilen konnte. Da<strong>mit</strong><br />

lebt Frau Borke vor allem in <strong>der</strong> Vergangenheit, d.h. in <strong>der</strong> Zeit bis <strong>zu</strong>r Umsiedlung<br />

1939, die ihrem Leben eine entscheidende Wende gab.<br />

Frau Borkes Leben ist, wie abschließend fest<strong>zu</strong>halten ist, stets ein Leben in<br />

Fremdheit gewesen, denn in Lettland als Angehörige einer kleinen deutschen<br />

Min<strong>der</strong>heit galt sie ebenso wie nach <strong>der</strong> Umsiedlung ins Deutsche Re<strong>ich</strong> wie<br />

auch nach <strong>Krieg</strong>sende in <strong>der</strong> Bundesrepublik, wo die Baltendeutschen eine unbedeutende<br />

ethnische Min<strong>der</strong>heit darstellen, als Außenstehende. Sie selbst fühlte<br />

s<strong>ich</strong> zeitlebens fremd und konnte s<strong>ich</strong> wohl auch deswegen, weil sie an ihrer<br />

deutschnationalen Einstellung und politisch am „Erhalt des Deutschtums" festhielt,<br />

keine neue Zukunft in <strong>der</strong> bundesrepublikanischen Gesellschaft entwerfen.<br />

Anmerkung<br />

1 Der hier angegebene Quellennachweis Κ (=Kassette) bezieht s<strong>ich</strong> auf einen n<strong>ich</strong>t transkribierten<br />

Text, <strong>der</strong> jedoch auf Tonband <strong>zu</strong>r Verfugung steht.<br />

79


Christiane<br />

Grote<br />

2.3 Anneliese Heidt: „Da hab <strong>ich</strong> endl<strong>ich</strong> dieses Gefühl gehabt\ jetzt<br />

kannst du deinen Beitrag leisten, den früher die Soldaten an <strong>der</strong><br />

Front gemacht haben"<br />

2.3.1 Die Gesprächssituation und <strong>der</strong> Interviewverlauf<br />

Das Gespräch <strong>mit</strong> Frau Heidt fand im Dezember 1986 in ihrer Wohnung statt<br />

und wurde von zwei Projekt<strong>mit</strong>arbeiterinnen geführt. Frau Heidt machte <strong>zu</strong><br />

Beginn des Gesprächs einen s<strong>ich</strong>tl<strong>ich</strong> nervösen Eindruck; ihre Nervosität<br />

legte s<strong>ich</strong> aber bald.<br />

Gemäß <strong>der</strong> Eingangsfragestellung des Projekts, die es den Befragten anheimstellt,<br />

an welchem Zeitpunkt sie <strong>mit</strong> ihrer biographischen Rekonstruktion<br />

einsetzen wollen, läßt Frau Heidt ihre Erzählung <strong>mit</strong> jenem Datum beginnen,<br />

an dem sie <strong>zu</strong>m ersten Mal an einen mögl<strong>ich</strong>en <strong>Krieg</strong> dachte: dem<br />

<strong>Krieg</strong>sausbruch.<br />

Ihre ca. einstündige biographische Großerzählung ist geprägt von einem<br />

episch-erzählenden Sprachduktus: In ihre Darstellungen vom <strong>Krieg</strong>salltag<br />

fließen viele Beschreibungen ein, vor allem solche über die Bombardierung<br />

<strong>der</strong> Zivilbevölkerung und die Situation <strong>der</strong> medizinischen Versorgung. Der<br />

Chronologie <strong>der</strong> Ereignisse folgend, spannt sie den Bogen von ihrer JM-Zeit<br />

bis <strong>zu</strong>m Ende ihrer Ausbildung 1949 und evaluiert diese Zeit abschließend in<br />

ihrer Bedeutung für ihr weiteres Leben. Auch im Nachfrageteil des Interviews,<br />

<strong>der</strong> noch einmal ca. drei Stunden umfaßt, nehmen zwei Themen breiten<br />

Raum ein: die Bombardierungen und ihre Zeit als Schwester beim Roten<br />

Kreuz. Mit diesem eher beschreibenden Darstellungsmodus geht auch einher,<br />

daß Frau Heidt generell wenig über persönl<strong>ich</strong>e Beziehungen erzählt. Auf die<br />

frühen Kindheitsjahre und die Familienverhältnisse geht sie in ihrer Eingangserzählung<br />

und auch im Nachfrageteil n<strong>ich</strong>t ein. Erst gegen Ende des Interviews<br />

erfährt man vom frühen Tod <strong>der</strong> Mutter. Ebensowenig ber<strong>ich</strong>tet Frau<br />

Heidt über ihr Leben nach dem <strong>Krieg</strong>sende. Diese „Auslassungen" sind mögl<strong>ich</strong>erweise<br />

Ausdruck einer Beschränkung auf den thematischen Fokus des Interviews,<br />

das Erleben des <strong>Krieg</strong>es.<br />

Ein wesentl<strong>ich</strong>er Aspekt ihrer biographischen Rekonstruktion ist die Trennung<br />

<strong>der</strong> Themen „Nationalsozialismus" und „<strong>Krieg</strong>". Sie stehen für Frau<br />

Heidt n<strong>ich</strong>t in inhaltl<strong>ich</strong>em Zusammenhang etwa in dem Sinne, daß sie die nationalsozialistische<br />

Politik für den <strong>Krieg</strong> und die Bombenangriffe, unter denen<br />

sie selbst sehr gelitten hat, verantwortl<strong>ich</strong> macht. Beide Themen laufen in gewisser<br />

Weise nebeneinan<strong>der</strong> her. Dieses Nebeneinan<strong>der</strong> <strong>der</strong> Themenkomplexe<br />

verdeutl<strong>ich</strong>t s<strong>ich</strong> u.a. darin, daß Frau Heidt s<strong>ich</strong> nach etwa zehnminütiger<br />

Dauer <strong>der</strong> Eingangserzählung <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Frage an die Interviewerinnen wen-<br />

80


det, ob sie jetzt weiter über die „NS-Entwicklungen" (sie <strong>hatte</strong> gerade über<br />

ihre Zeit als JM-Führerin ber<strong>ich</strong>tet) o<strong>der</strong> weiter „chronologisch auf den <strong>Krieg</strong><br />

erstmal eingehen" solle. In <strong>der</strong> Falldarstellung wird diesem Nebeneinan<strong>der</strong><br />

dadurch Rechnung getragen werden, daß die Darstellung n<strong>ich</strong>t ausschließl<strong>ich</strong><br />

<strong>der</strong> Chronologie <strong>der</strong> Ereignisse folgen wird. Ich werde m<strong>ich</strong> statt dessen <strong>zu</strong>nächst<br />

schwerpunktmäßig <strong>mit</strong> <strong>der</strong> „Karriere" <strong>der</strong> Biographin in <strong>der</strong> <strong>Hitler</strong>jugend<br />

beschäftigen, um dann <strong>zu</strong>m <strong>Krieg</strong>serleben über<strong>zu</strong>gehen. Welche Bedeutung<br />

die Disjunktion dieser beiden Themen für Frau Heidt heute in ihrer Auseinan<strong>der</strong>set<strong>zu</strong>ng<br />

<strong>mit</strong> NS und Zweitem Weltkrieg hat, wird an späterer Stelle<br />

diskutiert.<br />

2.3.2 Die Kindheit als Tochter eines Berufssoldaten<br />

Anneliese Heidt wurde 1927 als Tochter eines Berufssoldaten in Dresden geboren.<br />

Ihr Vater <strong>hatte</strong> bereits im Ersten Weltkrieg als Offizier aktiv gedient;<br />

ihre Mutter war als Rotkreuzschwester noch im zaristischen Rußland im Einsatz<br />

gewesen. Es war die zweite Ehe ihres Vaters. Frau Heidt hat einen älteren<br />

Stiefbru<strong>der</strong> aus <strong>der</strong> ersten Ehe ihres Vaters.<br />

Anneliese Heidt stammt aus einer Offiziersfamilie. Diese Auskunft sagt<br />

n<strong>ich</strong>t nur etwas über den Beruf ihres Vaters, son<strong>der</strong>n konturiert <strong>zu</strong>gle<strong>ich</strong> ein<br />

bestimmtes Herkunftsmilieu: Ein deutsch-nationales, konservatives Milieu,<br />

in dem Werte wie Pfl<strong>ich</strong>terfüllung und Loyalität eine beson<strong>der</strong>e Rolle spielten.<br />

Dies wird deutl<strong>ich</strong>, als Frau Heidt auf die Frage nach <strong>der</strong> Reaktion ihres Vaters<br />

auf den <strong>Krieg</strong>sbeginn 1939 dessen Überzeugung schil<strong>der</strong>t:<br />

„er hat das als zieml<strong>ich</strong> —, naja, gut, es is eben und wir müssen eben das Beste draus machen<br />

auch unsem Teil da<strong>zu</strong> beitragen, unsere Pfl<strong>ich</strong>t erfüllen, alte preußische Grundsatz man, seine<br />

Pfl<strong>ich</strong>t tun war bei uns sehr groß geschrieben (2) das erschwert das Leben zieml<strong>ich</strong> ((lacht)) (6)<br />

und für ihn war sehr, er stand doch an erster Stelle er <strong>hatte</strong> einen Eid geschworn und einen Eid<br />

hält man (3)" (31/2)<br />

Frau Heidt beschreibt ihren Vater als einen von Staatsloyalität durchdrungenen<br />

Mann, <strong>der</strong> s<strong>ich</strong> durch seinen Eid gebunden fühlte, auch wenn er den <strong>Krieg</strong><br />

vielle<strong>ich</strong>t n<strong>ich</strong>t begrüßt <strong>hatte</strong>. Die Textstelle läßt erkennen, wie prägend diese<br />

Werte auch für das Erziehungsmilieu waren, in dem Anneliese aufwuchs.<br />

Die Zeit bis <strong>zu</strong> ihrem sechsten Lebensjahr verbrachte Anneliese Heidt gemeinsam<br />

<strong>mit</strong> Eltern und Bru<strong>der</strong> in Berlin. Aus dieser Zeit erscheinen ihr die<br />

politischen Unruhen im Berlin vor <strong>der</strong> Machtübernahme erwähnenswert:<br />

„das weiß <strong>ich</strong> noch <strong>ich</strong> weiß noch denn, hab <strong>ich</strong> erzählt ((den Eltern)) daß da, ganz schreckl<strong>ich</strong>e<br />

Männer rumliefen die <strong>mit</strong> Stuhlbeinen da so, fuchtelten, und da wurd <strong>ich</strong> ganz reinge/holt ((lachend)),<br />

und denn, weiß <strong>ich</strong> auch daß, äh, die, morgens, eines Morgens wachten, <strong>kam</strong>en wir raus<br />

und da war ne ganze Straße <strong>mit</strong> roter Farbe so irgendwelche Parolen geschmiert, so wie heute<br />

auch so, vielfach an Wänden steht o<strong>der</strong> sowas, un dann <strong>hatte</strong>n se die geschnappt und denn <strong>kam</strong>en<br />

die SA <strong>mit</strong> ihm, hier <strong>mit</strong> dem Stirnband da und, und Lastwagen da <strong>hatte</strong>n die alle drauf und denn<br />

mußten die das selber wie<strong>der</strong> runterschrubben" (68 /12)<br />

81


Die Erzählung läßt ahnen, wie sie als Kind das Ereignis erlebt haben mag:<br />

„Schreckl<strong>ich</strong>e 44<br />

randalierende Männer stifteten Unruhe und mußten durch die<br />

SA <strong>zu</strong>r Ordnung gezwungen werden. Ohne die damaligen politischen Hintergründe<br />

<strong>zu</strong> reflektieren, bringt Frau Heidt diese Gruppen in einen assoziativen<br />

Zusammenhang <strong>mit</strong> heutigen politischen Gruppen, die ebenfalls Wände <strong>mit</strong><br />

Parolen beschreiben, also auch „Unordnung 44<br />

stiften. Dies ist eine für das kollektive<br />

deutsche Gedächtnis n<strong>ich</strong>t untypische Darstellung <strong>der</strong> politischen Situation<br />

vor 1933, die auch Legitimationsfunktion für die Zustimmung <strong>zu</strong>r<br />

Machtübernahme hat.<br />

Auch den Fackel<strong>zu</strong>g am Abend <strong>der</strong> sog. Machtergreifung hat Anneliese<br />

Heidt in lebhafter Erinnerung. Da an diesem Tag ihre Mutter starb, hat dieses<br />

Datum in ihrem Leben eine beson<strong>der</strong>e Bedeutung. Aus Verzweiflung über den<br />

Tod seiner Frau habe ihr Vater, um s<strong>ich</strong> ab<strong>zu</strong>lenken, <strong>mit</strong> seiner Tochter an dieser<br />

Veranstaltung teilgenommen. An <strong>der</strong> Hand ihres Vaters wurde die knapp<br />

Sechsjährige durch die Menschenansammlungen gezogen:<br />

„mein Vater war so furchtbar verzweifelt innerhalb von drei Tagen es war ganz schreckl<strong>ich</strong>,<br />

und, um s<strong>ich</strong> ab<strong>zu</strong>lenken is er näml<strong>ich</strong> <strong>mit</strong> mir da, <strong>zu</strong> diesem Fackel<strong>zu</strong>g gegangen (1) und <strong>hatte</strong><br />

daher natürl<strong>ich</strong> (1) keine (1) Gedanken mir irgendwelche Erklärungen ab<strong>zu</strong>geben son<strong>der</strong>n er<br />

schlürte m<strong>ich</strong> nur so an ner Hand da <strong>mit</strong> und <strong>ich</strong> hab mir das selber so angeguckt n<strong>ich</strong>, <strong>ich</strong> hab<br />

das ja noch n<strong>ich</strong> so ganz begriffen we<strong>der</strong>, we<strong>der</strong> den Tod meiner Mutter begriffen noch, noch dieses<br />

was da auf <strong>der</strong> Straße passierte begriffen n<strong>ich</strong> 44 (69/29)<br />

In ihrer Erzählung stehen <strong>der</strong> Fackel<strong>zu</strong>g und vor allem die Rechtfertigung<br />

für die Teilnahme ihres Vaters, n<strong>ich</strong>t aber <strong>der</strong> Tod <strong>der</strong> Mutter, im Vor<strong>der</strong>grund.<br />

Vermutl<strong>ich</strong> konnte Anneliese <strong>zu</strong>m damaligen Zeitpunkt den Verlust<br />

<strong>der</strong> Mutter emotional noch n<strong>ich</strong>t erfassen.<br />

Noch 1933 verließ Anneliese gemeinsam <strong>mit</strong> Vater und Bru<strong>der</strong> Berlin; die<br />

Familie zog <strong>zu</strong>nächst nach Hannover, 1937 nach Bremen. In Bremen ging ihr<br />

\foter nach kurzer Zeit eine neue Ehe ein. Anneliese, die <strong>zu</strong> diesem Zeitpunkt<br />

zehn o<strong>der</strong> elf Jahre alt war, sperrte s<strong>ich</strong> gegen diese neue Verbindung:<br />

B: „(5) mhm da war <strong>ich</strong> ganz schön giftig (9)<br />

I: weil Sie so an Ihrer Mutter hängen<br />

Β: (1) nö: <strong>ich</strong>, wollte ja n<strong>ich</strong> so ne fremde Frau bei uns haben ((lacht)) <strong>ich</strong> bitte Sie in dem Alter<br />

n<strong>ich</strong>, kommt man in die Pubertät da, is man erst von Grund auf, gegen alles n<strong>ich</strong><br />

I: mhm<br />

B: von Natur aus, und die, war auch so autoritär ganz schreckl<strong>ich</strong> ((lacht)) 44 (70/22)<br />

Den neuerl<strong>ich</strong>en Heiratsplänen des Vaters, so erinnert s<strong>ich</strong> Frau Heidt<br />

heute, setzte sie einigen Wi<strong>der</strong>stand entgegen. Doch diesen Wi<strong>der</strong>stand fuhrt<br />

Frau Heidt n<strong>ich</strong>t, wie die Interviewerin meint, auf eine enge Bindung an die<br />

leibl<strong>ich</strong>e Mutter <strong>zu</strong>rück. Viel<strong>mehr</strong> wollte sie keine „fremde Frau 44<br />

im Hause<br />

dulden und, so könnte man ergänzen, den Vater für s<strong>ich</strong> behalten. Heute<br />

scheint Frau Heidt ihre damalige Eifersucht peinl<strong>ich</strong> <strong>zu</strong> sein, denn sie bemüht<br />

s<strong>ich</strong>, diese als typisches Pubertätsverhalten <strong>zu</strong> normalisieren.<br />

82


2.3.3 Die „entpolitisierte" Zeit bei den Jungmädeln<br />

In diese Zeit fallt auch Anneliese Heidts Eintritt in den Jungmädelbund. 1937<br />

war die Teilnahme an den Aktivitäten <strong>der</strong> HJ und des BDM zwar noch n<strong>ich</strong>t<br />

Pfl<strong>ich</strong>t, doch war die HJ schon 1936 <strong>zu</strong>r „Staatsjugend 4 * erklärt worden, und<br />

von nun an wurden die Jugendl<strong>ich</strong>en jahrgangsweise in die <strong>Hitler</strong>jugend, d.h.<br />

in das Deutsche Jungvolk (DJ) und in den Jungmädelbund (JM) übernommen.<br />

Für die zehnjährige Anneliese Heidt war <strong>der</strong> Eintritt in den JM n<strong>ich</strong>t nur<br />

selbstverständl<strong>ich</strong>e Pfl<strong>ich</strong>t, son<strong>der</strong>n sie konnte ihn, wie sie heute sagt, „n<strong>ich</strong><br />

abwarten":<br />

„Jungmädelzeit also, da könnt <strong>ich</strong> n<strong>ich</strong> abwarten daß man zehn war, daß <strong>ich</strong> dahin<strong>kam</strong>, aber hab<br />

gedrängelt und gedrängelt daß man nun die Uniform kr<strong>ich</strong>te und, das war also sehr sehr<br />

schön" (24/32)<br />

Anneliese wünschte s<strong>ich</strong> sehnl<strong>ich</strong>st, eine Uniform <strong>zu</strong> tragen, die nach außen<br />

demonstrierte, daß sie alt genug war, <strong>zu</strong> den Jungmädeln <strong>zu</strong> gehören. Die<br />

Ungeduld, <strong>mit</strong> <strong>der</strong> die Zehnjährige auf ihre Aufnahme in den JM gewartet hat,<br />

ist auch im Zusammenhang <strong>mit</strong> dem für sie schwierigen häusl<strong>ich</strong>en Zusammenleben<br />

<strong>mit</strong> ihrer „Stief- 4 Mutter <strong>zu</strong> sehen: <strong>der</strong> JM bot ihr die Mögl<strong>ich</strong>keit,<br />

in <strong>der</strong> Gruppe <strong>der</strong> Gle<strong>ich</strong>altrigen einen Be<strong>zu</strong>gspunkt außerhalb <strong>der</strong> Familie <strong>zu</strong><br />

finden. Heute rechtfertigt sie ihre damalige Begeisterung da<strong>mit</strong>, daß das im<br />

JM übl<strong>ich</strong>e Tragen einer Uniform und die Orientierung an den Gle<strong>ich</strong>altrigen<br />

den Bedürfnissen dieser Altersgruppe entsprochen habe.<br />

Annelieses Eltern, vor allem ihr Vater, unterstützten ihre JM-<br />

Mitgliedschaft, da ihr Vater, so meint sie heute, als Offizier „immer äh kontrovers<br />

gegen die Partei 44<br />

gestanden habe und deshalb daraufhabe achten müssen,<br />

daß diese Gesinnung n<strong>ich</strong>t nach außen s<strong>ich</strong>tbar wurde:<br />

„und da <strong>hatte</strong> er wohl son bißchen Angst, wenn <strong>ich</strong> m<strong>ich</strong> jetzt ausschlösse daß, fur ihn irgendwie,<br />

ihm das angekreidet werden könnte daß er. m<strong>ich</strong> vielle<strong>ich</strong>t beeinflußt hätte und dann, und so, wahrscheinl<strong>ich</strong><br />

eben auch, als, Konsequenzen, und wenn es eben Karrierekonsequenzen sind, is n<strong>ich</strong><br />

etwa Ehre und Ruhm son<strong>der</strong>n ganz schl<strong>ich</strong>t Geld ne (2) und er <strong>hatte</strong> ja nun ne Familie" (26/2)<br />

Frau Heidt glaubt <strong>zu</strong>dem, daß ihr Vater, <strong>der</strong> ein sehr positiv denken<strong>der</strong><br />

Mensch gewesen sei, sie in dieser ohnehin schwierigen Zeit n<strong>ich</strong>t durch „Antiparolen<br />

44<br />

in Konflikte habe bringen wollen. Er sei jedoch durchaus kein<br />

überzeugter Nazi gewesen. Diese Einschät<strong>zu</strong>ng sucht Frau Heidt durch den<br />

Hinweis <strong>zu</strong> belegen, daß ihr Vater einem Deserteur <strong>zu</strong>r Flucht verholfen hat.<br />

Dir Elternhaus schil<strong>der</strong>t Frau Heidt als unpolitisch; über Tagespolitik habe<br />

man n<strong>ich</strong>t gesprochen.<br />

Frau Heidt hat die Zeit beim JM in überwiegend positiver Erinnerung. Fast<br />

schwärmerisch erzählt sie von den „tollen Sachen 44 , die ihnen beim JM geboten<br />

worden seien: Fahrten, Ausflüge und Spiele, Sport etc.. <strong>Als</strong> gute Sportlerin<br />

be<strong>kam</strong> sie die Mögl<strong>ich</strong>keit, in einer Le<strong>ich</strong>tathletikleistungsabteilung <strong>zu</strong><br />

trainieren, was ihr sehr viel Spaß machte.<br />

83


Doch erinnert s<strong>ich</strong> Anneliese Heidt auch an negative Aspekte ihres JM-<br />

Dienstes. Insbeson<strong>der</strong>e Aufgaben wie Sammlungen für das Winterhilfswerk<br />

und die Teilnahme an Propagandaveranstaltungen empfand sie als unangenehme<br />

Pfl<strong>ich</strong>ten, denen sie s<strong>ich</strong> gern entzogen hätte. Dabei waren es n<strong>ich</strong>t Inhalte,<br />

die ihr Probleme bereiteten, viel<strong>mehr</strong> waren ihr, dem Kind aus gutbürgerl<strong>ich</strong>en<br />

Verhältnissen, solche Aufgaben peinl<strong>ich</strong>:<br />

„und man wurde denn, oft n<strong>ich</strong>, grade freundl<strong>ich</strong> empfangen, manchmal ja, aber oft auch n<strong>ich</strong>,<br />

und denn jagten die einen da weg, und das war mir peinl<strong>ich</strong> und und unangenehm, wer hat das<br />

schon gerne, und da hab <strong>ich</strong> m<strong>ich</strong> denn manchmal gar n<strong>ich</strong> so getraut, <strong>zu</strong> klingeln, obwohl wir<br />

ja immer, <strong>zu</strong> zweit, o<strong>der</strong> <strong>zu</strong> <strong>mehr</strong>eren das machten ne, aber, so dieses so Betteln das fand <strong>ich</strong> n<strong>ich</strong><br />

so schön" (26/50)<br />

Anneliese stieg in <strong>der</strong> JM-Hierarchie auf, sie wurde JM-Führerin: „Jungmädchen<br />

da war <strong>ich</strong> auch Führerin na klar ne, war war man auch ganz stolz<br />

drauf*. Für die Heranwachsende war diese Position eine Ausze<strong>ich</strong>nung, die<br />

sie <strong>mit</strong> Stolz erfüllte, wie sie auch heute noch emphatisch erklärt. Sie meint,<br />

sie wäre noch „so gerne weiter aufgestiegen in <strong>der</strong> Hierarchie**. Dies sei ihr<br />

<strong>zu</strong> ihrem „damaligen gro:ßen Bedauern** jedoch n<strong>ich</strong>t gelungen, was sie sehr<br />

gekränkt habe. Während Frau Heidt offen ihre Begeisterung für den JM schil<strong>der</strong>t<br />

und diese Zeit auch klar und wi<strong>der</strong>spruchsfrei darstellt, versucht sie, die<br />

Zeit danach <strong>zu</strong> verschleiern. Sie versucht den Eindruck <strong>zu</strong> erwecken, von ihrem<br />

14. Lebensjahr an n<strong>ich</strong>t <strong>mehr</strong> bei <strong>der</strong> <strong>Hitler</strong>jugend gewesen <strong>zu</strong> sein. Immer<br />

wie<strong>der</strong> betont sie, s<strong>ich</strong> den Aktivitäten des BDM, <strong>zu</strong> dem sie <strong>mit</strong> 14 Jahren,<br />

also 1941, nach den Bestimmungen des <strong>Hitler</strong>jugend-Gesetzes automatisch<br />

übernommen wurde, entzogen <strong>zu</strong> haben.<br />

Zur Übernahme in den BDM, so erzählt Frau Heidt, sei es bei ihr n<strong>ich</strong>t gekommen,<br />

weil sie gerade <strong>mit</strong> ihrer Familie innerhalb Bremens umgezogen sei.<br />

Sie habe s<strong>ich</strong> in dem neuen Bezirk einfach n<strong>ich</strong>t beim BDM gemeldet und sei<br />

auf diese Weise <strong>der</strong> Dienstpfl<strong>ich</strong>t entgangen:<br />

„da warn wir im an<strong>der</strong>n, Bezirk und das hab <strong>ich</strong> denn einfach vergessen und, denn, durch die<br />

<strong>Krieg</strong>s- einwirkung is das nachher auch, MÖGLICH GEWORDEN daß <strong>ich</strong> also vergessen<br />

wurde, ... aber <strong>ich</strong> habe, alles drangesetzt in η BDM, n<strong>ich</strong> <strong>mehr</strong> <strong>zu</strong> kommen weil mir <strong>der</strong> <strong>zu</strong> politisch<br />

war, während die Jungmädchen, also, wie Pfadfin<strong>der</strong> o<strong>der</strong> CVJM o<strong>der</strong> so ähnl<strong>ich</strong>" (24/44)<br />

Im Vergle<strong>ich</strong> <strong>zu</strong> den Jungmädeln sei ihr <strong>der</strong> BDM „<strong>zu</strong> politisch** gewesen.<br />

Distanzierte s<strong>ich</strong> die begeisterte und überzeugte JM-Führerin Anneliese nun<br />

von den politischen Inhalten <strong>der</strong> HJ? Auf die Rückfrage einer <strong>der</strong> beiden Interviewerinnen,<br />

was denn die politische Dimension des BDM ausgemacht habe,<br />

antwortet Frau Heidt auswe<strong>ich</strong>end, daß sie das n<strong>ich</strong>t genau sagen könne, weil<br />

sie ja n<strong>ich</strong>t selbst dabei gewesen sei. Vor allem seien ihr die Führerinnen unsympathisch<br />

gewesen, es habe nur <strong>der</strong>en Meinung gegolten und absoluter Gehorsam<br />

sei gefor<strong>der</strong>t worden. Damals war es also weniger das „Politische",<br />

wodurch <strong>der</strong> BDM sie abstieß, son<strong>der</strong>n es waren jene Aspekte <strong>der</strong> Organisationsform,<br />

die sie in ihrer Individualität beschnitten hätten. Konkurrenz und<br />

84


Spannungen zwischen JM und BDM waren damals auch durchaus vorhanden,<br />

so daß Anneliese Heidts Abneigung gegen den BDM und dessen Führerinnen<br />

aus damaliger S<strong>ich</strong>t plausibel und verständl<strong>ich</strong> ist.<br />

Daß Anneliese Heidt weiter als JM-Führerin aktiv war, läßt s<strong>ich</strong> u.a. daran<br />

ablesen, daß sie in dieser Funktion im Jahr 1943 — sie ist inzwischen 15 o<strong>der</strong><br />

16 Jahre alt — Kin<strong>der</strong> in die Kin<strong>der</strong>landverschickung begleitete. Mit <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>landverschickung<br />

sollte vor allem die durch alliierte Luftangriffe beson<strong>der</strong>s<br />

gefährdete Großstadtjugend in an<strong>der</strong>e Re<strong>ich</strong>sgebiete evakuiert werden.<br />

„In den letzten <strong>Krieg</strong>sjahren wurden die Schüler ganzer Klassen und Schulen<br />

geschlossen <strong>mit</strong> Son<strong>der</strong>zügen in die KLV-Lager transportiert. ... Die Organisation<br />

und Betreuung dieser Lager war Aufgabe <strong>der</strong> <strong>Hitler</strong>jugend." (Kammer/Bartsch<br />

1982: 106)<br />

Im Interview liest s<strong>ich</strong> ihr Einsatz als Begleiterin folgen<strong>der</strong>maßen:<br />

„<strong>ich</strong> weiß jetzt n<strong>ich</strong> <strong>mehr</strong> die — in welchem Jahr is ja auch egal, da mußten wir noch einmal<br />

<strong>zu</strong>r Kin<strong>der</strong>landverschickung da warn, wir, aber <strong>mit</strong>tlerweile <strong>zu</strong> alt, und wir mußten als, ahm,<br />

((schnippt)) na, als Führerin von von <strong>der</strong>. äh, <strong>Hitler</strong>jugend, mußten wir <strong>mit</strong>, und mußten da, eine<br />

äh, je<strong>der</strong> kr<strong>ich</strong>te eine Klasse, obwohl wir nun grade die, unterste Gruppe warn=<strong>ich</strong> war vierzehn"<br />

(8/4)<br />

Über ihr Alter <strong>zu</strong> diesem Zeitpunkt macht sie im Laufe des Interviews unterschiedl<strong>ich</strong>e<br />

Angaben: Zwar erklärt sie an dieser Stelle, sie sei 14 Jahre alt<br />

gewesen, als sie an dieser Kin<strong>der</strong>landverschickung an den Bodensee als Führerin<br />

teilnahm, meint aber später, diese habe im Herbst 1943, nach <strong>der</strong> deutschen<br />

Nie<strong>der</strong>lage von Stalingrad, stattgefunden. Durch die Erklärung, sie sei<br />

14 (und n<strong>ich</strong>t etwa 15 o<strong>der</strong> 16) Jahre alt gewesen, als sie diese Kin<strong>der</strong>landverschickung<br />

als JM- Führerin begleitete, entsteht <strong>der</strong> Eindruck, als hätte sie s<strong>ich</strong><br />

nach ihrer JM-Zeit, die in <strong>der</strong> Regel bis <strong>zu</strong>m 14. Lebensjahr dauerte, einem<br />

weiteren Engagement in <strong>der</strong> <strong>Hitler</strong>jugend entzogen. Sie erzählt über ihre Erlebnisse<br />

im JM <strong>der</strong>art, daß man den Eindruck gewinnt, sie geschahen vor dem<br />

14. Lebensjahr, d.h. in einem Alter, in dem sie ihre kindl<strong>ich</strong>e Begeisterung<br />

auch eingestehen kann. Ihre Begeisterung klingt z.B. in folgendem Zitat an, in<br />

dem sie ihre „Weihe" als Führerin schil<strong>der</strong>t:<br />

„ja: das war denn, feierl<strong>ich</strong> <strong>mit</strong> Fahne und Wimpel und, Versprechen, so wie se es heut<strong>zu</strong>tage<br />

bei den Pfadfin<strong>der</strong>n auch noch is ne, (1) Gott wie so Kin<strong>der</strong> sowas eben, machen und s<strong>ich</strong> denn<br />

eben, w<strong>ich</strong>tig dabei vorkommen ne, kr<strong>ich</strong>te man denn auch so ne, Schnur hier (1) wenn man einen<br />

höher <strong>kam</strong> kr<strong>ich</strong>te man ne an<strong>der</strong>e Schnur, ((lacht)), man durfte auch, brauchte n<strong>ich</strong> <strong>mehr</strong> im Glied<br />

stehn son<strong>der</strong>n durfte daneben stehn" (44/27)<br />

Der Hinweis, daß Kin<strong>der</strong> durch solche Zeremonien <strong>zu</strong> begeistern seien und<br />

s<strong>ich</strong> dadurch w<strong>ich</strong>tig vorkämen, suggeriert, daß das Wesen des JM in diesen<br />

an s<strong>ich</strong> n<strong>ich</strong>t ernst<strong>zu</strong>nehmenden Kin<strong>der</strong>spielereien gelegen hätte. Der JM war<br />

Frau Heidts Darstellung <strong>zu</strong>folge eine harmlose Jugendorganisation ähnl<strong>ich</strong><br />

den Pfadfin<strong>der</strong>n o<strong>der</strong> dem CVJM; demgegenüber war ihr <strong>der</strong> BDM „<strong>zu</strong> politisch".<br />

Heute versucht Anneliese Heidt, ihre Abneigung als JM-Führerin gegenüber<br />

dem BDM als „politisch" motiviert aus<strong>zu</strong>geben, den JM da<strong>mit</strong> in<br />

85


seiner politischen Bedeutung herunter<strong>zu</strong>spielen. In dem Maße, in dem ihr<br />

dies gelingt, gelingt es ihr auch, ihre eigene Rolle in nationalsozialistischen<br />

Jugendorganisationen in ihrer Bedeutung ab<strong>zu</strong>schwächen.<br />

Losgelöst von ihrer eigenen Vergangenheit ist sie s<strong>ich</strong> an<strong>der</strong>erseits <strong>der</strong> politischen<br />

Bedeutung <strong>der</strong> HJ-Organisationen und ihrer Funktion als Sozialisationsinstanz<br />

durchaus bewußt:<br />

„also es war eigentl<strong>ich</strong>, Kin<strong>der</strong>spielerei n<strong>ich</strong>, aber es <strong>hatte</strong> eben doch einen ernsten Hintergrund<br />

n<strong>ich</strong>, und das war alles die, äh, Vorbild und die Vorausset<strong>zu</strong>ng für eben später BDM und<br />

danach <strong>kam</strong> dann die Partei ne" (44/37)<br />

Gerade weil sie heute ihr Engagement bei den Jungmädeln in den Kontext<br />

<strong>der</strong> nationalsozialistischen Jugendpolitik <strong>zu</strong> stellen vermag und die JM-<br />

Erziehung als Wegbereitung für BDM und NSDAP versteht, ist sie bemüht —<br />

und hier teilt sie ein gängiges Legitimationsmuster <strong>der</strong> Frauen ihrer Generation<br />

— den JM <strong>zu</strong> entpolitisieren und ihn <strong>mit</strong> an<strong>der</strong>en Jugendorganisationen<br />

wie z.B. dem CVJM gle<strong>ich</strong><strong>zu</strong>setzen bzw. ihn als harmlose „Kin<strong>der</strong>spielerei 44<br />

ab<strong>zu</strong>tun (vgl. Rosenthal u.a. 1986:67f).<br />

In ähnl<strong>ich</strong>em Zusammenhang kritisiert Frau Heidt auch die inhaltl<strong>ich</strong>e<br />

„Entstellung 44<br />

von Lie<strong>der</strong>texten, an denen sie als junges Mädchen keinen Anstoß<br />

genommen habe und die heute in <strong>der</strong> Öffentl<strong>ich</strong>keit als Indiz für die negative<br />

Beeinflussung durch den NS bewertet würden. Der ursprüngl<strong>ich</strong>e Text<br />

gebe für ein solches Urteil jedoch keinen Anlaß:<br />

„<strong>ich</strong> muß sagen (1) teilweise ist <strong>der</strong> Text völlig entstellt worden <strong>der</strong> war manchmal an<strong>der</strong>s, <strong>zu</strong>m<br />

Beispiel dieses Lied, heute GEHÖRT UNS DEUTSCHLAND UND MORGEN DIE GANZE<br />

WELT <strong>der</strong> Text <strong>der</strong> war n<strong>ich</strong> so, das hieß, und heute hört uns Deutschland, und morgen hört uns<br />

die ganze Welt und das find <strong>ich</strong> also, sehr unangenehm wenn dann heute solche Sachen entstellt<br />

werden ... da, haben wir als junge Leute ja auch keinen Anstoß dran genommen war doch nix"<br />

(2/54)<br />

An dieser Stelle kann man s<strong>ich</strong> wohl fragen, ob denn keine imperiale Konnotation<br />

<strong>mehr</strong> <strong>mit</strong>schwänge und <strong>der</strong> Text harmlos wäre, wenn die Strophe<br />

„heute hört uns Deutschland und morgen die ganze Welt 44<br />

hieße. Doch lassen<br />

wir diese Frage dahingestellt. Das eigentl<strong>ich</strong>e Argument Frau Heidts zielt darauf,<br />

daß sie die Sozialisation <strong>der</strong> Jugend im sog. Dritten Re<strong>ich</strong> in <strong>der</strong> heutigen<br />

Öffentl<strong>ich</strong>keit ungerecht behandelt findet. Ihre Kritik ließe s<strong>ich</strong> so <strong>zu</strong>sammenfassen:<br />

In <strong>der</strong> Öffentl<strong>ich</strong>keit wird heute die politisch-ideologische Beeinflussung<br />

durch die <strong>Hitler</strong>jugend als schwerwiegen<strong>der</strong> dargestellt, als sie in Wirkl<strong>ich</strong>keit<br />

war — und zwar <strong>mit</strong> unlauteren Mitteln. Würde man die Texte n<strong>ich</strong>t<br />

verfalschen, wäre <strong>der</strong> Öffentl<strong>ich</strong>keit heute klar, daß es s<strong>ich</strong> n<strong>ich</strong>t um Inhalte<br />

handelte, an denen Anstoß <strong>zu</strong> nehmen gewesen wäre, und daß diese Inhalte<br />

folgl<strong>ich</strong> auch keinen negativen Einfluß ausüben konnten.<br />

Resümieren läßt s<strong>ich</strong>, daß Frau Heidt in dem Maße, wie es ihr gelingt, den<br />

BDM im Vergle<strong>ich</strong> <strong>zu</strong>m JM als „politisch 44<br />

dar<strong>zu</strong>stellen, auch ihre Mitgliedschan<br />

im JM vor s<strong>ich</strong> selbst und an<strong>der</strong>en verharmlost. Sie kann bis heute an<br />

86


ihrer positiven Jugen<strong>der</strong>innerung festhalten, vor s<strong>ich</strong> selbst ein Gefühl <strong>der</strong><br />

Aufr<strong>ich</strong>tigkeit bewahren und s<strong>ich</strong> <strong>zu</strong> ihrer damaligen Begeisterung offen bekennen:<br />

B: „wir warn (1) <strong>ich</strong> kann also von mir und meinem, Freundeskreis, sprechen, wenn <strong>ich</strong> wir sage<br />

ne<br />

I: mhm<br />

B: das mag auch an<strong>der</strong>e gegeben haben, aber, äh, wir warn, hun<strong>der</strong>tfünfzigprozentig <strong>mit</strong> allem<br />

einverstanden" (2/3)<br />

2.3.4 Die ersten <strong>Krieg</strong>serfahrungen<br />

Den <strong>Krieg</strong>sbeginn erlebte die zwölfjährige Anneliese in Bremen. Ihr Bru<strong>der</strong><br />

war <strong>zu</strong> diesem Zeitpunkt schon bei <strong>der</strong> Wehrmacht. Ihre eigene Reaktion<br />

und die ihrer (Stief-) Mutter auf die Nachr<strong>ich</strong>t vom Beginn des <strong>Krieg</strong>es beschreibt<br />

sie gle<strong>ich</strong> <strong>zu</strong> Anfang des Interviews:<br />

„also bei, Ausbruch des <strong>Krieg</strong>es war <strong>ich</strong>, zwölf Jahre alt, und an und für s<strong>ich</strong>, daß es <strong>Krieg</strong> geben<br />

würde, hat man selber als Kind gar n<strong>ich</strong> so empfunden, <strong>ich</strong> jedenfalls n<strong>ich</strong> und, <strong>ich</strong> wüßte<br />

auch n<strong>ich</strong> in meiner engen Umgebung <strong>ich</strong> weiß, allerdings wenn <strong>ich</strong> m<strong>ich</strong> da, entsinne, daß die<br />

Eltern sehr besorgt waren, aber, gut, man war Kind=das: hat einen n<strong>ich</strong> so groß berührt ... als<br />

es dann (1) losging, <strong>mit</strong> dem, <strong>Krieg</strong>, neununddreißig im August, da kann <strong>ich</strong> m<strong>ich</strong> entsinnen daß<br />

meine, Mutter, fast hysterisch, reagierte dad rauf, und sachte jetzt, is vorbei <strong>mit</strong> allem=jetzt gehn<br />

wir unter und, so weiter aber, wir harn das alles (1) <strong>ich</strong> jedenfalls auch hauptsächl<strong>ich</strong>, als etwa,<br />

hysterischen, Ausbruch, angesehn und gar n<strong>ich</strong>, das nun eigentl<strong>ich</strong> hat m<strong>ich</strong> weiter n<strong>ich</strong><br />

berührt=<strong>ich</strong> fand das, <strong>ich</strong> fand das peinl<strong>ich</strong> ja" (112)<br />

Und ausführend an späterer Stelle des Interviews:<br />

„ja, <strong>ich</strong> fand das furchtbar übertrieben, nun sie sachte da, a:ch nei:n und jetzt, is <strong>Krieg</strong> und,<br />

da werden wir sehn wir werden alles verliern und das geht, geht alles schief=<strong>ich</strong> verstand das<br />

überhaupt n<strong>ich</strong>, n<strong>ich</strong>, wieso, wieso was <strong>hatte</strong> das da<strong>mit</strong> <strong>zu</strong> tun, und jetzt kommen Angriffe und<br />

Sirene und, weiß <strong>ich</strong> n<strong>ich</strong> woher die, das nahm, woher sie das wußte" (28/46)<br />

Frau Heidt versetzt s<strong>ich</strong> <strong>zu</strong>rück in die Perspektive des Kindes, für das die<br />

politischen Hintergründe des Geschehens noch n<strong>ich</strong>t transparent waren. Die<br />

Erzählerin überläßt s<strong>ich</strong> da<strong>mit</strong> dem Strom des Nacherlebens, ohne dieses Erleben<br />

heute — aus <strong>der</strong> Perspektive <strong>der</strong> durch die späteren Erfahrungen Belehrten<br />

— <strong>zu</strong> modifizieren. Die in <strong>der</strong> Rassage beschriebene angstvolle Reaktion<br />

<strong>der</strong> Mutter war in den Augen <strong>der</strong> Zwölfjährigen, „hysterisch", also übertrieben<br />

und unverständl<strong>ich</strong>. Sie empfand damals kein Mitgefühl für die Ängste <strong>der</strong><br />

Mutter. Diese waren ihr „peinl<strong>ich</strong>", lösten also Schamgefühle aus, und sie<br />

fragt s<strong>ich</strong> noch heute, „woher sie das wußte".<br />

Die Reaktion des Vaters auf die Nachr<strong>ich</strong>t vom Beginn des <strong>Krieg</strong>es ist ihr<br />

hingegen n<strong>ich</strong>t <strong>mehr</strong> präsent — vermutl<strong>ich</strong> <strong>kam</strong> <strong>der</strong> Beginn des <strong>Krieg</strong>es fur ihn<br />

n<strong>ich</strong>t sehr überraschend, war seine Reaktion n<strong>ich</strong>t so heftig:<br />

„nee, das weiß <strong>ich</strong> n<strong>ich</strong>, äh, nun Gott mein Vater war Soldat, n<strong>ich</strong> und <strong>der</strong> hat den Ersten Weltkrieg<br />

<strong>mit</strong>gemacht und er mußte ja wohl da<strong>mit</strong> rechnen daß als Soldat daß es mal <strong>Krieg</strong> gibt <strong>ich</strong><br />

87


weiß es n<strong>ich</strong>, äh kann m<strong>ich</strong> an n<strong>ich</strong>ts da, entsprechend erinnern=er HAT AUCH NIE: irgendwie<br />

also da irgendeine beson<strong>der</strong>e, Äußerung o<strong>der</strong> sonstwas, gemacht" (30/46)<br />

Die hinnehmende und besonnene Haltung des Vaters, für den als Offizier<br />

<strong>der</strong> <strong>Krieg</strong> nach Meinung seiner Tochter <strong>zu</strong>m Berufsalltag gehörte, steht in<br />

krassem Gegensatz <strong>zu</strong>r vermeintl<strong>ich</strong> „hysterischen" Reaktion <strong>der</strong> Mutter. Die<br />

Haltung des Vaters wird für die Zwölfjährige Vorbild gewesen sein, <strong>zu</strong>mal<br />

s<strong>ich</strong> <strong>der</strong> <strong>Krieg</strong> vor allem <strong>zu</strong> Beginn noch n<strong>ich</strong>t auf ihren Lebensalltag auswirkte.<br />

Dagegen konnte Anneliese Heidt, <strong>der</strong> bei den Jungmädeln <strong>der</strong> Glaube<br />

an die rassische Überlegenheit <strong>der</strong> Deutschen eingeimpft wurde, die Befürchtung<br />

ihrer Mutter, nun würden sie alles verlieren und alles werde „schief gehen",<br />

n<strong>ich</strong>t begreifen.<br />

Zunächst waren <strong>Krieg</strong> und Bombenalarm noch eine willkommene Abwechselung<br />

im Alltag <strong>der</strong> Schülerin. Anneliese sammelte Flak- und Granatsplitter<br />

in einer Zigarrenkiste, die sie dann gegen Zigarettenbil<strong>der</strong> eintauschte. An Tagen<br />

vor Klassenarbeiten hoffte sie, daß es Alarm geben würde, da<strong>mit</strong> am kommenden<br />

Tag die Arbeit ausfiele. Anneliese erlebte in dieser Zeit den <strong>Krieg</strong><br />

eher als Abenteuer. Sie erinnert s<strong>ich</strong> an den ersten Bombenalarm:<br />

„und wir <strong>hatte</strong>n gle<strong>ich</strong> die erste Nacht Alarm (1) die Sirenen da heulten ob da nun was, war o<strong>der</strong><br />

n<strong>ich</strong> weiß <strong>ich</strong> n<strong>ich</strong>=es war jedenfalls sehr aufregend (1) und uns war sehr mulmig <strong>zu</strong>mute" (1 / 31)<br />

In dieser ersten Zeit gab es keine Bombenangriffe, <strong>der</strong> <strong>Krieg</strong> war <strong>zu</strong>nächst<br />

nur durch bürokratische Eingriffe in den Alltag spürbar. So erzählt Frau Heidt<br />

von einem Verstoß gegen das Verdunkelungsgebot, weshalb ihre Familie von<br />

<strong>der</strong> Partei verdächtigt worden sei, Morseze<strong>ich</strong>en <strong>zu</strong> senden. Im Keller des elterl<strong>ich</strong>en<br />

Hauses wurde <strong>zu</strong>dem ein öffentl<strong>ich</strong>er Luftschutzraum einger<strong>ich</strong>tet,<br />

dem auch ihr Kin<strong>der</strong>zimmer geopfert werden mußte. Der <strong>Krieg</strong> erhielt einen<br />

Platz in <strong>der</strong> Alltags- und Spiel weit <strong>der</strong> Frühadoleszenten. Insgesamt evaluiert<br />

Frau Heidt diese erste Zeit heute:<br />

„und eigentl<strong>ich</strong> verlief diese erste Zeit einigermaßen normal=war kein großer Unterschied"<br />

(1/45)<br />

2.3.5 Der <strong>Krieg</strong> als Lebensbedrohung<br />

Die Grenzerfahrung <strong>mit</strong> dem Tod<br />

In den Jahren 1941 und 1942 jedoch nahmen die alliierten Luftangriffe auf<br />

deutsche Städte allmähl<strong>ich</strong> bedrohl<strong>ich</strong>e Ausmaße an, — immer häufiger waren<br />

ganze Straßenzüge betroffen. Ein erster großer Angriff wurde <strong>zu</strong> einem<br />

Schlüsselerlebnis fur die inzwischen dreizehnjährige Anneliese und prägte<br />

s<strong>ich</strong> ihr beson<strong>der</strong>s ein: In un<strong>mit</strong>telbarer Nähe ihres Elternhauses wurde ein<br />

Haus ausgebombt, das von alten Leuten bewohnt wurde, die n<strong>ich</strong>t im Luftschutzkeller<br />

Schutz suchten:<br />

„jedenfalls die Oma war oben geblieben, und als man dann <strong>der</strong>en Bettzeug da oben, in den,<br />

Baumen, flattern sah, also, da, war einem denn son bißchen, mulmig geworden" (4/25)<br />

88


Ohne die Erlaubnis ihrer Eltern streifte Anneliese dann neugierig durch die<br />

Stadt, um <strong>zu</strong> sehen, was passiert war. Der Erkundungsgang ließ sie die gesamte<br />

Bedrohung und das Grauen dieser Bombenangriffe erfahren. Diese Erlebnisse<br />

hätten ihr, so erzählt Frau Heidt heute, einen Schock versetzt. Auf<br />

Nachfrage <strong>der</strong> Interviewerinnen versucht Frau Heidt, die Situation und das<br />

Schockerlebnis <strong>zu</strong> schil<strong>der</strong>n:<br />

„da, bin <strong>ich</strong> in einen Stadtteil gekommen wo also sehr viel los war, wo ganze, Häuserzeilen (1)<br />

teilweise weg, unter so nem Schutthaufen o<strong>der</strong>, und NOCH BRANNTEN, bis unten hin und bloß<br />

diese, rauchgeschwärzten, Mauern da standen die Leute da:, noch versuchten was <strong>zu</strong>, kriegen<br />

o<strong>der</strong> löschen o<strong>der</strong> weiß <strong>ich</strong> was, und denn, das das riecht dann ja so, dieses, dieser, Geruch nach,<br />

<strong>zu</strong>sammenstürzendem Mauerwerk diese nach diesem Mörtel, und dieser, Brandgeruch, und die,<br />

nachher wenn das kalt is, nach dem kalten Brand, das is, auch etwas ganz, äh hat s<strong>ich</strong> sehr eingeprägt<br />

so etwas (1) und als <strong>ich</strong> das Gewirr da gesehn, als <strong>ich</strong> das gesehn hab und denn wie<strong>der</strong> nach<br />

Hause <strong>kam</strong>, da, war <strong>ich</strong> so fix und fertig da könnt <strong>ich</strong> gar n<strong>ich</strong>ts sagen da konnten die erst gar n<strong>ich</strong><br />

rauskriegen was eigentl<strong>ich</strong> los war, und denn könnt <strong>ich</strong> abends nix <strong>mehr</strong> essen (3) ja und dann haben,<br />

die m<strong>ich</strong> gefragt und so weiter da hab <strong>ich</strong> denn, angefangen <strong>zu</strong> heulen (1) und <strong>mehr</strong> war <strong>mehr</strong><br />

könnt <strong>ich</strong> da n<strong>ich</strong>" (36/35)<br />

Anneliese Heidts Schil<strong>der</strong>ung dieses Angriffs läßt ihre Eindrücke von damals<br />

wie<strong>der</strong> erwachen und fast sinnl<strong>ich</strong> erfahrbar werden: es ist <strong>der</strong> Geruch<br />

nach Mörtel und Staub, nach Flammen und endl<strong>ich</strong> nach erkaltendem Brand.<br />

Noch heute läßt die Erinnerung an diesen Angriff sie schließl<strong>ich</strong> verstummen,<br />

wenn sie s<strong>ich</strong> an die Situation, an „das Gewirr da' 4<br />

erinnert. Das eigentl<strong>ich</strong><br />

Traumatische kann sie bis heute n<strong>ich</strong>t erzählen, die Erinnerung macht sie —<br />

wie damals — sprachlos.<br />

Dieses Erlebnis kann als Wendepunkt in Anneliese Heidts <strong>Krieg</strong>serfahrung<br />

gelten: Der <strong>Krieg</strong>, den die Frühadoleszente bisher als interessante Abwechselung<br />

in ihrem Alltag wahrgenommen <strong>hatte</strong>, offenbarte jetzt seine ganze brutale<br />

und todbringende Realität. Anneliese reagierte <strong>mit</strong> einem schweren Schock.<br />

Ihr Zustand war so beunruhigend, daß die Eltern ihre Tochter schließl<strong>ich</strong> nach<br />

Weimar schickten, wo sie s<strong>ich</strong> bei Verwandten erholen sollte. Nach ungefähr<br />

drei Monaten war sie so weit wie<strong>der</strong>hergestellt, daß sie <strong>zu</strong> ihrer Familie nach<br />

Bremen <strong>zu</strong>rückkehren konnte. Sie meint, sie habe den Bombenalltag „dann<br />

nervl<strong>ich</strong> auch wie<strong>der</strong> verkraften können, aber natürl<strong>ich</strong> n<strong>ich</strong>t ohne Angst".<br />

Alltag im Bombenhagel<br />

Die Beschreibung <strong>der</strong> Bombenangriffe und <strong>der</strong> da<strong>mit</strong> verbundenen Gefühle<br />

nehmen in diesem Interview einen auffallend breiten Raum ein. Dies ist Ausdruck<br />

des für die Heranwachsende damals alles beherrschenden Lebensgefühls<br />

<strong>der</strong> Todesangst. Anneliese Heidt beschreibt im Interview ausführl<strong>ich</strong><br />

und detailliert, daß sie bei Alarm ihr Luftschutzgepäck „schnappte" und versuchte,<br />

so schnell wie mögl<strong>ich</strong> den Bunker <strong>zu</strong> erre<strong>ich</strong>en. Von ihrer Familie<br />

war sie stets als erste im Bunker. Wegen <strong>der</strong> Druckwellen habe man die Türen<br />

rechtzeitig schließen müssen, und wer dann n<strong>ich</strong>t da gewesen sei, <strong>der</strong> habe<br />

89


draußen bleiben müssen, rechtfertigt sie ihre Hast. Im Bunker <strong>hatte</strong>n bald alle<br />

ihre Stammplätze, man saß unbequem, d<strong>ich</strong>t an d<strong>ich</strong>t auf schmalen Holzbänken,<br />

und vom Sitzen schwollen die Beine an. Um den Aufenthalt im Bunker<br />

überhaupt erträgl<strong>ich</strong> <strong>zu</strong> machen, mußten zwei Männer einen Notstromgenerator<br />

bedienen, <strong>der</strong> für L<strong>ich</strong>t und Belüftung sorgte. Man wartete o<strong>der</strong> versuchte,<br />

die Zeit <strong>mit</strong> Schlafen o<strong>der</strong> Lesen tot<strong>zu</strong>schlagen. Endl<strong>ich</strong> <strong>kam</strong> über Funk die<br />

Nachr<strong>ich</strong>t über die Lage <strong>der</strong> alliierten Verbände:<br />

„und wenn es dann <strong>kam</strong>, über Drahtfunk die Meldung, wo die, feindl<strong>ich</strong>en Verbände standen,<br />

denn hieß es, größere Verbände über <strong>der</strong> Nordsee, und denn, Wesermündung R<strong>ich</strong>tung Süden<br />

denn wußten wir, in, absehbarer Zeit also sind wir dran, ... und dann ging das also schon los daß<br />

man dieses Angstgefühl in <strong>der</strong> Magengrube <strong>hatte</strong> denn (1) war einem ganz schlecht vor Angst n<strong>ich</strong><br />

(1) und ahm, diese, wenn dann noch irgendwie son Ding, Luftmine o<strong>der</strong> was auf den Bunker<br />

prallte,... das is ganz furchtbar, wenn da in <strong>der</strong>, Nähe was runterkommt äh i- <strong>ich</strong> hab dann immer<br />

außen an <strong>der</strong>, Wand gesessen, kr<strong>ich</strong>t man einen SCHLAG von diesen, von dieser Betonwand in<br />

η Rücken, wie wie <strong>mit</strong> so ner Faust (1) und dieser Krach und und das, das is unbeschreibl<strong>ich</strong> n<strong>ich</strong>,<br />

diese Angriffe, warn, furchtbar schlimm, und <strong>ich</strong> habe, wirkl<strong>ich</strong>e Todesängste da ausgestanden"<br />

(5/42)<br />

Die Eingeschlossenen konnten schon aufgrund <strong>der</strong> Lage <strong>der</strong> gegnerischen<br />

Luftwaffenverbände sagen, ob sie dieses Mal „dran" sein o<strong>der</strong> verschont werden<br />

würden. Anneliese wurde bei einem näherkommenden Angriff immer<br />

„schlecht vor Angst", die Angst ergriff von ihrem Körper Besitz. Wenn dann<br />

die Geschosse auf die Bunker prallten o<strong>der</strong> in <strong>der</strong> Nähe nie<strong>der</strong>gingen, stand<br />

sie Todesängste aus, fühlte s<strong>ich</strong> wehrlos ausgeliefert. An an<strong>der</strong>er Stelle schil<strong>der</strong>t<br />

sie ihre Erinnerungen an die Bombenangriffe so plastisch, daß sie fast<br />

körperl<strong>ich</strong> erfahrbar werden:<br />

„und das Schlimmste is ja, dieses Heulen, /wwwww ((ahmt das Geräusch nach)), und dann<br />

diese, <strong>der</strong> Einschlag, <strong>mit</strong> diesem, das geht ja, diese diese, Be- diese Wellen, die die spürn Sie ja<br />

körperl<strong>ich</strong>, n<strong>ich</strong> nur hörn, Sie spürn es am ganzen Kör- das wackelt ja alles, das kommt durch die<br />

Erde, wie<strong>der</strong> in sie hinein un denn, aber, kaum is dieses, dann <strong>mit</strong> einem fürchterl<strong>ich</strong>en Getöse<br />

natürl<strong>ich</strong>, die, Häuser <strong>zu</strong>sammenfallen und und denn das, Pfeifen, und dieses Durchgeschütteltwerden,<br />

das war so schreckl<strong>ich</strong>, da haben wir hat man so gesessen wie den Kopf un so und, unter<br />

den, Arm, und ne ne Decke übern Kopf, und denn, falls das so einstürzen würde, daß man vielle<strong>ich</strong>t<br />

noch, son bißchen Schutz durch ne Decke <strong>hatte</strong> daß man dann s<strong>ich</strong> wie<strong>der</strong> η bißchen ausbuddeln<br />

könnte daß man n<strong>ich</strong> gle<strong>ich</strong> den Schutt im Mund <strong>hatte</strong> (1) das war, sehr schlimm" (32 / 27)<br />

Diese Darstellung erinnert an Naturgewalten, denen man — ebenso wie den<br />

Bomben — wehrlos und hilflos ausgeliefert ist. Gegen die Gefährdung für<br />

Leib und Leben, die von den Bomben ausging, konnte man s<strong>ich</strong> kaum schützen.<br />

Anneliese Heidt zog s<strong>ich</strong> die Decke über den Kopf — eine hilflose Geste<br />

des Schutzsuchens, die bei einem Treffer wohl kaum eine große Wirkung gehabt<br />

hätte. Doch kann dieses Deckung-Suchen als Metapher für die Ohnmacht<br />

gelesen werden, <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Anneliese dem Bombenterror ausgeliefert war.<br />

War dann <strong>der</strong> Angriff vorbei und <strong>kam</strong> die Entwarnung, „mußte man erst<br />

mal sehen, ob man sein Haus noch wie<strong>der</strong>fand, ob das noch stand". Langsam<br />

erwachte auch <strong>der</strong> Leib wie<strong>der</strong> aus seiner Starre:<br />

90


„und denn wurde erst mal <strong>der</strong> Rucksack aufgeschnürt und unsere eiserne Verpflegung eine<br />

Mettwurst, o<strong>der</strong>, was man so <strong>hatte</strong>, un denn, wurde da was abgeschnitten und denn, aß man das<br />

erst man <strong>hatte</strong> ja Hunger n<strong>ich</strong>" (32/23)<br />

Anneliese Heidt lebte in ständiger Angst vor neuerl<strong>ich</strong>en Angriffen und<br />

konnte ihre Todesangst n<strong>ich</strong>t unterdrücken. Dennoch gibt es für sie — <strong>zu</strong>mindest<br />

in <strong>der</strong> Retrospektive — auch positive Momente. Frau Heidt erinnert s<strong>ich</strong><br />

an das Solidaritätsgefühl, das zwischen denen entstand, die gemeinsam in dieser<br />

bedrohl<strong>ich</strong>en Situation <strong>zu</strong> überleben suchten. Man unterstützte s<strong>ich</strong> wechselseitig<br />

beim Löschen <strong>der</strong> brennenden Häuser und half s<strong>ich</strong> <strong>mit</strong> dem Nötigsten<br />

aus.<br />

In dieser Situation konzentrierte s<strong>ich</strong> Anneliese völlig auf das Überleben:<br />

„<strong>ich</strong> (1) war viel <strong>zu</strong> sehr in diesem aktuellen Geschehen drin daß <strong>ich</strong> an, an weiter gar n<strong>ich</strong>t<br />

dachte <strong>ich</strong> dachte bloß ans Leben-Bleiben, und es war mir eigentl<strong>ich</strong> auch ganz egal, wie <strong>der</strong><br />

<strong>Krieg</strong> <strong>zu</strong> Ende ging, es <strong>kam</strong> nur drauf an, daß man, überlebte und das war also das Hauptziel in<br />

<strong>der</strong> ganzen Zeit, Überleben, und da:, gibts ja ne Menge Tricks, die man sehr / schnell ((lachend))<br />

lernt, schnell sein und und, hören, wenn die Granaten kommen o<strong>der</strong> sowas" (6/47)<br />

Während die Bombenangriffe auf Bremen unvermin<strong>der</strong>t fortgesetzt wurden,<br />

nahm die 15jährige als Schülerin gemeinsam <strong>mit</strong> ihren Klassen<strong>kam</strong>eradinnen<br />

vom Herbst 1942 bis <strong>zu</strong>m Frühjahr 1943 an einer Kin<strong>der</strong>landverschickung<br />

nach Thüringen teil. Zwar ent<strong>kam</strong> sie da<strong>mit</strong> <strong>der</strong> Bedrohung durch<br />

die Bombenangriffe, doch <strong>hatte</strong> sie großes Heimweh nach ihrer Familie. Obwohl<br />

sie schwer erkrankte, wurde ihr eine vorzeitige Rückkehr n<strong>ich</strong>t erlaubt.<br />

Sie meint, sie habe damals gelernt, in Situationen <strong>zu</strong>recht<strong>zu</strong>kommen, „auch<br />

wenn sie einem n<strong>ich</strong>t passen". Im Frühjahr 1943 kehrte sie nach Bremen <strong>zu</strong>rück.<br />

Frau Heidt erinnert s<strong>ich</strong>, daß in diesem Frühjahr, nach <strong>der</strong> deutschen Nie<strong>der</strong>lage<br />

in Stalingrad im Januar 1943, in <strong>der</strong> Bevölkerung erste Zweifel an einem<br />

deutschen Sieg laut wurden. Sie selbst habe aber die Mögl<strong>ich</strong>keit einer<br />

deutschen Nie<strong>der</strong>lage n<strong>ich</strong>t wahrhaben wollen:<br />

B: „<strong>ich</strong> glaube <strong>ich</strong> wollte das n<strong>ich</strong> wissen daß es auch schiefgehn konnte o<strong>der</strong> o<strong>der</strong>, daß wir also,<br />

wirkl<strong>ich</strong> am Verliern warn, da war ja immer noch dieses Geschwafel von <strong>der</strong> Wun<strong>der</strong>waffe<br />

n<strong>ich</strong>, Raketen, hm, un denn war ja auch<br />

I: mhm<br />

B: da ... die, V2 die nach England schoß, die das konnte man ja sehn am Himmel n<strong>ich</strong>, und denn<br />

hieß es ja vielfach ja das is <strong>der</strong> Anfang aber was da noch geheim: dahinter is und so weiter,<br />

JA, IRGENDWIE HAT diese Propaganda, äh, Gott eben uns ((lacht)) äh unbedarften Gemütern<br />

auch Wurzel geschlagen, und wir harn das ein bißchen verdrängt, jedenfalls, <strong>ich</strong>- also <strong>ich</strong><br />

Sprech jetzt von mir n<strong>ich</strong> von wir" (40/25)<br />

Die heranwachsende Anneliese vertraute damals so auf die Propaganda,<br />

daß sie <strong>der</strong> Mögl<strong>ich</strong>keit einer deutschen Nie<strong>der</strong>lage n<strong>ich</strong>t ins Auge sehen<br />

konnte. Sie wünschte s<strong>ich</strong> also trotz ihrer Todesängste n<strong>ich</strong>t ein <strong>Krieg</strong>sende<br />

um jeden Preis; die Mögl<strong>ich</strong>keit einer deutschen Nie<strong>der</strong>lage blendete sie aus<br />

ihrer Wahrnehmung aus.<br />

91


2.3.6 „Wir haben uns n<strong>ich</strong>t da<strong>mit</strong> auseinan<strong>der</strong>gesetzt"<br />

Im Herbst desselben Jahres begleitete sie, wie schon erwähnt, als JM-Führerin<br />

eine Volksschulklasse in die Kin<strong>der</strong>landverschickung an den Bodensee.<br />

Sie erinnert s<strong>ich</strong>, aus Angst vor einer erneuten Trennung von <strong>der</strong> Familie und<br />

vor <strong>der</strong> neuen Aufgabe krank geworden <strong>zu</strong> sein. Die Mutter habe sie durch<br />

Vorsprechen beim „Bann* 4<br />

von dieser lästigen Pfl<strong>ich</strong>t befreien lassen wollen,<br />

doch die HJ-Führung bestand auf Gehorsam.<br />

Lebhaft und ausführl<strong>ich</strong> erzählt Frau Heidt über ihre Odyssee <strong>zu</strong>m Bestimmungsort<br />

und über ihre eigenmächtige Entscheidung, während <strong>der</strong> Erntezeit<br />

den HJ-Dienst ausfallen und die bei den bäuerl<strong>ich</strong>en Familien <strong>der</strong> Umgebung<br />

einquartierten Mädchen bei <strong>der</strong> Kartoffelernte helfen <strong>zu</strong> lassen. Sie selbst ging<br />

in dieser Zeit <strong>zu</strong>r Schule in die nahe gelegene Kreisstadt. In <strong>der</strong> Vorweihnachtszeit<br />

mußte sie <strong>mit</strong> den ihr anvertrauten Mädchen Spielzeug für das Winterhilfswerk<br />

basteln. Weil Werkzeug fehlte, sägte sie ganz allein Dutzende von<br />

Figuren <strong>mit</strong> <strong>der</strong> einzig vorhandenen Laubsäge aus. Später stellte s<strong>ich</strong> dann<br />

heraus, daß sie die einzige <strong>der</strong> Führerinnen war, die ihr Soll erfüllt <strong>hatte</strong>:<br />

„kein Mensch <strong>hatte</strong> daran gedacht bloß <strong>ich</strong> war so blöd und hab gedacht das wird von dir verlangt<br />

also mußt du es auch machen, und das is auch ganz beze<strong>ich</strong>nend eigentl<strong>ich</strong>, dieses, was uns<br />

so eingeimpft worden is, weiß n<strong>ich</strong> ob das nun, auch von <strong>zu</strong> Hause ode:r durch diese Dienstzeit,<br />

ein, Befe:hl, wurde ausgeführt (1) daß ein Befehl mal n<strong>ich</strong>t ausgeführt wurde, das <strong>hatte</strong> a, Konsequenzen,<br />

meistens, o<strong>der</strong> ((Räuspern)) man mußte das <strong>mit</strong> irgendwelchen Tricks, versuchen so,<br />

daß das n<strong>ich</strong> raus<strong>kam</strong>, äh außerdem, das tat man einfach n<strong>ich</strong>, es, gehörte s<strong>ich</strong> n<strong>ich</strong>" (10/9)<br />

Anneliese Heidt <strong>hatte</strong> eine ausgeprägte Autoritätsorientierung ausgebildet,<br />

die sie selbst auf ihre Sozialisation im soldatischen Milieu des Elternhauses,<br />

aber auch auf den Gehorsamsdrill bei <strong>der</strong> HJ <strong>zu</strong>rückführt. Das Sozialisationsmilieu<br />

ihres Elternhauses charakterisiert sie als durch die Maxime „Pfl<strong>ich</strong>terfüllung"<br />

geprägt. Aufgewachsen <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Vorstellung, Pfl<strong>ich</strong>terfüllung und Befehlsgehorsam<br />

seien oberstes Gebot, war Anneliese Heidt offener Wi<strong>der</strong>stand<br />

unmögl<strong>ich</strong>. Einen Befehl verweigern, „das tat man einfach n<strong>ich</strong>". Hinter dieser<br />

Erklärung steht das Eingeständnis eigener Autoritäts- und Befehlsfixierung.<br />

In dem Gespräch <strong>mit</strong> uns scheint sie diesen latenten Bedeutungsgehalt<br />

ihrer Argumentation <strong>zu</strong> erkennen, denn sie versucht — im Anschluß an die<br />

vorhergehende Textpassage — den Befehlgehorsam <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Erklärung <strong>zu</strong><br />

rechtfertigen, daß Befehlsverweigerung im sog. Dritten Re<strong>ich</strong> harte Sanktionen<br />

nach s<strong>ich</strong> zog. So habe <strong>der</strong> Vater einer Schul<strong>kam</strong>eradin, ein Wehrmachtsoffizier,<br />

seine Tochter wegen ihrer schlechten Unterbringung aus <strong>der</strong> KLV<br />

nach Hause geholt. Dieses eigenmächtige Handeln habe ihm ein <strong>Krieg</strong>sger<strong>ich</strong>tsverfahren<br />

eingetragen.<br />

Während <strong>der</strong> Sommerferien 1944 nahm Anneliese Heidt gemeinsam <strong>mit</strong> an<strong>der</strong>en<br />

Abiturienten an einem politischen Schulungslager in Holstein teil. Welche<br />

Funktion diese Schulung <strong>hatte</strong>, ob sie da<strong>mit</strong> vielle<strong>ich</strong>t <strong>zu</strong>r hauptamtl<strong>ich</strong>en<br />

JM-Führerin ausgebildet werden sollte, bleibt im Interview unklar. Nach Frau<br />

92


Heidts Ans<strong>ich</strong>t verfolgte die NSDAP da<strong>mit</strong> die Abs<strong>ich</strong>t, die Abiturienten, die<br />

oft „schon erstmal aus Prinzip" dagegen und den NS-Führem geistig überlegen<br />

gewesen seien, etwas ,,an die Kandarrhe <strong>zu</strong> nehmen" und ein<strong>zu</strong>schüchtern.<br />

Noch heute sind ihr die harten Bedingungen dieser Zeit gegenwärtig: große<br />

Schlafsäle <strong>mit</strong> Holzpritschen, eiskaltes Wasser und tägl<strong>ich</strong>er Sportunterr<strong>ich</strong>t.<br />

Während <strong>der</strong> „theoretischen Schulung" seien sie n<strong>ich</strong>t nur ideologisch indoktriniert<br />

worden, son<strong>der</strong>n sie hätten auch die eigene Gesinnung unter Beweis<br />

stellen müssen. Am Ende dieser Zeit wurden Aufsatzthemen vergeben, <strong>mit</strong><br />

denen wohl die politische Zuverlässigkeit <strong>der</strong> Schülerinnen bzw. Jugendfuhrerinnen<br />

überprüft werden sollte:<br />

„je<strong>der</strong> kr<strong>ich</strong>te ein Thema, und Sie mögen es glauben o<strong>der</strong> n<strong>ich</strong> <strong>ich</strong> <strong>hatte</strong> das Thema, äh, sollte<br />

über die Endlösung <strong>der</strong> Judenfrage schreiben (2) hatt <strong>ich</strong> überhaupt keine Ahnung von, fand,<br />

also, wußte überhaupt n<strong>ich</strong> was <strong>ich</strong> da schreiben sollte, n<strong>ich</strong>ts abgeben war also einfach n<strong>ich</strong> mögl<strong>ich</strong>,<br />

un denn hab <strong>ich</strong> da, irgendwie <strong>ich</strong> kann das ja nun, wörtl<strong>ich</strong> n<strong>ich</strong> <strong>mehr</strong> wie<strong>der</strong>holen aber,<br />

<strong>ich</strong> weiß wohl daß <strong>ich</strong> da so, irgendwie was angefangen hab un denn so, so so gedreht, un denn,<br />

hinterher war <strong>ich</strong> denn plötzl<strong>ich</strong> auf einem ANDERN THEMA, und denn hab <strong>ich</strong> geschrieben<br />

denn hab <strong>ich</strong> seitenweise geschrieben, und war natürl<strong>ich</strong> nun <strong>mit</strong>tlerweile das Thema völlig verfehlt<br />

aber das war mir lieber als über dieses solch ein Thema <strong>zu</strong> schreiben" (11 /41)<br />

An dieser Stelle drängt s<strong>ich</strong> die Frage auf, ob damals wohl tatsächl<strong>ich</strong> ein<br />

Aufsatzthema <strong>zu</strong>r „Endlösung <strong>der</strong> Judenfrage" gestellt worden ist o<strong>der</strong> ob das<br />

Thema vielle<strong>ich</strong>t eher die „Lösung <strong>der</strong> Judenfrage" hieß. Nach offizieller<br />

Sprachregelung meinte die „Lösung <strong>der</strong> Judenfrage" die forcierte Auswan<strong>der</strong>ung<br />

<strong>der</strong> jüdischen Bevölkerung, die nach <strong>Krieg</strong>sbeginn allerdings kaum noch<br />

mögl<strong>ich</strong> war. Beze<strong>ich</strong>nen<strong>der</strong>weise haben die beiden Interviewerinnen an dieser<br />

Stelle n<strong>ich</strong>t danach gefragt, ob es bei diesem Thema um Fragen einer „politischen<br />

Lösung" des „Judenproblems" (z.B. Aussiedlung in die Ostgebiete)<br />

ging o<strong>der</strong> ob in diesem Schulungslager eventuell sogar offen über die „physische<br />

Lösung" — wie die Vern<strong>ich</strong>tung <strong>der</strong> Juden im Nazijargon beze<strong>ich</strong>net<br />

wurde — diskutiert wurde. Auch die Interviewerinnen durchbrechen das<br />

„Enthüllungsverbot" (vgl. Kap. 4.3) also n<strong>ich</strong>t.<br />

Vermutl<strong>ich</strong> sollte <strong>mit</strong> dieser Themenstellung — wie auch immer formuliert —<br />

überprüft werden, wie weit die Mädchen in ihren Überlegungen gingen — ob sie<br />

über die Umsiedlung <strong>der</strong> jüdischen Bevölkerung in die Ostgebiete o<strong>der</strong> die Einweisung<br />

in Arbeitslager hinaus ihre Ermordung befürworteten. Anneliese Heidt<br />

erinnert s<strong>ich</strong>, daß ihr dieses Thema damals sehr unangenehm war. Offenbar<br />

spürte sie seine Brisanz und die an sie ger<strong>ich</strong>teten Erwartungen, denn sie nahm<br />

bewußt in Kauf, für die Verfehlung des Themas gerügt <strong>zu</strong> werden. Lei<strong>der</strong> erfahren<br />

wir von Frau Heidt n<strong>ich</strong>t, was für sie damals das eigentl<strong>ich</strong> Problematische<br />

dieses Themas ausmachte. So bleibt unklar, ob sie nun aufgrund mangelnden<br />

Wissens „keine Ahnung" von diesem Thema <strong>hatte</strong>, o<strong>der</strong> ob dieses Thema sie in<br />

einen moralischen Konflikt brachte, dem sie s<strong>ich</strong> <strong>zu</strong> entziehen versuchte — wie<br />

wir heute (all<strong>zu</strong> le<strong>ich</strong>t) selbstverständl<strong>ich</strong> <strong>zu</strong> unterstellen geneigt sind.<br />

93


Auf die nationalsozialistische Vern<strong>ich</strong>tungspolitik gegenüber <strong>der</strong> jüdischen<br />

Bevölkerung geht Frau Heidt an dieser Stelle n<strong>ich</strong>t weiter ein. Auch an einer<br />

späteren Stelle des Interviews, als sie von einer <strong>der</strong> beiden Interviewerinnen<br />

direkt nach ihrem Wissen über die Greueltaten in den Konzentrationslagern<br />

gefragt wird, versucht sie, diesem Thema aus<strong>zu</strong>we<strong>ich</strong>en:<br />

„<strong>zu</strong>r, <strong>zu</strong>r, Nazizeit, muß <strong>ich</strong> sagen, über, diese, Dinge, davon, hab <strong>ich</strong>, wirkl<strong>ich</strong> n<strong>ich</strong>ts gewußt,<br />

es, es is ja schon peinl<strong>ich</strong> das <strong>zu</strong> sagen es, sagen so viele, aber es war wirkl<strong>ich</strong> so, wir haben, daß<br />

es KZ gab das, wußte man (1) aber (1) n<strong>ich</strong> daß es, in diesem Ausmaß und äh äh, auf solch eine<br />

Art, wir haben ein KZ, so gedacht, daß es so was Ähnl<strong>ich</strong>es wie η Zuchthaus is, die s ja auch gab,<br />

ja, und zwar, für, auch <strong>mit</strong>, für Leute, die, wie es so schön hieß unsern Soldaten in den Rücken<br />

fielen, und das fanden wir also, äh, ganz, scheußl<strong>ich</strong>, daß, unsere Brü<strong>der</strong>, o<strong>der</strong> Väter, da, draußen<br />

standen und die nun, versuchten also, uns <strong>zu</strong> verteidigen, und denn <strong>zu</strong> Hause, irgendwelche Leute<br />

warn, die nun, von hinten, heiml<strong>ich</strong>, ohne, offen, <strong>mit</strong> Waffe o<strong>der</strong> sowas denen entgegen<strong>zu</strong>treten<br />

son<strong>der</strong>n wir fanden das ausgesprochen feige, und hinterhältig, und daß man das n<strong>ich</strong> hinnehmen<br />

konnte, äh, <strong>der</strong> Meinung warn wir* 4 (20/36)<br />

Sehen wir uns diese Textstelle einmal genauer an: „daß es KZ gab das,<br />

wußte man (1) aber (1) n<strong>ich</strong> daß es, in diesem Ausmaß und äh äh, auf solch eine<br />

Art**. Was ist es, über dessen Art und Ausmaß sie n<strong>ich</strong>t Bescheid wußte? Vermutl<strong>ich</strong><br />

meint Anneliese Heidt hier die systematische, durchgeplante Tötung<br />

von Millionen Menschen in den Gas<strong>kam</strong>mern. Sorgfaltig vermeidet sie aus<strong>zu</strong>sprechen,<br />

um wen es ging; sie spr<strong>ich</strong>t hier an keiner Stelle von den Juden. Um<br />

es genauer <strong>zu</strong> sagen: Wovon sie n<strong>ich</strong>ts wußte, war die industrielle Form <strong>der</strong><br />

Massentötung und <strong>der</strong> Umfang, den diese Vern<strong>ich</strong>tungsaktionen <strong>hatte</strong>n. Doch<br />

auf den millionenfachen Mord an <strong>der</strong> jüdischen Bevölkerung will sie erst gar<br />

n<strong>ich</strong>t <strong>zu</strong> sprechen kommen. Statt dessen erklärt sie, sie habe Konzentrationslager<br />

für etwas Ähnl<strong>ich</strong>es wie Zuchthäuser gehalten und geglaubt, dort würden<br />

unehrenhafte Menschen gefangen gehalten, die den Frontsoldaten „in den<br />

Rücken fielen" und ihnen „von hinten" den Dolchstoß versetzten. Da<strong>mit</strong> wird<br />

in dieser Textpassage auch ihre Identifikation <strong>mit</strong> <strong>der</strong> soldatischen Perspektive<br />

s<strong>ich</strong>tbar: <strong>Als</strong> Tochter eines Berufesoldaten empfand sie jede Form zivilen Wi<strong>der</strong>stands<br />

o<strong>der</strong> Kritik als feigen Dolchstoß, <strong>der</strong> den Soldaten an <strong>der</strong> Front traf<br />

und <strong>der</strong> einen deutschen Sieg verhin<strong>der</strong>te. Ebenso verachtete sie dann auch<br />

das Attentat auf <strong>Hitler</strong> vom 20. Juli 1944. Damals, erinnert sie s<strong>ich</strong>, habe sie<br />

in dem Handeln <strong>der</strong> Offiziere einen Verrat gegenüber den Soldaten an <strong>der</strong><br />

Front gesehen. Sie sei entsetzt gewesen, daß so etwas habe geschehen können.<br />

An<strong>der</strong>erseits verurteilte sie den Selbstmord <strong>Hitler</strong>s 1945 als feige Flucht vor<br />

<strong>der</strong> Verantwortung. Auch dies muß m.E. vor dem Hintergrund des soldatischen<br />

Moralkodexes gelesen werden, <strong>der</strong> vorschreibt, daß man für seine eigenen<br />

Handlungen auch die Verantwortung übernehmen muß.<br />

Kommen wir noch einmal auf die Frage <strong>zu</strong>rück, wie Frau Heidt im Interview<br />

<strong>mit</strong> dem Thema <strong>der</strong> nationalsozialistischen Verfolgungspolitik umgeht.<br />

Sowohl in ihrer Erzählung über das Schulungslager und das Aufsatzthema<br />

94


über die „Endlösung <strong>der</strong> Judenfrage 44<br />

als auch in ihrer Argumentation über<br />

die Konzentrationslager sucht sie s<strong>ich</strong> diesem Thema <strong>zu</strong> entziehen. Sie scheut<br />

s<strong>ich</strong>, das eigentl<strong>ich</strong> Bedrückende beim Namen <strong>zu</strong> nennen. Um so überraschen<strong>der</strong><br />

ist, daß sie später dieses Thema von s<strong>ich</strong> aus noch einmal <strong>zu</strong>r Sprache<br />

bringt. Frau Heidt schneidet das Thema <strong>der</strong> nationalsozialistischen Verfolgung<br />

und Ermordung jüdischer Mitbürger nach einer relativ langen Pause<br />

scheinbar unver<strong>mit</strong>telt an. Es steht aber im Kontext einer Passage, in <strong>der</strong> es um<br />

ihren Aufenthalt im Schulungslager in Holstein ging, von dem schon oben die<br />

Rede war und in dem sie jenen Aufsatz über die „Endlösung <strong>der</strong> Judenfrage"<br />

schreiben mußte. Es entsteht <strong>der</strong> Eindruck, daß <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Thematisierung <strong>der</strong><br />

politischen Schulung s<strong>ich</strong> ihr auch die Frage nach dem Schicksal <strong>der</strong> jüdischen<br />

Bevölkerung aufdrängt. Frau Heidt we<strong>ich</strong>t also dem Thema <strong>der</strong> Verfolgung<br />

und Vern<strong>ich</strong>tung jüdischer Menschen n<strong>ich</strong>t vollständig aus — es steht für<br />

sie jedoch n<strong>ich</strong>t im Zusammenhang ihres damaligen Wissens über die Konzentrationslager,<br />

die sie als gerechte Strafe für Verräter für gerechtfertigt gehalten<br />

<strong>hatte</strong>:<br />

„(7) und, vielle<strong>ich</strong>t noch, äh, auch ein Thema, unerfreul<strong>ich</strong>, aber, aktuell in <strong>der</strong> Zeit und s<strong>ich</strong>er<br />

auch, wollen Sie da gerne was, von wissen die Juden ((Wechsel <strong>der</strong> Cassettenseite» ... auf <strong>der</strong><br />

Straße diese äh Menschen die da <strong>mit</strong> dem Judenstern warn, die sahn fürchterl<strong>ich</strong> kümmerl<strong>ich</strong> aus<br />

(1) einmal, sahn die alle so, zerlumpt aus man, 1- laß 1- ließ ihnen wohl: n<strong>ich</strong>ts an<strong>der</strong>es, äh das war<br />

ja Abs<strong>ich</strong>t da<strong>mit</strong> die also sollten einen einen, verabscheuenswürdigen Eindruck machen wahrscheinl<strong>ich</strong><br />

und, sie warn furchtbar, scheu (1) näh, und, das war etwas, was <strong>ich</strong> als Kind n<strong>ich</strong>, verstanden<br />

habe, o<strong>der</strong> als Jugendl<strong>ich</strong>er, wo <strong>ich</strong> auch, m<strong>ich</strong>, n<strong>ich</strong> <strong>mit</strong> <strong>zu</strong> Ende auseinan<strong>der</strong>gesetzt<br />

habe, (2) was <strong>ich</strong>, schreckl<strong>ich</strong> fand, was mir, sehr unangenehm war und man vermied, die Leute,<br />

<strong>zu</strong> sehn, an<strong>zu</strong>sehn, o<strong>der</strong> ihnen <strong>zu</strong> begegnen (2) äh, man fühlte s<strong>ich</strong> fürchterl<strong>ich</strong> unbehagl<strong>ich</strong> (2)'*<br />

(45/38)<br />

Frau Heidt s<strong>ich</strong>ert s<strong>ich</strong> <strong>zu</strong>nächst ab, ob die Interviewerinnen etwas über das<br />

Thema <strong>der</strong> Judenverfolgung wissen wollen. Für sie ist es ein unerfreul<strong>ich</strong>es<br />

Thema, ein Thema unter an<strong>der</strong>en zwar, die in jener Zeit aktuell waren, ein<br />

Thema aber, über das sie auch heute nur ungern redet. Ihre Erinnerung, so<br />

spüren wir, ist getragen von dem Gefühl des Peinl<strong>ich</strong>en, ihre Sprechweise ist<br />

stockend. Selbst heute empfindet sie noch das Abgestoßensein und das Unbehagen,<br />

das sie damals bei <strong>der</strong> Begegnung <strong>mit</strong> diesen <strong>zu</strong> gesellschaftl<strong>ich</strong>en Außenseitern<br />

gestempelten Menschen empfand. Sie ist noch von ihrem damaligen<br />

Empfinden als junge JM-Führerin beherrscht, für die diese Menschen<br />

n<strong>ich</strong>t den an Sportl<strong>ich</strong>keit und Vitalität orientierten Kriterien eines attraktiven<br />

Äußeren entsprachen. Heute erklärt sie s<strong>ich</strong> das scheue Auftreten und das ärml<strong>ich</strong>e<br />

Äußere dieser Menschen als bewußte Strategie <strong>der</strong> nationalsozialistischen<br />

Machthaber, um die jüdischen Bürger <strong>zu</strong> verunglimpfen: „man, 1- laß-1- ließ<br />

ihnen wohl n<strong>ich</strong>ts an<strong>der</strong>es". Doch ist sie s<strong>ich</strong> immer noch uns<strong>ich</strong>er, wie sie dieses<br />

„unerfreul<strong>ich</strong>e" Thema beurteilen soll. Hier drängt s<strong>ich</strong> die Frage auf, wie<br />

Anneliese Heidt im Gespräch <strong>mit</strong> uns <strong>mit</strong> dem weiteren Schicksal <strong>der</strong> jüdischen<br />

Bevölkerung umgeht. Sie setzt ihre Argumentation fort:<br />

95


„ABER, WAS, hm, daß die jetz ä:h (l) so umgebracht wurden, da hab <strong>ich</strong>-, das hab <strong>ich</strong> n<strong>ich</strong><br />

gewußt, auch keine Ahnung von gehabt, ICH GLAUBE SCHON daß einige Erwachsene etl<strong>ich</strong>e<br />

Erwachsene das gewußt haben, äh, <strong>ich</strong> n<strong>ich</strong>t, wahrscheinl<strong>ich</strong> hat man es, von mir ferngehalten,<br />

und daß die nachher wohl irgendwie in Lager <strong>kam</strong>en, ja, aber, naja, wir verstanden da eben ganz<br />

was an<strong>der</strong>es drunter n<strong>ich</strong>, weiß Gott n<strong>ich</strong> sowas was da ge(mör-), worden is, aber, diese, Judensache<br />

war also etwas, was, auch uns, die wir doch nun als, junge, Menschen, doch nun wirkl<strong>ich</strong> flir<br />

das Regime warn, also ein ein, ganz gräßl<strong>ich</strong> unbehagl<strong>ich</strong>es Gefühl auslöste aber, wir harn uns,<br />

n<strong>ich</strong>, da<strong>mit</strong> auseinan<strong>der</strong>gesetzt, wir ham das auch, weggeschoben wahrscheinl<strong>ich</strong> (1)" (45/38)<br />

Anneliese Heidt beteuert, damals n<strong>ich</strong>ts darüber gewußt <strong>zu</strong> haben, daß fast<br />

alle diese „kümmerl<strong>ich</strong>" aussehenden Menschen in den Konzentrationslagern<br />

umgekommen sind. Sie läßt es bei dieser Rechtfertigung, bei <strong>der</strong> sie emphatisch<br />

bekennt, „wirkl<strong>ich</strong> für das Regime" gewesen <strong>zu</strong> sein, dann auch bewenden.<br />

Sie habe niemanden persönl<strong>ich</strong> gekannt, die Verfolgungen seien für sie<br />

anonym gewesen. Damals, schließt sie dieses Thema ab, habe sie „bewußt<br />

weggesehen". Sie läßt s<strong>ich</strong> auf dieses Thema auch jetzt n<strong>ich</strong>t weiter ein. Wir<br />

erfahren n<strong>ich</strong>t, was es für sie bedeutet, s<strong>ich</strong> <strong>mit</strong> diesem Regime, das den millionenfachen<br />

Massenmord befahl, identifiziert <strong>zu</strong> haben. Den Gedanken<br />

daran wehrt sie heute wie damals ab. Diese Abwehr verhin<strong>der</strong>t vermutl<strong>ich</strong><br />

auch eine empathische Teilnahme am Schicksal <strong>der</strong> Opfer und ein Mitempfinden<br />

<strong>mit</strong> ihnen.<br />

Kehren wir <strong>zu</strong> ihrem Erleben und ihren Erfahrungen im sog. Dritten Re<strong>ich</strong><br />

<strong>zu</strong>rück.<br />

Wie schon im Zusammenhang <strong>mit</strong> dem Thema des Holocausts aufscheint,<br />

war sie damals bestrebt, Einbrüche in ihr Weltbild und in ihr Vertrauen in die<br />

Rechtmäßigkeit des NS-Staates ab<strong>zu</strong>wehren bzw. die allmähl<strong>ich</strong> auftretenden<br />

Risse n<strong>ich</strong>t wahr<strong>zu</strong>nehmen. Beson<strong>der</strong>s deutl<strong>ich</strong> wird dies, als Frau Heidt über<br />

ihre Empörung erzählt, die die vermeintl<strong>ich</strong>e „Gegenpropaganda" ihrer ehemaligen<br />

Lehrer bei ihr auslöste. Sie habe, um ihnen „den Mund <strong>zu</strong> stopfen",<br />

vorgegeben, ihre Äußerungen <strong>mit</strong><strong>zu</strong>schreiben. Bei den Lehrern mußte <strong>der</strong><br />

Eindruck entstehen, sie wollte sie denunzieren:<br />

„da hab <strong>ich</strong> näml<strong>ich</strong> (2) angebl<strong>ich</strong>, <strong>mit</strong>geschrieben, <strong>ich</strong> hab aber n<strong>ich</strong> <strong>mit</strong>geschrieben <strong>ich</strong> hab<br />

nur so getan als wenn <strong>ich</strong> diese Anspielungen, die die machten, <strong>mit</strong>geschrieben <strong>hatte</strong> und die, Wirkung,<br />

die <strong>ich</strong> beabs<strong>ich</strong>tigt <strong>hatte</strong> die is auch eingetreten, die, haben näml<strong>ich</strong> ihre Anspielungen sein<br />

lassen, <strong>ich</strong> hätte, nie irgendwas, gebraucht und die angezeigt o<strong>der</strong> sowas hätt <strong>ich</strong> nie, <strong>ich</strong> hab auch<br />

nie <strong>mit</strong>geschrieben <strong>ich</strong> hab nur so getan, um denen den Mund <strong>zu</strong> stopfen, denn <strong>ich</strong> muß auch heut<br />

noch sagen was sollte das (1) eine, offene Aussprache, die war wohl n<strong>ich</strong>t mögl<strong>ich</strong> und die, haben<br />

sie auch n<strong>ich</strong> s<strong>ich</strong> getraut, und nur <strong>mit</strong>, <strong>mit</strong> verdeckten Anspielungen, hätten die, uns doch auch<br />

n<strong>ich</strong> überzeugen können was sollte das (1) versteh <strong>ich</strong> eigentl<strong>ich</strong> n<strong>ich</strong>, ganz, und, <strong>ich</strong> hab m<strong>ich</strong> damals<br />

sehr aufgeregt und dachte immer so (1) vielle<strong>ich</strong>t hatt <strong>ich</strong> auch Angst davor daß m<strong>ich</strong> einer<br />

vom Gegenteil überzeugen könnte, mag sein, <strong>ich</strong> wollte wahrscheinl<strong>ich</strong> n<strong>ich</strong>ts an<strong>der</strong>es hören ...<br />

aber, so, heute vom moralischen o<strong>der</strong> ethischen Standpunkt her muß <strong>ich</strong> ja heute sagen also äh war<br />

<strong>ich</strong> zieml<strong>ich</strong> schäbig /n<strong>ich</strong> ((lachend)) was <strong>ich</strong> da gemacht habe ... (3) wi:r, konnten uns sonst<br />

ja auch n<strong>ich</strong> wehren, rhetorisch konnten wir uns gegen solche Leute ja n<strong>ich</strong> wehren (6)" (21 /18)<br />

Der Text suggeriert, daß n<strong>ich</strong>t die Lehrer, die ihre Meinung aus Angst vor<br />

einer Denunziation durch ihre Schüler n<strong>ich</strong>t offen äußern konnten, die Opfer<br />

96


waren, son<strong>der</strong>n sie, die Schüler, die s<strong>ich</strong> gegen „solche Leute" n<strong>ich</strong>t „wehren"<br />

konnten. Was bedrohte Anneliese Heidt so, daß sie s<strong>ich</strong> dagegen wehren<br />

mußte? Sie <strong>hatte</strong> Angst, s<strong>ich</strong> vom Gegenteil überzeugen <strong>zu</strong> lassen, sagt sie<br />

selbst. Sie <strong>hatte</strong> Angst, in ihrer Überzeugung, daß Deutschland den <strong>Krieg</strong> gewinnen<br />

und <strong>der</strong> Einsatz <strong>der</strong> Soldaten für diesen Staat s<strong>ich</strong> lohnen würde, erschüttert<br />

<strong>zu</strong> werden. Mit dieser bedrohl<strong>ich</strong>en Realität wollte sie s<strong>ich</strong> n<strong>ich</strong>t auseinan<strong>der</strong>setzen.<br />

An<strong>der</strong>e Wahrheiten als ihre eigene sollten keine Gültigkeit<br />

haben, sie mußten <strong>mit</strong> aller Vehemenz und <strong>mit</strong> allen Mitteln abgewehrt werden.<br />

Obwohl sie heute ihr Tun als „zieml<strong>ich</strong> schäbig" empfindet, ist ihr die<br />

Position <strong>der</strong> Lehrer fremd. Für die Konfliktsituation, in <strong>der</strong> jene mögl<strong>ich</strong>erweise<br />

standen, bringt sie kaum Verständnis auf. Deren hilflosen Versuch, die<br />

eigene damalige Überzeugung n<strong>ich</strong>t völlig <strong>zu</strong> verleugnen, verunglimpft sie<br />

noch heute <strong>mit</strong> fast kindl<strong>ich</strong> anmuten<strong>der</strong> Vehemenz.<br />

2.3.7Die biographische Wende: <strong>Als</strong> Rot-Kreuz-Schwester an <strong>der</strong> Heimatfront<br />

Noch bevor Anneliese Heidts Jahrgang im Frühjahr 1945 das Abitur machen<br />

konnte, wurde er im Herbst 1944 <strong>zu</strong>m Re<strong>ich</strong>sarbeitsdienst (RAD) eingezogen.<br />

Sie selbst wurde in einem Lager einquartiert, das in einem Moorgebiet nahe<br />

<strong>der</strong> holländischen Grenze lag. Die „Arbeitsmaiden" waren hier <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Aufgabe<br />

betraut, die neu angesiedelten „Volksdeutschen" Siedler aus dem Osten<br />

bei <strong>der</strong> Urbarmachung des Moorbodens <strong>zu</strong> unterstützen.<br />

Bei ihrem Einsatz auf den Höfen verschiedener Bauern prallten zwei Welten<br />

aufeinan<strong>der</strong>; die Tochter aus gutbürgerl<strong>ich</strong>em Elternhaus war entsetzt über die<br />

ihr fremde und in ihren Augen pri<strong>mit</strong>ive Lebensweise ihrer Arbeitgeber:<br />

„war furchtbar war ein Alptraum, die warn so pri<strong>mit</strong>iv, die aßen alle, an, einem Tisch aus einer<br />

Schüssel, n<strong>ich</strong>, <strong>mit</strong> einem Löffel, un denn gab es so:, dick Graupen <strong>mit</strong> Backpflaumen das<br />

schmeckt an und für s<strong>ich</strong> ganz gut aber wenn nun alle dadrin herumrührn, und so ein sabbern<strong>der</strong><br />

Opa da <strong>mit</strong> am Tisch sitzt und dann die Kerne auch noch wie<strong>der</strong> dareinspucken also dann re<strong>ich</strong>t<br />

es" (12/44)<br />

Diese Erfahrungen spornten Anneliese Heidt jedoch n<strong>ich</strong>t da<strong>zu</strong> an, diesen<br />

Menschen das „Deutschtum" im Sinne <strong>der</strong> NS-Weltanschauung bei<strong>zu</strong>bringen.<br />

Dies war für sie keine erfüllende Aufgabe. Frau Heidts Erinnerungen an<br />

ihre Zeit beim Re<strong>ich</strong>sarbeitsdienst sind verknüpft <strong>mit</strong> Gedanken an Hunger<br />

und Kälte, an die dürftige Unterbringung in Baracken und an nächtl<strong>ich</strong>e Luftschutzübungen,<br />

fur die sie aus dem Schlaf gerissen wurde. Vor allem war die<br />

Siebzehnjährige durch die ungewohnte körperl<strong>ich</strong>e Arbeit überfor<strong>der</strong>t. Anneliese<br />

Heidt erinnert s<strong>ich</strong> heute lachend, beim Umsch<strong>ich</strong>ten von Strohballen<br />

unter <strong>der</strong> Last dieser Ballen gestürzt <strong>zu</strong> sein und s<strong>ich</strong> da<strong>mit</strong> „als völlig unbrauchbar<br />

für diese Arbeit" gezeigt <strong>zu</strong> haben. Im Laufe <strong>der</strong> Zeit wurden ihr<br />

<strong>zu</strong>nehmend Aufgaben <strong>zu</strong>gewiesen, die ihrem Herkunftsmilieu <strong>mehr</strong> entsprachen<br />

als die Hof- und Feldarbeit. So wurde sie <strong>zu</strong>nächst „abkommandiert",<br />

97


um den Kin<strong>der</strong>n des Hofbesitzers bei ihren Hausaufgaben <strong>zu</strong> helfen. Später<br />

wurde sie im Lager <strong>zu</strong>m Innendienst herangezogen und avancierte schließl<strong>ich</strong><br />

<strong>zu</strong>r Helferin in <strong>der</strong> Lagerküche, einem anges<strong>ich</strong>ts <strong>der</strong> Versorgungsengpässe<br />

begehrten Posten.<br />

Keineswegs ist aus Frau Heidts Darstellung eine Identifikation <strong>mit</strong> den Zielen<br />

des Re<strong>ich</strong>sarbeitsdienstes ablesbar, <strong>der</strong> eine Erziehung <strong>der</strong> deutschen Jugend<br />

„im Geiste des Nationalsozialismus <strong>zu</strong>r Volksgemeinschaft und <strong>zu</strong>r wahren<br />

Arbeitsauffassung, vor allem <strong>zu</strong>r gebührenden Achtung <strong>der</strong> Handarbeit 44<br />

(zit. nach Kammer/Bartsch 1982: 158) anstrebte. Sie entwickelte keinen Ehrgeiz,<br />

den „pri<strong>mit</strong>iven 44<br />

Volksdeutschen bei ihrer Integration in den nationalsozialistischen<br />

Staat helfen <strong>zu</strong> wollen.<br />

Im Frühjahr 1945, gegen Ende <strong>der</strong> sechsmonatigen Zeit beim RAD, drohte<br />

Anneliese Heidt die Zwangsverpfl<strong>ich</strong>tung <strong>zu</strong>m sog. <strong>Krieg</strong>shilfsdienst, <strong>zu</strong> dem<br />

die jungen Frauen seit Juli 1941 im Anschluß an den RAD herangezogen wurden.<br />

In Dienststellen <strong>der</strong> Wehrmacht, in Krankenhäusern o<strong>der</strong> Rüstungsbetrieben<br />

mußten sie ein weiteres halbes Jahr arbeiten.<br />

Zur selben Zeit rückten britische und kanadische Truppen von Holland in<br />

R<strong>ich</strong>tung Osten vor, so daß das RAD-Lager, in dem Anneliese Heidt Dienst<br />

tat, ohnehin geräumt werden mußte. Unter den jungen Frauen kursierte das<br />

Gerücht, daß sie <strong>zu</strong>r Flak eingezogen werden sollten:<br />

„un das war natürl<strong>ich</strong> fast das Schlimmste was einem passiern konnte ... und dann hieß es äh,<br />

das war auch ne sehr typische und SEHR BELIEBTE Redewendung von den Parteigrößen da, also<br />

wenn ihr euch freiwillig meldet, dann: kommt ihr als Führerinnen dahin, und sonst werdet ihr als<br />

Arbeitsmaid eingezogen" (15 /20)<br />

Zur Flak eingezogen <strong>zu</strong> werden erschien Anneliese Heidt damals als „fast<br />

das Schlimmste was einem passiern konnte 44 . Abgesehen von <strong>der</strong> beson<strong>der</strong>en<br />

Gefahrdung <strong>der</strong> Flakhelfer und -helferinnen wegen ihrer schlechten technischen<br />

Ausrüstung und ihrer fehlenden Ausbildung muß man s<strong>ich</strong> Anneliese<br />

Heidts traumatische Erfahrungen und ihre Todesangst während <strong>der</strong> Bombenangriffe<br />

auf Bremen in Erinnerung rufen, um <strong>zu</strong> verstehen, welche Bedrohung<br />

<strong>der</strong> mögl<strong>ich</strong>e Ein<strong>zu</strong>g <strong>zu</strong>r Flak für sie dargestellt haben muß. Da sie ohnehin<br />

<strong>zu</strong>m <strong>Krieg</strong>shilfsdienst herangezogen worden wäre, <strong>kam</strong> sie einem mögl<strong>ich</strong>en<br />

Ein<strong>zu</strong>g als Flakhelferin <strong>zu</strong>vor, indem sie s<strong>ich</strong> freiwillig als Krankenschwester<br />

meldete:<br />

„hin <strong>kam</strong>en wir, warn wir also auf jeden Fall gekommen bloß dann konnten se sagen wir harn<br />

uns ja freiwillig gemeldet, und weil <strong>ich</strong>, gerne, Schwester werden wollte, <strong>hatte</strong> meine Mutter das<br />

eingefädelt s<strong>ich</strong> beim Roten Kreuz <strong>zu</strong> melden und die haben m<strong>ich</strong> angefor<strong>der</strong>t" (15 / 29)<br />

Anneliese Heidt wurde als erste aus dem Arbeitsdienst entlassen. Gle<strong>ich</strong>zeitig<br />

wurde ihr da<strong>mit</strong> das sog. Notabitur <strong>zu</strong>erkannt. Den Wunsch, Krankenschwester<br />

<strong>zu</strong> werden, habe sie schon seit ihrer Kindheit gehabt, weil ihre leibl<strong>ich</strong>e<br />

Mutter im Ersten Weltkrieg Rot-Kreuz-Schwester in Rußland war. Emphatisch<br />

beschreibt Anneliese Heidt, was es ihr damals bedeutete, Krankenschwester<br />

<strong>zu</strong> werden:<br />

98


„DA: HAB ICH IMMER SO DIESES, ENDLICH DIESES GEFÜHL GEHABT, JETZT<br />

KANNST DU, deinen Beitrag leisten den früher die Soldaten an <strong>der</strong> Front gemacht haben, wir<br />

<strong>hatte</strong>n immer so, allgemein dieses, Gefühl, die halten ihren Kopf da hin und und riskiem was und<br />

uns geht es ja eigentl<strong>ich</strong> noch ganz gut, näh, man schämte s<strong>ich</strong> denen wohl ein bißchen, gegenüber,<br />

und, jetzt war also, die Gelegenheit gekommen daß auch, <strong>ich</strong> zeigen konnte, daß man, gebraucht<br />

wurde und s<strong>ich</strong> einsetzen konnte" (16/33)<br />

Wie schon deutl<strong>ich</strong> wurde, fühlte s<strong>ich</strong> Anneliese Heidt n<strong>ich</strong>t von den völkischen<br />

Anteilen <strong>der</strong> nationalsozialistischen Ideologie, wie dem Gedanken einer<br />

großen Volkgemeinschaft o<strong>der</strong> <strong>der</strong> „Eindeutschung 44<br />

von Auslandsdeutschen,<br />

angesprochen. <strong>Als</strong> Tochter eines schon im Ersten Weltkrieg aktiven<br />

Offiziers identifizierte sie s<strong>ich</strong> <strong>mit</strong> <strong>der</strong> soldatischen und militärischen Seite<br />

schlechthin. Vom Vater, einem Angehörigen <strong>der</strong> Wilhelminischen Jugendgeneration,<br />

übernahm sie die S<strong>ich</strong>t des <strong>Krieg</strong>es als unvermeidbar und <strong>zu</strong>m Leben<br />

existentiell gehörig. Allerdings wollte sie s<strong>ich</strong> n<strong>ich</strong>t <strong>mit</strong> <strong>der</strong> passiven Rolle<br />

<strong>der</strong> Zivilistin begnügen. Für die im soldatischen Milieu sozialisierte Anneliese<br />

Heidt bot die Verpfl<strong>ich</strong>tung als Krankenschwester die Gelegenheit, einen<br />

aktiven, <strong>der</strong> Soldatenrolle entsprechenden Beitrag <strong>zu</strong>m <strong>Krieg</strong>sgeschehen <strong>zu</strong><br />

leisten. Sie selbst formuliert, daß sie „endl<strong>ich</strong> 44<br />

den Beitrag leisten wollte,<br />

„den früher die Soldaten an <strong>der</strong> Front gemacht haben 44 . Sie <strong>hatte</strong> vermutl<strong>ich</strong><br />

lange auf die Gelegenheit gewartet, ebenso wie die Soldaten an <strong>der</strong> Front —<br />

und insbeson<strong>der</strong>e ihr Vater und Bru<strong>der</strong> — ihre „soldatische 44<br />

Pfl<strong>ich</strong>t <strong>zu</strong> tun.<br />

Jetzt konnte sie zeigen, „daß man gebraucht wurde und s<strong>ich</strong> einsetzen<br />

konnte 44 . In Anneliese Heidts Augen war die Rolle <strong>der</strong> Krankenschwester <strong>der</strong><br />

soldatischen Rolle durchaus vergle<strong>ich</strong>bar; sie wollte, wie sie an an<strong>der</strong>er Stelle<br />

einmal selbstironisch formuliert, „Heldentaten vollbringen 44 .<br />

Ihrer Entscheidung, s<strong>ich</strong> freiwillig als Krankenschwester an die „Heimatfront<br />

44<br />

<strong>zu</strong> melden, wohnte daher auch ein emanzipatorisches Moment inne,<br />

das allerdings n<strong>ich</strong>t über die engen Grenzen, die insbeson<strong>der</strong>e die nationalsozialistische<br />

Ideologie <strong>der</strong> Entfaltung <strong>der</strong> Frau setzte, hinausging: Den Frauen<br />

wurden vor allem die traditionell als „genuin weibl<strong>ich</strong> 44<br />

angesehenen Bere<strong>ich</strong>e<br />

<strong>zu</strong>gewiesen, <strong>zu</strong> denen neben <strong>der</strong> Auf<strong>zu</strong>cht und Erziehung <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> vor allem<br />

die haus- und landwirtschaftl<strong>ich</strong>en, pädagogischen und sozialen Berufe<br />

gehören.<br />

Der Beruf <strong>der</strong> Krankenschwester stellte sowohl eine Rolle im anerkannten<br />

Gefüge nationalsozialistischer Karrierefolien für Frauen als auch eine mögl<strong>ich</strong>e<br />

Berufsrolle für die Nachkriegszeit <strong>zu</strong>r Verfugung. Darüber hinaus bedeutete<br />

die Verpfl<strong>ich</strong>tung als Krankenschwester fur Anneliese Heidt die Übernahme<br />

einer Erwachsenenrolle und da<strong>mit</strong> das Ende ihrer Schulzeit und ihrer<br />

Sozialisation in nationalsozialistischen Jugendorganisationen.<br />

Ende März ging <strong>der</strong> Vormarsch <strong>der</strong> alliierten Truppen weiter: Am 5. April<br />

überschritten englische und kanadische Einheiten die Weser nördl<strong>ich</strong> von<br />

Minden. Am 15. April wurde das Konzentrationslager Bergen-Belsen befreit.<br />

Obwohl es an <strong>der</strong> Weser organisierten deutschen Wi<strong>der</strong>stand gab, <strong>kam</strong> es<br />

99


schon am 9. April 1945 <strong>zu</strong> einer Umfassung Bremens von Südosten her. Zur<br />

Verteidigung <strong>der</strong> Stadt wurde das Stauwehr <strong>der</strong> Weser gesprengt und das Vorgelände<br />

überflutet. Trotzdem wurde die Stadt am 20. April 1945 eingekesselt.<br />

Die Alliierten warfen über Bremen Flugblätter ab, auf denen sie die Übergabe<br />

<strong>der</strong> Stadt for<strong>der</strong>ten. <strong>Als</strong> von den verantwortl<strong>ich</strong>en Militärs keine Antwort<br />

<strong>kam</strong>, wurden vom 22. April an die Bombenangriffe auf Bremen fortgesetzt<br />

(vgl. Deutschland im Zweiten Weltkrieg Bd. VI, S. 568 f, 621 f, 7550-<br />

Ihre ersten Erfahrungen als Krankenschwester im März 1945 machte Anneliese<br />

Heidt also unter den schwierigsten äußeren Bedingungen: Das eigentl<strong>ich</strong>e<br />

Krankenhaus war schon aus Bremen evakuiert worden, in <strong>der</strong> Stadt selbst<br />

existierte nur noch das „Notlazarett 44 , das aber auch schon teilweise ausgebombt<br />

war. Notdürftig konnte im Keller des Gebäudes ein Operationssaal einger<strong>ich</strong>tet<br />

werden. Kaum ausgebildet und auf ihre Aufgaben vorbereitet, arbeiteten<br />

die Schwestern rund um die Uhr. <strong>Als</strong> dann überdies das Wasser ausfiel,<br />

mußten s<strong>ich</strong> die Schwestern <strong>mit</strong> Eimern durch die umkämpften Straßenzüge,<br />

von Häuserecke <strong>zu</strong> Häuserecke, <strong>zu</strong>m nächsten Hydranten vorkämpfen, um<br />

dort Wasser <strong>zu</strong> holen. Für Angstgefühle war in <strong>der</strong> hektischen Betriebsamkeit<br />

dieser lebensbedrohl<strong>ich</strong>en Situation kein Raum:<br />

„also, das <strong>kam</strong> einem, völlig, unwirkl<strong>ich</strong>, vor, das war, eine solch totale, Anspannung, körperl<strong>ich</strong><br />

sowie, nervl<strong>ich</strong>, daß man das überhaupt n<strong>ich</strong> r<strong>ich</strong>tig registriert hat, und da hat man, Dinge<br />

getan, die man, unter normalen Umständen wahrscheinl<strong>ich</strong> nie, hätte tun können (2) Angst, hab<br />

<strong>ich</strong> da, n<strong>ich</strong>t <strong>mehr</strong> gehabt, überhaupt n<strong>ich</strong> <strong>mehr</strong>, das war völlig vorbei 4 * (17/21)<br />

Anneliese Heidt handelte in dieser Situation in einer tranceartigen Anspannung.<br />

Die Angst, selbst getroffen <strong>zu</strong> werden, konnte sie offenbar ausblenden.<br />

Im Gegensatz <strong>zu</strong> den Nächten im Bunker, in denen sie den Bombenangriffen<br />

passiv ausgeliefert war, konnte sie nun <strong>der</strong> Situation aktiv handelnd begegnen.<br />

Mit dieser Aktivität erklärt s<strong>ich</strong> Anneliese Heidt heute auch ihren damaligen<br />

Zustand <strong>der</strong> Angstfreiheit:<br />

„das is dieses Gebrauchtwerden und, wirkl<strong>ich</strong> auch was tun können, und eine, schwere Situation<br />

aktiv, angehn, o<strong>der</strong> passiv ergeben müssen das is <strong>der</strong> Unterschied" (51 /48)<br />

Kamen <strong>zu</strong>nächst vor allem verwundete polnische und sowjetische Fremdarbeiter<br />

<strong>zu</strong>r Behandlung in das Hilfslazarett, die bei Angriffen nur in Erdbunkern<br />

Schutz suchen durften, so wurden bald auch verwundete Soldaten eingeliefert.<br />

Hier erlebte Anneliese Heidt auch <strong>zu</strong>m ersten Mal hautnah das Sterben<br />

eines jungen Menschen, <strong>der</strong> kaum älter als sie selbst war:<br />

B: „das war η junger Italiener dies- da Betten standen so eng und es war, Mittagessenausgabe ...<br />

und <strong>der</strong>, tobte ganz fürchterl<strong>ich</strong> und schrie immer nach seiner Mama in, Italienisch ne, sprach<br />

kein Deutsch, und weinte und schrie, näh <strong>ich</strong> weiß gar n<strong>ich</strong> <strong>mehr</strong> was <strong>der</strong> <strong>hatte</strong> ne schwere<br />

Verwundung, und <strong>der</strong> nebenan <strong>der</strong> hat denn alle seine Suppenteller gekr<strong>ich</strong>t und <strong>der</strong> löffelte<br />

nun seine Suppe das: is so, bei Soldaten <strong>der</strong> äh, deswegen kann er n<strong>ich</strong>, braucht <strong>der</strong> trotzdem<br />

sein Essen auch wenn <strong>der</strong> neben ihm stirbt n<strong>ich</strong>, und das is die Realität, und <strong>ich</strong> bin dann noch<br />

<strong>zu</strong> dem hin weil <strong>der</strong> so: so, unruhig und so so, um s<strong>ich</strong> schlug und so, und ((lacht)) <strong>der</strong> konnte<br />

seinen Suppenteller kaum halten, und hab den, so r<strong>ich</strong>tig so in η Arm genommen ne, hab den<br />

so, so r<strong>ich</strong>tig wie so ne MUTTER, IHR KIND IN Ν ARM nimmt, ja und da war er ruhig<br />

100


I: mhm<br />

Β: (1) /ja und dann war er tot ((leise)) (4) HAB ICH AUCH ERST NICH GANZ BEGRIFFEN.<br />

DANN KAM NE ÄLTERE SCHWESTER, muß sagen da waren glaub <strong>ich</strong> zwei ältere Schwestern<br />

da bloß wir warn so junges Gemüse, und da guckte die m<strong>ich</strong> so komisch an un sachte<br />

ja nun laß η man los (2) s hatt <strong>ich</strong> noch gar n<strong>ich</strong> so direkt <strong>mit</strong>gekr<strong>ich</strong>t ne*' (48/49)<br />

In ihrer Darstellung spiegeln s<strong>ich</strong> die tiefe Betroffenheit <strong>der</strong> jungen Schwester,<br />

die den Sterbenden in ihren Armen hielt und seinen Tod kaum begreifen<br />

konnte, und die durch Erfahrungen abgestumpfte Ungerührtheit <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en,<br />

die s<strong>ich</strong> auch durch das Sterben eines Menschen im Nachbarbett n<strong>ich</strong>t vom<br />

Löffeln <strong>der</strong> <strong>mit</strong>tägl<strong>ich</strong>en Suppe abhalten ließen. Dem Erschrecken über so viel<br />

Gefühllosigkeit tritt Frau Heidt sogle<strong>ich</strong> entgegen: Das ist bei Soldaten so, das<br />

ist die Realität, lautet ihre lapidare Feststellung. Wir können uns vorstellen,<br />

daß auch sie diese Realität mühsam erlernen mußte, denn ihre Erzählung zeigt<br />

auch die Unfaßbarkeit dieses Todes: „ja und da war er ruhig (1) ja und dann<br />

war er tot".<br />

Die 18jährige mußte in dieser Zeit auch die Erfahrung machen, daß sie n<strong>ich</strong>t<br />

nur die Not <strong>der</strong> Verwundeten lin<strong>der</strong>n konnte, son<strong>der</strong>n auch ein hohes Maß an<br />

Verantwortung für das Leben <strong>der</strong> ihr Anvertrauten trug. Bis heute bedrückt es<br />

sie, daß sie einem jungen deutschen Soldaten <strong>mit</strong> einer schweren Verwundung,<br />

einem Lungensteckschuß, entgegen <strong>der</strong> ausdrückl<strong>ich</strong>en Anweisung <strong>zu</strong><br />

trinken gab. Stockend und <strong>mit</strong> gedrückter Stimme erzählt sie:<br />

„mir war eingeschärft, also <strong>der</strong> darf n<strong>ich</strong>ts, trinken, n<strong>ich</strong> weil die äh, Speiseröhre das war alles<br />

zerfetzt innen das kr<strong>ich</strong>te <strong>der</strong> in die Lunge, tja, und <strong>der</strong> immer Schwester Schwester <strong>ich</strong> hab solchen<br />

Durst, und, <strong>der</strong> jammerte so und <strong>der</strong> bettelte so und <strong>der</strong> war so nett (1) und da hab <strong>ich</strong> gesacht<br />

η ganz kleinen Schluck, nur die Lippen naß machen (1) hab <strong>ich</strong> ihm das hingegeben und <strong>der</strong> <strong>mit</strong><br />

einer eisernen Gewalt hat <strong>der</strong> das Glas festgehalten und ausgetrunken (1) / <strong>der</strong> war tot ((leise und<br />

undeutl<strong>ich</strong>)) (5) <strong>ich</strong> hab (1) das hab <strong>ich</strong> n<strong>ich</strong> jewollt n<strong>ich</strong>" (49/22)<br />

Frau Heidt meint, es sei ihre Unerfahrenheit gewesen, die sie <strong>zu</strong> diesem folgenschweren<br />

Fehler verleitet habe. Mehr aus ihrem Tonfall als aus ihren Worten<br />

sind Bestür<strong>zu</strong>ng und Schuldgefühle heraus<strong>zu</strong>hören, die sie in dieser Situation<br />

empfunden hat. Erst als eine <strong>der</strong> beiden Interviewerinnen auf das Bedrückende<br />

dieser Situation eingeht, kann sie über das Entsetzen sprechen:<br />

I: „das war für Sie s<strong>ich</strong>er ganz furchtbar<br />

B: das war sehr furchtbar und das äh, wie gesacht das <strong>ich</strong>, äh, das läßt einen auch, sein ganzes<br />

Leben n<strong>ich</strong> <strong>mehr</strong> los, is, das vergißt man n<strong>ich</strong> <strong>mehr</strong> ne, aber, in <strong>der</strong>, damals, äh, war <strong>ich</strong> natürl<strong>ich</strong><br />

sehr erschrocken denn die, die die Nachbarsoldaten die harn das ja alle <strong>mit</strong>gekr<strong>ich</strong>t<br />

n<strong>ich</strong>,<br />

I: mhm<br />

B: hat aber keiner was gesacht (1) keiner (3)'* (49/45)<br />

Zu dem eigenen Erschrecken und ihren Schuldgefühlen trat die Angst, von<br />

den Vorgesetzten gerügt o<strong>der</strong> gar bestraft <strong>zu</strong> werden. Doch die an<strong>der</strong>en Soldaten<br />

<strong>hatte</strong>n offenbar Verständnis für sie. Heute tröstet sie s<strong>ich</strong> <strong>mit</strong> dem Gedanken,<br />

daß dieser junge Soldat vielle<strong>ich</strong>t durch ihr Handeln schneller und le<strong>ich</strong>ter<br />

gestorben ist.<br />

101


In <strong>der</strong> letzten Aprilwoche 1945 erlosch <strong>der</strong> deutsche Wi<strong>der</strong>stand, und Bremen<br />

wurde von alliierten Truppen besetzt. Da<strong>mit</strong> war auch für Anneliese<br />

Heidt <strong>der</strong> Zweite Weltkrieg beendet. In ihrer biographischen Großerzählung<br />

erwähnt sie dieses Ereignis nur beiläufig:<br />

„un denn dauerte es n<strong>ich</strong> lange, daß <strong>der</strong> Teil des, Krankenhauses <strong>der</strong>, noch heil war, und wo<br />

dann also, ganz Bremen besetzt war keine Angriffe <strong>mehr</strong> warn, die Patienten aus m Keller nach<br />

oben verlecht wurden 4 * (18/49)<br />

Mit dieser Sequenz leitet sie <strong>zu</strong> einer Erzählung über Razzien <strong>der</strong> Amerikaner<br />

über, die bei den verwundeten deutschen Soldaten im Lazarett nach Waffen<br />

und Munition suchten. Auf ihre eigene Reaktion anges<strong>ich</strong>ts des <strong>Krieg</strong>sendes<br />

und <strong>der</strong> deutschen Nie<strong>der</strong>lage geht sie hier n<strong>ich</strong>t weiter ein. Lachend erzählt<br />

sie dann, daß die Soldaten in ihrer Angst vor Entdeckung den<br />

Krankenschwestern häufig Munition in die Taschen ihrer Schwesterntracht<br />

gesteckt hätten, so daß sie <strong>mit</strong> prall gefüllten Taschen <strong>zu</strong>gesehen hätten, wie<br />

die Amerikaner die Betten durchsucht hätten.<br />

Die allgemeine Stimmung nach <strong>der</strong> Kapitulation charakterisiert sie wenig<br />

später:<br />

„außerdem war natürl<strong>ich</strong> so ne Panikstimmung da, un denn ging das weiter, daß es ä:h, einigermaßen<br />

wie<strong>der</strong> anfing s<strong>ich</strong> <strong>zu</strong> normalisiern 44 (20/ 11)<br />

Ohne auf das Ende des <strong>Krieg</strong>es, d.h. die Kapitulation Bremens wie auch die<br />

bedingungslose Kapitulation <strong>der</strong> deutschen Wehrmacht am 8. Mai 1945, näher<br />

ein<strong>zu</strong>gehen, leitet Anneliese Heidt <strong>zu</strong>r Schil<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> neuen gesellschaftl<strong>ich</strong>en<br />

„Normalität 44<br />

über.<br />

Die bisherige Fallanalyse hat gezeigt, daß die Mögl<strong>ich</strong>keit einer deutschen<br />

Nie<strong>der</strong>lage für die Heranwachsende eine große Bedrohung war, <strong>mit</strong> <strong>der</strong> sie<br />

n<strong>ich</strong>t konfrontiert sein wollte, <strong>mit</strong> <strong>der</strong> sie s<strong>ich</strong> auch n<strong>ich</strong>t auseinan<strong>der</strong>setzen<br />

wollte. Man könnte daher erwarten, daß Anneliese Heidt bei Ausgang des<br />

<strong>Krieg</strong>es in eine biographische Orientierungskrise geriet bzw. auf den Ausgang<br />

des <strong>Krieg</strong>es <strong>mit</strong> Enttäuschung o<strong>der</strong> Entsetzen reagierte. Doch gibt es in dem<br />

Gespräch keinen Hinweis auf eine solche Reaktion. Offenbar leitete für sie<br />

n<strong>ich</strong>t erst das <strong>Krieg</strong>sende eine biographische Wende ein, son<strong>der</strong>n schon ihr<br />

Ein<strong>zu</strong>g als Krankenschwester <strong>zu</strong>m <strong>Krieg</strong>shilfsdienst. Mit ihrem Einsatz im<br />

Krankenhaus traten die eigenen Ängste hinter die Anfor<strong>der</strong>ungen und Belastungen<br />

ihrer Tätigkeit <strong>zu</strong>rück. Die Arbeit als Krankenschwester for<strong>der</strong>te die<br />

ganze körperl<strong>ich</strong>e und geistige Kraft <strong>der</strong> 18jährigen und versetzte sie in einen<br />

Zustand totaler Anspannung, in dem fur eine inhaltl<strong>ich</strong>e Auseinan<strong>der</strong>set<strong>zu</strong>ng<br />

<strong>mit</strong> <strong>der</strong> deutschen Nie<strong>der</strong>lage kein Platz war:<br />

„man gab also wirkl<strong>ich</strong> sein letztes n<strong>ich</strong> ... war auch <strong>mit</strong> seinem, <strong>mit</strong> seiner ganzen Kraft seiner<br />

ganzen Persönl<strong>ich</strong>keit, (1) un weil <strong>ich</strong> eben, wollte, das ja immer schon werden, und da, hab <strong>ich</strong><br />

m<strong>ich</strong> also r<strong>ich</strong>tig da, bin da drin aufgegangen (6)" (51 /18)<br />

Insgesamt bedeutete <strong>der</strong> historische Wendepunkt des <strong>Krieg</strong>sendes fur die<br />

Krankenschwester Anneliese Heidt <strong>zu</strong>nächst keine Unterbrechung ihrer all-<br />

102


tägl<strong>ich</strong>en Routinen und Handlungsplanungen, denn die Verwundeteten waren<br />

auch weiterhin auf ihre Pflege und ihren Einsatz angewiesen. Sie fühlte s<strong>ich</strong>,<br />

unabhängig vom Ausgang des <strong>Krieg</strong>es, gebraucht.<br />

Erst als sie gegen Ende des Interviews explizit da<strong>zu</strong> aufgefor<strong>der</strong>t wird, über<br />

ihr Erleben des <strong>Krieg</strong>sendes <strong>zu</strong> erzählen, schil<strong>der</strong>t sie ihr damaliges Lebensgefühl:<br />

„ja dann, <strong>hatte</strong> man so das Gefühl, jetzt, vom Verstand her, so jetzt kannst du d<strong>ich</strong>, mal wie<strong>der</strong><br />

ausziehn <strong>zu</strong>m Schlafen, was jahrelang nur in, in voller Montur geschlafen n<strong>ich</strong>, man <strong>hatte</strong> Angst<br />

daß man n<strong>ich</strong> schnell genug, daß man da im Nachthemd dann rennen mußte o<strong>der</strong> daß man denn<br />

seine Sachen n<strong>ich</strong> <strong>mehr</strong> <strong>hatte</strong> (1) aber, <strong>ich</strong> hab dem Braten nie getraut, <strong>ich</strong> hab m<strong>ich</strong> noch Wochen<br />

/ hinterher ((lachend)) n<strong>ich</strong> getraut nachts η Nachthemd o<strong>der</strong> Schlafan<strong>zu</strong>ch an<strong>zu</strong>ziehn ... weil <strong>ich</strong><br />

mir das gar n<strong>ich</strong> vorstelln konnte daß das jetzt plötzl<strong>ich</strong> vorbei is" (52/24)<br />

Dem Frieden — und das hieß für Anneliese Heidt vor allem: dem Ende <strong>der</strong><br />

lebensbedrohl<strong>ich</strong>en Bombenangriffe — konnte sie n<strong>ich</strong>t trauen. Sie, die jahrelang<br />

„in voller Montur* 4 geschlafen <strong>hatte</strong>, konnte diese „Rüstung 44 vorläufig<br />

noch n<strong>ich</strong>t ablegen. Die in ständiger Angst vor Angriffen <strong>zu</strong>gebrachten Stunden<br />

im Bunker <strong>hatte</strong>n sie so traumatisiert, daß sie in den ersten Wochen bei jedem<br />

Flugzeuggeräusch wie<strong>der</strong> hochschreckte, weil sie „immer dachte, vielle<strong>ich</strong>t<br />

wissen das noch n<strong>ich</strong> alle o<strong>der</strong> vielle<strong>ich</strong>t vertut s<strong>ich</strong> da noch einer 44 .<br />

<strong>Als</strong> Krankenschwester, die Angehörige <strong>der</strong> alliierten Armeen pflegen<br />

mußte, wurde Anneliese Heidt auch <strong>mit</strong> <strong>der</strong> verän<strong>der</strong>ten politischen Situation<br />

konfrontiert:<br />

B: „dann hatt <strong>ich</strong>, einen, Italiener, <strong>der</strong> war auch irgendwie, sehr schwer verletzt, und immer<br />

wenn <strong>ich</strong> <strong>zu</strong> dem <strong>kam</strong> <strong>der</strong> <strong>hatte</strong> solch einen Deutschenhaß, <strong>der</strong> drehte s<strong>ich</strong> um (2) <strong>der</strong>, ließ s<strong>ich</strong><br />

n<strong>ich</strong> ansprechen, <strong>der</strong> ließ s<strong>ich</strong> n<strong>ich</strong> behandeln, <strong>der</strong>, wollte, von, niemandem Deutschen, was<br />

wissen (1) das war ein, sehr sehr merkwürdiges Gefühl da, <strong>kam</strong> einem das so r<strong>ich</strong>tig (2) <strong>zu</strong>m<br />

Bewußtsein (1) was wir Deutschen jetzt eigentl<strong>ich</strong>, geworden sind n<strong>ich</strong><br />

I: mhm<br />

B: (2) <strong>ich</strong> konnte den verstehn aber man stand, ausgesprochen hilflos davor (1) <strong>ich</strong> wollte ihm ja<br />

wohl helfen, jetzt, da<br />

I: mhm<br />

B: <strong>ich</strong> hab ja auch seine Verwundung n<strong>ich</strong> direkt, selber, persönl<strong>ich</strong> verursacht, aber, äh, man<br />

schämte s<strong>ich</strong> wie man da so vor dem stand" (19/43)<br />

Anneliese Heidt <strong>hatte</strong> keine Vorbehalte gegen den Italiener. Seine Kontaktverweigerung<br />

machte ihr allerdings klar, „was wir Deutschen jetzt eigentl<strong>ich</strong><br />

geworden sind 44 , konfrontierte sie unauswe<strong>ich</strong>l<strong>ich</strong> <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Ablehnung, die ihr<br />

als Deutsche entgegengebracht wurde. Doch sie läßt offen, was die Deutschen<br />

in ihren Augen jetzt waren — die Schuldigen vielle<strong>ich</strong>t, <strong>zu</strong>mindest die Verlierer.<br />

Die kurze Textpassage läßt s<strong>ich</strong> als Ausdruck einer Veruns<strong>ich</strong>erung über<br />

die Rechtmäßigkeit <strong>der</strong> nationalsozialistischen Politik lesen, die s<strong>ich</strong> in Gefühlen<br />

<strong>der</strong> Scham und Hilflosigkeit manifestierte. Wenn Frau Heidt hier von<br />

„wir Deutschen 44<br />

spr<strong>ich</strong>t, bezieht sie s<strong>ich</strong> selbst in dieses Kollektiv <strong>mit</strong> ein.<br />

Zwar versucht sie, s<strong>ich</strong> von einer persönl<strong>ich</strong>en Verantwortung frei<strong>zu</strong>sprechen,<br />

doch konnte sie damals und kann sie heute die in dem Verhalten des Italieners<br />

103


liegende Anklage n<strong>ich</strong>t einfach abschütteln. Bei ihr, die s<strong>ich</strong> gerade <strong>mit</strong> dem<br />

Soldatischen beson<strong>der</strong>s identifiziert <strong>hatte</strong>, bleibt ein Schamgefühl anges<strong>ich</strong>ts<br />

<strong>der</strong> von Deutschen verursachten Verwundung dieses Mannes und Hilflosigkeit<br />

<strong>zu</strong>rück. (Auf ihren Umgang <strong>mit</strong> <strong>der</strong> politischen und moralischen Haftung<br />

<strong>der</strong> Deutschen werde <strong>ich</strong> im folgenden Kapitel näher eingehen.) Es bleibt fest<strong>zu</strong>halten,<br />

daß das <strong>Krieg</strong>sende von 1945 für die 18jährige Anneliese Heidt keinen<br />

Einbruch in ihren bisherigen Alltag bedeutete. Viel<strong>mehr</strong> vollzog s<strong>ich</strong> <strong>der</strong><br />

Übergang zwischen <strong>Krieg</strong> und Frieden als allmähl<strong>ich</strong>es Einleben in die neue<br />

gesellschaftl<strong>ich</strong>e und individuelle Lebenssituation.<br />

Die Rolle <strong>der</strong> Krankenschwester ermögl<strong>ich</strong>te ihr, an die bisherige Alltagspraxis<br />

an<strong>zu</strong>knüpfen und 1946 eine reguläre Ausbildung <strong>zu</strong> beginnen. Der<br />

Krankenhausbetrieb <strong>mit</strong> seinen Routinen, seiner Klei<strong>der</strong>ordnung und seinen<br />

Vorschriften erschien ihr nach <strong>der</strong> durchlebten bewegten Zeit des <strong>Krieg</strong>sendes<br />

aber häufig kleinl<strong>ich</strong>. Sie <strong>hatte</strong> Schwierigkeiten, s<strong>ich</strong> dem Diktat <strong>der</strong> Krankenschwesterhierarchie<br />

<strong>zu</strong> fügen, und entschied s<strong>ich</strong> schließl<strong>ich</strong>, diese Tätigkeit<br />

auf<strong>zu</strong>geben. Statt dessen arbeitete sie in einem privaten Labor.<br />

1953, <strong>mit</strong> 26 Jahren, heiratete Frau Heidt. In ihrem Beruf arbeitete sie bis<br />

<strong>zu</strong>r Geburt ihres ersten Kindes 1958, dem noch zwei weitere folgten. 1972<br />

nahm sie ihre Berufstätigkeit wie<strong>der</strong> auf, mußte sie aber 1982 wegen eines Gelenkleidens<br />

endgültig aufgeben. Seither ist sie Rentnerin und lebt, seit sie <strong>zu</strong><br />

Beginn <strong>der</strong> achtziger Jahre ihren Mann verloren hat, <strong>mit</strong> ihrem jüngsten Sohn<br />

und dessen Familie <strong>zu</strong>sammen.<br />

2.3.8 Weiterleben <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Verantwortung<br />

Anneliese Heidt hat, so konnte die bisherige Rekonstruktion dieser Fallgesch<strong>ich</strong>te<br />

s<strong>ich</strong>tbar machen, die Werte ihres soldatisch geprägten Herkunftsmilieus<br />

übernommen und s<strong>ich</strong> in erster Linie <strong>mit</strong> <strong>der</strong> militätisch-soldatischen<br />

Seite des sog. Dritten Re<strong>ich</strong>es identifiziert. Wie steht diese Frau <strong>der</strong> Frage<br />

nach <strong>der</strong> politisch-moralischen Verantwortung <strong>der</strong> Deutschen gegenüber? Wie<br />

kaum ein an<strong>der</strong>es historisches Datum stehen die Nürnberger Prozesse fur die<br />

Auseinan<strong>der</strong>set<strong>zu</strong>ng <strong>mit</strong> politischer Schuld und Haftung <strong>der</strong> Deutschen. Auf<br />

die Frage, wie sie, Anneliese Heidt, damals die Nürnberger <strong>Krieg</strong>sverbrecherprozesse<br />

wahrgenommen und erlebt habe, antwortet sie auswe<strong>ich</strong>end:<br />

„begcb <strong>ich</strong> m<strong>ich</strong> aber le<strong>ich</strong>t aufs Glatteis jetzt ((lacht)) (2) es ist, teilweise entwürdigend (1) uns<br />

vorgekommen ... daß: (2) die Deu-, beim, einige Deutsche (2) verurteilt worden sind für Dinge<br />

(1) die die in Anführungsstr<strong>ich</strong>en sogenannten Sieger genauso gemacht haben, ... (1) das is die<br />

eine Seite (1) die (1) Hauptkriegsverbrecher (2) das, is was an<strong>der</strong>es, <strong>ich</strong> kann Ihnen jetzt aber n<strong>ich</strong><br />

wenn Sie m<strong>ich</strong> jetzt fragen wen meinen Sie jetzt genau, das kann <strong>ich</strong> Ihnen jetzt n<strong>ich</strong> sagen, so<br />

genau weiß <strong>ich</strong> das auch n<strong>ich</strong> (1) die, (1) wen <strong>ich</strong> da jetzt <strong>mit</strong> Namen nennen sollte (4) ALSO, EI­<br />

NIGE sind s<strong>ich</strong>er <strong>zu</strong> Recht verurteilt worden 44 (59/32)<br />

Auf die Bitte einer <strong>der</strong> Interviewerinnen, ihre Gefühle von damals doch näher<br />

<strong>zu</strong> beschreiben, antwortet sie:<br />

104


Β: „naja (1) wie <strong>ich</strong>, wie <strong>ich</strong>, andeutete, daß äh, da Dinge verurteilt worden sind, <strong>mit</strong> (1) Anklage,<br />

Urteil und Strafe, äh, die, wofür man die, an<strong>der</strong>n, also die Ankläger (1) auch hätte verurteilen<br />

können (1) bloß da is eben, das Recht, des Siegers, und, <strong>der</strong> <strong>der</strong> hat Macht dafür es<br />

gibt, genauso viel Dinge glaube <strong>ich</strong>, die man Englän<strong>der</strong>n o<strong>der</strong> Amerikanern vorwerfen<br />

könnte die im <strong>Krieg</strong> passiert sind, und äh, die durchaus n<strong>ich</strong>t, äh nur deutsch sind (2) wo <strong>ich</strong><br />

bei, unbedingt ausnehmen möchte die:se KZs (1)<br />

I: mhm<br />

B: die also wirkl<strong>ich</strong>, wo <strong>ich</strong> mir, ein, ein, schlimmes Erbe, für unsere Nation sind, auch da gibt<br />

es natürl<strong>ich</strong> in <strong>der</strong> Gesch<strong>ich</strong>te, Beispiele, aber wenn einer, ein an<strong>der</strong>er, ein Unrecht tut setzt<br />

man s<strong>ich</strong> da<strong>mit</strong> ja n<strong>ich</strong>t selbst ins Recht n<strong>ich</strong> also das soll n<strong>ich</strong>t beschönigen n<strong>ich</strong>, aber äh,<br />

es gibt auch da Beispiele in- in an<strong>der</strong>n, Sachen die auch n<strong>ich</strong> ganz schuldlos sind" (60/35)<br />

Die Beantwortung <strong>der</strong> Frage nach den Nürnberger Prozessen scheint für<br />

Frau Heidt problematisch <strong>zu</strong> sein. Dies kündigt die Metapher an, sie begebe<br />

s<strong>ich</strong> „aber le<strong>ich</strong>t aufs Glatteis", <strong>mit</strong> <strong>der</strong> sie diese Textpassage einleitet. Ein<br />

kurzes Lachen läßt sie uns<strong>ich</strong>er wirken. Vielle<strong>ich</strong>t befürchtet sie, daß ihr historisches<br />

Wissen über die Nürnberger Prozesse n<strong>ich</strong>t ausre<strong>ich</strong>t. O<strong>der</strong> sie<br />

meint, daß ihre nun folgende Argumentation vom sozial erwünschten Bild des<br />

Umgangs <strong>der</strong> Deutschen <strong>mit</strong> ihrer Vergangenheit abwe<strong>ich</strong>t und sie s<strong>ich</strong> da<strong>mit</strong><br />

ins Abseits stellen könnte. „Entwürdigend" erschienen ihr diese Prozesse damals.<br />

Die Würde dieser Verurteilten ist in ihren Augen offenbar dadurch angetastet,<br />

daß Angehörige von Nationen über sie Recht sprachen, die ihrer Meinung<br />

nach auch auf <strong>der</strong> Anklagebank hätten sitzen können.<br />

Die Nürnberger Prozesse, so viel wird in diesem Textaus<strong>zu</strong>g s<strong>ich</strong>tbar, symbolisieren<br />

für Frau Heidt vor allem das Problem <strong>der</strong> moralischen Rechtmäßigkeit,<br />

<strong>mit</strong> <strong>der</strong> Deutsche von den Alliierten für <strong>Krieg</strong>sverbrechen verurteilt wurden.<br />

Dagegen hält sie die Verfolgung und Verurteilung <strong>der</strong> „Hauptkriegsverbrecher"<br />

für gerechtfertigt ("das, ist was an<strong>der</strong>es"). Es bleibt allerdings offen,<br />

wer in ihren Augen für welche Verbrechen <strong>zu</strong> Recht verurteilt worden ist.<br />

Der Auffor<strong>der</strong>ung, ihre Gefühle näher <strong>zu</strong> charakterisieren, we<strong>ich</strong>t Frau<br />

Heidt aus, wie die zweite Textpassage <strong>zu</strong> erkennen gibt. Statt dessen greift sie<br />

erneut die Frage auf, <strong>mit</strong> welchem Recht Englän<strong>der</strong> und Amerikaner über<br />

Deutsche <strong>zu</strong> Ger<strong>ich</strong>t saßen für „Dinge", „wofür man die an<strong>der</strong>n, also die Ankläger,<br />

auch hätte verurteilen können". Mit dem „Recht des Siegers", lautet<br />

ihre Antwort, d.h. nur aufgrund <strong>der</strong> ihnen durch den Sieg <strong>zu</strong>wachsenden<br />

Machtfülle, aufgrund ihres Erfolges, n<strong>ich</strong>t aber aufgrund moralischer Legiti<strong>mit</strong>ät<br />

o<strong>der</strong> Überlegenheit hätten die Alliierten diese Urteile sprechen können.<br />

Diese „Dinge", für die sie die ehemaligen Wehrmachtsangehörigen <strong>zu</strong> Unrecht<br />

verurteilt sieht, sind, wie sie an späterer Stelle formuliert, „reine militärische<br />

Sachen ... o<strong>der</strong> auch auch diese grade diese Rartisanenangelegenheit".<br />

Der Einwand gegen die Nürnberger Prozesse, den Frau Heidt hier vorbringt,<br />

wird schon von Karl Jaspers in seinen Vorlesungen über die geistige Situation<br />

in Deutschland diskutiert. Mit Jaspers (1987: 37) kann diesem Einwand entgegnet<br />

werden, daß <strong>der</strong> „Prozeß als ein neuerl<strong>ich</strong>er Versuch, Ordnung in <strong>der</strong><br />

Welt <strong>zu</strong> för<strong>der</strong>n, seinen Sinn n<strong>ich</strong>t [verliert], wenn er noch n<strong>ich</strong>t imstande ist,<br />

105


s<strong>ich</strong> auf eine gesetzl<strong>ich</strong>e Weltordnung <strong>zu</strong> stützen, son<strong>der</strong>n wenn er heute noch<br />

notwendig in politischen Zusammenhängen stehenbleibt. 44<br />

Von ihrer Kritik an <strong>der</strong> Art und Weise <strong>der</strong> Prozeßführung und an den Urteilen<br />

<strong>der</strong> Nürnberger Prozesse nimmt sie die Verbrechen in den Konzentrationslagern,<br />

die sie für ein „schlimmes Erbe 44<br />

hält, explizit aus. Dennoch scheint<br />

es ihr w<strong>ich</strong>tig daraufhin<strong>zu</strong>weisen, daß auch diese Verbrechen n<strong>ich</strong>t beispiellos<br />

in <strong>der</strong> Gesch<strong>ich</strong>te seien. Der Hinweis auf das Unrecht, das an<strong>der</strong>e Nationen<br />

begangen hätten, dient n<strong>ich</strong>t nur den Zeitzeugen des „Dritten Re<strong>ich</strong>es 44<br />

vielfach als Argument <strong>zu</strong>r Entlastung und Relativierung von Schuld. Doch<br />

scheint Frau Heidt die moralische Unnahbarkeit des Versuchs <strong>zu</strong> erkennen,<br />

die Bedeutung des Holocausts durch den Hinweis auf an<strong>der</strong>e, vermeintl<strong>ich</strong><br />

ähnl<strong>ich</strong>e Verbrechen nivellieren <strong>zu</strong> wollen, denn sie fährt fort: „aber mhm<br />

wenn einer, η an<strong>der</strong>er, η Unrecht tut, setzt man s<strong>ich</strong> da<strong>mit</strong> ja n<strong>ich</strong> selbst ins<br />

Recht 44 .<br />

Die Problematik <strong>der</strong> politisch-moralischen Verantwortung für Verbrechen<br />

während des sog. Dritten Re<strong>ich</strong>es konzentriert s<strong>ich</strong> für Anneliese Heidt, die<br />

s<strong>ich</strong> <strong>mit</strong> <strong>der</strong> soldatischen Perspektive identifiziert, vor allem auf die Frage<br />

nach <strong>Krieg</strong>sverbrechen. Hier fühlt sie s<strong>ich</strong> in gewisser Weise persönl<strong>ich</strong> betroffen.<br />

Gerade „reine militärische Sachen 44 , vor allem die Partisanentätigkeit<br />

und die Rechtmäßigkeit deutscher „Gegenmaßnahmen 44<br />

haben für sie deshalb<br />

eine beson<strong>der</strong>e Brisanz: Einerseits verurteilt sie deutsche Verbrechen, die im<br />

Namen <strong>der</strong> Partisanenverfolgung an <strong>der</strong> Zivilbevölkerung begangen worden<br />

sind — z.B. jenes in dem französischen Ort Oradour-sur-Glane, dessen Einwohner<br />

von einer deutschen SS-Kompanie ermordet wurden —, an<strong>der</strong>erseits<br />

rechtfertigt sie Verfolgungsaktionen <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Begründung, daß „alle Partisanen<br />

in welcher Seite sie auch stehn, wissen, wenn sie Partisanentätigkeit machen,<br />

was auf sie <strong>zu</strong>kommt 44 :<br />

„grade diese, Partisanenangelegenheit, das is auch son Kapitel fur s<strong>ich</strong>, wenn, Sie s<strong>ich</strong> vorstelln<br />

ein Soldat, o<strong>der</strong> eine Einheit (1) geht da irgendwo lang, weiß es von meinem Bru<strong>der</strong> und von<br />

an<strong>der</strong>n, Soldaten auch, und, (1) sie versuchen also das is so, etwas, Unfaires (1) das das klingt<br />

zwar so, nach, <strong>Krieg</strong>, is, son Sandkastenspiel aber, (1) ein Soldat wird irgendwo, aufgenommen,<br />

und, sie tun so, als, als wenn sie also auf seiner Seite stehn, sympathisiern, er wird, beköstigt (1)<br />

und reden freundl<strong>ich</strong> <strong>mit</strong> ihm (1) und denn kommt einer von hinten und schneidet ihm die Kehle<br />

durch (2) äh (1) wenn das, im <strong>Krieg</strong> passiert, dann wissen die die das machen, auch, ganz genau<br />

(2) äh, was das fur Folgen hat" (60/54)<br />

Ihre Argumentation ist getragen von <strong>der</strong> Perspektive des Soldaten, <strong>der</strong> real<br />

von Partisanenaktionen bedroht ist. Für die Reflexion <strong>der</strong> Tatsache, daß den<br />

Partisanen kaum eine an<strong>der</strong>e Wahl blieb, als im Untergrund fur ihre politischen<br />

Ziele <strong>zu</strong> kämpfen und daß als Rache für Partisanenaktionen Zivilisten<br />

umgebracht wurden, ist in dieser S<strong>ich</strong>t kein Platz.<br />

106


2.3.9 „Damals waren nur w<strong>ich</strong>tige Dinge w<strong>ich</strong>tig"<br />

Frau Heidt gehört jener Generation an, die ihre Kindheit und einen Großteil<br />

ihrer Adoleszenz während <strong>der</strong> Jahre des Nationalsozialismus und des Zweiten<br />

Weltkrieges durchlebte. 1927 als Tochter eines Offiziers geboren, war Anneliese<br />

Heidt gerade zwölf Jahre alt, als <strong>der</strong> <strong>Krieg</strong> begann. Bis <strong>zu</strong> diesem Zeitpunkt<br />

führte sie das behütete, wenn auch durch den frühen Tod <strong>der</strong> Mutter beiastete<br />

Leben einer Tochter aus bürgerl<strong>ich</strong>em Hause, in dem die Heimabende des<br />

JM im Kreise ihrer Freundinnen eine willkommene Abwechselung darstellten.<br />

Auch <strong>der</strong> <strong>Krieg</strong>sbeginn bedeutete für Anneliese Heidt keinen Einbruch in ihren<br />

Alltag, waren doch in ihrer Heimatstadt <strong>zu</strong>nächst kaum Auswirkungen spürbar.<br />

Ein Bombenangriff in un<strong>mit</strong>telbarer Nähe ihres Elternhauses, die Konfrontation<br />

<strong>mit</strong> dem drohenden Tod wurde für sie dann <strong>zu</strong>m traumatisierenden Erlebnis.<br />

Ohnmächtig und wehrlos den Bombenangriffen ausgeliefert, durchlebte sie<br />

Stunden voller Todesangst im Luftschutzkeller.<br />

Gle<strong>ich</strong>zeitig durchlief Anneliese Heidt Stationen <strong>der</strong> nationalsozialistischen<br />

Jugendorganisationen: Mit zehn Jahren wurde sie JM-Mitglied, sie nahm an<br />

den <strong>zu</strong>m Schutz <strong>der</strong> Großstadtjugend, aber auch <strong>zu</strong>r Durchset<strong>zu</strong>ng <strong>der</strong> NS-Sozialisation<br />

ersonnenen Kin<strong>der</strong>landverschickungen <strong>zu</strong>nächst als einfache Teilnehmerin,<br />

dann als begleitende JM-Führerin teil. Es folgten ein Schulungslager<br />

und schließl<strong>ich</strong> <strong>der</strong> Re<strong>ich</strong>sarbeitsdienst. Anges<strong>ich</strong>ts des drohenden Ein<strong>zu</strong>gs <strong>zu</strong>r<br />

Flak meldete sie s<strong>ich</strong> dann kurz vor <strong>Krieg</strong>sende freiwillig als Krankenschwester.<br />

Von dieser neuen Aufgabe psychisch und physisch bis an die Grenze ihrer<br />

Leistungsfähigkeit gefor<strong>der</strong>t, konnte sie nun ihren soldatischen „Beitrag" leisten.<br />

Die lähmenden Ängste vor den Bombenangriffen traten hinter den Anfor<strong>der</strong>ungen<br />

ihrer Tätigkeit <strong>zu</strong>rück, sie konnte <strong>der</strong> Bedrohung nun handelnd begegnen.<br />

Wie blickt diese Frau, <strong>der</strong>en Erinnerungen an ihre Jugend unauflösbar <strong>mit</strong><br />

„Drittem Re<strong>ich</strong>" und <strong>Krieg</strong> verwoben sind, auf ihre Lebensgesch<strong>ich</strong>te <strong>zu</strong>rück?<br />

Auf ein wesentl<strong>ich</strong>es Darstellungsmoment <strong>der</strong> Lebensgesch<strong>ich</strong>te von Frau<br />

Heidt ist schon hingewiesen worden: die Trennung <strong>der</strong> Themen „Nationalsozialismus<br />

4 * und „<strong>Krieg</strong>". Daran schließt s<strong>ich</strong> die Frage nach <strong>der</strong> biographischen<br />

Genese eines solchen Nebeneinan<strong>der</strong>s zweier Themen an, die historisch auf das<br />

engste <strong>mit</strong>einan<strong>der</strong> verknüpft sind.<br />

Anneliese Heidt wurde in das soldatisch geprägte Milieu eines Berufsoffiziers<br />

hineingeboren, in dem Pfl<strong>ich</strong>terfüllung und Staatsloyalität <strong>zu</strong> den Grundwerten<br />

zählten. Der selbstverständl<strong>ich</strong>e Umgang <strong>mit</strong> militärischen Fragen und<br />

Themen gehörte seit frühester Jugend <strong>zu</strong>m Sinnhorizont ihrer Erfahrung. In<br />

diesem Milieu sozialisiert, übernahm sie die berufsmäßige Haltung ihres Vaters<br />

dem <strong>Krieg</strong> gegenüber: Frau Heidt sieht <strong>Krieg</strong> vor allem im Zusammenhang berufsmäßiger<br />

soldatischer Pfl<strong>ich</strong>terfüllung und als Phänomen, das — naturgegeben<br />

— <strong>zu</strong>r gesellschaftl<strong>ich</strong>en Realität gehört. Da<strong>mit</strong> löst sie den Zweiten Weltkrieg<br />

weitgehend aus seinem gesamtpolitischen Kontext. Ihre Argumentationen<br />

107


<strong>zu</strong> <strong>der</strong> Frage nach <strong>der</strong> Berechtigung bzw. N<strong>ich</strong>t-Berechtigung von Verurteilungen<br />

<strong>der</strong> <strong>Krieg</strong>sverbrechen während <strong>der</strong> Nürnberger Prozesse zeigen, wie sie<br />

„reine militärische Sachen" von an<strong>der</strong>en, politischen, <strong>zu</strong> trennen und da<strong>mit</strong> einen<br />

Bere<strong>ich</strong> eines gewissermaßen anständigen <strong>Krieg</strong>es <strong>zu</strong> bewahren sucht.<br />

Auch das Festhalten an einem Soldatenkodex, <strong>der</strong> sie an das gemeinsame Respektieren<br />

von Spielregeln im Kampf „Mann gegen Mann" glauben und vor allem<br />

Partisanenaktionen verurteilen läßt, ist Teil dieser soldatischen Perspektive.<br />

An<strong>der</strong>erseits kennt Frau Heidt aufgrund eben dieser soldatischen Perspektive<br />

keine Ressentiments gegenüber <strong>Krieg</strong>sgefangenen und Soldaten an<strong>der</strong>er Nationen.<br />

Vergegenwärtigt man s<strong>ich</strong> ihre Orientierung an soldatischen Werten, wird<br />

auch das Verlangen <strong>der</strong> 18jährigen nach einem eigenen „Beitrag" verständl<strong>ich</strong>.<br />

<strong>Als</strong> Krankenschwester konnte sie an <strong>der</strong> männl<strong>ich</strong>en Soldatenwelt teilhaben.<br />

Während Anneliese Heidt heute kaum Probleme hat, über ihre Erfahrungen<br />

im Zweiten Weltkrieg <strong>zu</strong> sprechen, ist ihr Engagement in nationalsozialistischen<br />

Jugendorganisationen für sie legitimierungsbedürftig. Sie war begeistertes<br />

JM-Mitglied und stolz auf die Ausze<strong>ich</strong>nung, <strong>zu</strong>r JM-Führerin ernannt <strong>zu</strong><br />

werden. Diese positiven Erinnerungen wurden nach 1945 problematisch. Anneliese<br />

Heidt, wie die Angehörigen <strong>der</strong> HJ-Generation allgemein, mußte lernen,<br />

<strong>mit</strong> <strong>der</strong> nachträgl<strong>ich</strong>en Entwertung ihrer Vergangenheit <strong>zu</strong> leben. Heute<br />

versucht sie, diese <strong>mit</strong> positiven Erinnerungen verbundenen Jahre im JM <strong>zu</strong><br />

glätten, indem sie vor allem über die „unproblematische" Zeit zwischen dem<br />

ΙΟ. und 14. Lebensjahr spr<strong>ich</strong>t und ihre danach weiter bestehende JM-<br />

Führerschaft n<strong>ich</strong>t weiter thematisiert. Frau Heidt ist <strong>zu</strong>dem bemüht, den JM<br />

als Kin<strong>der</strong>spielerei ab<strong>zu</strong>tun, ihn — ebenso wie ihr Familienmilieu — als unpolitisch<br />

dar<strong>zu</strong>stellen. Da<strong>mit</strong> entpolitisiert sie explizit ihr Sozialisationsmilieu und<br />

<strong>zu</strong>gle<strong>ich</strong> ihre eigene Vergangenheit.<br />

Frau Heidt meint heute rückblickend, daß die Erfahrung des <strong>Krieg</strong>es sie gelehrt<br />

habe, an<strong>der</strong>en in <strong>der</strong> Not bei<strong>zu</strong>stehen — und zwar <strong>mit</strong> allen Konsequenzen.<br />

Der <strong>Krieg</strong>, ihr Einsatz als Krankenschwester, aber auch ihre spätere Berufspraxis<br />

hätten ihren Blick auf das existentiell „W<strong>ich</strong>tige" des Lebens gelenkt:<br />

„<strong>ich</strong> muß sagen die (6) man sollte s<strong>ich</strong> öfter ruhig mal dran erinnern und äh (1) die wirkl<strong>ich</strong> w<strong>ich</strong>tigen<br />

Dinge w<strong>ich</strong>tig nehmen (1) und damals warn nur w<strong>ich</strong>tige Dinge w<strong>ich</strong>tig" (63 / 39)<br />

In <strong>der</strong> Konfrontation <strong>mit</strong> <strong>der</strong> existenzgefährdenden Seite des Lebens sieht Anneliese<br />

Heidt heute auch einen positiven Aspekt ihrer <strong>Krieg</strong>serfahrungen.<br />

Frau Heidt zieht als persönl<strong>ich</strong>es Fazit aus ihren Erfahrungen im sog. Dritten<br />

Re<strong>ich</strong>, daß sie s<strong>ich</strong> ! e wie<strong>der</strong> unterordnen wolle:<br />

„Fazit für m<strong>ich</strong>, aus dieser Naizizeit, ist, daß <strong>ich</strong> heute, es ablehne, nur, im entferntesten, irgendwelchen<br />

Kommandos <strong>zu</strong> gehorchen (1) also, <strong>ich</strong> bestimme selber über m<strong>ich</strong>, aber, <strong>ich</strong> ordne m<strong>ich</strong>,<br />

keinem, unter, also schon gar n<strong>ich</strong> irgendeinem totalitären Regime o<strong>der</strong> sowas, je nachdem ... das,<br />

das ÄUSSERT s<strong>ich</strong> bis in, in: kleinste, Kleinigkeiten also bin <strong>ich</strong>, direkt, allergisch wenn, mir, fur<br />

mein, Leben, für meinen Alltag, Vorschriften gemacht werden sollen, <strong>ich</strong> bin aber auch, selbstverständl<strong>ich</strong>,<br />

in je<strong>der</strong> Weise bereit, fiir meinen Krempel auch meine Konsequenzen <strong>zu</strong> tragen" (23 / 32)<br />

108


3. Die Soldaten <strong>der</strong> kämpfenden Truppe<br />

Juliane<br />

Brandstäter<br />

3.1 Fritz Sallmann: „Da hat s<strong>ich</strong> das nachher so von selbst ergeben,<br />

daß <strong>ich</strong> praktisch <strong>mit</strong> Adolf <strong>Hitler</strong> gar n<strong>ich</strong>ts <strong>mehr</strong> <strong>zu</strong> tun <strong>hatte</strong>"<br />

3.1.1 Gesprächssituation und Gegenwart von Fritz Sallmann<br />

Auf unsere Zeitungsanzeige <strong>hatte</strong> s<strong>ich</strong> Fritz Sallmann telefonisch gemeldet<br />

und legte bei diesem Telefongespräch Wert darauf, daß seine Frau n<strong>ich</strong>t erfuhr,<br />

daß <strong>der</strong> Kontakt durch sein Engagement <strong>zu</strong>stande gekommen war.<br />

Am Anfang des Interviews war er dann etwas uns<strong>ich</strong>er und bedurfte unserer<br />

Ermutigung. Wir betonten, daß es uns n<strong>ich</strong>t auf eine offizielle Darstellung <strong>der</strong><br />

Gesch<strong>ich</strong>te ankäme, son<strong>der</strong>n auf seine persönl<strong>ich</strong>en Erfahrungen. Daraufhin<br />

fing er an <strong>zu</strong> erzählen, bis ihn seine Frau <strong>zu</strong>m Mittagessen rief und wir einen<br />

zweiten Gesprächstermin für die darauffolgende Woche vereinbarten.<br />

Nach erneuten vier Stunden schloß er seine Erzählung ab. Wir konnten<br />

noch eine Nachfrage stellen, die er <strong>mit</strong> dem Ber<strong>ich</strong>t über seine Kindheit beantwortete.<br />

Die Ber<strong>ich</strong>te über seine <strong>Krieg</strong>serlebnisse illustrierte Herr Sallmann immer<br />

wie<strong>der</strong> durch zahlre<strong>ich</strong>e Fotografien, die er während seiner Zeit bei <strong>der</strong> Wehrmacht<br />

aufgenommen <strong>hatte</strong>.<br />

Nach dem Gespräch wirkte er befreit, aber auch erschöpft, da er das Erzählte<br />

teilweise so intensiv nacherlebte, daß er einige Male auch weinte. Er<br />

war sehr bemüht, uns die Bedeutung seiner Erfahrungen und seiner Ängste<br />

<strong>der</strong> dreijährigen <strong>Krieg</strong>sgefangenschaft nahe<strong>zu</strong>bringen, was uns als Interviewer<br />

sehr berührte.<br />

3.1.2 Eine entbehrungsre<strong>ich</strong>e Kindheit<br />

Herrn Sallmann fallt es heute schwer, über seine Kindheit <strong>zu</strong> sprechen. Mehrmals<br />

wird er von den Interviewern ermuntert, doch kostet ihn dieses Thema<br />

große Überwindung:<br />

„<strong>ich</strong> wills Ihnen — <strong>ich</strong> habs sonst noch niemand äh gesacht aber <strong>ich</strong> wills von meiner Kindheit<br />

auch grade noch erzählen, äh daß wir buchstäbl<strong>ich</strong> n<strong>ich</strong>ts <strong>zu</strong> essen <strong>hatte</strong>n." (214/8)<br />

In seiner Erzählung über seine Kindheit klingt Verbitterung über die ärml<strong>ich</strong>en<br />

Verhältnisse an, in denen er aufwuchs. Vermutl<strong>ich</strong> ist es auch ein gewisses<br />

Schamgefühl über sein Herkunftsmilieu, das es Fritz Sallmann schwer<br />

macht, über seine Kindheit <strong>zu</strong> reden.<br />

109


Herr Sallmann wurde 1915 als zweites Kind eines Kaufmanns in einem Dorf<br />

in Westfalen geboren. <strong>Als</strong> sein Vater aus dem Ersten Weltkrieg von Frankre<strong>ich</strong><br />

<strong>zu</strong>rückkehrte, war er schon drei Jahre alt. Er kann s<strong>ich</strong> daran erinnern, daß<br />

viele heimkehrende Soldaten bei ihnen <strong>zu</strong> Hause haltmachten und ihre Pferde<br />

unterstellten. Dabei ist ihm das Bild, wie sein Vater ihn auf den Arm nahm,<br />

gegenwärtig.<br />

Ansonsten wirken seine Erzählungen über seinen Vater distanziert, und<br />

man gewinnt den Eindruck, daß s<strong>ich</strong> zwischen Vater und Sohn keine positive<br />

Beziehung entwickelte. Enttäuschung spr<strong>ich</strong>t aus dem Vorwurf an den Vater,<br />

daß dieser n<strong>ich</strong>t ausre<strong>ich</strong>end in <strong>der</strong> Lage war, für den Unterhalt <strong>der</strong> Familie<br />

<strong>zu</strong> sorgen.<br />

Eine Folge <strong>der</strong> schlechten Ernährungslage war, daß Fritz Sallmann als kleines<br />

Kind <strong>zu</strong>sätzl<strong>ich</strong> <strong>zu</strong> einem angeborenen Herzfehler an Rachitis erkrankte.<br />

Nach dem <strong>Krieg</strong> ging <strong>der</strong> Vater zwar als Handelsvertreter auf Reisen, doch<br />

die ökonomische Situation <strong>der</strong> Familie verbesserte s<strong>ich</strong> kaum. Fritz Sallmann<br />

war gezwungen, <strong>mit</strong> seinem vier Jahre älteren Bru<strong>der</strong> über Bauernhöfe <strong>zu</strong> ziehen<br />

und um Essen <strong>zu</strong> bitten. Er schämte s<strong>ich</strong>, so arm <strong>zu</strong> sein, daß er betteln<br />

mußte, und war auf die Leute neidisch, die tägl<strong>ich</strong> <strong>zu</strong> essen <strong>hatte</strong>n.<br />

Die Not <strong>der</strong> Familie führt Fritz Sallmann auf die uns<strong>ich</strong>ere Vertretertätigkeit<br />

des Vaters <strong>zu</strong>rück. In diesem Zusammenhang ber<strong>ich</strong>tet er auch von <strong>der</strong><br />

großen Arbeitslosigkeit in <strong>der</strong> damaligen Zeit. Die schlechte Arbeitsmarktlage<br />

war in seinen Augen jedoch kein Hin<strong>der</strong>nis, ein Beschäftigungsverhältnis<br />

<strong>zu</strong> finden, son<strong>der</strong>n erschwerte höchstens die Suche. Schließl<strong>ich</strong> konnte er genügend<br />

Leute beobachten, die lange Wege auf s<strong>ich</strong> nahmen und eine Arbeit in<br />

<strong>der</strong> Stadt suchten, weil sie s<strong>ich</strong> im Dorf n<strong>ich</strong>t ernähren konnten.<br />

Aufgrund seiner Überzeugung, daß <strong>der</strong> einzelne für seine soziale Lage<br />

selbst verantwortl<strong>ich</strong> sei, gelingt es ihm n<strong>ich</strong>t, die Situation des Vaters im<br />

Kontext <strong>der</strong> damaligen Zeit <strong>zu</strong> sehen und ein größeres Verständnis für ihn auf<strong>zu</strong>bringen:<br />

„das versuch <strong>ich</strong> ja auch immer noch hin<strong>zu</strong>bringen um meinen Vater <strong>zu</strong> verstehen, viele Leute<br />

arbeitslos, aber <strong>ich</strong> meine immer er hätte trotzdem hier Arbeit finden können wenn er s<strong>ich</strong> dadrum<br />

beworben hätte, und komischerweise (1) lag ihm das wohl n<strong>ich</strong>t" (218 /16)<br />

An<strong>der</strong>s als seine Mutter ist Herr Sallmann n<strong>ich</strong>t imstande, s<strong>ich</strong> vor<strong>zu</strong>stellen,<br />

daß die Fronterlebnisse des Ersten Weltkriegs seinen Vater psychisch belastet<br />

haben könnten:<br />

„meine Mutter sacht seitdem <strong>der</strong> (Vater) von da <strong>zu</strong>rückgekommen ist is er ein ganz verän<strong>der</strong>ter<br />

Mensch gewesen" (213/29)<br />

Fast beiläufig erwähnt Herr Sallmann dann, daß <strong>der</strong> Vater die Familie<br />

schließl<strong>ich</strong> — vermutl<strong>ich</strong> Ende <strong>der</strong> 20er Jahre — verlassen hat:<br />

„bei uns wars dann so daß mein Vater irjendwie nachher abgedampft is und wir standen dann<br />

ganz alleine da, und mußten sehen wie wir durch<strong>kam</strong>en" (217 /19)<br />

110


Seine aus Nie<strong>der</strong>sachsen stammende Mutter beschreibt Herr Sali mann als<br />

ständig kränkelnd und in dem für sie fremden Dorf unglückl<strong>ich</strong>. Er meint, sie<br />

hätte von ihrem Leben überhaupt n<strong>ich</strong>ts gehabt. Den schwierigen Familienverhältnissen<br />

gibt er auch die Schuld daran, daß sein Bru<strong>der</strong>, <strong>der</strong> eine abgeschlossene<br />

Lehre als Tischler hinter s<strong>ich</strong> <strong>hatte</strong>, Magengeschwüre be<strong>kam</strong>, s<strong>ich</strong><br />

Operationen unterziehen mußte und daraufhin arbeitslos wurde.<br />

Mit gewissem Stolz ber<strong>ich</strong>tet Herr Sallmann, wie er seinem Schul<strong>kam</strong>eraden,<br />

dessen Eltern einen Viehhandel besaßen, half, die Kühe <strong>zu</strong> treiben, wodurch<br />

er <strong>zu</strong>r Ernährung <strong>der</strong> Familie beitragen konnte.<br />

3.1.3 Die berufl<strong>ich</strong>e und politische Karriere in <strong>der</strong> Jugend<br />

1930 o<strong>der</strong> 1931 schloß Fritz Sallmann die Schule ab und blieb, wie er angibt,<br />

aufgrund seines Herzfehlers noch ein Jahr <strong>zu</strong> Hause. Während dieser Zeit half<br />

er weiterhin bei <strong>der</strong> Familie des Schul<strong>kam</strong>eraden aus.<br />

Nach diesem Jahr, <strong>mit</strong> ungefähr 16 Jahren, begann er eine Ausbildung als<br />

Maschinenschlosser. Der Beginn einer berufl<strong>ich</strong>en Karriere half ihm, <strong>zu</strong>nehmend<br />

die Ernährerrolle für die Mutter übernehmen <strong>zu</strong> können und eine Selbständigkeit<br />

<strong>zu</strong> erfahren, die er <strong>der</strong> Abhängigkeit von an<strong>der</strong>en Leuten und den<br />

ständigen finanziellen Nöten entgegensetzen konnte. Vergegenwärtigt man<br />

s<strong>ich</strong> <strong>zu</strong>dem, daß in dieser Zeit die Erwerbslosigkeit in Deutschland ihren<br />

Höchststand erre<strong>ich</strong>te, so kann man ermessen, welche Bedeutung es für Fritz<br />

Sallmann auch im Vergle<strong>ich</strong> <strong>zu</strong>r berufl<strong>ich</strong>en Erfolglosigkeit seines Vaters<br />

<strong>hatte</strong>, eine Lehrstelle gefunden <strong>zu</strong> haben.<br />

Der Vater seines Schul<strong>kam</strong>eraden war überzeugter Nationalsozialist und<br />

wurde nach <strong>der</strong> Machtübernahme 1933 Ortsgruppenleiter des Dorfes. Durch<br />

ihn <strong>kam</strong> Fritz Sallmann <strong>mit</strong> <strong>der</strong> nationalsozialistischen Bewegung in Berührung.<br />

Im Gegensatz <strong>zu</strong>m eigenen Vater, den <strong>der</strong> Sohn als schwach erlebt <strong>hatte</strong><br />

und <strong>der</strong> <strong>der</strong> Rolle des Versorgers n<strong>ich</strong>t gerecht geworden war, bot <strong>der</strong> Vater des<br />

Schul<strong>kam</strong>eraden eine Identifikationsmögl<strong>ich</strong>keit für den damals Fünfzehnjährigen.<br />

Schwärmerisch meint Herr Sallmann:<br />

„unser lieber lieber Nachbar is er nachher geworden wo <strong>ich</strong> da immer geholfen habe <strong>der</strong> den<br />

Viehhandel da <strong>hatte</strong>, <strong>der</strong> <strong>kam</strong> direkt in unsere Nachbarschaft, <strong>der</strong> lief naturl<strong>ich</strong> nur in Uniform<br />

rum und hat auch konnte auch Reden schwingen" (223 / 8)<br />

Über sein politisches Engagement in den folgenden Jahren erzählt Herr<br />

Sallmann wenig. Er ber<strong>ich</strong>tet zwar vom Eintritt in die <strong>Hitler</strong>jugend, gibt aber<br />

n<strong>ich</strong>t das Datum an. Da er 1933 schon achtzehn Jahre alt war, muß er wohl<br />

schon etl<strong>ich</strong>e Zeit vor <strong>der</strong> Machtübernahme HJ-Mitglied gewesen sein und gehört<br />

da<strong>mit</strong> <strong>zu</strong> den sogenannten Alten Kämpfern.<br />

Zu seinem Eintritt meint er:<br />

„auf irjendeine Art und Weise, weiß n<strong>ich</strong>t durch die (Leute aus ...) is das glaub <strong>ich</strong> gekommen,<br />

ne (2) habe dann Kontakt gehabt <strong>mit</strong> Leuten in ... das warn von dem äh früheren, na wie h- von<br />

111


CVJM ne, und so weiter die wurden auch eingeglie<strong>der</strong>t, und <strong>ich</strong> hab m<strong>ich</strong> dann nachher überwiegend<br />

an den <strong>der</strong> wurde dann nachher von <strong>der</strong> CVJM Führer <strong>der</strong> wurde Gefolgschaftsruhrer, und<br />

<strong>mit</strong> dem hab <strong>ich</strong> dann ein sehr gutes Verhältnis gehabt und dann haben wir hier eine sogenannte<br />

Kameradschan aufgebaut, das warn sounsoviel junge Leute, <strong>zu</strong> einer Schar re<strong>ich</strong>te es n<strong>ich</strong>t"<br />

(220/ K3)<br />

Herr Sallmann war offens<strong>ich</strong>tl<strong>ich</strong> n<strong>ich</strong>t nur einfaches Mitglied <strong>der</strong> HJ. Viel<strong>mehr</strong><br />

ber<strong>ich</strong>tet er von seiner Beteiligung am Aufbau einer Kameradschan, einer<br />

Gruppe von etwa zehn Jungen als unterster Organisationsstufe <strong>der</strong> HJ. Es<br />

liegt die Vermutung nahe, daß er sogar HJ-Führer in höherer Position war,<br />

denn er gibt an, <strong>zu</strong>sammen <strong>mit</strong> dem Gefolgschaftsführer aus dem Nachbardorf<br />

an Treffen des Banns, <strong>der</strong> zweithöchsten Glie<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> HJ, teilgenommen<br />

<strong>zu</strong> haben.<br />

Sein politisches Engagement und sein begeistertes Mitmachen vor <strong>der</strong><br />

Machtübernahme werden auch in <strong>der</strong> folgenden Textstelle deutl<strong>ich</strong>:<br />

„da wurde dann natürl<strong>ich</strong> in dem Moment, viel viel Propaganda gemacht und die Leute machten<br />

überwiegend begeistert <strong>mit</strong>, und bis denn eines Tages, 33 das Ganze passierte ne, und alle<br />

Leute hingen an den Lautsprechern und horchten nur immer auf Adolf <strong>Hitler</strong> und Joseph Goebbels<br />

und was da alles gesprochen wurde ne (2) es konnte meines Erachtens nur die ältere Generation<br />

bißchen <strong>mehr</strong> Weitblick harn und vielle<strong>ich</strong>t schon erfassen was auf uns <strong>zu</strong><strong>kam</strong> 44 (221,4)<br />

Die beiden Elemente dieses Ber<strong>ich</strong>ts: einerseits die Begeisterung <strong>der</strong> Zeitzeugen,<br />

an<strong>der</strong>erseits <strong>der</strong> Rechtfertigungscharakter sind typisch für Herrn<br />

Sallmanns Einstellung. Obwohl er erkennen läßt, daß die Leute aktiv <strong>mit</strong>gemacht<br />

haben, stellt er sie bei <strong>der</strong> Nachr<strong>ich</strong>t von <strong>der</strong> Machtübernahme als<br />

bloße Rezipienten von Rundfunkansprachen dar. Herr Sallmann fühlt s<strong>ich</strong>, sei<br />

es aus kollektiver Schuld<strong>zu</strong>weisung nach 1945 o<strong>der</strong> aus einem eigenen<br />

Schuldempfinden heraus, <strong>zu</strong> einer Rechtfertigung gezwungen. Er schiebt die<br />

Verantwortung für die politischen Verhältnisse <strong>der</strong> „alteren Generation" <strong>zu</strong>.<br />

Dieses Rechtfertigungsschema taucht, wie noch gezeigt wird, immer wie<strong>der</strong><br />

in Zusammenhängen auf, in denen es um politische Verantwortung geht.<br />

Seine weiteren Aktivitäten in nationalsozialistischen Organisationen nach<br />

1933 versucht er <strong>zu</strong> verharmlosen:<br />

„dann bin <strong>ich</strong> auch kein Partei<strong>mit</strong>glied jewordeη aufgrund dessen weil <strong>ich</strong> ja nun nun in <strong>der</strong> <strong>Hitler</strong>jugend<br />

war, und von <strong>der</strong> <strong>Hitler</strong>jugend aus äh bin <strong>ich</strong> sofort inn Arbeitsdienst gekommen, und<br />

<strong>ich</strong> brauchte auch äh <strong>ich</strong> hab auch keine SA <strong>mit</strong>gemacht 44 (223 / 16)<br />

Die Frage nach <strong>der</strong> NSDAP-Mitgliedschaft ist für Herrn Sallmann relevant,<br />

da er 1933 achtzehn Jahre alt wurde und seine Mitgliedschaft in <strong>der</strong> HJ so<strong>mit</strong><br />

beendet war. Er gibt aber an, bis 1936, also bis <strong>zu</strong>m einundzwanzigsten Lebensjahr,<br />

in <strong>der</strong> HJ gewesen <strong>zu</strong> sein. Schlüssig wird seine Aussage dann, wenn<br />

wir die schon erwähnte Vermutung einer HJ-Führungsposition aufnehmen.<br />

<strong>Als</strong> HJ-Führer, <strong>der</strong> in <strong>der</strong> Regel einige Jahre älter als die „Geführten 44<br />

war, war<br />

es ihm mögl<strong>ich</strong>, über das achtzehnte Lebensjahr hinaus in <strong>der</strong> HJ <strong>zu</strong> bleiben.<br />

Hier ist fest<strong>zu</strong>halten, daß s<strong>ich</strong> die HJ-Führer im allgemeinen als die fortschrittl<strong>ich</strong>sten<br />

Kräfte des Nationalsozialismus betrachteten. So mag <strong>der</strong><br />

112


Grund für den N<strong>ich</strong>teintritt in die Partei und für den Verbleib in <strong>der</strong> HJ ein<br />

ganz bewußter gewesen sein und in einer gewissen Opposition <strong>zu</strong>r NSDAP gelegen<br />

haben.<br />

Wie dem auch sei, Herr Sallmann stellt den Grund des N<strong>ich</strong>teintritts weniger<br />

als aktive Entscheidung denn als eine s<strong>ich</strong> aus den Umständen ergebende<br />

Tatsache dar. Bemüht ist er vor allem, den Bogen <strong>zu</strong>m Re<strong>ich</strong>sarbeitsdienst <strong>zu</strong><br />

schlagen.<br />

Es hat den Anschein, daß Herr Sallmann durch die Distanzierung von<br />

NSDAP und SA versucht, s<strong>ich</strong> unpolitisch <strong>zu</strong> geben. Seine HJ-Mitgliedschaft<br />

gehört für ihn <strong>zu</strong> seinem politischen Engagement in nationalsozialistischen<br />

Organisationen, das er <strong>mit</strong> dem Argument politischer Unmündigkeit <strong>zu</strong> normalisieren<br />

bemüht ist. Seine Zeit beim RAD dagegen zählt er schon <strong>zu</strong> seiner<br />

„unpolitischen" militärischen Karriere.<br />

Den Ber<strong>ich</strong>t über seine NS-Mitgliedschaften schließt er folgen<strong>der</strong>maßen ab:<br />

„also / aufn mal war ja alles braun ((aggressiv)), und (1) <strong>ich</strong> glaube es könn nur die Außenseiter<br />

gewesen sein die Kommunisten waren ne, so stell <strong>ich</strong> mir das vor 4 ' (223/24)<br />

Seine Anklage, daß „auf einmal" alles braun gewesen sei, bringt einen gewissen<br />

Groll über seine Verstrickung in den Nationalsozialismus <strong>zu</strong>m Ausdruck.<br />

Der Text legt nahe, daß es die Plötzl<strong>ich</strong>keit und Allgegenwärtigkeit des<br />

politischen Umschwungs waren, die verhin<strong>der</strong>ten, daß man s<strong>ich</strong> ihm noch<br />

entgegenstellen konnte. Dabei scheint Fritz Sallmann die Zeit vor 1933, in <strong>der</strong><br />

er selbst als aktiver <strong>Hitler</strong>junge für die Machtübernahme durch die NSDAP<br />

gekämpft <strong>hatte</strong>, aus<strong>zu</strong>blenden. S<strong>ich</strong> selbst als den Verhältnissen ausgeliefert<br />

hinstellend, legt er dar, wie schwierig es gewesen sei, s<strong>ich</strong> ihnen <strong>zu</strong> entziehen.<br />

Seiner Meinung nach hätten es nur Kommunisten gewesen sein können, die<br />

gegen den NS opponierten und also „Außenseiter" <strong>der</strong> nationalsozialistischen<br />

Gesellschaft waren. Und dafür, kein Kommunist gewesen <strong>zu</strong> sein, braucht er<br />

s<strong>ich</strong> seinem Weltbild <strong>zu</strong>folge n<strong>ich</strong>t <strong>zu</strong> entschuldigen.<br />

Zusammenfassend kann man nach <strong>der</strong> bisherigen Auslegung von Textstellen<br />

davon ausgehen, daß Fritz Sallmann aktiv und wahrscheinl<strong>ich</strong> führend in <strong>der</strong><br />

<strong>Hitler</strong>jugend war. Zugestehen kann er seine Aktivitäten und seine Identifikation<br />

<strong>mit</strong> dem Nationalsozialismus jedoch n<strong>ich</strong>t. Er verwickelt s<strong>ich</strong> in Wi<strong>der</strong>sprüche<br />

und Ungereimtheiten.<br />

Die Schwierigkeiten, die Herr Sallmann heute <strong>mit</strong> seinem damaligen Engagement<br />

hat, werden in <strong>der</strong> folgenden Argumentation deutl<strong>ich</strong>:<br />

„das is ja jetzt in <strong>der</strong> DDR ... die wolln ja auch eine Existenz aufbaun, und wenn sie die Existenz<br />

aufbaun wolln müssen se politisch <strong>mit</strong>machen, ne und so is das hier auch vielen Leuten gegangen,<br />

bei mir trifft das ja n<strong>ich</strong>t <strong>zu</strong> denn <strong>ich</strong> <strong>hatte</strong> ja meine Lehre da gemacht, <strong>ich</strong> <strong>hatte</strong> ja kein<br />

äh <strong>ich</strong> war noch viel <strong>zu</strong> jung da<strong>zu</strong> <strong>ich</strong> hätte ja auch hab ja auch keinen Posten gehabt, und so weiter<br />

aber das hat s<strong>ich</strong> hier dann nachher so ganz von selbst ergeben" (221 / 34)<br />

Die Rechtfertigung für sein politisches „Mitmachen", die er so umständl<strong>ich</strong><br />

<strong>mit</strong> dem Beispiel <strong>der</strong> DDR einleitet, br<strong>ich</strong>t er <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Bemerkung ab, daß das<br />

113


<strong>mit</strong> ihm ja n<strong>ich</strong>ts <strong>zu</strong> tun hätte. Er versucht, s<strong>ich</strong> <strong>mit</strong> dem Hinweis, eine berufl<strong>ich</strong>e<br />

Existenz <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Lehre schon aufgebaut <strong>zu</strong> haben, aus <strong>der</strong> Verstrickung <strong>zu</strong><br />

lösen. Dies muß ihn jedoch keineswegs daran gehin<strong>der</strong>t haben, s<strong>ich</strong> in <strong>der</strong> HJ<br />

<strong>zu</strong> profilieren.<br />

Die kollektive Rechtfertigung, „<strong>zu</strong> jung gewesen <strong>zu</strong> sein 44 , die von jüngeren<br />

Zeitgenossen als Entlastung herangezogen wird, klingt bei einem Angehörigen<br />

des Jahrgangs 1915, <strong>der</strong> n<strong>ich</strong>t einmal unter die von den Westalliierten erlassene<br />

Jugendamnestie ab dem Jahrgang 1919 fiel, wenig nachvollziehbar. Herr Sallmann,<br />

<strong>der</strong> explizit hervorhebt: „wir als Jugendl<strong>ich</strong>e, <strong>ich</strong> war <strong>zu</strong> <strong>der</strong> Zeit 22<br />

Jahre alt 44 , übernimmt Rechtfertigungsmuster <strong>der</strong> jüngeren Jahrgänge, um seine<br />

NS-Vergangenheit <strong>zu</strong> verharmlosen. So auch im folgenden Zitat:<br />

„<strong>ich</strong> hab festgestellt daß jede Diktatur, schlimm ist ob rechts o<strong>der</strong> links daß grade diese Leute die<br />

da an <strong>der</strong> Spitze sind so wie das <strong>Hitler</strong> gemacht hat die Jugendl<strong>ich</strong>en mißbraucht ne, einfach mißbraucht*<br />

4 (204/8)<br />

3.1.4 Beginn <strong>der</strong> neunjährigen Karriere ab Soldat<br />

1936 wird <strong>der</strong> 21jährige Fritz Sallmann <strong>zu</strong>m Re<strong>ich</strong>sarbeitsdienst eingezogen.<br />

Da<strong>mit</strong> beginnt für ihn seine soldatische Karriere, denn entsprechend <strong>der</strong> nationalsozialistischen<br />

Weltanschauung versteht er s<strong>ich</strong> schon beim RAD als Soldat.<br />

Heute nimmt er jedoch eine Trennung zwischen seiner Soldatenzeit und seiner<br />

politischen Karriere vor, welche er <strong>mit</strong> dem Ein<strong>zu</strong>g <strong>zu</strong>m RAD als beendet ansieht:<br />

„bis das eben die Zeit <strong>kam</strong> daß es dann hieß Arbeitsdienst (1) und, und Militär, und da hat s<strong>ich</strong><br />

das ganze dann nachher so von so selbst ergeben daß <strong>ich</strong> ja praktisch <strong>mit</strong> Adolf <strong>Hitler</strong> so gar n<strong>ich</strong>ts<br />

<strong>mehr</strong> <strong>zu</strong> tun <strong>hatte</strong> ne und <strong>ich</strong> muß auch sagen die Wehrmacht in <strong>der</strong> Wehrmacht hat man von Politik<br />

n<strong>ich</strong>t groß was <strong>zu</strong> spüren bekommen ne" (225 /18)<br />

Herr Sallmann wird <strong>zu</strong> Arbeiten an <strong>der</strong> Ems eingesetzt und lernt <strong>zu</strong>m ersten<br />

Mal Lagerleben und militärische Disziplin kennen. In diesem Umfeld formt<br />

s<strong>ich</strong> seine Identität als Soldat <strong>mit</strong> dem Spaten, als Arbeitersoldat. Das Lager<br />

empfindet er als sein Zuhause. Er ist s<strong>ich</strong> jedoch <strong>zu</strong>nächst n<strong>ich</strong>t s<strong>ich</strong>er, ob s<strong>ich</strong><br />

seine Erwartungen in diesem neuen, für ihn an s<strong>ich</strong> positiven Lebensabschnitt,<br />

auch später positiv fortsetzen werden:<br />

„wenn wir bis Mittag gearbeitet <strong>hatte</strong>n dann war nach<strong>mit</strong>tags Exerzieren dran, <strong>mit</strong> Spaten, morgens<br />

ging es schon früh los das erste war Waldlauf machen, rausgepfiffen und dann erstmal (1) <strong>mehr</strong>ere<br />

Kilometer Waldlauf jemacht dann <strong>kam</strong> wir geschwitzt nach Haus das heißt ins Lager und dann<br />

stand da schon einer <strong>mit</strong> nem dicken Wasserschlauch und hat uns da abgespritzt so daß wir dann<br />

auch munter und frisch frühstücken konnten (2) <strong>ich</strong> hab mir natürl<strong>ich</strong> Gedanken dadrüber gemacht,<br />

Exerzieren das war echt schwerer Drill=kann man schon sagen=hab mir gesagt mein Gott noch mal<br />

wenn dies erst Arbeitsdienst is was sollst du dann noch dann bei <strong>der</strong> Wehrmacht erleben*' (1 /24)<br />

Nach Absolvierung des sechsmonatigen Arbeitsdienstes geht Herr Sallmann<br />

noch einmal in seinen Beruf <strong>zu</strong>rück, bis er 1937 den Stellungsbefehl <strong>zu</strong>m zweijährigen<br />

Wehrdienst erhält.<br />

114


Mit zittern<strong>der</strong> Stimme erzählt Herr Sallmann von einem Ereignis, das auch<br />

sein „Schicksal" betrifft. Bevor er eingezogen wird, bekommt er von Verwandten<br />

das Angebot, <strong>zu</strong> ihnen nach Amerika <strong>zu</strong> kommen. Er nimmt die<br />

Chance, s<strong>ich</strong> dem Militärdienst <strong>zu</strong> entziehen, n<strong>ich</strong>t wahr, son<strong>der</strong>n weist den<br />

Onkel auf seine Gehorsamspfl<strong>ich</strong>t hin: „<strong>ich</strong> mach m<strong>ich</strong> strafbar wenn <strong>ich</strong> jetzt<br />

<strong>mit</strong> euch <strong>mit</strong>fahrn würde 44 (4/34).<br />

Er ber<strong>ich</strong>tet von einer Auseinan<strong>der</strong>set<strong>zu</strong>ng <strong>mit</strong> seinem Onkel, bei dem die<br />

nationalsozialistische Politik <strong>zu</strong>m Konflikt wird:<br />

„und dann wollte er von mir wissen wie <strong>Hitler</strong> <strong>zu</strong>r Religion stand, und »vir aJs Jugendl<strong>ich</strong>e <strong>ich</strong><br />

war <strong>zu</strong> <strong>der</strong> Zeit 22 Jahre alt wir haben und das muß <strong>ich</strong> hier auch grade beson<strong>der</strong>s bemerken das<br />

Eigenartige ist daß man in den späteren Jahren alles ganz an<strong>der</strong>s sieht, <strong>ich</strong> hab ihm von vornherein<br />

gesacht <strong>ich</strong> sage hier <strong>der</strong> Pastor <strong>der</strong> kann predigen was er will hier is absolut Religionsfreiheit"<br />

(2/29)<br />

Wenn Herr Sallmann von Religionsfreiheit spr<strong>ich</strong>t, so muß man s<strong>ich</strong> fragen,<br />

ob für ihn die jüdische Religion n<strong>ich</strong>t <strong>zu</strong> diesem Thema gehört o<strong>der</strong> ob er den<br />

Antise<strong>mit</strong>ismus des NS-Staates n<strong>ich</strong>t wahrhaben will. Seine Äußerung, daß<br />

man heute „alles ganz an<strong>der</strong>s 44<br />

sehe, bezieht s<strong>ich</strong> wahrscheinl<strong>ich</strong> auf die Verfolgung<br />

von Pastoren im „Dritten Re<strong>ich</strong> 44 , kann aber auch als Anspielung auf<br />

die Verfolgung <strong>der</strong> jüdischen Bevölkerung verstanden werden.<br />

Bei <strong>der</strong> Erzählung über den Streit <strong>mit</strong> dem Onkel wird jedenfalls deutl<strong>ich</strong>,<br />

daß s<strong>ich</strong> Herr Sallmann <strong>zu</strong>m damaligen Zeitpunkt n<strong>ich</strong>t von <strong>der</strong> NS-Ideologie<br />

distanziert. Insofern kann seine Ablehnung <strong>der</strong> Einladung nach Amerika n<strong>ich</strong>t<br />

nur als Gehorsamspfl<strong>ich</strong>t, son<strong>der</strong>n auch als Lqyalitätsbeweis dem „Dritten<br />

Re<strong>ich</strong> 44<br />

gegenüber bewertet werden.<br />

Betrachtet man diesen „Zwischenfall 44<br />

als verpaßte Gelegenheit, die Entscheidung<br />

für den soldatischen Dienst an „Führer, Volk und Vaterland 44<br />

<strong>zu</strong><br />

umgehen, so wird verständl<strong>ich</strong>, warum Herr Sallmann in diesem Zusammenhang<br />

so erregt von seinem „Schicksal 44<br />

spr<strong>ich</strong>t. Aus <strong>der</strong> Perspektive eines<br />

sechs Jahre andauernden und dann verlorenen <strong>Krieg</strong>es <strong>mit</strong> nachfolgen<strong>der</strong> Gefangenschaft<br />

ist für ihn seine Entscheidung heute beson<strong>der</strong>s bitter.<br />

Im Oktober 1937 beginnt sein Wehrdienst. Herr Sallmann wünscht s<strong>ich</strong> wegen<br />

seines technischen Interesses, <strong>zu</strong> den „Motorisierten 44<br />

<strong>zu</strong> kommen und<br />

wird <strong>zu</strong> den Panzerjägern <strong>der</strong> Infanterie eingeteilt. Im ersten Jahr absolviert er<br />

die Fahrschule und wird <strong>zu</strong>r Grundausbildung im Gelände eingesetzt. Er ist<br />

fasziniert von <strong>der</strong> technischen Ausstattung <strong>der</strong> Wehrmacht und von den Uniformen.<br />

Seine beim Re<strong>ich</strong>sarbeitsdienst entwickelte Furcht vor dem militärischen<br />

Drill in <strong>der</strong> Wehrmacht verfliegt schnell, er fühlt s<strong>ich</strong> r<strong>ich</strong>tig wohl:<br />

„die Stube war <strong>mit</strong> vier Mann belegt die war echt schön kann man sagen keine doppelstöckigen<br />

Betten nech war <strong>ich</strong> ganz angenehm überrascht" (7 /18)<br />

Er fühlt s<strong>ich</strong>, wie auch schon beim Re<strong>ich</strong>sarbeitsdienst, bei <strong>der</strong> Wehrmacht<br />

wie <strong>zu</strong> Hause und entwickelt eine familienähnl<strong>ich</strong>e Beziehung <strong>zu</strong> dieser militärischen<br />

Institution. In seinem soldatischen Engagement orientiert er s<strong>ich</strong> an<br />

einem Vorgesetzten, <strong>mit</strong> dem er s<strong>ich</strong> wie <strong>mit</strong> einem \foter identifiziert:<br />

115


„wir <strong>hatte</strong>n einen (1) sehr guten Chef <strong>der</strong> war wie ein Familienvater <strong>zu</strong> uns, <strong>der</strong> verlangte n<strong>ich</strong>t<br />

<strong>mehr</strong> und n<strong>ich</strong>t weniger was er von s<strong>ich</strong> selbst auch verlangt*' (9/10)<br />

Im zweiten Jahr will Fritz Sallmann s<strong>ich</strong> <strong>zu</strong>r Ausbildung in <strong>der</strong> Schirrmeisterei,<br />

dem Kraftfahrwesen <strong>der</strong> Wehrmacht, bewerben. Da er <strong>zu</strong> wenig Selbstvertrauen<br />

hat, braucht er die Ermutigung eines Kameraden, <strong>der</strong> selbst schon<br />

die ersehnte „technische Laufbahn" eingeschlagen hat. Mit dessen Hilfe gelingt<br />

ihm die Aufnahme in die Schirrmeisterei. Trotz strenger Vorgesetzter<br />

findet er auch Selbstbestätigung. Die Ausbildung macht ihm Spaß und er setzt<br />

seinen Ehrgeiz in sie:<br />

„in <strong>der</strong> Zeit wenn jetzt Dienstschluß war dann gingen die an<strong>der</strong>n Landser meistens in die Stadt<br />

rein, und becherten und so weiter und <strong>ich</strong> saß da und hab eben gebüffelt ne, und (3) das hat mir<br />

auch Spaß gemacht" (10/24)<br />

Mit <strong>der</strong> Zulassung <strong>zu</strong> dieser Ausbildung ist <strong>der</strong> Prozeß des Statuswechsels<br />

vom Zivilisten <strong>zu</strong>m Soldaten, <strong>der</strong> Übergang in eine militärische Institution<br />

vollzogen. In Herrn Sallmanns Selbstverständnis bedeutet die Übernahme <strong>der</strong><br />

Soldatenrolle den eigentl<strong>ich</strong>en Schritt ins Erwachsenenleben.<br />

5.7.5 Westfeld<strong>zu</strong>g: „Hauptsache es ging voran"<br />

Am 26. August 1939 findet die Mobilmachung <strong>der</strong> 6. Division statt, <strong>der</strong> Herrn<br />

Sallmanns Kompanie angehört. Fünf Tage später beginnt <strong>der</strong> Zweite Weltkrieg.<br />

Der Übergang von <strong>der</strong> Wehrpfl<strong>ich</strong>tzeit <strong>zu</strong>r Mobilmachung ist bei Herrn<br />

Sallmann nahtlos. Er selbst erwähnt we<strong>der</strong> die Mobilmachung noch den<br />

<strong>Krieg</strong>sbeginn. Für ihn beginnt <strong>der</strong> <strong>Krieg</strong> erst, als er selbst an die Front<br />

kommt, d.h. <strong>mit</strong> dem Westfeld<strong>zu</strong>g. Ebenso unproblematisch wie <strong>der</strong> Übergang<br />

vom Arbeitersoldaten des RAD <strong>zu</strong>m Soldaten <strong>der</strong> Wehrmacht, so fraglos<br />

ist auch <strong>der</strong> Eintritt als Soldat in den <strong>Krieg</strong>. Sein Leben ist bereits so sehr auf<br />

seine militärische Karriere ausger<strong>ich</strong>tet, daß ihm <strong>der</strong> <strong>Krieg</strong>sbeginn <strong>mehr</strong> o<strong>der</strong><br />

min<strong>der</strong> selbstverständl<strong>ich</strong> erscheint. Daher fehlt ihm auch das Verständnis für<br />

die Emotionen eines Veteranen des Ersten Weltkriegs:<br />

„ein unangenehmes Gefühl, wir be<strong>kam</strong>en dann schon gle<strong>ich</strong> einen neuen Chef, und zwar einen<br />

Hauptmann <strong>der</strong> nun den Ersten Weltkrieg schon <strong>mit</strong>gemacht <strong>hatte</strong>, und als wir nun angetreten waren<br />

und er uns begrüßte da wußten wir gar n<strong>ich</strong>t warum ihm die Tränen in den Augen standen ne<br />

<strong>der</strong> war nun mh wesentl<strong>ich</strong> älter als wir ne daß man so sagen konnte was was was warum ne wir<br />

empf- empf- äh fanden das ja noch gar n<strong>ich</strong>ts so diese Mobilmachung die da nun <strong>kam</strong> ne" (11 /26)<br />

Weinend ber<strong>ich</strong>tet er jedoch über den Abschied von seiner Mutter, die über<br />

das Fortziehen des Sohnes in den <strong>Krieg</strong> verzweifelt ist. In seiner <strong>Krieg</strong>sbegeisterung<br />

wird ihn die Hoffnungslosigkeit <strong>der</strong> Mutter betroffen gemacht haben,<br />

doch erst heute, nachdem er das <strong>mit</strong> dem <strong>Krieg</strong> verbundene Leid am eigenen<br />

Leib erfahren hat, kann er ihren Schmerz nachvollziehen.<br />

Im Mai 1940 beginnt <strong>der</strong> Westfeld<strong>zu</strong>g und die 6. Division fallt unter Bruch<br />

<strong>der</strong> Neutralität Luxemburgs und Belgiens nach Frankre<strong>ich</strong> ein. Herr Sallmann<br />

116


kommt als Kraftfahrzeugstaffelführer an die Front. Er ist fasziniert von <strong>der</strong><br />

Schnelligkeit des Vordringens. Ausführl<strong>ich</strong> erzählt er von den Problemen <strong>der</strong><br />

Fahrzeuge, die dieser Belastung kaum standhalten, doch für ihn gilt: „Hauptsache<br />

es ging voran'\<br />

Über das Vordringen <strong>der</strong> Wehrmacht ver<strong>mit</strong>telt Herr Sallmann ein nur ungenaues<br />

Bild. Er ber<strong>ich</strong>tet zwar, daß es in Belgien einigen Wi<strong>der</strong>stand gegeben<br />

habe, aber Näheres ist von ihm n<strong>ich</strong>t <strong>zu</strong> erfahren. Er zieht es vor, s<strong>ich</strong> über<br />

technische Probleme aus<strong>zu</strong>lassen und seine zahlre<strong>ich</strong>en Fotographien von<br />

französischen Ortschaften, Kameraden und Fahrzeugen <strong>zu</strong> erläutern. Ein Beispiel<br />

für seinen Erzählstil bildet das folgende Zitat. Ein Foto, das einen Soldaten<br />

<strong>der</strong> französischen Armee zeigt, nimmt er <strong>zu</strong>m Anlaß, um die effiziente<br />

Taktik <strong>der</strong> deutschen <strong>Krieg</strong>sführung hervor<strong>zu</strong>heben, ohne jedoch etwas über<br />

die eigentl<strong>ich</strong>e Kampfhandlung o<strong>der</strong> das Schicksal des französischen Soldaten<br />

<strong>zu</strong> erzählen:<br />

„hier <strong>hatte</strong>n wir einen Schwarzen da aufgegabelt <strong>der</strong> war schon hundemüde das war ja nun das<br />

<strong>der</strong> Trick dabei, wir mußten jetzt, <strong>der</strong> <strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>stand wurde gebrochen und in dem selben Moment<br />

auch wurde dann soweit und so schnell da hinterher gestoßen daß die gar n<strong>ich</strong> <strong>mehr</strong> <strong>zu</strong>r Besinnung<br />

<strong>kam</strong>en und meistens dann wie gesagt vor Übermüdung dann schon n<strong>ich</strong>t <strong>mehr</strong> konnten"<br />

(18/24)<br />

Zentrale Bedeutung nimmt in seiner Erzählung <strong>der</strong> Ber<strong>ich</strong>t über sein „erstes<br />

persönl<strong>ich</strong>es Erlebnis" ein, bei dem sein soldatisches Selbstverständnis<br />

und seine Identifikation <strong>mit</strong> dem <strong>Krieg</strong>sgeschehen deutl<strong>ich</strong> werden. Den Hintergrund<br />

des Geschehens bildet die Einnahme einer französischen Ortschaft<br />

<strong>mit</strong> un<strong>mit</strong>telbarer Feindberührung. Herr Sallmann ist auf seinem Motorrad<br />

unterwegs und entdeckt am Ortsrand einen feindl<strong>ich</strong>en Panzer, <strong>der</strong> s<strong>ich</strong> festgefahren<br />

hat. Da <strong>der</strong> <strong>zu</strong>ständige Vorgesetzte n<strong>ich</strong>t <strong>zu</strong> finden ist, tritt er selbst in<br />

Aktion, um den Panzer ab<strong>zu</strong>schießen. Uns<strong>ich</strong>er, aber seiner soldatischen<br />

Pfl<strong>ich</strong>t gemäß, gibt er den ihm Untergebenen Anweisungen <strong>zu</strong>r Vorbereitung<br />

des Angriffs, um dann nach jahrelanger Ausbildung das Gelernte endl<strong>ich</strong> in<br />

die Tat umsetzen <strong>zu</strong> können und selbst das Geschütz auf den Feind <strong>zu</strong> r<strong>ich</strong>ten.<br />

Doch <strong>der</strong> Abschuß wird ihm versagt:<br />

„hab m<strong>ich</strong> ans Jeschütz jesetzt und hab nun anvisiert und brauchte jetzt nur noch drauf<strong>zu</strong>drücken,<br />

da <strong>kam</strong> <strong>der</strong> Geschützführer und sagte komm her laß m<strong>ich</strong> das machen ne naja, <strong>ich</strong> bin<br />

dann auch beiseite gegangen, und nachdem <strong>der</strong> erste Schuß da nun gefallen war da flogen dann<br />

die Deckel auf n<strong>ich</strong> und die Franzosen <strong>kam</strong>en raus" (20/10)<br />

Obwohl das Gelingen dieses Angriffs auf seinem gewissenhaften Einsatz<br />

beruht, muß er s<strong>ich</strong> den Erfolg von einem höherstehenden Offizier nehmen<br />

lassen. Wie sehr ihn dies in seinem Stolz kränkt, geht aus dem Nachspiel des<br />

Ereignisses hervor, als er erfahrt, daß <strong>der</strong> betreffende Geschützführer für das<br />

Abschießen des Panzers das Eiserne Kreuz Zweiter Klasse bekommen hat.<br />

Sein Bemühen um eine entsprechende Honorierung seines eigenen Verdienstes<br />

wird schroff <strong>zu</strong>rückgewiesen.<br />

117


Seine erste un<strong>mit</strong>telbar und aktiv erfahrene Kampfhandlung und die Begegnung<br />

<strong>mit</strong> dem Feind löst bei ihm vermutl<strong>ich</strong> unerwartete Gefühle aus. Es<br />

kommt <strong>zu</strong> einer Identifikation <strong>mit</strong> den feindl<strong>ich</strong>en Soldaten, die die Situation<br />

ebenso intensiv erlebten, wie er selbst. An Stelle von Haß empfinden sie eher<br />

ein Gefühl <strong>der</strong> Gemeinsamkeit:<br />

„bei <strong>der</strong> Gelegenheit da war das nun so erregend das Ganze daß wir <strong>mit</strong> den / <strong>mit</strong> den Franzosen<br />

geheult harn ne ((belegte Stimme)) 44 (20/17)<br />

Herr Sallmann vers<strong>ich</strong>ert, daß er gegen die französische Zivilbevölkerung<br />

keine Gefühle <strong>der</strong> Feindschaft gezeigt habe. Dies belegt er <strong>mit</strong> Bekanntschaften,<br />

die er knüpft. Er erzählt von einem Jungen, <strong>der</strong> s<strong>ich</strong> für seinen Werkstattwagen<br />

interessiert, und von einer jungen Frau, die ihm ihre Zuneigung zeigt.<br />

Auch <strong>mit</strong> französischen Partisanen hat er Berührung. Diese verlauft jedoch<br />

weniger freundschaftl<strong>ich</strong>. Herr Sallmann stellt die Partisanen als pri<strong>mit</strong>iv und<br />

feige dar. In seinen Augen geht ihnen die soldatische Ehre ab und ihre Erschießung<br />

erscheint ihm berechtigt:<br />

„die Heckenschützen waren die Franzosen die haben s<strong>ich</strong> viel oben in den Bäumen aufgehalten<br />

und da ... mußte man immer <strong>mit</strong> rechnen daß da von oben dann was runter<strong>kam</strong> ne, aber wenn wir<br />

die natürl<strong>ich</strong> entdeckten dann wars natürl<strong>ich</strong> auch um ihn geschehen nech da konnte man ja nun<br />

n<strong>ich</strong>ts dran än<strong>der</strong>n ne 44 (26/35)<br />

Durch diese Darstellungsweise, in <strong>der</strong> er implizit auch auf die eigene Beteiligung<br />

bei Erschießungen eingeht, wird es Herrn Sallmann mögl<strong>ich</strong>, die Behandlung<br />

<strong>der</strong> Partisanen <strong>mit</strong> an<strong>der</strong>en Kriterien <strong>zu</strong> messen als die <strong>der</strong> „r<strong>ich</strong>tigen"<br />

Soldaten.<br />

Schnell leitet er nach oben zitierter Aussage über die Exekutionen <strong>zu</strong> <strong>der</strong><br />

Schönheit <strong>der</strong> französischen Schlösser über, die er immer wie<strong>der</strong> bewun<strong>der</strong>nd<br />

hervorhebt. Man gewinnt den Eindruck, daß die Erinnerung an die Partisanen<br />

für Herrn Sallmann unangenehm ist und er von ihr ablenken möchte.<br />

N<strong>ich</strong>t die Behandlung <strong>der</strong> Partisanen, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Umgang <strong>mit</strong> französischen<br />

Kulturgütern bewirkt bei Herrn Sallmann ein Nachdenken. Er meint,<br />

<strong>zu</strong>r Schande <strong>der</strong> deutschen Armee sagen <strong>zu</strong> müssen, daß viele seiner Kameraden<br />

in blin<strong>der</strong> Wut kostbare Einr<strong>ich</strong>tungen und Kunstgegenstände zerstört hätten.<br />

Er distanziert s<strong>ich</strong> von diesem Verhalten und stellt s<strong>ich</strong>, selbst als kultivierter<br />

Soldat dar:<br />

„kann <strong>ich</strong> <strong>zu</strong> meiner Beruhigung auch sagen <strong>ich</strong> hab da n<strong>ich</strong>ts zerstört das einzigste was <strong>ich</strong> immer<br />

gemacht habe wenn <strong>der</strong> lag gelaufen war und <strong>ich</strong> <strong>hatte</strong> Glück daß <strong>ich</strong> son Ding da grade ansteuern<br />

konnte dann bin <strong>ich</strong> ins Badezimmer gegangen hab mir das Wasser aufjedreht un äh erstmal<br />

frisch jemacht ne rasiert und so weiter, hab mir dann auch wenn das Hemd grade paßte da<br />

aus dem Schrank ein Hemd genommem ne und wie<strong>der</strong> angezogen naja und am nächsten lag gings<br />

ja wie<strong>der</strong> weiter ne 44 (27 / 19)<br />

Abschließend meint er dann, daß die deutschen Soldaten s<strong>ich</strong> „im Großen<br />

und Ganzen vollkommen reell benommen" und „auch keine große Gehässigkeit<br />

gehabt" hätten.<br />

118


Nach <strong>der</strong> französischen Kapitulation am 22. Juni 1940 erhält Herr Sallmann<br />

seinen ersten Heimaturlaub. <strong>Als</strong> er an die Front <strong>zu</strong>rückkehrt, bekommt er<br />

seine erste Schirrmeisterstelle. Seine neue Einheit wird an den Atlantik abkommandiert<br />

und kommt von dort aus als Wachregiment nach Paris. In seinem<br />

neuen Aufgabenfeld ist Herr Sallmann in seinem Element: „das war für<br />

m<strong>ich</strong> so das gesuchte Fressen denn da konnte <strong>ich</strong> nun für die Fahrzeuge sorgen<br />

44 (30/14)<br />

Während des knappen Jahres in Paris wird die gesamte Einheit technisch<br />

überholt. Mehr ber<strong>ich</strong>tet Herr Sallmann über diese Zeit n<strong>ich</strong>t. Er genießt das<br />

Leben als Soldat einer Besat<strong>zu</strong>ngsmacht in dieser Weltstadt:<br />

„das war natürl<strong>ich</strong> eine sehr schöne Zeit (1) da nun Paris <strong>hatte</strong> sagen wa mal als Soldat eine<br />

schöne Zeit ne, in Wirkl<strong>ich</strong>keit is es ja nun doch n<strong>ich</strong> so ne denn (4) wir konnten jetzt nur die Sehenswürdigkeiten<br />

alle mal uns anschaun ..." (30/31)<br />

3.1.6 Der Ostfeld<strong>zu</strong>g: „Vom Regen in die Traufe" — aber auch:<br />

Der berufl<strong>ich</strong>e Aufstieg in <strong>der</strong> Wehrmacht<br />

Im April 1941 wird Herr Sallmann <strong>mit</strong> <strong>der</strong> 6. Division aus Frankre<strong>ich</strong> abgezogen<br />

und nach Ostpreußen versetzt. Nach dem Frühlingswetter in Paris fallt es<br />

ihm und seinen Kameraden schwer, s<strong>ich</strong> an den tiefen Schnee Ostpreußens <strong>zu</strong><br />

gewöhnen. Auch „die ersten Flöhe 44<br />

fangen sie s<strong>ich</strong> ein, und Herr Sallmann<br />

meint <strong>zu</strong> diesem Wechsel: „Dann <strong>kam</strong>en wir vom Regen in die Traufe 44 .<br />

Bald wird <strong>der</strong> soldatische Alltag jedoch auch hier wie<strong>der</strong> <strong>zu</strong>r Routine, in <strong>der</strong><br />

er s<strong>ich</strong> wohlfuhlt. Außerdem bekommt er Gelegenheit, durch Teilnahme an<br />

einer Fahrschulausbildung in seiner technischen Laufbahn auf<strong>zu</strong>steigen.<br />

Nach einer Dienstfahrt nach Mitteldeutschland, die er <strong>mit</strong> einem Treffen<br />

<strong>mit</strong> seiner späteren Frau verbindet, wird die Division an die sowjetische<br />

Grenze in die Gegend von Suwalki versetzt. Abgeschirmt durch große geflochtene<br />

Wände finden militärische Übungen und Vorbereitungen fur einen<br />

Angriff statt. Herr Sallmann ahnt, „daß es gegen Rußland" gehen wird.<br />

An den Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 erinnert s<strong>ich</strong> Herr<br />

Sallmann noch genau:<br />

„dann gings nun los in die Bereitstellung, wir sind nachts in unsere Ausgangsstellung reinjezogen<br />

und frühmorjens in <strong>der</strong> Dämmerung da ging dann dieser große Krach los, alle Geschütze aus<br />

allen Rohren, was man äh ohrenbetäuben<strong>der</strong> Lärm in <strong>der</strong> Luft da spielten s<strong>ich</strong> schon die ersten<br />

Luftkämpfe ab n<strong>ich</strong> und man sah die russischen Flugzeuge n<strong>ich</strong> anfliejen und eh sie s<strong>ich</strong> versahn<br />

da gingen sie als brennende Fackeln auch schon runter das war da auch sagen wa mal ne ganz aufredende<br />

Sache, bis dann um sounsoviel Uhr da hieß es vorwärts marsch und dann sind wir eben<br />

nach Rußland reinmarschiert" (34 /1)<br />

Daß Deutschland ohne <strong>Krieg</strong>serklärung ein Land überfiel, <strong>mit</strong> dem es einen<br />

N<strong>ich</strong>tangriffspakt geschlossen <strong>hatte</strong>, wodurch es gegen das geltende <strong>Krieg</strong>svölkerrecht<br />

verstieß, wird von Herrn Sallmann n<strong>ich</strong>t thematisiert. Er ist viel<strong>mehr</strong>,<br />

wie auch schon beim „Blitzkrieg 44<br />

<strong>mit</strong> Frankre<strong>ich</strong>, von <strong>der</strong> großartigen<br />

119


und gewaltigen Aktion dieses Marsches nach vorn fasziniert. Für ihn verläuft<br />

<strong>der</strong> <strong>Krieg</strong> als selbstverständl<strong>ich</strong>es und n<strong>ich</strong>t <strong>zu</strong> hinterfragendes Geschehen,<br />

seine Urteilskriterien <strong>der</strong> <strong>Krieg</strong>sführung orientieren s<strong>ich</strong> am Erfolg <strong>der</strong> Deutschen<br />

Wehrmacht. Ohne s<strong>ich</strong> davon <strong>zu</strong> distanzieren, erzählt er auch von<br />

Handlungen, die <strong>der</strong> soldatischen Ehre eigentl<strong>ich</strong> wi<strong>der</strong>sprechen: von Verwüstungen<br />

und Morden an <strong>der</strong> Zivilbevölkerung. Während <strong>der</strong> folgenden Ausführungen<br />

zeigt er Photographien dieses Vorwärtsmarsches in <strong>der</strong> Sowjetunion:<br />

„hier sehn wir schon mal Bil<strong>der</strong> (2) wo wir in durch die ersten Ortschaften kommen n<strong>ich</strong>, wo<br />

dann da die Bevölkerung <strong>zu</strong>sammenläuft n<strong>ich</strong> und diskutiert un was da los is ne ... hier gings hinter<br />

die Russen her vorher warn es die Franzosen jetzt sinds die Russen ne, hier äh sieht man denn<br />

auch die verbrannten Ortschaften (7) da wie<strong>der</strong> Panzer (6) da is schon die ersten <strong>Krieg</strong>sgräber ne<br />

wie sie da nun sind, wir sind denn an Wilna vorbei ((räuspert s<strong>ich</strong>)) weiß n<strong>ich</strong> ob das für Sie η<br />

Begriff is Wilna (1) äh R<strong>ich</strong>tung (1) Polozk, Witebsk (13) wobei dann sagen wa mal äh die Haupt<strong>kam</strong>pfhandlungen,<br />

so an den großen Ortschaften s<strong>ich</strong> bewegten n<strong>ich</strong>" (34/22)<br />

Auf das Geschehen in <strong>der</strong> litauischen Stadt Wilna, die er erwähnt, geht Herr<br />

Sallmann ebenso wie die Interviewer, denen er darüber unterstellt, darüber<br />

Bescheid <strong>zu</strong> wissen, n<strong>ich</strong>t weiter ein. Gemeinsam <strong>mit</strong> <strong>der</strong> 9. Armee war am<br />

30. Juni 1941 aus Ostpreußen das Son<strong>der</strong>kommando 7a gekommen, das am 3.<br />

Juli vom Einsatzkommando 9 abgelöst wurde. Bereits Anfang Juli 1941 wurden<br />

in Wilna tägl<strong>ich</strong> ca. 500 Juden und Saboteure von diesen Mordkommandos<br />

erschossen (vgl. Krausnick 1985: 163f,479).<br />

In die Städte Polozk und Witebsk folgte dem Heer abermals das Son<strong>der</strong>kommando<br />

7a, doch auch darüber erzählt Herr Sallmann n<strong>ich</strong>ts, und lei<strong>der</strong> wird<br />

er von den Interviewern auch n<strong>ich</strong>t darauf angesprochen.<br />

Die Gle<strong>ich</strong>mütigkeit, <strong>mit</strong> <strong>der</strong> er diese verschiedenen Stationen des Vormarsches<br />

aneinan<strong>der</strong>reiht, läßt jedenfalls vermuten, daß er die Verbrechen <strong>der</strong><br />

deutschen Einheiten, die systematische Ermordung von Zivilisten und die<br />

„Taktik <strong>der</strong> verbrannten Erde", die in seinem Ber<strong>ich</strong>t anklingen, n<strong>ich</strong>t reflektiert,<br />

son<strong>der</strong>n sie viel<strong>mehr</strong> unter das „Alltagsges<strong>ich</strong>t" des <strong>Krieg</strong>es subsumiert.<br />

Nach einer für Herrn Sallmann erfolgre<strong>ich</strong>en Dienstfahrt in seine Heimat,<br />

wo es ihm gelingt, ein weiteres Mal seine Braut <strong>zu</strong> besuchen, beginnt die Oktoberoffensive.<br />

Erklärtes Ziel Adolf <strong>Hitler</strong>s ist <strong>der</strong> „Endsieg" <strong>der</strong> Deutschen<br />

Wehrmacht über die Sowjetunion noch vor dem Winter. Mit den Worten „da<br />

war nun wie<strong>der</strong> ein tolles Erlebnis" leitet Herr Sallmann nach einer kurzen<br />

Vorgesch<strong>ich</strong>te eine dramatische Erzählung ein.<br />

Seine Aufgabe ist es, <strong>zu</strong>sammen <strong>mit</strong> einem ihm <strong>zu</strong>geteilten Trupp <strong>zu</strong>rückgebliebene<br />

Fahrzeuge im bereits eingenommenen Gebiet wie<strong>der</strong> einsatzfahig <strong>zu</strong><br />

machen und nach<strong>zu</strong>holen. Nachdem er eine ganze Reihe von Kübelwagen eingesammelt<br />

hat und einen russischen Traktor findet, <strong>mit</strong> dem er sie abschleppen<br />

kann, kommt ihm hän<strong>der</strong>ingend ein Leutnant entgegen. Dem ist im nahen<br />

120


Sumpfgelände ein schweres Geschütz eingesackt. Er „bettelt 44<br />

nun, Herr Sallmann<br />

möge ihm doch helfen, es heraus<strong>zu</strong>ziehen. Schließl<strong>ich</strong> willigt dieser<br />

trotz Kraftstoffmangels ein. Nachdem er „die ersten Seile alle kaputtjerissen 44<br />

hat, ist er erfolgre<strong>ich</strong>:<br />

„dann hab <strong>ich</strong> nochmal angefahren und ging <strong>der</strong> Traktor <strong>der</strong> ging so hoch <strong>kam</strong> unten auf den<br />

festen Boden auf den Grund und dann <strong>kam</strong> er so zentimeterweise <strong>kam</strong> das Geschütz dann raus fing<br />

er wie<strong>der</strong> nach vorne hin und da <strong>hatte</strong> <strong>ich</strong> nur strahlende Ges<strong>ich</strong>ter n<strong>ich</strong> und die warn froh daß<br />

sie das Geschütz raus<strong>hatte</strong>n'* (42/9)<br />

Die Detailliertheit, <strong>mit</strong> <strong>der</strong> er dieses Erlebnis schil<strong>der</strong>t, macht anschaul<strong>ich</strong>,<br />

wie sehr s<strong>ich</strong> Herr Sallmann <strong>mit</strong> seiner Schirrmeistertätigkeit identifiziert.<br />

Einerseits versteht er s<strong>ich</strong> als Kamerad, <strong>der</strong> auch einer fremden Einheit <strong>zu</strong><br />

Hilfe kommt und da<strong>mit</strong> Verantwortung für die Wehrfähigkeit des Heeres zeigt.<br />

An<strong>der</strong>erseits kommt er in seiner Rolle als Schirrmeister voll <strong>zu</strong>m Zuge. Er<br />

fühlt s<strong>ich</strong> gebraucht und ist stolz auf die großmütige Hilfeleistung, die er dem<br />

Leutnant erweisen kann, und findet schließl<strong>ich</strong> Selbstbestätigung in <strong>der</strong> technischen<br />

Meisterung des an ihn herangetragenen Problems.<br />

Nach dieser Vorgesch<strong>ich</strong>te beginnt Herr Sallmann nun, das „tolle Erlebnis 44<br />

<strong>zu</strong> erzählen. <strong>Als</strong> Verantwortl<strong>ich</strong>er für die Fahrzeuge steht er, wie sehr häufig,<br />

vor dem Problem des Kraftstoffnachschubs. Er macht s<strong>ich</strong> in <strong>der</strong> Morgenfrühe<br />

auf die Suche nach eventuell gelagerten Fässern und trifft dabei auf sowjetische<br />

Soldaten, die s<strong>ich</strong> durch das schnelle Vordringen <strong>der</strong> Wehrmacht<br />

noch im rückwärtigen Gebiet aufhalten:<br />

„<strong>ich</strong> gehe jetzt vor diesem Stall her und auf <strong>der</strong>... gejenüberl legenden Seite da <strong>hatte</strong> <strong>ich</strong> so zehn<br />

zwölf Russen vor mir stehen (2) alle noch <strong>mit</strong> Gewehr und so weiter und (2) jetzt wüßt <strong>ich</strong> selber<br />

n<strong>ich</strong> was <strong>ich</strong> machen sollt, <strong>hatte</strong> nur meine Pistole im Koppel (2) hab da jetzt (2) gestanden n<strong>ich</strong><br />

auf fünf sechs Meter Distanz (3) Russisch könnt <strong>ich</strong> n<strong>ich</strong> <strong>ich</strong> hab sie dann nur beobachtet (1) und<br />

(1) <strong>hatte</strong> nun in dem Moment Bedenken es war nur reflex- äh: (2) -artig dann machte dann nahm<br />

das Gewehr runter also sie hätten m<strong>ich</strong> jetzt sofort einkassieren können wenn sie wollten o<strong>der</strong> umlegen<br />

können n<strong>ich</strong> da war absolut n<strong>ich</strong>ts gegen <strong>zu</strong> machen gewesen ne, und als <strong>ich</strong> das sah da hatt<br />

<strong>ich</strong> nur so sach HAUT AB ne sag <strong>ich</strong> so ne, und tatsächl<strong>ich</strong> ((Interviewer lachen)) unsere Russen<br />

drehten s<strong>ich</strong> um und marschierten R<strong>ich</strong>tung Wald ne' 4 (43/22)<br />

Diese vielle<strong>ich</strong>t erste Begegnung <strong>mit</strong> sowjetischen Soldaten von Anges<strong>ich</strong>t<br />

<strong>zu</strong> Anges<strong>ich</strong>t verläuft friedl<strong>ich</strong>; trotz ihrer Übermacht lassen diese den deutschen<br />

Soldaten einfach stehen. Herr Sallmann interpretiert die N<strong>ich</strong>tbeachtung<br />

durch die sowjetischen Soldaten jedoch um und stellt die Gesch<strong>ich</strong>te so<br />

dar, als ob diese seinen Worten „Haut ab 44<br />

Folge geleistet hätten. Das menschl<strong>ich</strong>e<br />

Verhalten des Feindes wird da<strong>mit</strong> ins Lächerl<strong>ich</strong>e gezogen, was die Interviewer<br />

<strong>mit</strong> ihrem Lachen ja auch bestätigen.<br />

Herr Sallmann kehrt <strong>zu</strong> <strong>der</strong> ihn begleitenden Gruppe <strong>zu</strong>rück, um <strong>mit</strong> ihr das<br />

Gebiet mögl<strong>ich</strong>st schnell <strong>zu</strong> verlassen. Aus einer an<strong>der</strong>en Einheit stößt jedoch<br />

ein Offizier <strong>zu</strong> ihnen, <strong>der</strong> ber<strong>ich</strong>tet, daß <strong>der</strong> Umkreis von Partisanen beherrscht<br />

werde und sie von ihrem Regiment abgeschnitten seien. Er for<strong>der</strong>t Herrn Sallmann<br />

auf, s<strong>ich</strong> <strong>mit</strong> seinen Leuten einer Gebietsverteidigung an<strong>zu</strong>schließen.<br />

121


Der vom Offizier vorhergesagte Angriff erfolgt am nächsten Tag:<br />

„am nächsten Morgen <strong>kam</strong>en die Russen tatsächl<strong>ich</strong> <strong>mit</strong> Hurra auf uns <strong>zu</strong> und bei <strong>der</strong> Gelegenheit<br />

da mußten wir uns eben entsprechend verteidigen die sind auch n<strong>ich</strong>t bis ins Dorf reingekommen<br />

(2) und am nächsten Tag da gab er auch grünes L<strong>ich</strong>t dann zog <strong>ich</strong> <strong>mit</strong> meiner ganzen traurigen<br />

Kolonne dann durch den Wald" (45 /10)<br />

Offens<strong>ich</strong>tl<strong>ich</strong> gibt es auf deutscher Seite größere Verluste, wovon Herr<br />

Sallmann jedoch nur indirekt erzählt. Im Vergle<strong>ich</strong> <strong>zu</strong> <strong>der</strong> Detailliertheit, <strong>mit</strong><br />

<strong>der</strong> er über für ihn erfolgre<strong>ich</strong>e Erlebnisse spr<strong>ich</strong>t, nimmt s<strong>ich</strong> dieser Teil des<br />

Ber<strong>ich</strong>ts knapp aus. Vermutl<strong>ich</strong> empfindet er dies nie<strong>der</strong>schlagende Erlebnis<br />

noch heute als so belastend, daß er s<strong>ich</strong> vor wie<strong>der</strong> aufbrechenden Gefühlen,<br />

die <strong>mit</strong> seinem Mißerfolg und <strong>mit</strong> dem Verlust seiner Kameraden verbunden<br />

sind, schützen will.<br />

Während an dieser Stelle deutl<strong>ich</strong> wird, daß Herr Sallmann die Todeserlebnisse<br />

ausblendet und auch versucht, keine Gefühle aufkommen <strong>zu</strong> lassen, gelingt<br />

es ihm sonst meist, die bedrohl<strong>ich</strong>en Erlebnisse gar n<strong>ich</strong>t erst anklingen<br />

<strong>zu</strong> lassen. Zwar ist er <strong>mit</strong> dem alltägl<strong>ich</strong>en Sterben von Kameraden s<strong>ich</strong>erl<strong>ich</strong><br />

n<strong>ich</strong>t in dem Ausmaß konfrontiert wie die Infanteristen, die an <strong>der</strong> vor<strong>der</strong>sten<br />

Frontlinie kämpfen, doch auch er ist an Kampfhandlungen beteiligt. Er konzentriert<br />

s<strong>ich</strong> jedoch in seinen Erzählungen über den <strong>Krieg</strong> völlig auf den technischen<br />

Bere<strong>ich</strong> seiner Tätigkeit. Die Faszination für technische Details und<br />

die genauen Beschreibungen <strong>der</strong> die Handlung bedingenden Umgebung ersetzen<br />

weitgehend eine Beschäftigung <strong>mit</strong> Gedanken und Empfindungen, die die<br />

soziale Realität des <strong>Krieg</strong>es und die Allgegenwärtigkeit des Todes betreffen.<br />

Noch bevor Herr Sallmann <strong>mit</strong> seiner „traurigen Kolonne 44<br />

wie<strong>der</strong> an <strong>der</strong><br />

Front anlangt, wird es Abend, und er schickt zwei seiner Leute <strong>zu</strong>m Auskundschaften<br />

von Schlafmögl<strong>ich</strong>keiten in den vor ihnen liegenden Ort:<br />

„nach ner Zeit lang <strong>kam</strong>en mir die zwei wie<strong>der</strong> entjegen und sachten (2) uns laust <strong>der</strong> Affe, in<br />

<strong>der</strong> Ortschaft sind lauter russische Soldaten (1) ja und, ja und die tun uns nix (1) ((Interviewer<br />

lacht)) dja <strong>ich</strong> sage das is ja schön (1) ((Interviewer lacht)) wir sind dann bis ins Dorf reingefahren,<br />

und <strong>ich</strong> hab dann da auch da reingeguckt in die Häuser ein Gtgröhle und ein Geschnatter da ne,<br />

und <strong>ich</strong> <strong>kam</strong> da rein ne und die freuten s<strong>ich</strong> und <strong>ich</strong> zeigte dann auf Pistole und Gewehr und so<br />

weiter / weg weg weit weg ((i<strong>mit</strong>iert)) ne habm wir da praktisch jetzt <strong>mit</strong> den Russen die Nacht<br />

verbracht" (45/38)<br />

Das friedl<strong>ich</strong>e Verhalten <strong>der</strong> sowjetischen Soldaten wird hier von Herrn<br />

Sallmann wie<strong>der</strong> <strong>zu</strong>m Anlaß genommen, sie als ungefährl<strong>ich</strong> und als n<strong>ich</strong>t<br />

ernst<strong>zu</strong>nehmend dar<strong>zu</strong>stellen. Ihr einladendes Angebot <strong>zu</strong>r Verbrü<strong>der</strong>ung erzeugt<br />

bei ihm n<strong>ich</strong>t das spontane Gefühl <strong>der</strong> Gemeinsamkeit, wie es <strong>mit</strong> <strong>der</strong><br />

feindl<strong>ich</strong>en Besat<strong>zu</strong>ng des abgeschossenen Panzers in Frankre<strong>ich</strong> geschah.<br />

Viel<strong>mehr</strong> macht er s<strong>ich</strong> über die sowjetischen Soldaten im Dorf lustig, worauf<br />

auch <strong>der</strong> Interviewer reagiert.<br />

Der Vormarsch <strong>der</strong> 9. Armee geht weiter. Vier Monate nach dem Überfall<br />

auf die Sowjetunion, im Oktober 1941, ist Kalinin erobert — stolz meint Herr<br />

Sallmann: „unsere weiteste Stelle während des <strong>Krieg</strong>es 44 . Doch schon bald<br />

122


kann die Stellung n<strong>ich</strong>t <strong>mehr</strong> gehalten werden. Die Winterausrüstung ist mangelhaft,<br />

und Anfang Dezember beginnt die sowjetische Winteroffensive, die<br />

die deutschen Truppen <strong>zu</strong>rückdrängt.<br />

Mit verhaltener Enttäuschung erzählt Herr Sallmann über diese Rückwärtsbewegung,<br />

und es fällt ihm wie<strong>der</strong> schwer, über seine Empfindungen anges<strong>ich</strong>ts<br />

dieser nun beginnenden und andauernden Nie<strong>der</strong>lagen <strong>zu</strong> sprechen:<br />

„dann blieb aber alles stecken <strong>der</strong> ganze Nachschub, <strong>der</strong> Winter brach rein <strong>mit</strong> 40, 45 Grad<br />

Kälte, wir (1) habm uns dann so gut es ging wie<strong>der</strong> <strong>zu</strong>rückgezogen, bis nach Rshew, das warn immerhin<br />

so von Kalinin aus warn das so 200 Kilometer ne ... da habm wir Rshew ungefähr eineinhalb<br />

Jahr verteidigt, habm dann da den ganzen Winter noch <strong>mit</strong>jemacht, und was man da fur Eindrücke<br />

<strong>hatte</strong> das kann man auch schlecht beschreiben das war ja so daß die Straßen hier beispielsweise<br />

die warn ja so verschneit daß da nun überhaupt keiner <strong>mehr</strong> durch <strong>kam</strong> ... und dann gingen<br />

da schon die ersten na was soll man sagen Strapazen los insofern daß man kaum was <strong>zu</strong> essen <strong>hatte</strong><br />

<strong>der</strong> Nachschub <strong>der</strong> rollte gar n<strong>ich</strong>t <strong>mehr</strong>, die Russen die da nun noch in Rshew lebten die <strong>hatte</strong>n<br />

kaum noch <strong>zu</strong> reißen und <strong>zu</strong> beißen (2) die Bespannten die konnten ihre Pferde n<strong>ich</strong>t futtern"<br />

(51 /15)<br />

Größere S<strong>ich</strong>erheit in <strong>der</strong> Erzählung gewinnt Herr Sallmann wie<strong>der</strong>, als er<br />

auf seinen eigenen Tätigkeitsbere<strong>ich</strong> <strong>zu</strong> sprechen kommt und die durch die<br />

Rück<strong>zu</strong>gsbedingungen verursachten Schwierigkeiten technisch betrachten<br />

kann: „uns selbst ging es insofern dreckig daß wir keine Akkusäure <strong>hatte</strong>n* 4 .<br />

Die Materialknappheit bereitet in <strong>der</strong> Aufrechterhaltung des technischen<br />

Betriebes große Probleme. Herr Sallmann, dem es auf das Funktionieren und<br />

die Aufgabenerfüllung in seinem Tätigkeitsbere<strong>ich</strong> ankommt, meint daher<br />

heute:<br />

„man mußte mal über die Vorschriften weggehen und s<strong>ich</strong> da selbst was organisieren auch wenn<br />

das n<strong>ich</strong> immer rechtmäßig war" (52/29)<br />

Während es <strong>mit</strong> <strong>der</strong> <strong>Krieg</strong>sfuhrung abwärts geht, steigt Herr Sallmann in<br />

<strong>der</strong> militärischen Institution weiter auf. Anfang 1942 fährt er von Rshew aus<br />

<strong>zu</strong> einem sechsmonatigen Schirrmeisterlehrgang nach Berlin. Er muß zwar<br />

viel lernen, bekommt aber sehr gute Noten. Er ist auch stolz auf das neue Abze<strong>ich</strong>en,<br />

das ihn als geprüften Schirrmeister ausweist.<br />

Von seiner Heirat in dieser Zeit erzählt er, während er den Interviewern Fbtographien<br />

von Sehenswürdigkeiten in Berlin zeigt, die er gemeinsam <strong>mit</strong> seiner<br />

Frau besucht.<br />

„((räuspert s<strong>ich</strong>)) un in dieser Zeit da habm wir auch jeheiratet das is auch noch Berlin, da<br />

habm wir denn hier in dem Urlaub da kriegt <strong>ich</strong> noch η paar Tage als Hochzeitsurlaub und äh<br />

habm dann hier geheiratet ne" (60/24)<br />

Mehr ist über die Hochzeit und über seine aus <strong>der</strong> Nähe seines Heimatorts<br />

stammende Frau n<strong>ich</strong>t <strong>zu</strong> erfahren. Es wird n<strong>ich</strong>t ganz deutl<strong>ich</strong>, was die Heirat<br />

<strong>mit</strong>ten im <strong>Krieg</strong> fur ihn bedeutet. Zumindest scheint er durch die Eheschließung<br />

sein Soldatsein n<strong>ich</strong>t weiter in Frage gestellt <strong>zu</strong> sehen. Ein Bekannter<br />

will ihm zwar eine Stelle in seinem Heimatort besorgen, da<strong>mit</strong> er unabkömml<strong>ich</strong><br />

gestellt wird, doch für Herrn Sallmann kommt dies überhaupt n<strong>ich</strong>t in<br />

123


Frage. Er kann s<strong>ich</strong> n<strong>ich</strong>ts an<strong>der</strong>es vorstellen, als weiterhin seiner soldatischen<br />

Karriere, die seine berufl<strong>ich</strong>e Karriere geworden ist, nach<strong>zu</strong>gehen.<br />

Heute betont er, niemals daran gedacht <strong>zu</strong> haben, daß er vielle<strong>ich</strong>t nie <strong>mehr</strong><br />

aus dem <strong>Krieg</strong> heimkommen würde. Daher kann er auch die Todesangst seiner<br />

Kameraden n<strong>ich</strong>t akzeptieren. Soldaten, die aus diesem Grund versuchen,<br />

s<strong>ich</strong> dem <strong>Krieg</strong>sdienst <strong>zu</strong> entziehen, beze<strong>ich</strong>net er als Feiglinge. Er meint<br />

auch, es sei unmoralisch gewesen, die Kameraden an <strong>der</strong> Front im St<strong>ich</strong> <strong>zu</strong><br />

lassen. Für ihn galten und gelten die soldatischen Ideale <strong>der</strong> Pfl<strong>ich</strong>terfüllung<br />

und <strong>der</strong> Treue <strong>zu</strong>m Vaterland. Das <strong>Krieg</strong>sgeschehen an <strong>der</strong> Front beze<strong>ich</strong>net<br />

er zwar als „Schlamassel 44<br />

und erinnert s<strong>ich</strong> auch, daß es für ihn nach jedem<br />

Urlaub eine Überwindung gewesen sei, dahin <strong>zu</strong>rück<strong>zu</strong>kehren. Doch für ihn<br />

ist es selbstverständl<strong>ich</strong>, seine Pfl<strong>ich</strong>t <strong>zu</strong> tun, und <strong>zu</strong>rück an <strong>der</strong> Front fühlt er<br />

s<strong>ich</strong> in <strong>der</strong> Routine seines Berufsalltags wie<strong>der</strong> geborgen.<br />

Nach dem halben Jahr in Berlin fahrt Herr Sallmann im Sommer 1942 <strong>zu</strong>rück<br />

<strong>zu</strong> seiner Division, die immer noch in Rshew die Stellung verteidigt. Er<br />

wird <strong>zu</strong>m Oberschirrmeister beför<strong>der</strong>t und bekommt eine neue Stelle. Zunächst<br />

wird er von seinem Hauptmann n<strong>ich</strong>t akzeptiert, aber bald gelingt es<br />

ihm, durch beson<strong>der</strong>e Leistungsbeweise dessen Vertrauen <strong>zu</strong> gewinnen:<br />

„da merkt er ja auch daß <strong>ich</strong> auch n<strong>ich</strong>t von den ganz η Duckmäuser war ... (da) werden wir<br />

auf einmal wie<strong>der</strong> familiär" (65 /17)<br />

Im Frühjahr 1943 erhält die Division den Absetzbefehl. Mit vielen Stellungswechseln<br />

muß sie s<strong>ich</strong> bis <strong>zu</strong>m Sommer in den sogenannten Orelbogen<br />

<strong>zu</strong>rückziehen.<br />

Herr Sallmann erzählt von einem „ganz großen Kampf 4 , <strong>der</strong> noch einmal<br />

stattgefunden habe. Er meint, man habe „den Russen vorexerziert, daß man so<br />

Kesselschlachten macht 44 , und will da<strong>mit</strong> den Eindruck erwecken, daß die sowjetischen<br />

<strong>Krieg</strong>sstrategen ohne die Lehren aus <strong>der</strong> deutschen <strong>Krieg</strong>sführung<br />

n<strong>ich</strong>t so schnell so viel Gebiet hätten <strong>zu</strong>rückerobern können, wie es in diesen<br />

Wochen geschieht. Bei diesem Kampf jedoch gelingt es seiner Einheit noch<br />

einmal, s<strong>ich</strong> erfolgre<strong>ich</strong> <strong>zu</strong> verteidigen, und Herrn Sallmanns persönl<strong>ich</strong>es<br />

Verdienst ist die Erbeutung <strong>mehr</strong>erer sowjetischer LKWs, wovon er heute<br />

noch gern und ausfuhrl<strong>ich</strong> erzählt.<br />

Da<strong>mit</strong> ist aber auch <strong>der</strong> letzte, für ihn „große 44<br />

Kampf vorbei. Nach kurzer<br />

Zeit gewinnt die sowjetische Armee wie<strong>der</strong> die Oberhand und Herr Sallmann<br />

stellt <strong>mit</strong> resignieren<strong>der</strong> Stimme und in knapper Form fest:<br />

„(Der Russe) hat seine Truppen schon wie<strong>der</strong> entsprechend gesammelt und entsprechend einjesetzt<br />

äh warn unerbittl<strong>ich</strong>er Kampf äh viele Panzer hat er eingegraben daß nur noch die Geschütze<br />

da rausguckten und so weiter (1) Ende vom Lied war er hat uns auch wie<strong>der</strong> gejagt" (70 / 23)<br />

Bei diesen großen Absetzbewegungen beginnt Herr Sallmann, den Glauben<br />

an einen deutschen Endsieg <strong>zu</strong> verlieren. Während eines Heimaturlaubs äußert<br />

er gegenüber einem Nachbarn seine Einschät<strong>zu</strong>ng des <strong>Krieg</strong>sausgangs:<br />

124


„<strong>ich</strong> will Ihnen das offen und ehrl<strong>ich</strong> sagen den könn wir n<strong>ich</strong>t <strong>mehr</strong> gewinn da muß ein Wun<strong>der</strong><br />

geschehn da sacht er ja wieso denn n<strong>ich</strong>, <strong>ich</strong> sage das is ganz einfach <strong>der</strong> Russe übernimmt jetzt<br />

unsere Taktik und <strong>der</strong> nimmt uns ein Stück nach dem annern wie<strong>der</strong> weg" (67/28)<br />

Insgeheim hofft Herr Sallmann noch auf dieses Wun<strong>der</strong>, eine deutsche Nie<strong>der</strong>lage<br />

kann er s<strong>ich</strong> n<strong>ich</strong>t vorstellen. So erwi<strong>der</strong>t er z.B. einer Russin, die ihm<br />

den baldigen Einmarsch <strong>der</strong> Roten Armee in Berlin ankündigt:<br />

„das gibts n<strong>ich</strong>t das habt ihr euch gedacht <strong>ich</strong> sag das kann einfach n<strong>ich</strong>t sein, und kann einfach<br />

n<strong>ich</strong>t sein" (91/2)<br />

3.1.7 Das Drama <strong>der</strong> Vern<strong>ich</strong>tung <strong>der</strong> Division<br />

Bis <strong>zu</strong>m Ende des Jahres 1943 wird die Division bis nach Shlobin auf <strong>der</strong><br />

Westseite des Dnepr in Weißrußland <strong>zu</strong>rückgezogen, um den Frontvorsprung<br />

in <strong>der</strong> Vorbereitung <strong>der</strong> geplanten Frühjahrsoffensive <strong>zu</strong> begradigen. „Hier",<br />

sagt Herr Sallmann, „spielt s<strong>ich</strong> nun unser Drama ab".<br />

Auf <strong>der</strong> Ostseite des Dnepr wird ein Brückenkopf gebildet, <strong>der</strong> den Winter<br />

über gehalten wird. Erst im frühen Sommer nehmen die Kampfhandlungen an<br />

Bedrohl<strong>ich</strong>keit <strong>zu</strong>, und im Juni 1944 wird die 6. Division zwischen Dnepr und<br />

<strong>der</strong> westl<strong>ich</strong> davon verlaufenden Beresina eingekesselt. Herr Sallmann erzählt<br />

darüber:<br />

„und eines Tages dann wars soweit daß wir am Horizont sahn wie die Flugzeuge da am Himmel<br />

turnten und äh die Geschütze hörte man und so weiter und jenau dasselbe war dann auf <strong>der</strong> linken<br />

Seite, und jetzt wußten wir <strong>der</strong> Russe ist schon durchgebrochen an beiden Enden ne ... und jetzt<br />

(2) <strong>kam</strong> (2) unser trauriges Ende kann man sagen" (72/8)<br />

Das „traurige Ende", die Vern<strong>ich</strong>tung <strong>der</strong> gesamten Division, kann Herr<br />

Sallmann jedoch n<strong>ich</strong>t selbst erzählen. Er greift auf den Ber<strong>ich</strong>t eines Stabsleutnants<br />

<strong>zu</strong>rück und liest aus <strong>der</strong> Zeitung <strong>der</strong> ehemaligen Angehörigen des<br />

Regiments vor.<br />

In bildre<strong>ich</strong>er Sprache und pathetischem Stil schil<strong>der</strong>t dieser Aufsatz das<br />

Ende <strong>der</strong> Division. Er stellt die These des Verrats aus den eigenen Reihen auf,<br />

<strong>der</strong> <strong>zu</strong>sammen <strong>mit</strong> <strong>der</strong> zahlenmäßigen Überlegenheit des Feindes die völlige<br />

Vern<strong>ich</strong>tung des Heeres mögl<strong>ich</strong> gemacht habe. Der Ber<strong>ich</strong>t endet <strong>mit</strong> dem<br />

Resümee, <strong>der</strong> Feind habe zwar tapfer, aber n<strong>ich</strong>t besser gekämpft, und kein<br />

Regiment sei besser als das eigene gewesen.<br />

Während des Vorlesens wird Herr Sallmann <strong>mehr</strong>mals von seinen Gefühlen<br />

überwältigt und br<strong>ich</strong>t in Weinen aus. Für ihn ist eine Welt <strong>zu</strong>sammengebrochen,<br />

und er empfindet die Vern<strong>ich</strong>tung <strong>der</strong> Division als eigentl<strong>ich</strong>e Kapitulation<br />

— ein knappes Jahr vor <strong>Krieg</strong>sende.<br />

Erst beim zweiten Interview, einige Tage später, gelingt es ihm, in eigenen<br />

Worten und über sein persönl<strong>ich</strong>es Erleben dieses „Dramas" <strong>zu</strong> sprechen.<br />

Er ber<strong>ich</strong>tet, daß er an dem Tag, als die Vern<strong>ich</strong>tungsschlacht beginnt, den<br />

<strong>mit</strong> dem Abset<strong>zu</strong>ngsbefehl verbundenen Auftrag bekommt, die Fahrzeuge <strong>zu</strong><br />

125


s<strong>ich</strong>ern. Von Shlobin macht er s<strong>ich</strong> auf in R<strong>ich</strong>tung Westen und erre<strong>ich</strong>t den<br />

Wald, <strong>der</strong> vor <strong>der</strong> Beresina und vor <strong>der</strong> Stadt Bobruisk liegt:<br />

„das schönste war jetzt so in <strong>der</strong> Abenddämmerung da kommen dann aufn mal — in in diesem<br />

Waldstück waren auch noch jede Menge Munitionsstapel die da standen ... und jetzt kommt <strong>der</strong><br />

Iwan da <strong>mit</strong> eine Welle nach <strong>der</strong> annern und läßt seine Bomben runter, das war nur noch ein Feuerzauber,<br />

äh warn auch ein <strong>der</strong>art Durcheinan<strong>der</strong> die Bespannten warn da <strong>mit</strong> zwischen <strong>mit</strong> ihren<br />

Pferden und so weiter und äh und die ganzen Munitionsstapel und die Fahrzeuge die da nun getroffen<br />

waren alles ging da in Flammen auf und das war nur noch eine Rauchwolke und Iwan hörte<br />

und hörte und hörte n<strong>ich</strong>t auf (74 /14)<br />

In <strong>der</strong> weiteren Erzählung macht s<strong>ich</strong> Herr Sallmann die Dolchstoßlegende<br />

des vorgelesenen Artikels <strong>zu</strong> eigen. Er glaubt, „die Russen 44<br />

müßten „planmäßig<br />

gewußt 44<br />

haben, daß die Munition <strong>der</strong> ganzen Division in diesem Waldstück<br />

lagert, und er fragt, wer denn „eigentl<strong>ich</strong> den Befehl 44<br />

gegeben habe,<br />

daß nun auch noch die Fahrzeuge dahin gebracht werden sollen. In <strong>der</strong> Nacht,<br />

die sie im fortwährend bombardierten Wald verbringen, wird er von einem Offizier<br />

<strong>zu</strong>r Fahnenflucht aufgefor<strong>der</strong>t. Herr Sallmann meint, er habe die Lage<br />

noch n<strong>ich</strong>t einschätzen können, und wenn sie s<strong>ich</strong> doch wie<strong>der</strong> bereinigt hätte,<br />

hätte man ihn sofort standrechtl<strong>ich</strong> erschossen. Außerdem:<br />

„könnt <strong>ich</strong> einfach n<strong>ich</strong> m<strong>ich</strong> da<strong>zu</strong> überwinden un hab auch je-jedacht wie kann ein Offizier nur<br />

solche Gedanken haben" (96/26)<br />

Es ist also auch sein soldatisches Gewissen, das s<strong>ich</strong> über den Offizier empört<br />

und das ihm noch in dieser auss<strong>ich</strong>tslosen Lage verbietet, an Fahnenflucht<br />

<strong>zu</strong> denken. Auch seine Sorge um die Fahrzeuge, <strong>zu</strong> denen er einen als<br />

emotional <strong>zu</strong> beze<strong>ich</strong>nenden Be<strong>zu</strong>g hat, wird da<strong>zu</strong> beigetragen haben, ihm die<br />

Loslösung von <strong>der</strong> im Untergang begriffenen Division <strong>zu</strong> erschweren.<br />

Am nächsten Morgen schließl<strong>ich</strong> bleibt ihm jedoch n<strong>ich</strong>ts an<strong>der</strong>es <strong>mehr</strong><br />

übrig als auf<strong>zu</strong>geben. Er versucht, auf <strong>der</strong> Rollbahn nach Bobruisk <strong>zu</strong> kommen,<br />

muß aber feststellen, daß <strong>der</strong> Weg durch zerstörte Fahrzeuge vollkommen<br />

blockiert ist. <strong>Als</strong> er erkennt, wieviele Stunden das Freiräumen dauern<br />

würde, kapituliert er:<br />

„nachher hab <strong>ich</strong> auch gesagt auss<strong>ich</strong>tslos brauchen wir gar n<strong>ich</strong> machen hat kein Zweck, und<br />

da hab <strong>ich</strong> dann aufgegeben" (97 /10)<br />

Ein Fahrer for<strong>der</strong>t ihn auf, s<strong>ich</strong> <strong>mit</strong> ihm gemeinsam in seinem Auto ab<strong>zu</strong>setzen.<br />

Herr Sallmann will jedoch noch wenigstens ein zweites Fahrzeug „retten<br />

44 . Nur die direkte und s<strong>ich</strong>tbare Konfrontation <strong>mit</strong> den anrückenden feindl<strong>ich</strong>en<br />

Truppen treibt ihn da<strong>zu</strong>, von seinen Bemühungen ab<strong>zu</strong>lassen. Er<br />

springt in das wartende Auto des Fahrers, und gemeinsam flüchten sie quer<br />

durch das Waldgebiet in R<strong>ich</strong>tung Beresina. <strong>Als</strong> <strong>der</strong> Wagen s<strong>ich</strong> festfahrt,<br />

müssen sie <strong>zu</strong> Fuß weiterlaufen.<br />

In einem Sumpfgelände stoßen sie auf eine Gruppe deutscher Soldaten, die<br />

einen schreckl<strong>ich</strong>en Anblick bietet:<br />

126


„und jetzt da lag in dem Sumpf nun da noch große Zugmaschinen, wo lauter verwundete Soldaten<br />

draufsaßen ... alles still ergeben als ob sie s<strong>ich</strong> sagten ja jetzt laß kommen was will, äh es war<br />

ja kein Sanitätsfahrzeug es es lief ja einfach gar n<strong>ich</strong>ts <strong>mehr</strong> ... und jetzt muß man s<strong>ich</strong> ja auch<br />

mal das Gefühl vorstellen wenn man jetzt in dieser Situation ist und weiß nun absolut n<strong>ich</strong>t was<br />

noch gespielt wird, äh <strong>ich</strong> persönl<strong>ich</strong> hab auch gesehn wie s<strong>ich</strong> da ei- ein Landser aus Verzweiflung<br />

selbst erschossen <strong>hatte</strong>, es sah keiner <strong>mehr</strong> da einen Ausweg, und wir sind nun währenddessen<br />

immer noch am Bahndamm entlanggegangen" (98/25)<br />

Im buchstäbl<strong>ich</strong>en Sinn gehen Herr Sallmann und sein Kamerad an den verwundeten<br />

Soldaten vorbei. Sie lassen s<strong>ich</strong> von Verzweiflung und Ohnmacht<br />

n<strong>ich</strong>t aufhalten, son<strong>der</strong>n schlagen s<strong>ich</strong> weiter bis <strong>zu</strong>r Eisenbahnbrücke durch,<br />

die über die Beresina in die Stadt Bobruisk führt. Sie robben über die Brücke,<br />

die unter Beschuß liegt, und kommen in totaler Erschöpfung auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en<br />

Seite an. In <strong>der</strong> Stadt treffen sie auf ihren Hauptfeldwebel. Zusammen betrachten<br />

sie, wieviele Leute vom Regiment noch übriggeblieben sind: „dann<br />

war er natürl<strong>ich</strong> auch am Heulen und und wir warn ganz nie<strong>der</strong>geschlagen 4 \<br />

Am nächsten Morgen sollen sie <strong>zu</strong>r Verteidigung <strong>der</strong> Stadt eingesetzt werden,<br />

die inzwischen eingekesselt ist. Doch Herr Sallmann hat es aufgegeben,<br />

weiter<strong>zu</strong>kämpfen. Seit seiner persönl<strong>ich</strong>en Kapitulation, bei <strong>der</strong> er seinen Zuständigkeitsbere<strong>ich</strong><br />

als Schirrmeister verloren hat, sieht er s<strong>ich</strong> auch n<strong>ich</strong>t<br />

<strong>mehr</strong> gebunden, einen verlorenen Kampf weiter<strong>zu</strong>führen. Alle Bestrebungen<br />

gehen nun dahin, um jeden Preis die Heimat <strong>zu</strong> erre<strong>ich</strong>en.<br />

Heiml<strong>ich</strong> plant er <strong>mit</strong> an<strong>der</strong>en deutschen Soldaten, die auch an <strong>der</strong> Verteidigung<br />

teilnehmen sollen, für den nächsten Morgen einen Durchbruch im Norden<br />

<strong>der</strong> Stadt. Noch einmal kann er seinem soldatischen Geist Ausdruck verleihen:<br />

„und dann gings los, dann gab er nun das Ze<strong>ich</strong>en <strong>zu</strong>m Durchbruch, die Sturmgeschütze voraus<br />

n<strong>ich</strong> und schmetterten nun überall wo noch was s<strong>ich</strong> inn Weg stellte dadurch und darein, und wir<br />

dann hinterher n<strong>ich</strong>" (101 /12)<br />

Es beginnt eine entbehrungs- und verlustre<strong>ich</strong>e Zeit <strong>der</strong> Flucht vor <strong>der</strong> näherrückenden<br />

sowjetischen Front. Sie dauert ungefähr eine Woche, bis s<strong>ich</strong><br />

kurz vor Warschau die verbliebenen Teile <strong>der</strong> Division sammeln und in einen<br />

Zug nach Deutschland verladen werden.<br />

Herr Sallmann schil<strong>der</strong>t jeden einzelnen dieser Tage in seinem genauen Verlauf,<br />

<strong>der</strong> durch zahllose Feuerwechsel, lange Märsche, mühevolle und gefährl<strong>ich</strong>e<br />

Essensbeschaffungen, Zusammentreffen und Verlieren verstreuter Truppenteile<br />

bestimmt ist.<br />

Während Herr Sallmann bisher wenig Anteilnahme bei Konfrontation <strong>mit</strong><br />

verzweifelten und verwundeten Kameraden <strong>zu</strong>m Ausdruck gebracht hat, ber<strong>ich</strong>tet<br />

er jetzt davon, wie schreckl<strong>ich</strong> es ist, wenn ein Kamerad auf <strong>der</strong> Flucht<br />

<strong>zu</strong>rückbleiben muß:<br />

„einer <strong>hatte</strong> nen Bauchschuß erhalten <strong>der</strong> lag nun da und keiner konnte helfen keiner könnt se<br />

<strong>mit</strong>nehmen, und dann sachte er auch schon von selbst... ihr braucht euch gar n<strong>ich</strong> bemühn laßt<br />

m<strong>ich</strong> man liegen macht <strong>zu</strong> daß ihr weiterkommt, das war jetzt das schlimmste wenn einer verwundet<br />

wurde und und äh äh konnte dann n<strong>ich</strong> <strong>mehr</strong> <strong>mit</strong>laufen <strong>der</strong> blieb sowieso liegen" (103/2)<br />

127


In dieser Zeit des Schreckens sind die Flüchtenden auf gegenseitige Hilfe<br />

angewiesen. Das Essen wird untereinan<strong>der</strong> geteilt und unter feindl<strong>ich</strong>em Beschuß<br />

besorgt Herr Sallmann Wasser aus einem Ziehbrunnen für s<strong>ich</strong> und<br />

seine Kameraden. Eine Magenkolik bringt ihn da<strong>zu</strong>, am liebsten wie die Verwundeten<br />

liegen <strong>zu</strong> bleiben; doch die Kameraden treiben und schleppen ihn<br />

weiter, bis er wie<strong>der</strong> auf die Füße kommt. Das Schreien <strong>der</strong> verwundeten Soldaten<br />

macht ihn „r<strong>ich</strong>tig verrückt":<br />

„und wir marschierten weiter, jetzt wars aber so in dieser Stille, da hörte man nun überall das<br />

Schrein von den V-Verwundeten ne, das machte einen schon so r<strong>ich</strong>tig verrückt" (104/1)<br />

Diese Erlebnisse des Grauens verfolgen Herrn Sallmann bis heute; er kann<br />

sie aus seinen Erzählungen n<strong>ich</strong>t ganz ausblenden. Doch er versucht heute wie<br />

damals, s<strong>ich</strong> dem Leid <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en <strong>zu</strong> entziehen, weil er Angst hat, selbst in<br />

diesen Schmerz hineingezogen <strong>zu</strong> werden. Er ist bemüht, s<strong>ich</strong> n<strong>ich</strong>t nur vom<br />

Leiden um ihn herum <strong>zu</strong> distanzieren, son<strong>der</strong>n s<strong>ich</strong> auch von Streitereien unter<br />

den Soldaten fern<strong>zu</strong>halten. Alle Energie und Konzentration r<strong>ich</strong>tet er auf<br />

das Durchkommen und erre<strong>ich</strong>t so schließl<strong>ich</strong> die Heimat.<br />

3.1.8 Das letzte <strong>Krieg</strong>sjahr<br />

Nach dieser schreckl<strong>ich</strong>en Nie<strong>der</strong>lage ist <strong>der</strong> Ostfeld<strong>zu</strong>g für Herrn Sallmann<br />

<strong>mehr</strong> o<strong>der</strong> weniger beendet. Die Division ist vern<strong>ich</strong>tet und fast alle<br />

seine Kameraden, die <strong>mit</strong> ihm „durch dick und dünn" gegangen sind, sind gefallen.<br />

Da er <strong>zu</strong>dem auch n<strong>ich</strong>t <strong>mehr</strong> an einen „Endsieg" glaubt, ist seine bedingungslose<br />

Einsatzbereitschaft für den <strong>Krieg</strong> gebrochen. Bei seiner neuaufgestellten<br />

Division in <strong>der</strong> Nähe seines Wohnortes verstößt er gegen die Dienstvorschriften,<br />

indem er jeden Tag nach Dienstschluß <strong>mit</strong> dem Fahrrad über 20<br />

Kilometer nach Hause <strong>zu</strong> seiner Frau und seiner <strong>mit</strong>tlerweile geborenen Tochter<br />

fahrt. Im Familienleben erfahrt er nach dem Zerbrechen seiner berufl<strong>ich</strong>militärischen<br />

Identität einen neuen Wert, und er will es in <strong>der</strong> kurzen vorhandenen<br />

Zeit auskosten: „nur daß man s<strong>ich</strong> nun freute jetzt nimmst du noch jede<br />

Stunde auch wahr ne" (118/11). Schon nach wenigen Wochen ist die Zeit des<br />

Familienlebens wie<strong>der</strong> vorbei. Im August 1944 kommt Herr Sallmann <strong>mit</strong> <strong>der</strong><br />

6. Grenadierdivision nach Polen in das Gebiet von Radom. Er ist Schirrmeister<br />

in einer höheren Stelle, und obwohl er s<strong>ich</strong> über die „arroganten" Offiziere<br />

ärgert, die seiner Meinung nach „überhaupt nix im Kasten" haben, lebt<br />

er s<strong>ich</strong> schnell wie<strong>der</strong> ein.<br />

Obwohl er vom Endsieg n<strong>ich</strong>t <strong>mehr</strong> überzeugt ist, äußert er keinerlei Wi<strong>der</strong>willen<br />

über die Neuaufstellung — <strong>zu</strong> sehr ist er <strong>mit</strong> dem Soldatsein verwachsen.<br />

Das Militär ist ihm nach acht Jahren so <strong>zu</strong>m Alltag geworden, daß er<br />

n<strong>ich</strong>t an einen Sieg <strong>zu</strong> glauben braucht, um selbstverständl<strong>ich</strong> und ohne inneren<br />

Wi<strong>der</strong>spruch weiterkämpfen <strong>zu</strong> können.<br />

Im Dezember 1944 stößt die sowjetische Armee bis <strong>zu</strong>r We<strong>ich</strong>sel vor und<br />

drängt die deutschen Truppen immer weiter <strong>zu</strong>rück. Für Herrn Sallmann ist<br />

128


klar, daß nur noch Rück<strong>zu</strong>g mögl<strong>ich</strong> ist. So reiht s<strong>ich</strong> im folgenden auch nur<br />

noch eine Nie<strong>der</strong>lage an die an<strong>der</strong>e; doch die militärischen Nie<strong>der</strong>lagen<br />

erschüttern ihn n<strong>ich</strong>t <strong>mehr</strong> so sehr. Auch die emotionale Bindung an die neue<br />

Einheit ist gering; er hat wenig Respekt vor seinen Vorgesetzten und wenig<br />

Achtung für seine Untergebenen. Er ber<strong>ich</strong>tet, wie lästig es ihm gewesen<br />

sei, <strong>mit</strong> lauter kriegsunerfahrenen Soldaten <strong>zu</strong>sammen <strong>zu</strong> sein, die so wenig<br />

soldatische Ehre zeigen und ihn in seinem Tätigkeitsbere<strong>ich</strong> bevormunden<br />

wollen.<br />

Beson<strong>der</strong>s ärgert er s<strong>ich</strong> über einen Hauptmann, <strong>der</strong> ihn während eines<br />

Rück<strong>zu</strong>gs <strong>mit</strong> seinen Fahrzeugen und ein paar Leuten <strong>zu</strong>rückläßt, um die weitere<br />

Marschroute aus<strong>zu</strong>kundschaften. Der ihm versprochene Mel<strong>der</strong>, <strong>der</strong> Bescheid<br />

<strong>zu</strong>m Nachrücken geben soll, bleibt aus. Noch während er befehlsgemäß<br />

wartet, s<strong>ich</strong> <strong>mit</strong> Unteroffizieren streitet, die ohne Befehl „abhauen" wollen,<br />

und schließl<strong>ich</strong> durch einen eigenen Mel<strong>der</strong> herausfindet, daß <strong>der</strong> Rest<br />

<strong>der</strong> Einheit schon längst weitergezogen ist, sind die sowjetischen Truppen bereits<br />

in un<strong>mit</strong>telbarer Nähe. Sämtl<strong>ich</strong>e Fahrzeuge aus Herrn Sallmanns Kolonne<br />

werden abgeschossen, so daß sie <strong>zu</strong> Fuß weitermarschieren müssen. In<br />

Tschenstochau schließl<strong>ich</strong> trifft Herr Sallmann den Hauptmann wie<strong>der</strong> und<br />

macht diesem unmißverständl<strong>ich</strong> deutl<strong>ich</strong>, daß für ihn Disziplin und korrekte<br />

Pl<strong>ich</strong>terfüllung auch in dieser Situation noch oberste Werte sind:<br />

„(<strong>der</strong>) fing auch an <strong>zu</strong> motzen und <strong>zu</strong> schimpfen, und dann hab <strong>ich</strong> ihm aber glattweg vorn Kopf<br />

gesacht <strong>ich</strong> sage Hauptmann wenn Sie lang noch was machen sach dann bring <strong>ich</strong> Sie alle vors<br />

<strong>Krieg</strong>sger<strong>ich</strong>t wegen Feigheit vorm Feind (1) / was fallt Ihnen ein ((i<strong>mit</strong>iert)) sacht er da ... da<br />

hab <strong>ich</strong> ihm das mal alles erklärt da war er nachher so klein geworden" (121 /24)<br />

Der Rück<strong>zu</strong>g geht weiter durch Schlesien bis ins Riesengebirge, wo die Division<br />

schließl<strong>ich</strong> kurz nach <strong>der</strong> Kapitulation im Mai 1945 aufgelöst wird.<br />

Heute überlegt er, ob er s<strong>ich</strong> n<strong>ich</strong>t hätte früher absetzen sollen:<br />

„eines Tages dann wars soweit, das war ja 45 <strong>mit</strong>tlerweile und ... da war nun die Kapitulation,<br />

und das <strong>hatte</strong> s<strong>ich</strong> bei uns auch rundgesprochen, ... und <strong>ich</strong> fuhr jetzt natürl<strong>ich</strong> R<strong>ich</strong>tung Westen<br />

<strong>zu</strong>fälligerweise nur ne, und da schrien schon welche hinter m<strong>ich</strong> her <strong>ich</strong> war wohl schon am Abhaun<br />

und so weiter ne aber <strong>ich</strong> <strong>hatte</strong> echt da noch n<strong>ich</strong>t dran gedacht, <strong>hatte</strong> hinterher nur mir Vorwürfe<br />

gemacht vielle<strong>ich</strong>t wars vielle<strong>ich</strong>t wärs besser gewesen <strong>ich</strong> war schon abgehaun <strong>ich</strong> bin<br />

nachher wie<strong>der</strong> <strong>zu</strong>rück beim Stab da läßt <strong>der</strong> General antreten und gibt dann bekannt daß er eben<br />

auch kapitulieren wolln und von dieser Stunde an frei über uns verfugen können" (123/7)<br />

Für Herrn Sallmann, <strong>der</strong> innerl<strong>ich</strong> schon ein Jahr <strong>zu</strong>vor „kapituliert" hat,<br />

ist die offizielle Kapitulation ein erwartetes, und da<strong>mit</strong> n<strong>ich</strong>t weiter thematisierungsbedürftiges<br />

Ereignis. Es wird jedoch deutl<strong>ich</strong>, wie die Auflösung <strong>der</strong><br />

militärischen Befehlsinstanz bei Herrn Sallmann eine Uns<strong>ich</strong>erheit bewirkt.<br />

Nach neun Jahren seines Soldatseins steht er jetzt plötzl<strong>ich</strong> in einem neuen Lebens<strong>zu</strong>sammenhang<br />

und muß nun <strong>mit</strong> <strong>der</strong> „freien Verfugung 44<br />

über s<strong>ich</strong> selbst<br />

umgehen.<br />

Herr Sallmann beschließt <strong>zu</strong> fliehen und läßt seinen Werkstattwagen leerräumen,<br />

um noch ein paar Kameraden <strong>mit</strong>nehmen <strong>zu</strong> können. In militärischer<br />

129


Routine wirft er alle Werkzeuge in einen Te<strong>ich</strong>, da<strong>mit</strong> sie n<strong>ich</strong>t in die Hände<br />

<strong>der</strong> Feinde fallen.<br />

Kurz vor Pilsen treffen die Flüchtenden auf amerikanische Truppen, die sie<br />

gefangen nehmen und in ein Sammellager auf einer großen Wiese einweisen.<br />

In <strong>der</strong> darauffolgenden Nacht, vom 10. auf den 11. Mai 1945, werden die Gefangenen<br />

von <strong>der</strong> amerikanischen an die sowjetische Besat<strong>zu</strong>ngsmacht übergeben.<br />

Für Herrn Sallmann ist dies ein großer Schock:<br />

„morjens früh so gegen vier Uhr großes Geschrei... da war die Überraschung komplett, da war<br />

Iwan da und kein Ami <strong>mehr</strong> <strong>zu</strong> sehen (3) großes Geschrei und alles weinte und ein Durcheinan<strong>der</strong>,<br />

na <strong>der</strong> Iwan hat uns dann da wie<strong>der</strong> da <strong>zu</strong>sammengetrieben" (125/7)<br />

Herr Sallmann <strong>hatte</strong> auf ein von den Amerikanern verbreitetes Gerücht gebaut,<br />

die „Motorisierten* 4<br />

kämen <strong>mit</strong> ihren Fahrzeugen nach Süddeutschland.<br />

Noch heute quält ihn die Frage, weshalb das amerikanische Militär sie diesem<br />

Schicksal überlassen konnte. Zuerst denkt er noch an Flucht, doch das Risiko<br />

erscheint ihm <strong>zu</strong> groß. So ergibt er s<strong>ich</strong> schließl<strong>ich</strong> dem Schicksal und versucht,<br />

in ihm den Willen Gottes <strong>zu</strong> sehen:<br />

„schweren Herzens nech mußte man s<strong>ich</strong> da nun fügen und dann, dann hab <strong>ich</strong> mir auch innerl<strong>ich</strong><br />

gesacht, irjendwie ob das ne Strafe Gottes sein soll <strong>ich</strong> weiß es n<strong>ich</strong>, man mußt es eben über<br />

s<strong>ich</strong> ergehen lassen" (126/11)<br />

3.1.9 In <strong>der</strong> Gefangenschaft<br />

In <strong>der</strong> ersten Nacht unter sowjetischer Besat<strong>zu</strong>ng erlebt Herr Sallmann Vergewaltigungen<br />

deutscher Frauen und Mädchen, die s<strong>ich</strong> unter den Gefangenen<br />

befinden. Er fühlt s<strong>ich</strong> ohnmächtig, weil er n<strong>ich</strong>t helfen und seine Ohren gegen<br />

das Schreien n<strong>ich</strong>t verschließen kann.<br />

Dann beginnt ein <strong>mehr</strong>ere Tage dauern<strong>der</strong> Fußmarsch nach Tabor in das<br />

zentrale Sammellager <strong>der</strong> <strong>Krieg</strong>sgefangenen für die Sowjetunion. Unterwegs<br />

wird Herr Sallmann von tschechischen Soldaten gezwungen, seine Stiefel in<br />

ein Paar alte Turnschuhe ein<strong>zu</strong>tauschen. Daraufhin bekommt er starke<br />

Fußschmerzen, eine für ihn lebensgefahrl<strong>ich</strong>e Situation, da Zurückbleibende<br />

und Erschöpfte auf diesen Märschen oft einfach erschossen werden. Doch er<br />

hat Glück und hält die letzte Strecke des Weges durch.<br />

Das Lager ist <strong>mit</strong> Zehntausenden von Gefangenen überfüllt, die teilweise<br />

ohne festes Dach <strong>der</strong> Witterung ausgesetzt sind. Es dauert einige Wochen, bis<br />

die Gefangenen von offizieller Seite über ihr weiteres Schicksal informiert<br />

werden. Ein sowjetischer General hält ihnen eine Rede:<br />

„dann sachte <strong>der</strong> uns auch <strong>mit</strong> Recht, da sacht er ihr habt unser Land zerstört und dort bringen<br />

wir euch jetzt hin, und wenn ihr das wie<strong>der</strong> aufgebaut habt dann dürft ihr wie<strong>der</strong> <strong>zu</strong>rück in euer<br />

/ Vaterland ((bewegte Stimme))" (82/1)<br />

Herr Sallmann akzeptiert die Anklage durch den sowjetischen General und<br />

gesteht ihm die Einfor<strong>der</strong>ung einer Wie<strong>der</strong>gutmachung <strong>der</strong> durch die Deut-<br />

130


sehe Wehrmacht in <strong>der</strong> Sowjetunion entstandenen Schäden <strong>zu</strong>. Dies ist n<strong>ich</strong>t<br />

notwendigerweise als Reuebezeugung für die Zerstörungen <strong>der</strong> deutschen<br />

Einheiten <strong>zu</strong> betrachten, son<strong>der</strong>n eher als das Rechtsempfinden eines Soldaten<br />

nach <strong>der</strong> militärischen Nie<strong>der</strong>lage seiner Armee.<br />

Diese Eins<strong>ich</strong>t hilft Herrn Sallmann dann auch, seine Gefangenschaft <strong>zu</strong> ertragen.<br />

Er kann sie als etwas zeitl<strong>ich</strong> Begrenztes begreifen, in <strong>der</strong> eine gewisse<br />

Wie<strong>der</strong>gutmachung geleistet werden kann, ohne s<strong>ich</strong> persönl<strong>ich</strong> schuldig fühlen<br />

<strong>zu</strong> müssen.<br />

Kurze Zeit später kommt Herr Sallmann in ein <strong>Krieg</strong>sgefangenenlager in die<br />

Nähe von Saratov an <strong>der</strong> Wolga. Einer seiner ersten Eindrücke, die ihm in Erinnerung<br />

bleiben, ist die Begegnung <strong>mit</strong> den ehemaligen Feinden:<br />

„dann lernte man erstmal so das Wachpersonal kennen, ein Unteroffizier dem hörte und sah<br />

man schon an daß er η direkter Jud war ne, warum auch n<strong>ich</strong> ne <strong>ich</strong> hab n<strong>ich</strong>ts gegen Juden ne<br />

aber <strong>ich</strong> meine nur es warn auch noch <strong>mehr</strong>ere Juden <strong>ich</strong> — man lernt das Wachpersonal da nun<br />

kennen ne, äh (2)" (145/14)<br />

Dies ist nach über fünf Stunden Gespräch die erste Stelle im Interview, an<br />

<strong>der</strong> ein Jude erwähnt wird. Mit seiner in <strong>der</strong> deutschen Bevölkerung häufig <strong>zu</strong><br />

hörenden Äußerung, n<strong>ich</strong>ts gegen Juden <strong>zu</strong> haben, <strong>mit</strong> <strong>der</strong> eine antise<strong>mit</strong>ische<br />

Einstellung <strong>zu</strong>rückgewiesen werden soll, versucht auch Herr Sallmann, s<strong>ich</strong><br />

gegen die Verdächtigung ab<strong>zu</strong>s<strong>ich</strong>ern, er lehne seinen jüdischen Bewacher ab.<br />

Weiteres ist über diese Begegnung <strong>mit</strong> einem Juden jedoch n<strong>ich</strong>t <strong>zu</strong> erfahren,<br />

und sie bildet für Herrn Sallmann auch keinen Anlaß, an dieser Stelle auf den<br />

Völkermord an den Juden ein<strong>zu</strong>gehen.<br />

Es sind für ihn viel<strong>mehr</strong> Deutsche, die unter den Folgen <strong>der</strong> deutschen<br />

<strong>Krieg</strong>sführung in <strong>der</strong> Sowjetunion <strong>zu</strong> leiden haben, <strong>der</strong>en Schicksal ihn <strong>zu</strong> einer<br />

Kritik an Adolf <strong>Hitler</strong> führt. In <strong>der</strong> Nähe seines Lagers ist ein Lager <strong>mit</strong><br />

Wolgadeutschen Frauen, die <strong>zu</strong>m Bau einer Ölraffinerie eingesetzt werden.<br />

Die Wolgadeutschen <strong>hatte</strong>n bis <strong>zu</strong> dem Überfall <strong>der</strong> Deutschen Wehrmacht auf<br />

die Sowjetunion in <strong>der</strong> Autonomen Republik <strong>der</strong> Wolgadeutschen gelebt, die<br />

1924 gegründet worden war. Im August 1941 wurde die Republik von <strong>der</strong> Sowjetunion<br />

<strong>mit</strong> <strong>der</strong> Begründung, in ihr sammelten s<strong>ich</strong> „Diversanten und<br />

Spione", aufgelöst, über die Hälfte <strong>der</strong> ca. 600000 Menschen zählenden Bevölkerung<br />

in asiatische Teile <strong>der</strong> Sowjetunion verschickt und die an<strong>der</strong>en auf<br />

die Gebiete von Stalingrad und Saratov verteilt (vgl. Bährens 1965: 91). Anges<strong>ich</strong>ts<br />

dieser für ihn neuen Informationen beginnt Herr Sallmann, seine bisher<br />

unkritische und befürwortende Haltung <strong>der</strong> deutschen <strong>Krieg</strong>spolitik gegenüber<br />

<strong>zu</strong> revidieren:<br />

„und jetzt kommt man erstmal auf den Tr<strong>ich</strong>ter und sacht s<strong>ich</strong> was is dadurch was hat Adolf da<br />

alles anger<strong>ich</strong>tet, ne in dem Moment näml<strong>ich</strong> als äh wir nun nach Rußland reinzogen da sind die<br />

ja auch sofort ins Unglück gestürzt ne" (145/29)<br />

Für die im „Dritten Re<strong>ich</strong>" verfolgten Kommunisten, die s<strong>ich</strong> jetzt unter<br />

den deutschen Gefangenen als solche <strong>zu</strong> erkennen geben und die <strong>zu</strong>m Teil<br />

131


auch in Konzentrationslagern inhaftiert gewesen sind, zeigt er dagegen keine<br />

Empathie, son<strong>der</strong>n nur Ablehnung. So erzählt er <strong>zu</strong>m Beispiel von einem<br />

deutschen Kommunisten, <strong>mit</strong> dem er, als Brigadier einer Arbeitsbrigade in einer<br />

Kolchose, <strong>zu</strong> tun bekommt:<br />

„auf einmal zeigten s<strong>ich</strong> die angebl<strong>ich</strong> stark- o<strong>der</strong> die angebl<strong>ich</strong> echten Kommunisten, äh <strong>zu</strong>m<br />

Teil hörte man ja <strong>der</strong> behauptet <strong>der</strong> is im KZ gewesen und so weiter ne, und da war son fieser<br />

Moppel dabei <strong>der</strong> sah alleine schon so so brutal und unansehnl<strong>ich</strong> aus, <strong>der</strong> aber Russisch konnte<br />

ne, was das nun überhaupt furn Typ war weiß <strong>ich</strong> n<strong>ich</strong>, jedenfalls den kriegte <strong>ich</strong> <strong>mit</strong> <strong>zu</strong>geteilt als<br />

Dolmetscher ne, und währenddessen jetzt jearbeitet wurde da war er fleißig dabei und trat meine<br />

Leute vom Zug inn Hintern, und bedrohte sie <strong>ich</strong> bring euch hin wo ihr hingehört und so weiter<br />

und so weiter ne, und die <strong>kam</strong>en wie<strong>der</strong> <strong>zu</strong> mir und beschwerten s<strong>ich</strong> <strong>ich</strong> war ja nun Zugführer<br />

ne, ja <strong>ich</strong> konnte absolut n<strong>ich</strong>ts machen ne <strong>der</strong> war mir <strong>zu</strong>geteilt und <strong>der</strong> machte einfach was er<br />

wollte" (146/19)<br />

<strong>Als</strong> die Mißhandlungen n<strong>ich</strong>t aufhören und Herr Sallmann auch über den<br />

deutschen Lagerführer keine Än<strong>der</strong>ung erre<strong>ich</strong>en kann, tritt er von seinem<br />

Posten <strong>zu</strong>rück. Ihm ist es lieber, nun selbst in <strong>der</strong> Brigade <strong>mit</strong>arbeiten <strong>zu</strong> müssen,<br />

denn als Prellbock zwischen seiner Brigade und <strong>der</strong> Lagerführung <strong>zu</strong><br />

stehen.<br />

Für ihn sind die s<strong>ich</strong> als Kommunisten bekennenden Mitgefangenen alle<br />

Verräter, die nun für das feindl<strong>ich</strong>e System arbeiten. Er sieht in ihnen ausschließl<strong>ich</strong><br />

Spitzel, die s<strong>ich</strong> auf Kosten <strong>der</strong> Mitgefangenen Vorteile verschaffen.<br />

Waren in <strong>der</strong> ersten Zeit viele <strong>der</strong> Kommunisten, die s<strong>ich</strong> nach <strong>der</strong> Kapitulation<br />

in den <strong>Krieg</strong>sgefangenenlagern <strong>zu</strong>m „Antifaschistischen Aktiv" <strong>zu</strong>sammengeschlossen<br />

<strong>hatte</strong>n, tatsächl<strong>ich</strong> auch als Spitzel eingesetzt, so trug<br />

dies s<strong>ich</strong>erl<strong>ich</strong> <strong>zu</strong> Herrn Sallmanns undifferenzierter S<strong>ich</strong>tweise bei. Die Betroffenheit<br />

über das Spitzelwesen, <strong>zu</strong> dem nach kurzer Zeit auch „normale"<br />

Mitgefangene herangezogen wurden, wird von fast allen Heimkehrern geäußert<br />

(vgl. Lehmann 1986: 50) und zählt <strong>zu</strong> Herrn Sallmanns bedrückendsten<br />

Erinnerungen an die Gefangenschaft.<br />

Ebenso abfällig wie über die Kommunisten äußert er s<strong>ich</strong> über die Mitgefangenen,<br />

die an politischen Vorträgen teilnehmen. Für ihn sind dies nur Opportunisten;<br />

eine Sympathie o<strong>der</strong> ein Interesse an <strong>der</strong> sozialistischen Weltanschauung<br />

liegt bei ihm außerhalb des Denkbaren.<br />

Hauptsächl<strong>ich</strong> <strong>zu</strong>r Aufklärung deutscher <strong>Krieg</strong>sverbrechen wurden durch<br />

das NKWD, das Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten, Verhöre <strong>der</strong><br />

Gefangenen durchgeführt. Herr Sallmann erzählt von diesen Verhören:<br />

„da war das dann schon am laufenden Band so daß da (1) daß man nachts, und schließe m<strong>ich</strong><br />

n<strong>ich</strong> aus, nachts rausgerissen wurde, ausm Bett, da <strong>kam</strong>en diese komischen Helfershelfer an,<br />

schleppten einen da <strong>zu</strong>m NKWD hin, und dann, ging das Verhör los ne, ob man Nazi gewesen<br />

is ne ob Vad<strong>der</strong> η Nazi war und und und und und ne (1) je nachdem wie es ihm dann gefiel, konnte<br />

man Glück haben, aber die meisten <strong>hatte</strong>n kein Glück, die sollten nur eben was sagen da <strong>hatte</strong> er<br />

ne Reitpeitsche und dann gings da drauf ne 44 (148/5)<br />

Beze<strong>ich</strong>nen<strong>der</strong>weise spr<strong>ich</strong>t Herr Sallmann hier von seinen Erfahrungen in<br />

verallgemeinern<strong>der</strong> Form. Wie seine eigenen Verhöre verlaufen und in wel-<br />

132


eher Weise seine Vergangenheit im Nationalsozialismus <strong>zu</strong>r Sprache kommt,<br />

erzählt er n<strong>ich</strong>t. Es ist jedoch an<strong>zu</strong>nehmen, daß er versucht hat sein früheres<br />

nationalsozialistisches Engagement so weit wie mögl<strong>ich</strong> <strong>zu</strong> kaschieren. Er<br />

stellt es als eine Frage des Glücks hin, ob die Beteuerungen dem NKWD<br />

glaubhaft erscheinen o<strong>der</strong> n<strong>ich</strong>t, äußert s<strong>ich</strong> jedoch n<strong>ich</strong>t darüber, ob seine eigenen<br />

Aussagen Erfolg gehabt haben.<br />

Was für Befürchtungen <strong>mit</strong> den Verhören verbunden sind, geht aus dem folgenden<br />

Zitat hervor:<br />

,,das einzigste was uns immer <strong>zu</strong> denken gab wir mußten da als wir da an<strong>kam</strong>en einen so langen<br />

Fragebogen ausfüllen, und diese ganzen Fragen, da ging es dann bis <strong>zu</strong>r Urgroßmutter ob die. in<br />

<strong>der</strong> NSDAP war o<strong>der</strong> sonstwas, äh man wußte jetzt gar n<strong>ich</strong>t <strong>mehr</strong> was man eigentl<strong>ich</strong> geantwortet<br />

<strong>hatte</strong>, und da <strong>hatte</strong> nun je<strong>der</strong> irjendwie Bedenken, nech daß <strong>der</strong> da vielle<strong>ich</strong>t von einem was rausgekriegt<br />

<strong>hatte</strong> o<strong>der</strong> was weiß <strong>ich</strong>" (175/33)<br />

Indirekt gibt Herr Sallmann <strong>zu</strong> erkennen, daß es bei ihm und offens<strong>ich</strong>tl<strong>ich</strong><br />

auch bei seinen Kameraden etwas „raus<strong>zu</strong>kriegen 44<br />

gab. Es geht hier n<strong>ich</strong>t<br />

darum, Herrn Sallmann einer Falschaussage vor dem NKWD <strong>zu</strong> überführen.<br />

S<strong>ich</strong>erl<strong>ich</strong> war auch seine Furcht vor den Verhörpraktiken des NKWD ganz<br />

unabhängig von einem eigenen Schuldbewußtsein berechtigt. Beachtenswert<br />

ist nur, daß er an dieser Stelle im Gespräch n<strong>ich</strong>t die eigene nationalsozialistische<br />

Vergangenheit thematisiert, obwohl dieses Thema nach seiner Erzählung<br />

Inhalt <strong>der</strong> Verhöre gewesen ist. We<strong>der</strong> damals noch heute scheint er daran interessiert<br />

<strong>zu</strong> sein, seine eigene Verstrickung in die Politik des NS <strong>zu</strong> klären.<br />

Viel<strong>mehr</strong> steht er je<strong>der</strong> politischen Diskussion seines früheren Lebens<strong>zu</strong>sammenhanges<br />

defensiv gegenüber.<br />

Bei Wintereinbruch wird Herr Sallmann an <strong>der</strong> Wolga <strong>zu</strong>m Bergen von<br />

Lastkähnen eingesetzt. Die Arbeit ist beson<strong>der</strong>s beschwerl<strong>ich</strong>, da die Temperaturen<br />

zeitweise auf unter 40 Grad minus sinken. Die Ernährungslage ist so<br />

schlecht, daß die Gefangenen völlig entkräftet sind und immer wie<strong>der</strong> jemand<br />

bei <strong>der</strong> Arbeit erfriert.<br />

Noch im selben Winter hat Herr Sallmann großes Glück. Dank seiner Ausbildung<br />

als Maschinenschlosser kann er von <strong>der</strong> Arbeit im Freien in eine<br />

Schlosserei überwechseln. Betonenswert ist für ihn in diesem Zusammenhang<br />

wie<strong>der</strong>um, daß sein Vorgesetzter Jude ist. Das Thema Juden* scheint also vor<br />

allem dann in seinen Ges<strong>ich</strong>tskreis <strong>zu</strong> rücken, wenn er in die ungewohnte und<br />

vermutl<strong>ich</strong> abgelehnte Situation kommt, von ihnen abhängig <strong>zu</strong> sein. Welche<br />

Konsequenz dies für ihn gehabt und was er darüber gedacht hat, führt er jedoch<br />

n<strong>ich</strong>t aus.<br />

Außer bei <strong>der</strong> Arbeit werden die Lebensbedingungen für Herrn Sallmann<br />

n<strong>ich</strong>t le<strong>ich</strong>ter. Am demütigendsten sind für ihn die häufig stattfindenden<br />

Durchsuchungen <strong>der</strong> Gefangenen nach unerlaubten Gegenständen. Noch<br />

heute spürt er das Gefühl des Ausgeliefertseins:<br />

„((räuspert s<strong>ich</strong>)) und was (1) nur eben echt peinl<strong>ich</strong> war, wir sind ja immer wie<strong>der</strong> gefilzt worden<br />

wir wurden rausgerufen antreten, und ausziehn, nech und blank wie wir da waren (3) da lagen<br />

133


unsere Sachen und wenn sie da<strong>mit</strong> fertig waren dann <strong>kam</strong> se noch bei uns an und fühlten vorne<br />

und hinten, ob wir da n<strong>ich</strong> noch was versteckt <strong>hatte</strong>n o<strong>der</strong> angebunden <strong>hatte</strong>n und so weiter ne,<br />

äh (1) <strong>ich</strong> kann das Gefühl gar n<strong>ich</strong> weitergeben was man in so einem Moment da bei denkt und<br />

und überhaupt daß es so etwas überhaupt gibt" (154/15)<br />

Zum Lageralltag gehören auch die regelmäßigen Zählappelle, die meistens<br />

vor und nach dem Gang <strong>zu</strong>r Arbeit durchgeführt werden. Beson<strong>der</strong>s erschüttert<br />

Herrn Sallmann diese Prozedur, wenn die vielen Gestorbenen im Winter<br />

aufgrund des starken Frosts n<strong>ich</strong>t begraben werden können und in einer beson<strong>der</strong>en<br />

Baracke untergebracht werden müssen:<br />

„die Schwierigkeit bestand jetzt darin wenn / Zählappell war, dann wurden ja n<strong>ich</strong> nur die Lebenden<br />

gezählt son<strong>der</strong>n auch die Toten, und kann man s<strong>ich</strong> vorstelln wann is ein Zähl- Zählappell<br />

<strong>zu</strong> Ende wenn die Toten jetzt immer wie<strong>der</strong> äh unter — also n<strong>ich</strong> immer es <strong>kam</strong> mal vor daß es<br />

hieß ja die Stückzahl stimmt äh, aber wenn sie n<strong>ich</strong>t stimmte dann mußte alles umgesch<strong>ich</strong>tet werden<br />

ne und dann konnte es sein daß unter Umständen unten schon im Eis und Schnee daß da nun<br />

noch zwei lagen die man <strong>hatte</strong> n<strong>ich</strong> <strong>mit</strong>zählen können ((<strong>mit</strong> bewegter Stimme)) (1) ((schluckt)) äh<br />

und <strong>ich</strong> sag nur das bedrückt einen so kolossal dann kriegt man auch <strong>zu</strong> hörn <strong>der</strong> eine is jestorben<br />

<strong>der</strong> andre is jestorben" (157 / 23)<br />

Das größte Problem in den <strong>Krieg</strong>sgefangenenlagern <strong>der</strong> Sowjetunion ist in<br />

den Nachkriegsjahren <strong>der</strong> Hunger. Die tägl<strong>ich</strong>e Ration <strong>der</strong> <strong>Krieg</strong>sgefangenen<br />

besteht — entsprechend <strong>der</strong> <strong>der</strong> sowjetischen Zivilbevölkerung <strong>zu</strong>geteilten<br />

Menge — aus einer dünnen Suppe und 400 bis 600 Gramm Brot. Auf jeden<br />

Fall ist sie n<strong>ich</strong>t ausre<strong>ich</strong>end und viele sterben an den Folgen <strong>der</strong> Unterernährung.<br />

Während im <strong>Krieg</strong> Gesprächsthema „Nummer eins" die Frauen gewesen<br />

sind, geht es in den Jahren <strong>der</strong> Gefangenschaft nur um das Essen. Herr Sallmann<br />

erzählt, daß seine Kameraden stundenlang über Kochrezepte diskutiert<br />

und gestritten hätten.<br />

Er ber<strong>ich</strong>tet auch, daß Kameraden untereinan<strong>der</strong> Brot stehlen, obwohl er<br />

s<strong>ich</strong> n<strong>ich</strong>t vorstellen kann, wie s<strong>ich</strong> jemand noch etwas von dem wenigen Brot<br />

aufbewahren kann. Tatsächl<strong>ich</strong> war <strong>der</strong> Brotdiebstahl jedoch in <strong>der</strong> Zeit, als<br />

die tägl<strong>ich</strong>e Brotration über Tod und Leben des Gefangenen entschied, ein<br />

großes Problem und wurde durch Selbstjustiz <strong>der</strong> deutschen Gefangenen hart<br />

geahndet:<br />

„jetzt <strong>kam</strong> die Strafmaßnahmen, <strong>der</strong> hats gemacht hieß es denn, war schon sofort klar <strong>der</strong> hat<br />

es gemacht ne, und dann kriegte <strong>der</strong> schon die ersten Keile, und dann hieß es denn die ganze Stube<br />

antreten, <strong>zu</strong>r Strafe die Hose runter und mußte s<strong>ich</strong> jetzt da drüber legen, und je<strong>der</strong> kriegte jetzt<br />

einen Stock in die Hand das heißt <strong>der</strong> eine gab den an<strong>der</strong>n weiter und jetzt (mußte je<strong>der</strong> einen<br />

Schlag aufs Hinterteil geben, das ist) wieviel mal vorgekomm, <strong>der</strong> Hintern war zerfetzt, <strong>der</strong> Mann<br />

<strong>der</strong> / wimmerte nachher nur noch, mußte aber trotzdem am nächsten ((bebende Stimme)) Tag <strong>mit</strong><br />

raus arbeiten kriegt er ein Schild um den Hals <strong>ich</strong> habe Brot gestohlen" (156/30)<br />

Herr Sallmann ist von <strong>der</strong> Brutalität erschüttert, <strong>mit</strong> <strong>der</strong> auf Anordnung des<br />

Brigadiers, eines ehemaligen Oberfeldwebels, gegen den Beschuldigten vorgegangen<br />

wird. Er selbst bringt es n<strong>ich</strong>t fertig, den Kameraden <strong>zu</strong> mißhandeln,<br />

und betrachtet den Brigadier, <strong>der</strong> ihn da<strong>zu</strong> zwingen will, als „Schwein".<br />

134


Für ihn ist es unverständl<strong>ich</strong>, daß Deutsche <strong>mit</strong> Deutschen in dieser Weise umgehen,<br />

und er ist unglückl<strong>ich</strong> darüber, daß dadurch, wie auch durch das Spitzelwesen,<br />

die Kameradschaft zerstört wird.<br />

Ist Herr Sallmann zwar entsetzt über den Kameradendiebstahl, so beteiligt<br />

er s<strong>ich</strong> ansonsten an diversen und riskanten Diebstählen von Lebens<strong>mit</strong>teln<br />

bei <strong>der</strong> Lagerverwaltung. Man br<strong>ich</strong>t Tabus, ißt Abfalle und tut fest alles, um<br />

an irgendetwas Eßbares heran<strong>zu</strong>kommen. So ißt z.B. Herr Sallmann die Eingeweide<br />

eines erlegten Wolfes, den Kameraden für die Lagerverwaltung ausnehmen,<br />

obwohl vor <strong>der</strong> Verseuchung <strong>mit</strong> Tr<strong>ich</strong>inen gewarnt worden ist:<br />

„also da war schon <strong>der</strong> Punkt da daß man s<strong>ich</strong> sachte, wenn dann kannst du s auch n<strong>ich</strong>t <strong>mehr</strong><br />

än<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Punkt <strong>der</strong> is nachher auch noch öfters gekommen daß einem das nachher einfach nun<br />

egal war was aus einem wurde ne 44 (161 /12)<br />

In an<strong>der</strong>en Situationen siegt jedoch sein Überlebenswille. So erbettelt er s<strong>ich</strong><br />

z.B. einmal <strong>zu</strong>sammen <strong>mit</strong> einem an<strong>der</strong>en Gefangenen das Hundefutter, das eigentl<strong>ich</strong><br />

für die Wachhunde bestimmt ist. <strong>Als</strong> er jedoch merkt, daß es bereits<br />

verdorben ist, spuckt er alles wie<strong>der</strong> aus und rettet s<strong>ich</strong> da<strong>mit</strong> das Leben, während<br />

sein Kamerad ein paar Tage später an den Folgen einer Vergiftung stirbt.<br />

Herr Sallmann konzentriert s<strong>ich</strong> auf die Arbeit in <strong>der</strong> Schlosserei, die ihm<br />

die Gelegenheit gibt, s<strong>ich</strong> kreativ <strong>zu</strong> betätigen. Er kann an seine frühere Arbeit<br />

anknüpfen und seinen technischen Neigungen nachkommen, d.h. er findet<br />

einen w<strong>ich</strong>tigen Teil seiner Identität wie<strong>der</strong>. Neben <strong>der</strong> regulären Arbeit<br />

nutzt er die Zeit <strong>der</strong> unbeobachteten Augenblicke, um heiml<strong>ich</strong> Basteleien<br />

her<strong>zu</strong>stellen. Das Basteln ist in den Lagern ein verbreitetes Mittel, durch<br />

Tausch die Nahrungs<strong>mit</strong>telrationen auf<strong>zu</strong>bessern o<strong>der</strong> in den Besitz von Luxusgegenständen<br />

<strong>zu</strong> kommen.<br />

<strong>Als</strong> bedrückend empfindet Herr Sallmann, n<strong>ich</strong>t <strong>zu</strong> wissen, wann er wie<strong>der</strong><br />

heimkehren kann. Diese Ungewißheit mischt s<strong>ich</strong> <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Befürchtung, daß es<br />

s<strong>ich</strong> um ein „illegales" Lager handeln und er ohne Rechtsstatus <strong>der</strong> Willkür<br />

und Schikane <strong>der</strong> Lagerverwaltung ausgeliefert sein könnte. Dieser Zweifel<br />

legt s<strong>ich</strong> jedoch, als er im Sommer 1946 das erste Mal Nachr<strong>ich</strong>t von seiner<br />

Frau erhält. Er ist froh, wie<strong>der</strong> in Verbindung <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Heimat <strong>zu</strong> stehen und<br />

schreibt nun regelmäßig Postkarten. S<strong>ich</strong> <strong>der</strong> Zensur und des Spitzelwesens<br />

bewußt, stellt er s<strong>ich</strong> auf die politischen Verhältnisse ein:<br />

„das W<strong>ich</strong>tige war natürl<strong>ich</strong> man mußte immer schreiben es geht dir gut, nech <strong>ich</strong> hab auch das<br />

erste Mal was von <strong>der</strong> Einheits-partei gehört, da hab <strong>ich</strong> natürl<strong>ich</strong> <strong>ich</strong> hab m<strong>ich</strong> sofort umgestellt,<br />

wenn <strong>ich</strong> wußte daß, das merkt <strong>ich</strong> wenn <strong>ich</strong> ausgespitzelt wurde ne, <strong>ich</strong> hab den vor »de Wand<br />

laufen lassen <strong>ich</strong> hab Rußland in den rosigsten Farben da geprahlt 4 * (166/22)<br />

In diesem Sommer wird das Lager geräumt und die Gefangenen in ein Lager<br />

bei Syzran umgesiedelt, das d<strong>ich</strong>ter an <strong>der</strong> Wolga liegt. Die Baracken sind etwas<br />

besser, die Arbeit jedoch völlig neu. Herr Sallmann muß im Steinbruch<br />

arbeiten, wo asphalthaltiges Gestein gebrochen, zermahlen, <strong>mit</strong> Bitumen gemischt<br />

und <strong>zu</strong> großen Steinen eingeschmolzen wird.<br />

135


Obwohl Herr Sallmann s<strong>ich</strong> <strong>mit</strong> dieser harten Knochenarbeit n<strong>ich</strong>t identifizieren<br />

kann, gilt er im Lager als pfl<strong>ich</strong>tbewußter Arbeiter. <strong>Als</strong> er s<strong>ich</strong> einmal<br />

den Fuß verletzt, bekommt er <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Ärztin Schwierigkeiten, die glaubt, die<br />

Deutschen führten ihre Arbeitsunfähigkeit abs<strong>ich</strong>tl<strong>ich</strong> herbei. Sie verschreibt<br />

ihm daher ledigl<strong>ich</strong> Kompressen, und er muß trotz stärker werden<strong>der</strong> Schwellung<br />

weiterarbeiten. Erlöst, d.h. krankgeschrieben wird er bei einer Routineuntersuchung<br />

durch eine Kommission sowjetischer Arbeitsoffiziere, die die<br />

Arbeitsfähigkeit <strong>der</strong> Gefangenen feststellt, um sie gegebenenfalls einer an<strong>der</strong>en<br />

Brigade o<strong>der</strong> dem Krankenrevier <strong>zu</strong><strong>zu</strong>teilen:<br />

„nun stand <strong>ich</strong> davor, jetzt fragt die Ärztin den Brigadier was <strong>ich</strong> fürn Arbeiter wäre, da sachte<br />

<strong>der</strong> und das war auch wohl <strong>mit</strong> Recht ahm <strong>ich</strong> kann wohl sagen daß wir Wie<strong>der</strong>gutmachung im<br />

echten Sinne da gemacht habm, da sacht <strong>der</strong> das is mein bester Arbeiter" (175 /1)<br />

Hier zeigt s<strong>ich</strong> wie<strong>der</strong>um, daß Herr Sallmann die Gefangenschaft als persönl<strong>ich</strong>en<br />

Beitrag <strong>zu</strong> einer Wie<strong>der</strong>gutmachung ansieht. Auch wenn er die sowjetischen<br />

Funktionäre <strong>mit</strong> gewisser Verachtung betrachtet und das kommunistische<br />

System, das er in <strong>der</strong> Gefangenschaft unter Extrembedingungen kennenlernt,<br />

ablehnt, gelingt es ihm, einen Sinn in seiner Gefangenschaft <strong>zu</strong><br />

finden. Zwar verliert er oft den Willen <strong>zu</strong>m Durchhalten und den Glauben an<br />

eine Heimkehr, doch kann er heute die Tatsache, daß er die Arbeit und die harten<br />

Bedingungen ertragen hat, als eine Art Wie<strong>der</strong>gutmachung betrachten.<br />

Sein Leiden erscheint ihm angemessen, das Leiden, welches das deutsche<br />

Volk über an<strong>der</strong>e gebracht hat, auf<strong>zu</strong>wiegen. So fühlt er s<strong>ich</strong> n<strong>ich</strong>t gezwungen,<br />

s<strong>ich</strong> aktiv <strong>mit</strong> den NS-Verbrechen auseinan<strong>der</strong><strong>zu</strong>setzen.<br />

Die am weitesten verbreitete Krankheit in den <strong>Krieg</strong>sgefangenenlagern<br />

<strong>der</strong> Sowjetunion war die Dystrophie, eine Folge <strong>der</strong> Mängelernährung, die<br />

durch völlige Auszehrung, aufgedunsene Leiber und Apathie <strong>der</strong> Kranken<br />

gekennze<strong>ich</strong>net ist. Sie war die häufigste Todesursache <strong>der</strong> Gefangenen, weshalb<br />

<strong>der</strong> sowjetische Staat in regelmäßigen Abständen die schon oben erwähnten<br />

Untersuchungen durchfuhren ließ. Die Gefangenen wußten, daß Dystrophiker<br />

oft frühzeitig in die Heimat entlassen wurden. So <strong>kam</strong> es häufig vor,<br />

daß Gefangene versuchten, ihre Heimkehr über das Krankenrevier durch gezieltes<br />

Hungern o<strong>der</strong> übermäßige Flüssigkeitsaufnahme <strong>zu</strong> erre<strong>ich</strong>en. In vielen<br />

Fällen starben sie daran o<strong>der</strong> wurden wegen „Sabotage am eigenen Körper<br />

44 <strong>zu</strong> <strong>mehr</strong>eren Jahren Zwangsarbeit verurteilt (vgl. Fleischhacker 1965:<br />

407 ff).<br />

Herr Sallmann erzählt, selbst oft wegen „Wasser 44<br />

(Dystrophie) im Krankenrevier<br />

gelegen <strong>zu</strong> haben. Nach seinem Ber<strong>ich</strong>t ist das willentl<strong>ich</strong>e Herbeifuhren<br />

von Dystrophie Ausdruck von Apathie und eher <strong>mit</strong> einer Lebensmüdigkeit<br />

als <strong>mit</strong> dem Fernziel <strong>der</strong> Heimkehr verbunden:<br />

„das Wasser das ging natürl<strong>ich</strong> dann immer höher ne, und da sind die meisten dran gestorben,<br />

und viele habm noch nachgeholfen, es wurde da auch da bin <strong>ich</strong> auch bei gewesen, beim sogenannten<br />

Salzkommando da wurde in η För<strong>der</strong>band Salz in Waggons geladen ... und dann brachten<br />

136


viele noch s<strong>ich</strong> son Säckchen Salz s<strong>ich</strong> <strong>mit</strong> und ins Lager, und das bißchen Brot was wir nun kriegten<br />

das wurde denn da noch versalzen und je <strong>mehr</strong> Wasser äh bildete s<strong>ich</strong> ne, dann steigt das Wasser<br />

<strong>zu</strong>m Herzen und dann is Feierabend is aber η ganz schöner Tod, angebl<strong>ich</strong> ne" (176/29)<br />

3.1.10 Heimkehr<br />

Anfang 1948 wird Herr Sallmann wegen Tuberkulose aus sowjetischer Gefangenschaft<br />

entlassen. Das Gefühl, das am Ende seiner Leidenszeit <strong>zu</strong>rückbleibt,<br />

ist ein tiefes Unverständnis gegenüber dem Staat, dessen Macht er drei<br />

Jahre lang unterworfen gewesen und dessen Handeln für ihn während dieser<br />

Zeit in keinster Weise nachvollziehbar o<strong>der</strong> eins<strong>ich</strong>tig geworden ist. Noch den<br />

letzten politischen Vortrag am Ende des Heimtransports empfindet er als Schikane,<br />

und das Unterschreiben einer Resolution, in <strong>der</strong> Josef Stalin für die<br />

„gute Betreuung* 4<br />

in <strong>der</strong> Gefangenschaft gedankt wird, steht für ihn als Sinnbild<br />

des Paradox des sowjetischen Staates.<br />

Obwohl Herrn Sallmanns einziger Wunsch ist, nach Hause <strong>zu</strong> kommen, läßt<br />

er s<strong>ich</strong> im Übergangslager <strong>zu</strong> einer Untersuchung überreden. Erst hier wird<br />

er über seine Krankheit aufgeklärt und in ein Krankenhaus überwiesen.<br />

Nach drei Jahren kann er s<strong>ich</strong> s<strong>ich</strong> <strong>zu</strong>m ersten Mal satt essen. Die Angst vor<br />

dem Hunger ist jedoch n<strong>ich</strong>t so le<strong>ich</strong>t <strong>zu</strong> überwinden:<br />

„dann <strong>hatte</strong>n die Frauen äh / Brot gesammelt ne, trockenes Brot (1) hat <strong>ich</strong> ne Schublade, hab<br />

<strong>ich</strong> das ganze Brot da rein gemacht, und wenn <strong>ich</strong> da jetzt da gegessen <strong>hatte</strong> hatt <strong>ich</strong> nun mein<br />

Kochgeschirr <strong>mit</strong> da, dann hab <strong>ich</strong> das noch wie<strong>der</strong> gegessen, und wenn <strong>ich</strong> das weg <strong>hatte</strong>, dann<br />

fing <strong>ich</strong> schon wie<strong>der</strong> <strong>mit</strong> Brot an ((weinerl<strong>ich</strong>e Stimme))" (198/25)<br />

Erst langsam und durch das Verständnis des Personals und des Arztes gelingt<br />

es ihm, das Gefühl des Hungers <strong>zu</strong> überwinden und s<strong>ich</strong> körperl<strong>ich</strong> <strong>zu</strong> erholen.<br />

Stärker jedoch als alles an<strong>der</strong>e belasten ihn auch heute noch die psychischen<br />

Auswirkungen <strong>der</strong> Gefangenschaft, die Angst, verfolgt <strong>zu</strong> werden und wie<strong>der</strong><br />

<strong>zu</strong>rück in „den Osten** <strong>zu</strong> müssen. Mit großer Emphase schil<strong>der</strong>t er diese Gefühle<br />

und ver<strong>mit</strong>telt dem Zuhörer das Bild eines in gewisser Weise gebrochenen<br />

Menschen. Da er <strong>mit</strong> diesen Ausführungen die Gesch<strong>ich</strong>te <strong>der</strong> Gefangenschaft,<br />

o<strong>der</strong> besser: die Gesch<strong>ich</strong>te seines <strong>Krieg</strong>serlebens, als beendet betrachtet,<br />

sollen sie hier in ganzer Länge zitiert werden:<br />

„nur jetzt nochmal das Seelische dabei, <strong>ich</strong> <strong>hatte</strong> ein todunglückl<strong>ich</strong>- unglückl<strong>ich</strong>es Gefühl das<br />

war nun ein ehemaliges Hotel wo <strong>ich</strong> da nun wohnte, und jetzt hörte <strong>ich</strong> schon wie<strong>der</strong> η bißchen<br />

weiter vier Kilometer da is die Grenze ne, ,hab <strong>ich</strong> die ersten Nächte n<strong>ich</strong> geschlafen' <strong>ich</strong> stand<br />

nur immer aufn / Sprung (3) n<strong>ich</strong> morgen früh sind die wie<strong>der</strong> da ((Schluchzen)) (verrückt isses)<br />

(4) und da sitzt du wie<strong>der</strong>, da drüben ne, im Osten ne, wie es auch verschiedenen ergangen is, die<br />

sind bis Frankfurt gekommen und wie<strong>der</strong> verfrachtet nach da ne ja, un <strong>ich</strong> <strong>hatte</strong> mir vorgenommen,<br />

wenn du jetzt nach Hause kommst ((schnieft)) da schließt du d<strong>ich</strong> ein, willst n<strong>ich</strong>ts <strong>mehr</strong><br />

sehn und n<strong>ich</strong>ts <strong>mehr</strong> hören, nech man <strong>hatte</strong> jetzt immer das Gefühl (1) durch irgendeinen Umstand,<br />

sitzt du da plötzl<strong>ich</strong> wie<strong>der</strong> ne, man konnte das ja gar n<strong>ich</strong> begreifen überhaupt daß man<br />

nach Hause hin<strong>kam</strong> ne, so schön wie das ganze war ne, aber das war so ein Μißtrauensgefühl, daß<br />

man da einräch n<strong>ich</strong> bei froh wurde" (199/ U)<br />

137


Dieses Mißtrauensgefühl und die traumatischen Erfahrungen <strong>der</strong> Gefangenschan<br />

gehen Herrn Sallmann nie ganz verloren. Jahrelang wird er in <strong>der</strong><br />

Nacht von Träumen heimgesucht, in denen er s<strong>ich</strong> wie<strong>der</strong> in Gefangenschaft<br />

befindet, <strong>zu</strong> fliehen versucht und die Angst vor Verfolgung durchsteht. Bis<br />

heute träumt er — wenn auch nur noch selten — von diesen Fluchtgesch<strong>ich</strong>ten.<br />

Nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus zieht Herr Sallmann <strong>zu</strong>nächst<br />

<strong>zu</strong> seinen Schwiegereltern, bei denen Frau und Kind leben. Er muß die<br />

schmerzl<strong>ich</strong>e Erfahrung machen, daß er fur die <strong>mit</strong>tlerweile vierjährige Tochter<br />

ein unerwünschter Frem<strong>der</strong> geworden ist. Sie reagiert <strong>mit</strong> offener Ablehnung<br />

und Eifersucht auf ihn und zerkratzt ihm sogar einmal das Ges<strong>ich</strong>t. Erst<br />

im Laufe <strong>der</strong> Zeit, in <strong>der</strong> er s<strong>ich</strong> geduldig um die Liebe <strong>der</strong> Tochter bemüht,<br />

gewöhnt sie s<strong>ich</strong> allmähl<strong>ich</strong> an die Anwesenheit ihres Vaters.<br />

Während Herrn Sallmann noch immer die Angst im Nacken sitzt, von seiner<br />

Familie getrennt <strong>zu</strong> werden, leidet er auch unter <strong>der</strong> beengten Wohnsituation.<br />

Da überall Flüchtlinge untergebracht sind, dauert es lange, bis er eine eigene<br />

Wohnung findet und s<strong>ich</strong> für die Familie etwas Erle<strong>ich</strong>terung einstellt.<br />

Auf dem Wohnungsamt, wo die Stelle des Amtsdirektors durch einen ehemaligen<br />

Verfolgten des NS neu besetzt ist, kollidiert Herr Sallmann <strong>zu</strong>m ersten<br />

Mal <strong>mit</strong> den neuen politischen Verhältnissen im Nachkriegsdeutschland.<br />

In <strong>der</strong> Vorstellung, als gedienter Soldat für sein Leiden in <strong>Krieg</strong> und Gefangenschaft<br />

Ehrerbietung erfahren <strong>zu</strong> dürfen, erlebt er hier Ablehnung und Provokation.<br />

Der Amtsdirektor, <strong>der</strong> seinen Haß auf ehemalige Nationalsozialisten<br />

äußert, hält Herrn Sallmann vor, bei <strong>der</strong> Wehrmacht s<strong>ich</strong>erl<strong>ich</strong> „gute und<br />

schöne Tage verlebt 44<br />

<strong>zu</strong> haben. Darüber gerät Herr Sallmann in große Empörung<br />

und weist den Amtsdirektor auf die Feldzüge hin, die er <strong>mit</strong>gemacht<br />

habe, und daß er „<strong>mit</strong> drei Jahren <strong>Krieg</strong>sgefangenschaft bestraft worden 44<br />

sei.<br />

S<strong>ich</strong>tl<strong>ich</strong> erregt ber<strong>ich</strong>tet er von den Gedanken, die ihm damals durch den<br />

Kopf gingen:<br />

„<strong>ich</strong> war jetzt am Überlegen, hauste ihm was drüber <strong>ich</strong> war so <strong>der</strong>maßen in Rage, o<strong>der</strong> was<br />

machst du, jetzt wüßt <strong>ich</strong> die Polizei <strong>hatte</strong> er im Amtsgebäude, <strong>ich</strong> wäre dann sowieso unten durch<br />

gewesen, dann hab <strong>ich</strong> ihm aber dann sofort gesagt sag das eine will <strong>ich</strong> Ihnen sagen, wenn (1) s<strong>ich</strong><br />

hier mal das Blatt drehen sollte ne, was man ja n<strong>ich</strong> wissen kann, sag dann werde <strong>ich</strong> dafür sorgen<br />

daß Sie die guten und schönen läge auch verleben die <strong>ich</strong> verlebt habe" (216/28)<br />

Herr Sallmann ist so erbost über das Verhalten des Amtsdirektors, daß es ihm<br />

unmögl<strong>ich</strong> ist, s<strong>ich</strong> in die Perspektive des ehemals Verfolgten hinein<strong>zu</strong>versetzen.<br />

Er fühlt s<strong>ich</strong> in seinem eigenen Leidensweg, <strong>der</strong> für ihn in einem Trauma<br />

endete, persönl<strong>ich</strong> angegriffen. Durch die Gefangenschaft ist seine Identifikation<br />

<strong>mit</strong> dem Soldatsein für Deutschland nur zementiert worden, und so bleibt<br />

er auch <strong>der</strong> Logik des Nationalsozialismus verhaftet, indem er — <strong>zu</strong>mindest in<br />

<strong>der</strong> Phantasie — auf den Tkg eines Machtwechsels hofft, bei dem solche Leute<br />

wie <strong>der</strong> Amtsdirektor das „Sagen 44<br />

verlieren würden und da<strong>mit</strong> einhergehend<br />

Leute wie er wie<strong>der</strong> die ihnen <strong>zu</strong>kommenden Ehrungen erhielten.<br />

138


Berufl<strong>ich</strong> gelingt es Herrn Sallmann, an seine Tätigkeit bei <strong>der</strong> Wehrmacht<br />

an<strong>zu</strong>knüpfen, als er eine Stelle in <strong>der</strong> Kfz-Branche findet. Die Soldatenzeit<br />

bleibt für ihn <strong>der</strong> w<strong>ich</strong>tigste Abschnitt seines Lebens. Bis heute hat er außer<br />

seinen Fotoalben alle Dokumente aufgehoben. Sein Kochgeschirr, das er s<strong>ich</strong><br />

ins Badezimmer gestellt hat, mahnt ihn noch fast tägl<strong>ich</strong> an den Hunger in <strong>der</strong><br />

Gefangenschaft. Noch immer besucht er die Regimentstreffen, trifft dort alte<br />

Kameraden und steht auch noch in Kontakt <strong>mit</strong> einigen ehemaligen Mitgefangenen.<br />

Beson<strong>der</strong>s interessiert er s<strong>ich</strong> für die Gesch<strong>ich</strong>te seiner Division wie<br />

auch für die deutsche <strong>Krieg</strong>spolitik allgemein. Seiner Meinung nach hätten<br />

die an<strong>der</strong>en Län<strong>der</strong> erkennen müssen, daß <strong>Hitler</strong>s Aufrüstung auf einen Weltkrieg<br />

<strong>zu</strong>steuerte.<br />

3.1.11 Reparaturstrategie: Die Verd<strong>ich</strong>tung des Nationalsozialismus auf die<br />

entpolitisierten <strong>Krieg</strong>sjahre<br />

Fritz Sallmanns Auseinan<strong>der</strong>set<strong>zu</strong>ng <strong>mit</strong> seiner Vergangenheit im „Dritten<br />

Re<strong>ich</strong>" konzentriert s<strong>ich</strong> auf den Zweiten Weltkrieg; an<strong>der</strong>e Dimensionen,<br />

vor allem <strong>der</strong> nationalsozialistische Völkermord und die Zeit vor seinem Soldatsein<br />

bleiben dabei ausgeklammert.<br />

Die Beschränkung auf den <strong>Krieg</strong> bedeutet eine Verengung <strong>der</strong> Perspektive,<br />

<strong>mit</strong> <strong>der</strong> er sein Leben während des „Dritten Re<strong>ich</strong>s" betrachtet. Es ist die Perspektive<br />

eines Soldaten, <strong>der</strong> für eine Sache gekämpft und gelitten hat, die<br />

heute keinen Fortbestand <strong>mehr</strong> hat, <strong>der</strong> sein Leid im Nachkriegsdeutschland<br />

und später in <strong>der</strong> Bundesrepublik n<strong>ich</strong>t genügend beachtet findet.<br />

<strong>Als</strong> Angehöriger <strong>der</strong> kämpfenden Truppe, <strong>der</strong> ab 1936 „<strong>mit</strong> Adolf <strong>Hitler</strong><br />

n<strong>ich</strong>ts <strong>mehr</strong> <strong>zu</strong> tun gehabt" <strong>zu</strong> haben meint, weist er eine Verstrickung in die<br />

NS-Verbrechen <strong>zu</strong>rück; er meint, s<strong>ich</strong> selber freisprechen <strong>zu</strong> können:<br />

„wir warn kämpfende Truppe, wir habm n<strong>ich</strong> ein Ding <strong>mit</strong>gemacht wie das hier heut<strong>zu</strong>tage ja<br />

immer gesacht wird, was alles n<strong>ich</strong> äh Warschauer Gettoaufstand und so weiter, wir habm <strong>mit</strong> Juden<br />

absolut n<strong>ich</strong>ts <strong>zu</strong> tun gehabt, gar n<strong>ich</strong>ts, das is kann <strong>ich</strong> ganz offen und ehrl<strong>ich</strong> sagen, un <strong>ich</strong><br />

hab das alles auch erst später äh äh <strong>mit</strong>gekriegt äh erfahren ne, äh da kann <strong>ich</strong> m<strong>ich</strong> jedenfalls voll<br />

ganz freisprechen" (169/5)<br />

Überzeugt von seiner Unschuld und Integrität als Soldat, hat Herr Sallmann<br />

auch heute kein schlechtes Gewissen. <strong>Als</strong> Soldat habe er s<strong>ich</strong> n<strong>ich</strong>ts <strong>zu</strong>schulden<br />

kommen lassen, und er beteuert, während des ganzen <strong>Krieg</strong>es nie auf jemanden<br />

geschossen <strong>zu</strong> haben. Die einzige Ausnahme, fugt er hin<strong>zu</strong>, sei vielle<strong>ich</strong>t<br />

die von Panik geleitete Kesselschlacht bei Shlobin gewesen, doch wenn<br />

er in dieser Situation versehentl<strong>ich</strong> jemanden getroffen haben sollte, so würde<br />

es ihm heute noch leid tun. Die Frage nach <strong>der</strong> kollektiven Haftung <strong>der</strong> Deutschen<br />

stellt s<strong>ich</strong> für ihn wegen seiner in <strong>der</strong> Gefangenschaft geleisteten „ehrl<strong>ich</strong>en"<br />

Wie<strong>der</strong>gutmachung n<strong>ich</strong>t weiter.<br />

Obwohl er meint, ein gutes Gewissen hins<strong>ich</strong>tl<strong>ich</strong> seiner eigenen Handlungen<br />

haben <strong>zu</strong> können, kann er kaum Empathie für die Menschen aufbringen,<br />

139


die von an<strong>der</strong>en Deutschen ermordet worden sind. Ihm, dem als ehemaligen<br />

Soldaten so wenig Respekt und Aufmerksamkeit entgegengebracht wird, ist<br />

die Beachtung unverständl<strong>ich</strong>, die man den Opfern des NS in den Massenmedien<br />

zollt. Er begehrt auf, wenn er daran denkt, wie unberücks<strong>ich</strong>tigt das<br />

Schicksal <strong>der</strong> nach dem <strong>Krieg</strong> unter <strong>der</strong> sowjetischen Besat<strong>zu</strong>ngsmacht leidenden<br />

Bevölkerung bleibt:<br />

„n Judenfilm sehn wir ja fast jeden Tag und über dieses und jenes aber was man da nun auf <strong>der</strong><br />

annern Seite erlebt hat, n<strong>ich</strong> wie s<strong>ich</strong> <strong>der</strong> Russe nun aufgespielt hat und wie wir <strong>zu</strong>sehen mußten<br />

daß deutsche Mädchen - (9) ((Weinen)) 44 (82/13)<br />

Insgesamt können wir also festhalten, daß Herr Sallmann die NS-<br />

Vergangenheit hauptsächl<strong>ich</strong> unter dem Blickwinkel des Zweiten Weltkrieges<br />

betrachtet. Wie bei <strong>der</strong> Diskussion seiner Lebensgesch<strong>ich</strong>te deutl<strong>ich</strong> geworden<br />

ist, trennt er sein Leben in die Phase seiner politischen Vergangenheit vor<br />

dem Ein<strong>zu</strong>g <strong>zu</strong>m Re<strong>ich</strong>sarbeitsdienst und seiner unpolitischen Phase als Soldat.<br />

Indem er seine Soldatenzeit entpolitisiert, den <strong>Krieg</strong> und sein eigenes<br />

Handeln als Soldat aus dem politischen und gesellschaftl<strong>ich</strong>en Kontext des NS<br />

herauslöst, gelingt es ihm, das „Dritte Re<strong>ich</strong> 44<br />

<strong>mit</strong> seinen Verbrechen <strong>zu</strong> normalisieren.<br />

M.a.W., bei Herrn Sallmanns S<strong>ich</strong>t <strong>der</strong> Vergangenheit herrscht die<br />

Reparaturstrategie <strong>der</strong> „Verd<strong>ich</strong>tung des NS auf die entpolitisierten <strong>Krieg</strong>sjahre"<br />

vor. Die politische Zeit vor dem RAD, die durch diese Trennung als<br />

rechtfertigungsbedürftig bestehen bleibt, wird von ihm in ihrer Bedeutung<br />

heruntergespielt. Zum einen versucht er, sie aus seiner Lebensgesch<strong>ich</strong>te aus<strong>zu</strong>blenden,<br />

indem er so wenig und so vage wie mögl<strong>ich</strong> darüber ber<strong>ich</strong>tet.<br />

Zum an<strong>der</strong>en macht er s<strong>ich</strong> für diese Lebensphase die typischen Argumente<br />

jüngerer Jahrgänge, <strong>der</strong> Angehörigen <strong>der</strong> <strong>Hitler</strong>jugend-Generation, <strong>zu</strong> eigen.<br />

Er spr<strong>ich</strong>t vom „Mißbrauch <strong>der</strong> Jugend 44<br />

und schiebt die Verantwortung <strong>der</strong><br />

„älteren Generation 44<br />

und den Politikern <strong>der</strong> Weimarer Republik <strong>zu</strong>. Zwar gehört<br />

er <strong>zu</strong> <strong>der</strong> den NS tragenden Generation, <strong>zu</strong> den Jahrgängen, die die Politik<br />

des „Dritten Re<strong>ich</strong>s 44<br />

hauptsächl<strong>ich</strong> <strong>zu</strong> verantworten haben, doch es gelingt<br />

ihm <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Trennung <strong>der</strong> Zeit zwischen „vor 44 und „nach 44 1936, sein politisches<br />

Engagement für den NS im L<strong>ich</strong>te jugendl<strong>ich</strong>er Unmündigkeit erscheinen<br />

<strong>zu</strong> lassen. Für ihn stellt das Jahr 1936, als er bereits 21 Jahre alt war, einen<br />

Wendepunkt dar, <strong>der</strong> vergle<strong>ich</strong>bar ist <strong>mit</strong> dem Wendepunkt 1945 für Angehörige<br />

<strong>der</strong> HJ-Generation. Inwiefern korrespondiert nun dieser aus <strong>der</strong> Gegenwartsperspektive<br />

<strong>zu</strong>r Normalisierung <strong>der</strong> NS-Vergangenheit konstruierte<br />

Wendepunkt <strong>mit</strong> einem damaligen Wendepunkt in seiner Biographie?<br />

In den ersten Jahren des „Dritten Re<strong>ich</strong>s 44 , d.h. bis <strong>zu</strong> dem heute für ihn so<br />

w<strong>ich</strong>tigen Zeitpunkt 1936, hat die NS-Jugendorganisation für Herrn Sallmann<br />

eine w<strong>ich</strong>tige Rolle gespielt, die er jedoch völlig bagatellisiert. Er hat die <strong>Hitler</strong>jugend<br />

n<strong>ich</strong>t als Kind erlebt, son<strong>der</strong>n als Jugendl<strong>ich</strong>er in einer Führungsposition.<br />

Sie war für ihn, dem ein Halt in <strong>der</strong> Herkunftsfamilie fehlte, eine Art<br />

Familienersatz. Damals dürfte Herr Sallmann seinen Ein<strong>zu</strong>g <strong>zu</strong>m RAD und<br />

140


ein Jahr später <strong>zu</strong>r Wehrmacht auch entsprechend <strong>der</strong> propagierten politischen<br />

Bedeutung, <strong>der</strong> für einen Nationalsozialisten notwendigen Vollendung<br />

<strong>zu</strong>m Mann, betrachtet haben. Weil er Soldat werden wollte, lehnte er einen<br />

USA-Aufenthalt ab. Eine an<strong>der</strong>e Entscheidung, die ihm seine politische Einstellung<br />

damals verbot, hätte ihm viel Leid erspart. Daher kann er s<strong>ich</strong> seine<br />

eigene Verantwortung für diese Entscheidung heute n<strong>ich</strong>t <strong>mehr</strong> eingestehen<br />

und führt sie allein auf die damals wie<strong>der</strong>eingeführte Wehrpfl<strong>ich</strong>t <strong>zu</strong>rück.<br />

Noch weit <strong>mehr</strong> als die HJ wurde das Militär für ihn <strong>zu</strong> einer Art Familie<br />

und <strong>zu</strong>m zentralen Lebensinhalt. Es gelang ihm auf<strong>zu</strong>steigen; er schlug eine<br />

technische Laufbahn ein, die sein soldatisches Selbst Verständnis maßgebl<strong>ich</strong><br />

bestimmte. Vermutl<strong>ich</strong> trat diese berufl<strong>ich</strong>e Laufbahn bei <strong>der</strong> Wehrmacht <strong>mit</strong><br />

den Jahren <strong>zu</strong>nehmend in den Vor<strong>der</strong>grund, und die vormalige Identifikation<br />

<strong>mit</strong> nationalsozialistischen Idealen bzw. einer NS-Organisation wurde <strong>zu</strong>nehmend<br />

unw<strong>ich</strong>tig. Diesen allmähl<strong>ich</strong>en Prozeß, in dem sein politisches Engagement<br />

immer <strong>mehr</strong> in den Hintergrund trat, versucht er heute temporal im<br />

Jahre 1936 <strong>zu</strong> verorten. Ohne daß er s<strong>ich</strong> also jemals bewußt vom NS distanziert<br />

hätte, kann er s<strong>ich</strong> selbst glauben machen, n<strong>ich</strong>ts da<strong>mit</strong> <strong>zu</strong> tun gehabt <strong>zu</strong><br />

haben und da<strong>mit</strong> auch keine politische Verantwortung für die Jahre des „Dritten<br />

Re<strong>ich</strong>es" <strong>zu</strong> tragen. Die Vorstellung, auch <strong>mit</strong> <strong>der</strong> nationalsozialistischen<br />

<strong>Krieg</strong>spolitik n<strong>ich</strong>ts gemein <strong>zu</strong> haben, kann er u.a. durch seine persönl<strong>ich</strong>e<br />

Kapitulation, die vor dem Zeitpunkt <strong>der</strong> offiziellen deutschen Kapitulation<br />

lag, aufrechterhalten. Für ihn gewann danach das Familienleben an Bedeutung,<br />

und er identifizierte s<strong>ich</strong> n<strong>ich</strong>t <strong>mit</strong> dem von den Nationalsozialisten propagierten<br />

Ziel eines deutschen Endsiegs um jeden Preis. Gegen Ende des<br />

<strong>Krieg</strong>es war Herrn Sallmanns Verhältnis <strong>zu</strong>m Nationalsozialismus s<strong>ich</strong>er<br />

längst kein engagiertes <strong>mehr</strong>, son<strong>der</strong>n ein <strong>mehr</strong> o<strong>der</strong> weniger indifferentes.<br />

Die wesentl<strong>ich</strong>en biographischen Bedingungen für eine weitere Verfestigung<br />

seiner Identifikation <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Soldatenrolle, die mangelnde Reflexion <strong>der</strong> deutschen<br />

<strong>Krieg</strong>sführung und die Unfähigkeit <strong>zu</strong>r Empathie für die Opfer des NS<br />

waren die lebenslang traumatisierenden Erfahrungen während <strong>der</strong> Gefangenschaft.<br />

Mit <strong>der</strong> Deutung, durch die <strong>Krieg</strong>sgefangenschaft für die Vergangenheit<br />

genügend bestraft worden <strong>zu</strong> sein, kann er s<strong>ich</strong> selbst beruhigen und s<strong>ich</strong><br />

weiterem Nachdenken entziehen.<br />

141


Gabriele<br />

Rosenthal<br />

3.2 Oskar Vogel: Teilnehmer des Ersten und Zweiten Weltkrieges<br />

3.2.1 Gespräch <strong>mit</strong> einem Vertriebenen ohne Zukunft<br />

Oskar Vogel, <strong>der</strong> 1899 in Nie<strong>der</strong>schlesien geboren wurde, gehört <strong>zu</strong> <strong>der</strong> Generation<br />

von Soldaten, die schon im Ersten Weltkrieg gekämpft <strong>hatte</strong> und auch<br />

im Zweiten Weltkrieg wie<strong>der</strong> eingezogen wurde. Seine Lebensgesch<strong>ich</strong>te ermögl<strong>ich</strong>t<br />

es, <strong>der</strong> Frage nach<strong>zu</strong>gehen, inwiefern s<strong>ich</strong> die biographischen Thematisierungen<br />

<strong>der</strong> beiden Weltkriege unterscheiden.<br />

Herr Vogel lag <strong>zu</strong>r Zeit unseres Gesprächs, im Oktober 1986, seit einem<br />

Jahr wegen eines Knochenbruches in Pa<strong>der</strong>born im Krankenhaus auf <strong>der</strong> Unfallstation.<br />

Der Konktakt <strong>mit</strong> ihm <strong>kam</strong> über den Stationsarzt <strong>zu</strong>stande, <strong>der</strong> von<br />

unserer Untersuchung wußte und dem Herr Vogel immer wie<strong>der</strong> von seinen<br />

Erlebnissen während des Ersten Weltkrieges erzählt <strong>hatte</strong>. Telefonisch vereinbarte<br />

<strong>ich</strong> einen Termin <strong>mit</strong> Herrn Vogel und besuchte ihn eines Nach<strong>mit</strong>tags<br />

gemeinsam <strong>mit</strong> einer Studentin. Unser Gespräch dauerte 2 1/ 2 Stunden.<br />

Zunächst sprach <strong>ich</strong> <strong>mit</strong> Herrn Vogel über seine <strong>der</strong>zeitige Situation. Er erzählte,<br />

er solle eine Woche später entlassen werden. Er litt unter Schmerzen<br />

und wünschte s<strong>ich</strong> deshalb den Tod; an<strong>der</strong>erseits sehnte er s<strong>ich</strong> danach, das<br />

Leben noch etwas genießen <strong>zu</strong> können. Das Thema des bevorstehenden Todes<br />

zog s<strong>ich</strong> latent durch das gesamte Gespräch. Die Analyse dieses Gesprächs<br />

verdeutl<strong>ich</strong>te, daß seine Erlebnisse aus dem 1. Weltkrieg, die Furcht vor dem<br />

ständig drohenden Tod in diesem unerbittl<strong>ich</strong>en Stellungskrieg, durch die Gegenwart<br />

seines <strong>zu</strong> erwartenden Todes wie<strong>der</strong> stärker aus <strong>der</strong> Erinnerung auftauchte.<br />

Meine Gesprächsfuhrung war verhältnismäßig direktiv; <strong>ich</strong> stellte schon<br />

während <strong>der</strong> Eingangserzählung einige Detaillierungsfragen. Dies war meinem<br />

Eindruck geschuldet, daß es einiger Anstöße bedürfte, diesen alten, gebrechl<strong>ich</strong>en<br />

und vor allem traurigen 87jährigen Mann in einem interaktiven<br />

Prozeß <strong>zu</strong> „halten". Immer wie<strong>der</strong> verlor er s<strong>ich</strong> in seinen Erinnerungen, hing<br />

diesen nach und schien seine Zuhörer dabei <strong>zu</strong> vergessen. Ich möchte da<strong>mit</strong><br />

jedoch keineswegs den Eindruck erwecken, daß Herr Vogel n<strong>ich</strong>t <strong>mehr</strong> <strong>zu</strong> einer<br />

biographischen Großerzählung in <strong>der</strong> Lage war. Trotz meiner eingeschobenen<br />

Detaillierungsfragen erzählte er entsprechend seines Relevanzsystems<br />

entlang <strong>der</strong> Chronologie seiner biographischen Erfahrungen und Erlebnisse.<br />

Auch wenn aufgrund seiner Sprechschwierigkeiten manche Erzählungen akustisch<br />

n<strong>ich</strong>t le<strong>ich</strong>t <strong>zu</strong> verstehen sind, sind sie doch klar strukturiert.<br />

Wir beendeten das Gespräch, bevor wir alle noch offenen Fragen gestellt<br />

<strong>hatte</strong>n, da das Sprechen Herrn Vogel <strong>zu</strong> sehr anstrengte. Er <strong>hatte</strong> die Nacht <strong>zu</strong>vor<br />

kaum geschlafen und hustete <strong>zu</strong>nehmend.<br />

142


Beim Abschied meinte Herr Vogel <strong>zu</strong> uns: „Denkt daran, w<strong>ich</strong>tig ist, daß<br />

ihr gesund bleibt, alles an<strong>der</strong>e ist unw<strong>ich</strong>tig". Man könnte diesen Rat als<br />

Motto fur seine Gegenwart nehmen. In <strong>der</strong> Gegenwart eines beschädigten Leibes,<br />

<strong>der</strong> s<strong>ich</strong> durch die ständigen Schmerzen aus dem Horizont des Fraglosen<br />

als Störung des Alltagslebens abhebt, ist die Gesundheit kostbarstes Gut.<br />

Herr Vogel <strong>kam</strong> nach seiner Krankenhausentlassung n<strong>ich</strong>t <strong>mehr</strong>, wie er gehofft<br />

<strong>hatte</strong>, nach Hause, son<strong>der</strong>n wurde von seiner Tochter in ein Pflegeheim<br />

eingewiesen. Um ein weiteres Gespräch <strong>mit</strong> Herrn Vogel fuhren <strong>zu</strong> können,<br />

setzte <strong>ich</strong> m<strong>ich</strong> <strong>mit</strong> seiner Tochter in Verbindung. Sie lehnte meinen Wünsch<br />

<strong>mit</strong> <strong>der</strong> Begründung ab, ihren Vater würde dies <strong>zu</strong> sehr aufregen. Dafür war<br />

sie bereit, mir noch einige Fragen <strong>zu</strong>m Leben ihres Vaters <strong>zu</strong> beantworten,<br />

wehrte s<strong>ich</strong> jedoch entschieden gegen eine Tonbandaufnahme des Gesprächs.<br />

Sie und ihr Ehemann empfingen m<strong>ich</strong> circa ein Jahr nach dem Interview <strong>mit</strong><br />

Herrn Vogel bei s<strong>ich</strong> <strong>zu</strong> Hause.<br />

Den Vater schil<strong>der</strong>t die Tochter als sturen, dickköpfigen Menschen, <strong>der</strong> ein<br />

autoritär herrschen<strong>der</strong> Familienvater gewesen sei — ein Bild, das von ihrem<br />

Ehemann geteilt wird. Indirekt klagt sie den Vater wegen seiner erfolglosen<br />

berufl<strong>ich</strong>en Karriere nach <strong>der</strong> Vertreibung an. Sie schreibt dies seiner Dickköpfigkeit<br />

<strong>zu</strong>, denn er habe <strong>mehr</strong>mals die Mögl<strong>ich</strong>keit gehabt, <strong>mit</strong> Hilfe staatl<strong>ich</strong>er<br />

Unterstüt<strong>zu</strong>ng und günstiger Kredite s<strong>ich</strong> wie<strong>der</strong> selbständig <strong>zu</strong> machen,<br />

doch habe er nie die Bedingungen aktzeptiert. Lassen wir diese Deutung<br />

dahingestellt. Wesentl<strong>ich</strong> für die Fallanalyse ist die Information, daß <strong>der</strong><br />

in Schlesien erfolgre<strong>ich</strong>e Kleinunternehmer Oskar Vogel s<strong>ich</strong> im Westen nur<br />

noch als einfacher Arbeiter verdingte.<br />

Wie beiläufig erwähnt <strong>der</strong> anwesende Schwiegersohn, daß Herr Vogel am<br />

Vortage verstorben ist.<br />

Die Lebensgesch<strong>ich</strong>te Herrn Vogels kann als die Gesch<strong>ich</strong>te eines Sterbenden<br />

gelesen werden, <strong>der</strong> Abschied von seinem Leben nimmt, seinen Lebensweg<br />

bilanziert und <strong>der</strong> von keinen biographischen Zukunftsentwürfen <strong>mehr</strong><br />

ber<strong>ich</strong>tet. Neben diesen Strukturmerkmalen einer „Sterbegesch<strong>ich</strong>te" repräsentiert<br />

die biographische Erzählung Herrn Vogels jedoch auch die Gesch<strong>ich</strong>te<br />

eines Menschen, <strong>der</strong> bereits seit seiner Vertreibung im Jahre 1946<br />

überwiegend in Gedanken an seine Vergangenheit lebt, d.h. seine Zukunft<br />

n<strong>ich</strong>t erst als Sterben<strong>der</strong> verloren hat.<br />

3.2.2 Kindheit und Jugend: entbehrungsre<strong>ich</strong> und nostalgisch verklärt<br />

Oskar Vogel wurde im Juni 1899 als zweiter Sohn nie<strong>der</strong>schlesischer Kleinbauern<br />

in <strong>der</strong> Nähe von Breslau geboren. Er wuchs <strong>mit</strong> fünf Geschwistern<br />

auf, zwei Brü<strong>der</strong>n und drei Schwestern.<br />

<strong>Als</strong> er 15 Jahre alt war, begann <strong>der</strong> Erste Weltkrieg. Dieses historische Ereignis<br />

ist in seiner Erinnerung entsprechend den Relevanzen eines Landwirtes<br />

<strong>mit</strong> <strong>der</strong> Jahreszeit, <strong>der</strong> Erntezeit, assoziiert.<br />

143


Schon bevor er selbst Soldat wurde, wirkte s<strong>ich</strong> <strong>der</strong> <strong>Krieg</strong> auf seinen Lebensalltag<br />

spürbar aus. Der Vater wurde im zweiten <strong>Krieg</strong>sjahr eingezogen<br />

und später auch <strong>der</strong> ältere Bru<strong>der</strong>. Oskar half auf dem Hof einer <strong>Krieg</strong>erwitwe<br />

aus, die ohne ihren Mann die anfallenden Arbeiten n<strong>ich</strong>t <strong>mehr</strong> bewältigen<br />

konnte. Bru<strong>der</strong> und Vater kehrten, noch bevor Oskar selbst eingezogen wurde,<br />

schwer verwundet von <strong>der</strong> Front <strong>zu</strong>rück.<br />

Aus diesen knappen Hintergrundsinformationen über seine Herkunftsfamilie,<br />

ergibt s<strong>ich</strong> das BUd einer von Entbehrungen geprägten Zeit. Daß s<strong>ich</strong> Oskar<br />

trotz Abwesenheit seines Vaters und Bru<strong>der</strong>s auf einem an<strong>der</strong>en Gehöft verdingte,<br />

läßt vermuten, daß <strong>der</strong> Ertrag des elterl<strong>ich</strong>en Betriebes <strong>zu</strong>r Existenzs<strong>ich</strong>erung<br />

n<strong>ich</strong>t ausre<strong>ich</strong>te. Die achtköpfige Familie lebte in einfachen Verhältnissen,<br />

und Oskar wurde s<strong>ich</strong>er schon früh und häufig <strong>zu</strong>r Arbeit herangezogen.<br />

Oskar Vogel ver<strong>mit</strong>telt in unserem Gespräch aber noch ein an<strong>der</strong>es Bild seiner<br />

Jugend. Auf die Frage <strong>der</strong> Interviewerin, an welche Zeit in seinem Leben<br />

er am liebsten denkt, antwortet er:<br />

„am liebsten an die Jugend ((ganz bestimmt und deutl<strong>ich</strong>)) (2) <strong>ich</strong> bin <strong>zu</strong> Hause- wir <strong>hatte</strong>n ein<br />

herrl<strong>ich</strong>es Stückchen Erde, da lagen wir am Fuße jenes Berges.." (39/9)<br />

Er kommt ins Schwärmen für die schöne Landschaft seiner Heimat und erzählt,<br />

wie er <strong>mit</strong> an<strong>der</strong>en Jugendl<strong>ich</strong>en am Waldrand musizierte, wie er selbst<br />

Flöte spielte und die Mädchen da<strong>zu</strong> Kirchenlie<strong>der</strong> sangen.<br />

Um dieses Schwärmen von <strong>der</strong> Heimat verstehen <strong>zu</strong> können, muß bedacht<br />

werden, daß Oskar Vogel 1946 aus seiner Heimat vertrieben wurde. Deshalb<br />

ruft diese Landschaft, die er später nie <strong>mehr</strong> wie<strong>der</strong>sehen sollte, heute eine<br />

beson<strong>der</strong>s nostalgisch verklärte und wehmütige Erinnerung hervor.<br />

3.2.3 Erwachsenwerden im Schützengraben<br />

Im Frühjahr 1917 wurde Oskar gemustert und im Mai <strong>zu</strong>m Bayrischen Fußartillerie<br />

Regiment, Bataillon 33, <strong>zu</strong>r Ausbildung nach Straßburg eingezogen.<br />

Auf die Frage <strong>der</strong> Interviewerin, was er damals über seinen Stellungsbefehl<br />

dachte, meint er:<br />

„das war e Schicksal (2) mein Bru<strong>der</strong> war schon schwer verwundet, mein Vater war schon<br />

schwer verwundet (8)" (27/3)<br />

Den Ein<strong>zu</strong>g <strong>zu</strong>r Front sah und sieht Herr Vogel als unabdingbares Schicksal,<br />

dem man n<strong>ich</strong>t entrinnen kann. Er fugte s<strong>ich</strong> in das Unvermeidl<strong>ich</strong>e, dem<br />

schon Vater und Bru<strong>der</strong> ihr Opfer bringen mußten. Obwohl monarchistisch<br />

gesinnt und dem Kaiser treu ergeben, war Oskar über seinen Ein<strong>zu</strong>g n<strong>ich</strong>t begeistert;<br />

er <strong>hatte</strong> in dem nun schon drei Jahre dauernden <strong>Krieg</strong> die Leiden dieses<br />

<strong>Krieg</strong>es, Tod und Verwundung, wohl <strong>zu</strong> un<strong>mit</strong>telbar erlebt:<br />

, ja es is niemand gerne gegangen (3) die ersten Jahre vielle<strong>ich</strong>t hat es da welche gegeben"<br />

(22/W)<br />

144


Nach nur sechswöchiger Ausbildung <strong>kam</strong> <strong>der</strong> 18jährige Landwirtssohn „ins<br />

Feld 44 . Die Worte, <strong>mit</strong> denen ihn seine neuen Kameraden empfingen, weckten<br />

in ihm düstere Ahnungen über seine soldatische Zukunft:<br />

„sagt er ((ein an<strong>der</strong>er Soldat)) wißt ihr denn wo ihr denn — (1) wo ihr (1) hingeraten seid (1) <strong>zu</strong>m<br />

Bayrischen fö/enbataillon (2) das war für ihn das Bataillon (1) die fliegenden Bataillone die wurden<br />

immer da eingesetzt (1) wo*s hart herging / /mhm/ /, und da (1) sind- sind da hohe Verluste<br />

(2) und daher <strong>der</strong> — (l) na wie soll <strong>ich</strong> denn sagen, Spottname, Totenbataillon (3) ((spielt <strong>mit</strong> dem<br />

Mikrophon)) bin so leidl<strong>ich</strong> weggekommen=<strong>ich</strong> hab bloß, eenmal, Kolben ins Ges<strong>ich</strong>t gekriegt<br />

(1)" (2/21)<br />

Der Einsatz als Soldat im 1. Weltkrieg begann für Herrn Vogel damals <strong>mit</strong><br />

dem verbalen Hinweis auf das <strong>zu</strong> Erwartende, auf den Tod, heute endet die Erzählung<br />

über diesen <strong>Krieg</strong> aus <strong>der</strong> Perspektive des <strong>Krieg</strong>sendes <strong>mit</strong> dem Resümee,<br />

nur eine Verlet<strong>zu</strong>ng im Ges<strong>ich</strong>t davongetragen <strong>zu</strong> haben. Die Ausblendung<br />

<strong>der</strong> leid vollen Zeit an <strong>der</strong> Front gelingt Herrn Vogel, indem er sofort den<br />

Bogen <strong>zu</strong>m Ende des <strong>Krieg</strong>es spannt. Mit <strong>der</strong> Schwellenüberschreitung ins<br />

Niemandsland des <strong>Krieg</strong>es beginnen die Grenzerfahrungen existentieller Bedrohung,<br />

es sind Erfahrungen, die nur schwer kommunizierbar sind. Die<br />

Schwierigkeit, die <strong>Krieg</strong>serlebnisse in den Schützengräben des 1. Weltkrieges<br />

<strong>zu</strong> erzählen, die auch von Literaten wie Walter Benjamin (1961: 410) und Ernest<br />

Hemingway (1929: 196) beklagt wurde, teilt Herr Vogel <strong>mit</strong> vielen seiner<br />

Generation. Es ist die Schwierigkeit, die Erinnerungen an das diffuse und<br />

chaotische Erleben des Schützenfeuers in eine sequentielle Ordnung <strong>zu</strong> bringen<br />

(vgl. Leed 1979: 124).<br />

Herr Vogel „löst 44<br />

diese Schwierigkeit, indem er s<strong>ich</strong> auf das le<strong>ich</strong>ter Erzählbare<br />

beschränkt. Erzählbar sind für ihn die Übergänge, die Schwellenüberschreitungen<br />

vom menschl<strong>ich</strong>en Leben ins seelenlose Niemandsland <strong>der</strong><br />

Schützengräben und <strong>zu</strong>rück.<br />

Über die Zeit zwischen Ein<strong>zu</strong>g und <strong>Krieg</strong>sende gibt Herr Vogel nur aufgrund<br />

sehr konkreter Nachfragen <strong>der</strong> Interviewerinnen Auskunft. Er antwortet<br />

relativ knapp und fährt dann <strong>mit</strong> einer Erzählung über die Zeit nach <strong>Krieg</strong>sende<br />

fort. Beispielsweise nennt er auf die Frage, wo er <strong>mit</strong> seiner Einheit gekämpft<br />

habe, nur kurz den Standort und geht <strong>zu</strong> einer Erzählung über die<br />

Materialversteigerungen nach dem „Zusammenbruch 44<br />

1918 über.<br />

Über die oben erwähnte Verlet<strong>zu</strong>ng ber<strong>ich</strong>tet Herr Vogel, daß sie von einem<br />

Nah<strong>kam</strong>pf, Kolben gegen Kolben, stammte. Er erzählt, daß seine Nase quergestanden<br />

habe und er seine Zähne habe ausspucken können. Mit dieser Verlet<strong>zu</strong>ng<br />

<strong>kam</strong> er ins Feldlazarett und hoffte, nach Hause <strong>zu</strong> kommen. Doch <strong>zu</strong><br />

seinem Bedauern wurde er nach drei Wochen wie<strong>der</strong> an die Front entlassen.<br />

Auch ein Granatsplitter im Fuß wurde n<strong>ich</strong>t <strong>zu</strong>m „Heimatschuß* 4 , son<strong>der</strong>n nur<br />

<strong>zu</strong>m kurzen „Urlaub 44<br />

im Feldlazarett.<br />

Während er von seinen Krankenhausaufenthalten, also jenen Zeiten außerhalb<br />

<strong>der</strong> Schützengräben, noch anschaul<strong>ich</strong> und detailliert szenisch erzählt,<br />

bleibt seine Darstellung des Geschehens im „Feld 44 , diesem an <strong>der</strong> französi-<br />

145


schert Grenze geführten unerbittl<strong>ich</strong>en Stellungskrieg, auf <strong>der</strong> Ebene einer unbeteiligten,<br />

sachl<strong>ich</strong>en Deskription von Artilleriegefechten:<br />

„wir waren schwere Artillerie, wir waren hier n<strong>ich</strong> weiter hinter <strong>der</strong> Front (2) da gab's nur Artilleriegefechte<br />

(2), die gegnerische Artillerie beschoß und und wir beschossen die an<strong>der</strong>en wie<strong>der</strong><br />

n<strong>ich</strong> (1) wie's halt is (1) ... ((Beschreibung <strong>der</strong> Beschießung nach den Generalstabskarten)) ... ja<br />

ja war dann Schluß (1) das Bataillon wurde uffjclöst (1) (5 /13)<br />

Herr Vogel beschreibt hier den erlebten Materialkrieg, in dem s<strong>ich</strong> die Soldaten<br />

meist als Opfer einer anonymen, industriellen Technologie empfanden.<br />

In seiner resignierenden Evaluation „wie's halt is" klingt ein Fatalismus an,<br />

den man paraphrasieren kann als „es ist eben so, man kann n<strong>ich</strong>ts dagegen<br />

tun 4 *. Es ist ein Fatalismus, <strong>der</strong> vermutl<strong>ich</strong> auch aus seiner Zeit im Schützengraben<br />

stammt, die bei so vielen Soldaten <strong>zu</strong> einem andauernden Gefühl eigener<br />

Machtlosigkeit und Unw<strong>ich</strong>tigkeit führte (vgl. Maxwell 1923: 100).<br />

Ebenso wie er heute bei seinen Erzählungen immer wie<strong>der</strong> schnell den Bogen<br />

<strong>zu</strong>m Ende des <strong>Krieg</strong>es spannt, wird er damals auf das Ende gewartet haben.<br />

Einen Hinweis auf die <strong>zu</strong> jener Zeit praktizierte Strategie <strong>der</strong> Futurisierung<br />

gibt u.a. eine Äußerung, <strong>mit</strong> <strong>der</strong> er seine Entlassung aus dem Lazarett<br />

evaluiert: „naja und dann, durchhalten (1) durchhalten bis (1) <strong>Krieg</strong>sschluß 44 .<br />

„Durchhalten 44<br />

bedeutet in <strong>der</strong> konkreten Situation eines Angriffs ein völliges<br />

Einlassen auf die Handlungsanfor<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> Gegenwart, während man <strong>zu</strong>gle<strong>ich</strong><br />

auf die Zukunft wartet und die Lebensperspektive auf die Zeit „danach<br />

44<br />

konzentriert ist. Durchhalten hieß damals, bei Gefechten im Schützengraben<br />

n<strong>ich</strong>t durch<strong>zu</strong>drehen und womögl<strong>ich</strong> in Panik den Schützengraben <strong>zu</strong><br />

verlassen, auf das Heulen <strong>der</strong> feindl<strong>ich</strong>en Geschosse <strong>zu</strong> hören und Deckung<br />

<strong>zu</strong> suchen. Es bedeutet die Routinisierung lebensnotwendiger Reaktionen, die<br />

unter dem Handlungsdruck während eines Angriffes automatisch und blitzschnell<br />

erfolgen müssen. Ebensowenig wie man während <strong>der</strong> Angriffe über<br />

die Gefahr und den Tod nachgedacht, son<strong>der</strong>n s<strong>ich</strong> auf das „Hören 44<br />

konzentriert<br />

habe, habe man daran in den Gefechtspausen gedacht o<strong>der</strong> gar über die<br />

<strong>Krieg</strong>ssituation gesprochen, meint Herr Vogel. Zwischen den Angriffen habe<br />

man s<strong>ich</strong> von den Läusen, von denen alle geplagt worden seien, befreit.<br />

Zwar sind die Konzentration auf das „Durchhalten 44 , auf die Routinen des<br />

Alltags im Schützengraben und das Warten auf die Zukunft im Frieden Reparaturstrategien,<br />

um die bedrohl<strong>ich</strong>e Gegenwart, die ständige Gefahr eines<br />

mögl<strong>ich</strong>en Todes aus<strong>zu</strong>blenden und in den Zustand des N<strong>ich</strong>t-Thematischen<br />

<strong>zu</strong> überführen, aber die Gefühle von damals lassen s<strong>ich</strong> aus <strong>der</strong> Erinnerung<br />

n<strong>ich</strong>t völlig vertreiben. Die Todesängste und die Trauer um den Tod von Kameraden<br />

haben auch Oskar Vogel n<strong>ich</strong>t verlassen; sie holen ihn nachts in seinen<br />

Träumen wie<strong>der</strong> ein. Will er s<strong>ich</strong> am Tag n<strong>ich</strong>t da<strong>mit</strong> beschäftigen, so<br />

drängen s<strong>ich</strong> die Erinnerungen in den Träumen als Thema auf. Noch heute<br />

träumt er davon, wie geschossen wird und er nach Deckung sucht. Es sind<br />

Träume, in denen s<strong>ich</strong> die Erfahrungen des Ersten Weltkrieges <strong>mit</strong> denen des<br />

146


Zweiten mischen: Die Feinde in seinen Träumen sind näml<strong>ich</strong> n<strong>ich</strong>t die Franzosen<br />

aus dem Ersten Weltkrieg, son<strong>der</strong>n die „Polacken und Russen**, die<br />

Feinde aus dem Zweiten Weltkrieg und die „Täter** seiner Vertreibung. Oskar<br />

Vogel hat dem Feind im 1. Weltkrieg kaum von Anges<strong>ich</strong>t <strong>zu</strong> Anges<strong>ich</strong>t gegenübergestanden,<br />

son<strong>der</strong>n fürchtete s<strong>ich</strong> viel<strong>mehr</strong> vor <strong>der</strong> anonymen Gefahr <strong>der</strong><br />

feindl<strong>ich</strong>en Geschosse. Mit den Feinden aus dem Zweiten Weltkrieg gibt er in<br />

seinen Träumen dieser anonymen Gefahr jene menschl<strong>ich</strong>e Gestalt, die für ihn<br />

den Inbegriff des Feindes darstellt.<br />

N<strong>ich</strong>t nur in den Träumen holen ihn die Gefühle ein, son<strong>der</strong>n auch in unserem<br />

Gespräch. Zunächst <strong>hatte</strong> Oskar Vogel während <strong>der</strong> Eingangserzählung<br />

noch sachl<strong>ich</strong> und emotional distanziert ber<strong>ich</strong>tet und die bedrohl<strong>ich</strong>en Situationen<br />

n<strong>ich</strong>t thematisiert. Mit Hilfe empathischer Fragen <strong>der</strong> Interviewerin<br />

kann er seiner Trauer Ausdruck geben. Hier<strong>zu</strong> ein etwas längerer Aus<strong>zu</strong>g aus<br />

diesem Dialog:<br />

I: „Sie sind ja als ganz junger Mann hingekommen (2) und waren plötzl<strong>ich</strong> <strong>mit</strong> so viel Leid konfrontiert<br />

Β: (2) ja ((<strong>mit</strong> sehr gebrochener Stimme)) (3) man sagte <strong>mit</strong> dem Arsch auf Grund- Grundeis gegangen<br />

(2) (( gebrochene Stimme)) kennen Sie den Ausspruch?<br />

I: mhm<br />

B: das is wenn (1) die Beine wacklig werden<br />

I: ja<br />

B: (4) wenn keen Schutz vorhanden ist (4)<br />

I: also daß man jede Minute da<strong>mit</strong> rechnen mußt<br />

B: ja<br />

I: daß man getroffen wird<br />

B: (2) mußte man <strong>mit</strong> je<strong>der</strong> Minute rechnen (2) und wenns gute en guten Freund wie<strong>der</strong> getroffen<br />

hat (2) da sind mir auch die Augen übergegangen (9) ((weint))<br />

I: das haben Sie auch nie vergessen können (1) also die Bil<strong>der</strong> von damals<br />

B: nee das gibt's n<strong>ich</strong> (9)<br />

((spielt heftig <strong>mit</strong> dem Mikro; weint))<br />

In diesem Zitat kommt Herrn Vogels Trauer an die Oberfläche. Es ist eine<br />

Traurigkeit, die die Gesprächssequenzen <strong>zu</strong>m Ersten Weltkrieg prägt. Das<br />

hinter dieser Traurigkeit liegende Thema ist <strong>der</strong> Tod. Dieses Gefühl und dieses<br />

Thema fehlen dagegen in seinen Erzählungen über den Zweiten Weltkrieg,<br />

in dem er s<strong>ich</strong>er auch <strong>mit</strong> Sterbenden und Toten konfrontiert war. Dieser Unterschied<br />

wird später <strong>zu</strong> interpretieren sein; an dieser Stelle ist an<strong>zu</strong>merken,<br />

daß er auch auf ein stärkeres Leiden unter den Bedingungen des Ersten Weltkrieges<br />

<strong>zu</strong>rückführbar sein dürfte. N<strong>ich</strong>t nur, daß Herr Vogel 1917 noch jung<br />

und als Soldat unerfahren war, auch die spezifischen Bedingungen des Ersten<br />

Weltkrieges waren leid voller als die des Zweiten. Wie empirische Studien<br />

(vgl. Maxwell 1923, Rives 1918) zeigen, ist das psychische Leiden von Soldaten<br />

in einem Stellungskrieg im Schützengraben unvergle<strong>ich</strong>l<strong>ich</strong> größer als in<br />

einem Bewegungskrieg. Es sind insbeson<strong>der</strong>e die Bedingungen <strong>der</strong> Immobilität<br />

in <strong>der</strong> Enge <strong>der</strong> Gräben und Unterstände sowie die Uns<strong>ich</strong>tbarkeit des Feindes,<br />

die ein neurotisches Reagieren <strong>der</strong> Soldaten bewirken. Menschen versu-<br />

147


chen, ihre Angst <strong>mit</strong> Aktivität <strong>zu</strong> kontrollieren — das ist dem Soldaten im<br />

Stellungskrieg kaum mögl<strong>ich</strong>. In den Schützengräben können sie s<strong>ich</strong> n<strong>ich</strong>t<br />

aktiv verteidigen, können bei Beschuß nur noch passiv deckungsuchend reagieren.<br />

Dies korrespondiert auch <strong>mit</strong> Aussagen von Zeitzeugen über die Bombenangriffe<br />

des Zweiten Weltkrieges: Mancher Soldat war froh, nach Heimaturlauben<br />

wie<strong>der</strong> an die Front <strong>zu</strong> kommen, weil er s<strong>ich</strong> den Bomben in <strong>der</strong> Heimat<br />

hilfloser ausgeliefert fühlte als den Kampfhandlungen an <strong>der</strong> Front.<br />

Wie viele Kameraden in Herrn Vogels un<strong>mit</strong>telbarer Nähe fielen, kann man<br />

aus seinen Aussagen erahnen. Er selbst macht über den „Ersatz 44 , den sie von<br />

dem Ausbildungslager in Straßburg erhielten, die Bemerkung:<br />

„und <strong>der</strong> ((<strong>der</strong> Ersatz)) wurde auch (2) da zenrieben<br />

n<strong>ich</strong>- da gibts auch ständig Verluste (3)" (4/12)<br />

(2) infolge- Kämpfe wurden ja fast tägl<strong>ich</strong><br />

Um s<strong>ich</strong> eine Vorstellung darüber machen <strong>zu</strong> können, was es <strong>mit</strong> diesem<br />

„Ersatz 44<br />

auf s<strong>ich</strong> <strong>hatte</strong> und was Herr Vogel <strong>mit</strong>erlebte, soll ein Aus<strong>zu</strong>g aus­<br />

Er<strong>ich</strong> Maria Remarques Roman „Im Westen n<strong>ich</strong>ts Neues 44<br />

(1928:132f.) zitiert<br />

werden:<br />

„Auf unserem Abschnitt wird wie<strong>der</strong> Ersatz eingeschoben. Es ist eines <strong>der</strong> neuen Regimenter,<br />

fast lauter junge Leute <strong>der</strong> letzten ausgehobenen Jahrgänge. Sie haben kaum eine Ausbildung, nur<br />

theoretisch haben sie etwas üben können, ehe sie ins Feld rückten Sie sind hilflos in diesem<br />

schweren Angriffsgebiet und feilen wie die Fliegen. Der Stellungs<strong>kam</strong>pf von heute erfor<strong>der</strong>t<br />

Kenntnisse und Erfahrungen, man muß die Geschosse, ihre Geräusche und Wirkungen im Ohr<br />

haben, man muß vorausbestimmen können, wo sie einhauen, wie sie streuen und wie man s<strong>ich</strong><br />

schützt diese braven, armen Hunde, die so verschüchtert sind, daß sie n<strong>ich</strong>t laut <strong>zu</strong> schreien<br />

wagen und <strong>mit</strong> zerrissenen Brüsten und Bäuchen und Armen und Beinen leise nach ihrer Mutter<br />

wimmern und gle<strong>ich</strong> aufhören, wenn man sie ansieht. Ihre toten, flaumigen, spitzen Ges<strong>ich</strong>ter haben<br />

die entsetzl<strong>ich</strong>e Ausdruckslosigkeit gestorbener Kin<strong>der</strong>."<br />

Oskar Vogel erinnert s<strong>ich</strong> an einen „jungen Kerl, <strong>der</strong> war erst 17 Jahre 44 .<br />

Dieser <strong>hatte</strong> s<strong>ich</strong> freiwillig gemeldet, weshalb ihn Oskar Vogel als Idioten beze<strong>ich</strong>net.<br />

Am Nachbar-Geschütz habe er dann nach Vater und Mutter geschrien,<br />

erzählt Herr Vogel. Mit dieser Erzählung grenzt er s<strong>ich</strong> von jungen<br />

unerfahrenen Soldaten ab. Er rechnet s<strong>ich</strong> selbst <strong>zu</strong> den älteren und vor allem<br />

<strong>zu</strong> den kriegserfahrenen Landsern. Im Unterschied <strong>zu</strong> den neu eingezogenen<br />

Männern, die ja kaum jünger waren als er selbst, <strong>hatte</strong> er schon Fähigkeiten<br />

erworben, die seine Chance <strong>zu</strong> überleben erhöhten. Diese Fähigkeiten werden<br />

jedoch von Herrn Vogel n<strong>ich</strong>t weiter betont. Er gehörte n<strong>ich</strong>t <strong>zu</strong> denjenigen,<br />

die die Vorstellung von in den <strong>Krieg</strong>sjahren erworbenen, unersetzbaren und<br />

den Mann ausze<strong>ich</strong>nenden Fähigkeiten vertraten und die insbeson<strong>der</strong>e ab<br />

Ende <strong>der</strong> Zwanziger Jahre das Soldatentum <strong>zu</strong>nehmend glorifizierten, wie wir<br />

es z.B. aus den <strong>Krieg</strong>snoveilen Ernst Jüngers kennen. Herr Vogel ver<strong>mit</strong>telt<br />

eher den Habitus eines Mannes, dem das Soldatsein für sein Selbstwertgefühl<br />

und Selbstbild unbedeutsam ist. Er sah seinen Fronteinsatz viel<strong>mehr</strong> als vaterländische<br />

Pfl<strong>ich</strong>t an, <strong>der</strong> man s<strong>ich</strong> n<strong>ich</strong>t entziehen konnte, die man ordnungsgemäß<br />

<strong>zu</strong> erfüllen suchte und aus <strong>der</strong> man bei <strong>Krieg</strong>sende wie<strong>der</strong> entlassen<br />

148


wurde. Für seine Deutung seiner Soldatenrolle als einer, die <strong>der</strong> Erwerbsrolle<br />

ähnelt und die er ordnungsgemäß, aber n<strong>ich</strong>t begeistert ausübte, spr<strong>ich</strong>t auch<br />

Herrn Vogels unkommentierter Ber<strong>ich</strong>t über die deutsche Kapitulation 1918.<br />

Ob er über das <strong>Krieg</strong>sende erle<strong>ich</strong>tert o<strong>der</strong> über die Nie<strong>der</strong>lage verzweifelt<br />

war, erwähnt er n<strong>ich</strong>t. Auf <strong>der</strong> Seite <strong>der</strong>jenigen, die die Abdankung des Kaisers<br />

begrüßten, stand er jedenfalls n<strong>ich</strong>t. 1918 <strong>hatte</strong> er den Monarchen noch<br />

bei einer Parade gesehen. Detailliert und ausfuhrl<strong>ich</strong> erzählt er über dieses für<br />

ihn herausragende Ereignis. Nach langem Warten auf den verehrten Kaiser<br />

wurde Oskar Vogel dann von dessen Erscheinung enttäuscht: Es war n<strong>ich</strong>t <strong>der</strong><br />

stattl<strong>ich</strong>e Mann, den er in Erinnerung <strong>hatte</strong>. Doch dies än<strong>der</strong>te grundsätzl<strong>ich</strong><br />

n<strong>ich</strong>ts an seiner Loyalität, und so verstand er n<strong>ich</strong>t und versteht es auch heute<br />

noch n<strong>ich</strong>t, weshalb <strong>der</strong> Kaiser Deutschland verließ. In Verkennung <strong>der</strong> revolutionären<br />

Situation im November 1918 meint er, dem Kaiser „hätte niemand<br />

was getan 44 , die Soldaten seien ihm alle treu ergeben gewesen, niemand hätte<br />

s<strong>ich</strong> gegen ihn aufgelehnt.<br />

Während er die politische Situation im November 1918 ausblendet, erzählt<br />

er über die konkreten Verän<strong>der</strong>ungen seines Soldatenalltags. In beson<strong>der</strong>er<br />

Erinnerung ist ihm die Abgabe <strong>der</strong> Gegenstände, die in den letzten Jahren<br />

seine Alltagsroutinen bestimmten: <strong>der</strong> Waffen, Fahrzeuge und <strong>der</strong> Pferde.<br />

Entsprechend den „14 Punkten 44<br />

des amerikanischen Präsidenten Wilson, auf<br />

<strong>der</strong>en Basis am 11.11.1918 das Waffenstillstandsabkommen unterze<strong>ich</strong>net<br />

wurde, erlebte Oskar Vogel, wie die Kanonen „in Reih und Glied uffgefahrn<br />

in Paradestellung 44<br />

in Alt-Breisach (rechts-rheinisch) den Alliierten übergeben<br />

wurden. Die Pferde und Fahrzeuge wurden in Freiburg versteigert. Oskar<br />

Vogels Bataillon wurde aufgelöst und er <strong>kam</strong> nach Schlesien <strong>zu</strong>rück <strong>zu</strong>m<br />

„Stamm 44 . Entlassen wurde er — wie er s<strong>ich</strong> genau erinnert — am 26. Juni<br />

1919, d.h. zwei Tage vor Unterze<strong>ich</strong>nung des Versailler Vertrags, <strong>mit</strong> dem die<br />

Auflösung <strong>der</strong> kaiserl<strong>ich</strong>en Armee rechtskräftig wurde.<br />

3.2.4 Zwischen den <strong>Krieg</strong>en: Die Zeit einer Karriere<br />

Nach über zwei Jahren kehrte Oskar Vogel als Zwanzigjähriger wie<strong>der</strong> in<br />

seine Heimat auf den elterl<strong>ich</strong>en Hof <strong>zu</strong>rück. Die Lage <strong>zu</strong> Hause stimmte ihn<br />

wenig optimistisch:<br />

„.. und <strong>zu</strong> Hause, da sah's ja auch- (2) me dat nach einem <strong>Krieg</strong> is (1) war alles — das Vieh<br />

war alles Vieh abgeschafft mußte zwangsweise mußte das gehn, <strong>ich</strong> hab dann, mir Arbeit besorgt,<br />

wir — <strong>ich</strong> hab dann (1) ja erst einmal — <strong>der</strong> Vater war schon wie<strong>der</strong> da war verwundet, ne, wir<br />

waren also <strong>der</strong> jüngste war bei uns <strong>zu</strong> Hause, zwee meine Schwestern die waren schulpfl<strong>ich</strong>tig,<br />

die waren noch <strong>zu</strong> Hause (2) <strong>ich</strong> bin dann erst einmal, zehn Jahr in den Bergbau gegangen 4 * (6/9)<br />

„Wie dat nach einem <strong>Krieg</strong> is 44 , evaluiert Herr Vogel rückblickend die Situation<br />

und begreift die schlechte Versorgungslage als ein Schicksal, dem man<br />

ebensowenig wie dem Ein<strong>zu</strong>g <strong>zu</strong>r Front und dem Erleben <strong>der</strong> Jugendjahre im<br />

149


Schützengraben entrinnen kann. Seiner Lebensphilosophie <strong>zu</strong>folge kann man<br />

nur individuell versuchen, das Beste daraus <strong>zu</strong> machen.<br />

Die desolate ökonomische Situation zwang ihn — wie viele an<strong>der</strong>e <strong>Krieg</strong>sheimkehrer<br />

—, s<strong>ich</strong> in einer nie<strong>der</strong>schlesischen Kohlengrube in <strong>der</strong> Nähe von<br />

Breslau <strong>zu</strong> verdingen. Im Bergbau wurden nach <strong>der</strong> Entlassung <strong>der</strong> <strong>Krieg</strong>sgefangenen<br />

Arbeitskräfte gebraucht.<br />

Die nie<strong>der</strong>schlesischen Kohlengruben waren ein Arbeitsmilieu, in dem —<br />

wenn auch n<strong>ich</strong>t in dem Maße wie im Ruhrgebiet — eine Politisierung im Rahmen<br />

<strong>der</strong> Arbeiterbewegung, eine Reflexion <strong>der</strong> Klassenlage durchaus denkbar<br />

gewesen wäre. Obwohl Oskar Vogel etl<strong>ich</strong>es aus seiner Zeit in <strong>der</strong> Kohlengrube<br />

erzählt, erwähnt er die vielen Streiks <strong>der</strong> Zwanziger Jahre n<strong>ich</strong>t. Von<br />

<strong>der</strong> Interviewerin darauf angesprochen, winkt er ab und meint: „das hätte ja<br />

sowieso n<strong>ich</strong>ts gebracht**. Er war n<strong>ich</strong>t an Arbeitskämpfen interessiert; ihm<br />

ging es <strong>mehr</strong> darum, sein Schicksal, d.h. seine ökonomische Situation, individuell<br />

<strong>zu</strong> verbessern. Gebeten über die Zeit zwischen den <strong>Krieg</strong>en <strong>zu</strong> erzählen,<br />

konzentriert er s<strong>ich</strong> auch ausschließl<strong>ich</strong> auf den berufsbiographischen<br />

Strang. Nur nebenbei erfahren wir, daß er 1921 heiratete und 1923 Vater einer<br />

Tochter wurde.<br />

Es wird bei seinen Erzählungen sehr deutl<strong>ich</strong>, daß die Berufskarriere für<br />

ihn eine herausragende Bedeutung <strong>hatte</strong>. Die detailliertesten und längsten Erzählungen<br />

während des gesamten Interviews beziehen s<strong>ich</strong> auf sein Berufsleben<br />

in dieser Zeit. Dies sind die wenigen Gesch<strong>ich</strong>ten im Interview, die n<strong>ich</strong>t<br />

nur auf den Anfang und das Ende einer Lebensphase beschränkt sind. Ohne<br />

Auffor<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Interviewerinnen erzählt er über einen Fund von versilberten<br />

Fischen, über einen Unfall, bei dem er einige Stunden verschüttet war und<br />

über das Bergen von Verunglückten. Am w<strong>ich</strong>tigsten ist ihm, seinen berufl<strong>ich</strong>en<br />

Aufstieg dar<strong>zu</strong>stellen, auf den er noch heute sehr stolz ist. Frühzeitig sei<br />

er <strong>zu</strong>m Hauer beför<strong>der</strong>t worden und habe „auch immer schönes Geld verdient<br />

4 *.<br />

1928 verließ Oskar Vogel den Bergbau. Seine Erzählung über den Hergang<br />

<strong>der</strong> Kündigung bleibt undurchs<strong>ich</strong>tig. Jedenfalls wollte er n<strong>ich</strong>t länger an <strong>der</strong><br />

in den 20er Jahren eingeführten Schrämmaschine arbeiten, weil diese Maschine<br />

sehr viel Staub produzierte und da<strong>mit</strong> gesundheitsgefährdend war. Er<br />

bat den Steiger um ein an<strong>der</strong>es Arbeitsfeld, doch dieser lehnte ab. Mögl<strong>ich</strong>erweise<br />

drohte <strong>der</strong> Steiger, <strong>der</strong> die Berechtigung <strong>hatte</strong>, Leute <strong>zu</strong> »heuern und <strong>zu</strong><br />

feuern*, Oskar Vogel deshalb <strong>mit</strong> Kündigung, worauf dieser von s<strong>ich</strong> aus ging.<br />

Er selbst meint, er habe es damals vorgezogen, s<strong>ich</strong> selbständig <strong>zu</strong> machen.<br />

Er kaufte s<strong>ich</strong> Pferd und Wagen und begann in den Jahren <strong>der</strong> Weltwirtschaftskrise<br />

<strong>mit</strong> dem Aufbau eines Obst- und Gemüsehandels. Ein halbes Jahr<br />

später konnte er schon ein Auto kaufen, worüber er sehr stolz ber<strong>ich</strong>tet. Der<br />

Aufbau seines Obst- und Gemüsehandels gelang, das Geschäft florierte; er belieferte<br />

— wie er ber<strong>ich</strong>tet — eine Lungenheilstätte <strong>mit</strong> „über 2400 Betten**:<br />

150


„hab mir ein gutes Geschäft aufgebaut (3) und war cn re<strong>ich</strong>er Mann geworden .... Konkurrenz<br />

ausgequetscht ((Interviewerin lacht leiste)) naja und da ging's dann so weiter bis <strong>der</strong> <strong>Krieg</strong> <strong>kam</strong>*'<br />

(6/23)<br />

Daß es <strong>Krieg</strong> geben würde, <strong>hatte</strong> Oskar Vogel, wie er meint, schon seit 1936<br />

geahnt. Ein Nachbar aus dem Dorf war ein paar Tage in Berlin gewesen und<br />

<strong>hatte</strong> bei seiner Rückkehr erzählt, die „Brotkarten für den nächsten <strong>Krieg</strong> sein<br />

fertig 44 . Die Zeit zwischen dieser 1936 erhaltenen Information und dem<br />

<strong>Krieg</strong>sbeginn skizziert Herr Vogel nur knapp:<br />

„das war 36 //mhm// (2) dann <strong>kam</strong> danach, die Unruhen <strong>mit</strong> 38 die <strong>kam</strong>en noch dazwischen<br />

(2)... und 39da war's Schluß" (8/5).<br />

Die Annexion von Österre<strong>ich</strong>, des Sudetenlandes, sowie von Böhmen und<br />

Mähren waren für Herrn Vogel „Unruhen 44 , die s<strong>ich</strong> „zwischen 44<br />

seine aufkeimende<br />

<strong>Krieg</strong>sahnung und den Beginn des <strong>Krieg</strong>es schoben. Vor <strong>Krieg</strong>sausbruch<br />

wollte er auf jeden Fall noch einen neuen Wagen kaufen:<br />

„als die <strong>Krieg</strong>sunruhen <strong>kam</strong>en (2) hab <strong>ich</strong> mir gedacht kauf <strong>ich</strong> mir einen neuen Wagen wird<br />

<strong>Krieg</strong> geben hab <strong>ich</strong> mir en neuen Wagen gekauft... das war <strong>der</strong> Wagen genau wie <strong>ich</strong> ihn haben<br />

wollte, meine Kumpels sagten, du hast den schönsten Wagen aus em ganzen Dorf (2) <strong>ich</strong> sage kost<br />

auch viel Geld" (32/20)<br />

Dieser LKW wurde <strong>zu</strong>m Zeitpunkt seines Ein<strong>zu</strong>ges <strong>zu</strong>r Wehrmacht, 1939,<br />

konfisziert.<br />

Herr Vogel orientiert s<strong>ich</strong> auch bei <strong>der</strong> Rekonstruktion seiner Erlebnisse<br />

während <strong>der</strong> Zeit zwischen den <strong>Krieg</strong>en an den biographischen Wendepunkten<br />

innerhalb seiner berufs- und militärbiographischen Karriere. Ebenso wie bei<br />

<strong>der</strong> Erzählung über den Ersten Weltkrieg erzählt er jeweils im Zusammenhang<br />

<strong>mit</strong> dem Beginn <strong>der</strong> einzelnen biographischen Phasen Interaktionsgesch<strong>ich</strong>ten,<br />

z.B. über den Beginn seines Gemüsehandels 1928, über den Beginn seiner<br />

<strong>Krieg</strong>santizipation 1936/38 und den Beginn seines Wehrdienstes 1939. Im<br />

Unterschied <strong>zu</strong>m Ersten Weltkrieg blendet er jedoch die Zeit zwischen den<br />

Phasen n<strong>ich</strong>t aus, son<strong>der</strong>n erzählt darüber, wenn er danach gefragt wird. Die<br />

Orientierung an biographischen Wendepunkten ist also für Herrn Vogel ein<br />

generelles Ordnungsprinzip seiner biographischen Erlebnisse und Erfahrungen.<br />

Es ermögl<strong>ich</strong>t ihm, die Zeit zwischen Wendepunkten aus<strong>zu</strong>blenden,<br />

wenn sie für ihn problematisch ist o<strong>der</strong> war.<br />

Seine Gesch<strong>ich</strong>ten <strong>zu</strong> den einzelnen Wendepunkten ranken s<strong>ich</strong> alle, wie<br />

auch schon bei den Erzählungen über 1918, thematisch um Fahrzeuge. <strong>Als</strong><br />

Symbole für Besitz und Re<strong>ich</strong>tum sind sie Sinnbild seines berufl<strong>ich</strong>en Erfolgs.<br />

Diese Fahrzeuge bestimmten jedoch auch seine alltägl<strong>ich</strong>e Handlungspraxis.<br />

Die „Gegenstände 44<br />

in seiner un<strong>mit</strong>telbaren Wahrnehmung, die Objekte seiner<br />

Handlungsplanungen konstituierten seine Perspektive <strong>der</strong> sozialen Wirkl<strong>ich</strong>keit.<br />

Die politisch-gesellschaftl<strong>ich</strong>en Rahmenbedingungen seines Lebens<br />

werden in seiner Erzählung nur dann eingeführt, wenn sie s<strong>ich</strong> direkt und<br />

151


spürbar auf sein Leben, auf seine Handlungsplanung auswirkten. So gibt es<br />

<strong>mehr</strong>ere Stellen im Interview, an denen er seinen späteren Ein<strong>zu</strong>g <strong>zu</strong>r Wehrmacht<br />

und <strong>zu</strong>m Volkssturm auf seine N<strong>ich</strong>t-Mitgliedschaft in <strong>der</strong> NSDAP <strong>zu</strong>rückführt.<br />

Ansonsten werden Themen, die im Zusammenhang <strong>mit</strong> <strong>der</strong> politischen<br />

Situation des Nationalsozialismus stehen, von ihm im Gespräch nie eingeführt.<br />

Eine <strong>der</strong> wenigen Stellen, bei denen er durch die Intervention <strong>der</strong><br />

Interviewerin <strong>zu</strong>r Stellungnahme aufgefor<strong>der</strong>t wird, sei hier zitiert:<br />

I: wie war es als 33 <strong>Hitler</strong> an die Macht <strong>kam</strong>? Waren Sie, da erstmal froh o<strong>der</strong> wie war das?<br />

Β: (1) daß es so n<strong>ich</strong> weitergehen konnte, das, das<br />

I: mhm<br />

B: wußten alle Leut (2) und das an<strong>der</strong>e (2)<br />

I: meinen Sie jetzt <strong>mit</strong> dem an<strong>der</strong>en <strong>zu</strong>m Beispiel die Judenverfolgung o<strong>der</strong> was meinen Sie <strong>mit</strong><br />

dem an<strong>der</strong>en?<br />

B: <strong>ich</strong> hab <strong>mit</strong> den ganzen Parteien nüscht <strong>zu</strong> schaffen ((sehr bestimmt)), die sind alle (2) wir haben<br />

keen deutsche Vertreter <strong>mehr</strong> (2) uns fehlt en Stresemann (2) o<strong>der</strong> Bismarck (2) Männer<br />

von diesem Schlage fehlen uns (1) o<strong>der</strong> von dieser Größe<br />

I: mhm<br />

B: (2) <strong>ich</strong> finde, es braucht s<strong>ich</strong> keener schämen, schämen Deutscher <strong>zu</strong> sein, das deutsche Volk,<br />

schafft, <strong>zu</strong>sammengeschafft man braucht s<strong>ich</strong> n<strong>ich</strong> <strong>zu</strong> verstecken vor an<strong>der</strong>n (4) daß man uns<br />

die- (2) viel verspr<strong>ich</strong>t, die Ost- äh deutschen Ostblock (3) <strong>ich</strong> bin ja auch aus dem Osten her<br />

<strong>ich</strong> bin Schlesier (2) auch een schönes Grundstück ((murmelt in s<strong>ich</strong> hinein)) 4 ' (15/23)<br />

Mit den Verhältnissen in <strong>der</strong> Weimarer Republik begründet er die Machtübergabe<br />

an Adolf <strong>Hitler</strong> als Notwendigkeit, die „alle Leute 44<br />

eingesehen hätten.<br />

„Das an<strong>der</strong>e 44 , das er hier andeutet, ist er n<strong>ich</strong>t bereit <strong>zu</strong> benennen; die<br />

Frage nach <strong>der</strong> Judenverfolgung weist er vehement als etwas <strong>zu</strong>rück, <strong>mit</strong> dem<br />

er „nüscht <strong>zu</strong> schaffen 44<br />

habe. Seine daran anschließende Erklärung „es<br />

braucht s<strong>ich</strong> keiner <strong>zu</strong> schämen 44<br />

muß auch in diesem Kontext gesehen werden.<br />

Obwohl Oskar Vogel von den fehlenden großen deutschen Männern<br />

spr<strong>ich</strong>t, denkt man bei Gefühlen <strong>der</strong> Scham auch an das von <strong>der</strong> Interviewerin<br />

eingeführte Thema des Völkermords.<br />

Herr Vogel ist n<strong>ich</strong>t bereit, s<strong>ich</strong> explizit in irgendeiner Weise <strong>zu</strong>m Völkermord<br />

<strong>zu</strong> äußern; für ihn steht viel<strong>mehr</strong> das eigene Schicksal <strong>der</strong> Vertreibung<br />

im Vor<strong>der</strong>grund. Indem er s<strong>ich</strong> als unpolitischen „kleinen Mann 44<br />

betrachtet,<br />

<strong>der</strong> <strong>mit</strong> <strong>der</strong> NSDAP „nüscht <strong>zu</strong> schaffen <strong>hatte</strong> 44 , gelingt es ihm, s<strong>ich</strong> selbst als<br />

Opfer dieses <strong>Krieg</strong>es <strong>zu</strong> verstehen. Von den Opfern <strong>der</strong> nationalsozialistischen<br />

Gewaltherrschaft ist er n<strong>ich</strong>t gewillt <strong>zu</strong> reden. In dem gesamten Interview fallt<br />

keine Bemerkung über die NS-Verbrechen; es gibt keine einzige Äußerung<br />

über die jüdischen Mitbürger, von denen viele in Schlesien und im Raum<br />

Breslau lebten. Zudem gab es in <strong>der</strong> Nähe seines Wohnortes auch <strong>mehr</strong>ere Außenlager<br />

des Konzentrationslagers Groß Rosen, so daß ihm die Verfolgung <strong>der</strong><br />

jüdischen Bevölkerung n<strong>ich</strong>t unbekannt gewesen sein dürfte.<br />

152


3.2.5 <strong>Als</strong> Soldat in Polen<br />

„naja und da ging's dann so weiter bis <strong>der</strong> <strong>Krieg</strong> <strong>kam</strong> <strong>der</strong> nächste war's (2) Sonnabend früh um<br />

dreie (7/1)<br />

Herr Vogel erzählt im folgenden detailliert, wie er schon kurz vor dem offiziellen<br />

<strong>Krieg</strong>sbeginn den Stellungsbefehl erhielt. Er war einer <strong>der</strong> ersten seines<br />

Ortes, die eingezogen wurden. Bei <strong>der</strong> Mobilmachung im August 1939<br />

wurden die weltkriegsgedienten Wehrpfl<strong>ich</strong>tigen seines Geburtsjahrganges<br />

einberufen. Herr Vogel sieht den Grund für seinen Ein<strong>zu</strong>g jedoch in seiner<br />

Parteilosigkeit und meint: „was <strong>ich</strong> da geflucht hab kann <strong>ich</strong> n<strong>ich</strong> sagen* 4 .<br />

Er erzählt, wie er in Uniform eingekleidet, <strong>mit</strong> Waffen ausgerüstet und <strong>mit</strong><br />

seiner Einheit, die er im Unterschied <strong>zu</strong>m 1. Weltkrieg n<strong>ich</strong>t benennt, an die<br />

polnische Grenze gefahren wurde. Getarnt standen sie <strong>mit</strong> den Fahrzeugen in<br />

einem Wald in <strong>der</strong> Nähe von Gleiwitz und hörten schon den Geschützdonner<br />

von Nicolai.<br />

Herr Vogel erinnert s<strong>ich</strong>, daß seine Einheit am 1. September 1939 früh morgens<br />

<strong>zu</strong>m Appell antreten mußte, um die Rundfunkansprache <strong>Hitler</strong>s, in <strong>der</strong><br />

er den <strong>Krieg</strong>sbeginn bekanntgab, an<strong>zu</strong>hören. Er zitiert aus <strong>der</strong> Rede:<br />

„die Verbündeten feindl<strong>ich</strong>e, Verbündete die haben, ausgerechnet <strong>der</strong> <strong>Krieg</strong> könnte vier Jahre<br />

dauern, <strong>ich</strong> habe den Re<strong>ich</strong>sbevollmächtigten Hermann Göring beauftragt,/2?r sechs Jahre vor<strong>zu</strong>sorgen<br />

(1) und da <strong>hatte</strong> <strong>ich</strong> die Nase full und da sage <strong>ich</strong> also ganz laut (2) da wissen wir ja was<br />

uns blühr (9/9)<br />

Ein Feldwebel habe seine Äußerung gehört. Die Folge seines „losen Mundwerks<br />

44<br />

sei <strong>der</strong> ständige Einsatz <strong>zu</strong> Nachtwachen gewesen.<br />

In Herrn Vogels Erinnerung an diese Rede <strong>Hitler</strong>s scheinen s<strong>ich</strong> verschiedene<br />

Momente <strong>zu</strong> vermischen, denn von <strong>der</strong> Erwartung, daß <strong>der</strong> <strong>Krieg</strong> sechs<br />

Jahre dauern werde, war in ihr n<strong>ich</strong>t die Rede. Wohl betonte <strong>Hitler</strong>, daß es für<br />

ihn keine Kapitulation gebe, doch von sechs Jahren sprach er nur im Zusammenhang<br />

<strong>mit</strong> dem Zeitraum von 1933 bis 1939, in dem die deutsche Wehrmacht<br />

aufgebaut wurde (vgl. Domarus 1965: 1316). Vermutl<strong>ich</strong> verknüpft<br />

Herr Vogel aus seiner Gegenwartsperspektive, die ja ein Wissen über die tatsächl<strong>ich</strong>e<br />

Dauer des <strong>Krieg</strong>es einschließt, seine damalige Empörung <strong>mit</strong> <strong>der</strong><br />

realen Dauer dieses <strong>Krieg</strong>es — und macht sie da<strong>mit</strong> noch plausibler. Eine <strong>der</strong>artige<br />

temporale Verschiebung von Wissensbeständen, die <strong>zu</strong> späteren Zeitpunkten<br />

erworben wurden, in die Erzählung früherer Situationen nimmt Herr<br />

Vogel auch an an<strong>der</strong>er Stelle vor. Erzählt er über seinen Ein<strong>zu</strong>g <strong>zu</strong>r Wehrmacht,<br />

so ber<strong>ich</strong>tet er auch über die am gle<strong>ich</strong>en Tag in seiner Abwesenheit vorgenommene<br />

Konfiszierung seines Autos. Davon erfuhr er jedoch erst im Frühjahr<br />

1940 von seiner Ehefrau. Herr Vogel erzählt da<strong>mit</strong> zwar in <strong>der</strong> linearen Abfolge<br />

<strong>der</strong> Ereignisse, jedoch n<strong>ich</strong>t in <strong>der</strong> linearen Abfolge seiner Erfahrungen.<br />

Verstehbar wird diese temporale Verschiebung <strong>mit</strong> seinen bis <strong>zu</strong>m heutigen<br />

läge andauernden Überlegungen, was er noch am läge seines Ein<strong>zu</strong>gs <strong>zu</strong>r<br />

153


Wehrmacht dagegen getan hätte, wenn er von <strong>der</strong> bevorstehenden Konfiszierung<br />

gewußt hätte. Er versetzt s<strong>ich</strong> also in diese Zeit <strong>zu</strong>rück und entwirft<br />

Handlungspläne <strong>mit</strong> dem Ziel, den Wagen <strong>zu</strong> retten. Dieser Tag wird in <strong>der</strong><br />

Retrospektive <strong>zu</strong> einem Tag n<strong>ich</strong>t ausgeführter Handlungspläne und reiht s<strong>ich</strong><br />

so in die Chronologie <strong>der</strong> Erfahrungen ein.<br />

Vom Polenfeld<strong>zu</strong>g erzählt Herr Vogel nur, daß er aufgrund <strong>der</strong> Nachtwachen<br />

so gut wie nie geschlafen habe. Er beklagt die mangelhafte Ausrüstung<br />

<strong>mit</strong> Kleidung und Decken und endet: „aber man hat es ja überstanden (2) wir<br />

<strong>kam</strong>en als <strong>der</strong> Polenfeld<strong>zu</strong>g <strong>zu</strong> Ende war (2) denn <strong>kam</strong>en wir (2) nach dem<br />

nach dem Westen (2)" (10/6)<br />

Wie beim Ersten Weltkrieg blendet er auch hier die <strong>Krieg</strong>shandlungen aus<br />

und spannt den Bogen <strong>zu</strong>m Ende des Einsatzes als Soldat; im Westen wurde<br />

er gle<strong>ich</strong> „UK" gestellt. War beim 1. Weltkrieg die Interpretation evident, er<br />

habe da<strong>mit</strong> seine Todesängste sowie die Trauer über den Tod <strong>der</strong> Kameraden<br />

ausgeblendet, so greift diese Interpretation hier <strong>zu</strong> kurz. Im Unterschied <strong>zu</strong>m<br />

Ersten Weltkrieg erwähnt er auch auf Nachfragen — abgesehen vom Beschuß<br />

eines Lastwagens durch Partisanen — keine Kampfhandlungen o<strong>der</strong> „Feindberührungen<br />

44 . Zwar erlebte er den Tod eines Kameraden, doch dabei handelte<br />

es s<strong>ich</strong> um einen Unglücksfall. Weinend erzählt er, wie dieser Soldat von einem<br />

umstürzenden Lastwagen erdrückt wurde, wie er den Verwundeten herauszog<br />

und dieser blutüberströmt in seinen Armen starb. <strong>Als</strong> er daraufhin von<br />

einem Feldwebel wegen seiner blutigen Uniform gerügt wurde, habe er ärgerl<strong>ich</strong><br />

geantwortet:<br />

„das ist Kameradenblut.. bis jetzt im Ersten Weltkrieg hab <strong>ich</strong> keine Verordnung gekannt, daß<br />

die Uniform ein<strong>zu</strong>setzen — aus<strong>zu</strong>ziehen ist bevor ((unverständl<strong>ich</strong>))" (24/1)<br />

Dieses ihn noch heute erschütternde Erlebnis, das er als Beleg für den geringeren<br />

Ehrenkodex <strong>der</strong> Wehrmacht im Unterschied <strong>zu</strong>r Kaiserl<strong>ich</strong>en Armee<br />

erzählt, ist die einzige Todeskonfrontation, von <strong>der</strong> er aus <strong>der</strong> Zeit in Polen ber<strong>ich</strong>tet.<br />

Wir können davon ausgehen, daß Herrn Vogels <strong>Krieg</strong>serlebnisse in Polen in<br />

ihrer existentiellen Bedrohl<strong>ich</strong>keit kaum <strong>mit</strong> denen während des Stellungskrieges<br />

1917/18 vergle<strong>ich</strong>bar sind. Auch <strong>der</strong> Interviewtext gibt Hinweise dafür,<br />

daß für Herrn Vogel 1939/40 etwas problematisch wurde, das vom<br />

1917/18 Erlebten strukturell verschieden war. Mit <strong>der</strong> Ausblendung <strong>der</strong><br />

<strong>Krieg</strong>smonate in Polen kann er über die Verbrechen <strong>der</strong> SS und <strong>der</strong> Wehrmacht<br />

in Polen schweigen, von denen er in <strong>der</strong> Zeit vom September 1939 bis<br />

<strong>zu</strong> seiner Verset<strong>zu</strong>ng an die Westfront im Frühjahr 1940 etwas <strong>mit</strong>erlebt haben<br />

muß. Schon am 19. September 1939 <strong>hatte</strong>n die deutschen Truppen die Demarkationslinie<br />

<strong>zu</strong>m östl<strong>ich</strong>en Teil Polens, <strong>der</strong> von <strong>der</strong> Roten Armee bereits zwei<br />

läge <strong>zu</strong>vor besetzt worden war, erre<strong>ich</strong>t, und am 6. Oktober 1939 kapitulierten<br />

die letzten polnischen Kampfverbände. Es gab in Polen kaum noch kriegerische<br />

Handlungen, abgesehen von einzelnen Angriffen <strong>der</strong> Partisanen; dage-<br />

154


gen gab es die verbrecherischen Handlungen <strong>der</strong> deutschen Besatzer, die sofort<br />

nach dem Überfall <strong>mit</strong> den Massenexekutionen <strong>der</strong> polnischen Intelligenz,<br />

<strong>der</strong> Politiker und <strong>der</strong> polnischen Juden begannen.<br />

Im Gegensatz <strong>zu</strong> den meisten an<strong>der</strong>en Zeitzeugen leugnet Herr \fogel diese<br />

Verbrechen n<strong>ich</strong>t explizit, versucht auch n<strong>ich</strong>t, sie <strong>zu</strong> bagatellisieren. Er will<br />

sie viel<strong>mehr</strong> erst gar n<strong>ich</strong>t ansprechen, ist auch n<strong>ich</strong>t bereit, auf sie ein<strong>zu</strong>gehen,<br />

wenn er da<strong>zu</strong> ausdrückl<strong>ich</strong> aufgefor<strong>der</strong>t wird. Dies wird u.a. in einem<br />

Dialog <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Interviewerin deutl<strong>ich</strong>, <strong>der</strong> von N<strong>ich</strong>t-Gesagtem geprägt ist,<br />

von Lücken, die es <strong>zu</strong> interpretieren gilt, da sie keineswegs Ausdruck mangeln<strong>der</strong><br />

Verbalisierungsfahigkeit sind, son<strong>der</strong>n viel<strong>mehr</strong> Herrn Vogels Umgang<br />

<strong>mit</strong> dem Thema <strong>der</strong> NS-Verbrechen verdeutl<strong>ich</strong>en. Im Zusammenhang<br />

<strong>mit</strong> seinen Träumen <strong>zu</strong> 1917 /18, in denen die Feinde des Zweiten Weltkrieges,<br />

die „Polacken 44 , auftreten, wird er von <strong>der</strong> Interviewerin gefragt:<br />

I: und also dis war irgendwie schlimmer wie die Franzosen o<strong>der</strong> warum, ausgerechnet von<br />

Polen<br />

B: ja die (1) diese Beziehung war schlechter als wie in Frankre<strong>ich</strong>, weil Frankre<strong>ich</strong> da war ftutisanen<strong>kam</strong>pf<br />

n<strong>ich</strong>t so wie bei (1) den Polen (1) das war abscheul<strong>ich</strong> (6)<br />

I: haben sie denn da auch Dinge erlebt (1) im Polenfeld<strong>zu</strong>g, wo Sie (1) dachten die Deutsche<br />

Wehrmacht macht auch n<strong>ich</strong> alles r<strong>ich</strong>tig<br />

B: (3) das (7) da war weiter n<strong>ich</strong> viel (6) kontrolliert und (2) und kritisiert und so weiter (2) daß<br />

<strong>der</strong> <strong>Krieg</strong> <strong>mit</strong> Rußland (2) da hab <strong>ich</strong> gle<strong>ich</strong> gesagt, ((Gestottere)) Russe kommt, sag jetzt is<br />

<strong>der</strong> <strong>Krieg</strong> für uns verspielt den <strong>Krieg</strong> können wir n<strong>ich</strong> <strong>mehr</strong> gewinnen (4)" (28/29)<br />

Herr Vogel begründet seine Antipathie gegen die Polen <strong>mit</strong> <strong>der</strong>en Partisanen<strong>kam</strong>pf.<br />

Er meint, „das war abscheul<strong>ich</strong>* 4 , und macht eine lange<br />

Pause. Man kann s<strong>ich</strong> fragen, an welche Abscheul<strong>ich</strong>keiten er dabei denkt<br />

— an die von Polen den Deutschen und da<strong>mit</strong> später bei <strong>der</strong> Vertreibung<br />

auch ihm <strong>zu</strong>gefügten, o<strong>der</strong> an Abscheul<strong>ich</strong>keiten <strong>der</strong> Deutschen gegenüber<br />

den Polen. Es ist an<strong>zu</strong>nehmen, daß er aufgrund <strong>der</strong> schon damals bestandenen,<br />

für Nie<strong>der</strong>schlesier n<strong>ich</strong>t untypischen Ablehnung <strong>der</strong> Polen und vor<br />

allem aufgrund seiner späteren Aussiedlung in erster Linie an das Leiden<br />

<strong>der</strong> deutschen Bevölkerung denkt. Er ist aufgrund des selbst erlittenen<br />

Leids n<strong>ich</strong>t in <strong>der</strong> Lage bzw. n<strong>ich</strong>t willens, s<strong>ich</strong> in die Perspektive <strong>der</strong> polnischen<br />

Bevölkerung hinein<strong>zu</strong>versetzen. An keiner Stelle im Gespräch erwähnt<br />

er <strong>der</strong>en Leiden während des „Dritten Re<strong>ich</strong>es 44 , auch n<strong>ich</strong>t in <strong>der</strong><br />

Form <strong>der</strong> Aufrechnung deutschen Leids gegen polnisches Leid, wie sie<br />

n<strong>ich</strong>t nur von Vertriebenen geäußert wird.<br />

Im zitierten Dialog reagiert die Interviewerin <strong>mit</strong> ihrer Frage nach dem<br />

Verhalten <strong>der</strong> Deutschen Wehrmacht auf das von Herrn Vogel vermutl<strong>ich</strong><br />

n<strong>ich</strong>t gemeinte, jedoch latent angesprochene, „abscheul<strong>ich</strong>e 44<br />

Verhalten<br />

<strong>der</strong> Deutschen gegenüber den Polen. Zunächst antwortet Herr Vogel n<strong>ich</strong>t,<br />

setzt <strong>mit</strong> „das 44<br />

<strong>zu</strong> reden an, br<strong>ich</strong>t ab, schweigt wie<strong>der</strong>um eine lange Zeit<br />

und meint dann: „da war weiter n<strong>ich</strong> viel 44 . Diese Äußerung kann als Endevaluation<br />

des N<strong>ich</strong>terzählten, während <strong>der</strong> Pause jedoch Gedachten, gele-<br />

155


sen werden. Nach einer weiteren langen Pause spr<strong>ich</strong>t er dann von „kontrolliert**.<br />

„Da war weiter n<strong>ich</strong>t viel** könnte heißen: man kämpfte ja n<strong>ich</strong>t, statt<br />

dessen hat man kontrolliert. Die Erwähnung einer „Kontrolle** im historischen<br />

Kontext <strong>der</strong> ersten <strong>Krieg</strong>smonate in Polen weckt Assoziationen, die von<br />

<strong>der</strong> „Kontrolle** <strong>der</strong> polnischen Bevölkerung bis <strong>zu</strong>r „Kontrolle 4 * in den sofort<br />

nach dem Überfall einger<strong>ich</strong>teten Ghettos re<strong>ich</strong>en. Doch darüber will Herr<br />

Vogel n<strong>ich</strong>t sprechen, auch wenn er es damals vielle<strong>ich</strong>t „kritisiert** hat. Indem<br />

er dann einen zeitl<strong>ich</strong>en Sprung ins Jahr 1941 macht, als die deutsche<br />

Wehrmacht die Sowjetunion überfiel, kann er thematisch den Bogen <strong>zu</strong>r Kritik<br />

an <strong>der</strong> deutschen <strong>Krieg</strong>sführung spannen, ohne etwas über den Polenfeld<strong>zu</strong>g,<br />

an dem er selbst teilgenommen hat, aussagen <strong>zu</strong> müssen. Da<strong>mit</strong> vollzieht<br />

er von <strong>der</strong> Struktur seiner Argumentation her genau den gle<strong>ich</strong>en Bogen —<br />

von den NS-Verbrechen <strong>zu</strong>m verlorenen <strong>Krieg</strong> und da<strong>mit</strong> <strong>zu</strong> seinem Schicksal<br />

als Vertriebener — wie bei seiner Antwort auf die Frage <strong>der</strong> Interviewerin<br />

nach <strong>der</strong> Judenverfolgung.<br />

Zurück <strong>zu</strong> Herrn Vogels biographischem Werdegang. Er wurde <strong>mit</strong> seiner<br />

Einheit im Frühjahr 1940 an die Westfront versetzt, doch die Teilnahme am<br />

Frankre<strong>ich</strong>feld<strong>zu</strong>g blieb ihm erspart. Mittlerweile war seine Ehefrau erkrankt<br />

und konnte den Betrieb n<strong>ich</strong>t <strong>mehr</strong> allein weiterführen. Sie benachr<strong>ich</strong>tigte<br />

die von ihr belieferte Lungenheilstätte, woraufhin <strong>der</strong>en Leitung s<strong>ich</strong> für Oskar<br />

Vogels Entlassung einsetzte. Oskar wurde „UK** (unabkömml<strong>ich</strong>) gestellt<br />

und konnte den Betrieb bis <strong>zu</strong> seinem Ein<strong>zu</strong>g <strong>zu</strong>m Volkssturm im Herbst 1944<br />

weiterführen.<br />

3.2.6 Letzter Einsatz als Soldat<br />

Waren Herrn Vogels Erlebnisse während des Polenfeld<strong>zu</strong>gs in ihrer existentiellen<br />

Bedrohl<strong>ich</strong>keit kaum <strong>zu</strong> vergle<strong>ich</strong>en <strong>mit</strong> denen im Ersten Weltkrieg, so<br />

sind letzteren seine Erlebnisse bei Ende des Zweiten Weltkrieges vermutl<strong>ich</strong><br />

ähnl<strong>ich</strong>er. Doch darüber erfahren wir im Interview n<strong>ich</strong>ts. Wir wissen nur,<br />

daß Herr Vogel ca. im Oktober 1944 <strong>zu</strong>m Volkssturm eingezogen, ungefähr ab<br />

Februar o<strong>der</strong> März 1945 von <strong>der</strong> Wehrmacht übernommen und im Dezember<br />

1945 aus sowjetischer Gefangenschaft in Sachsen entlassen wurde.<br />

Bevor diese temporale Lücke in seiner biographischen Erzählung interpretiert<br />

wird, möchte <strong>ich</strong> einige historische Details benennen, um <strong>zu</strong>mindest etwas<br />

über Herrn Vogels Erleben in dieser Zeit mutmaßen <strong>zu</strong> können.<br />

Zum Volkssturm wurden nach einem Erlaß Adolf <strong>Hitler</strong>s vom 25. September<br />

1944 alle waffenfähigen 16-60¡jahrigen Männer <strong>zu</strong>r »Verteidigung des Heimatbodens<br />

4<br />

verpfl<strong>ich</strong>tet; aufgestellt wurde <strong>der</strong> Volkssturm durch die Gauleiter<br />

und die Führer nationalsozialistischer Organisationen. Während <strong>der</strong> Volkssturm<br />

in manchen westdeutschen Gebieten n<strong>ich</strong>t <strong>mehr</strong> <strong>zu</strong>m Einsatz <strong>kam</strong>, wur-<br />

156


den die jungen und alten Männer in Schlesien <strong>zu</strong>m Bau von Panzergräben und<br />

Befestigungen eingesetzt, nachdem die Rote Armee im Oktober schon in Ostpreußen<br />

stand. Im Herbst 1944 setzten erste Luftangriffe amerikanischer wie<br />

britischer Maschinen ein; im Spätherbst erlebte Breslau den ersten sowjetischen<br />

Luftangriff. Am 12. Januar 1945 begann von <strong>der</strong> We<strong>ich</strong>sel die sowjetische<br />

Offensive auf Schlesien; vier Wochen später war das oberschlesische Industriegebiet<br />

erobert. Es begann <strong>der</strong> Angriff auf die <strong>mit</strong>tlere O<strong>der</strong>, die am 18. Februar<br />

von den Einheiten <strong>der</strong> Roten Armee erre<strong>ich</strong>t wurde. Die großen<br />

Flüchtlingsströme setzten ein. Breslau wurde <strong>zu</strong>r Festung erklärt und war am<br />

16. Februar von sowjetischen Verbänden eingeschlossen.<br />

Vermutl<strong>ich</strong> war Herr Vogel noch <strong>zu</strong>r Heeresgruppe Mitte eingezogen worden,<br />

die unter dem Befehl von General Schörner im Frühjahr 1945 in Schlesien<br />

noch ein Restgebiet halten konnte und dann die letzten Kämpfe im Raum Dresden<br />

erlebte. Es kann also davon ausgegangen werden, daß Herr Vogel noch einige<br />

kriegerische Handlungen erlebt hat. Es stellt s<strong>ich</strong> die Frage, wie in einem<br />

Interview <strong>zu</strong>m Thema <strong>Krieg</strong>serleben dieser gesamte Zeitraum ausgeblendet<br />

werden konnte. Obwohl die Interviewerinnen es versäumten, auf diesen Zeitraum<br />

bezogene Fragen <strong>zu</strong> stellen, und insofern diese erzählerische Lücke <strong>mit</strong> <strong>zu</strong><br />

verantworten haben, sind die Auslassungen durch Herrn Vogel beze<strong>ich</strong>nend und<br />

interpretierbar.<br />

Ich werde im folgenden sequenzanalytisch auf Herrn Vogels Ausfuhrungen<br />

eingehen, d.h. sie entlang <strong>der</strong> Abfolge des Gesprächs vorstellen.<br />

Herr Vogel orientiert s<strong>ich</strong> in seiner biographischen Großerzählung, in <strong>der</strong> er<br />

auch über die letzten <strong>Krieg</strong>smonate ber<strong>ich</strong>tet, an <strong>der</strong> Chronologie seiner lebensgesch<strong>ich</strong>tl<strong>ich</strong>en<br />

Erfahrungen und erzählt, wie bereits ausgeführt, jeweils<br />

Interaktionsgesch<strong>ich</strong>ten <strong>zu</strong> den einzelnen biographischen Wendepunkten. Zum<br />

Statuswechsel vom Zivilisten <strong>zu</strong>m Volkssturmangehörigen liefert er dagegen<br />

keine Gesch<strong>ich</strong>te, son<strong>der</strong>n argumentiert nur über den Grund seines Ein<strong>zu</strong>ges<br />

und kommt dann gle<strong>ich</strong> auf das Ende <strong>der</strong> Volkssturmzeit <strong>zu</strong> sprechen:<br />

„<strong>ich</strong> war ja n<strong>ich</strong> bei <strong>der</strong> Partei / mhm / <strong>der</strong> Volkssturm unterstand <strong>der</strong> Partei /mhm/ und darum<br />

wurde <strong>ich</strong> ja auch <strong>zu</strong>m Volkssturm geholt die Wehrmacht ((stottert)) hätte m<strong>ich</strong> nie geholt (2) weil<br />

<strong>ich</strong> von <strong>der</strong> Wehrmacht <strong>zu</strong>rückgestellt war, hat man m<strong>ich</strong> <strong>zu</strong>m Volkssturm geschickt (2) erste Bataillon<br />

(3) Völkssturm (3) halbes Jahr später da wurde <strong>ich</strong> <strong>zu</strong>r Wehrmacht geholt" (12/9)<br />

Schon in seiner Erzählung über seinen Ein<strong>zu</strong>g <strong>zu</strong>r Wehrmacht 1939 <strong>hatte</strong> Oskar<br />

Vogel seine Parteilosigkeit als Grund dafür angegeben, daß er überhaupt einen<br />

Stellungsbefehl erhielt. Die oben zitierte Textpassage wird vollständig<br />

durch diese Argumentation geprägt; sein Erleben dieses Ein<strong>zu</strong>gs tritt demgegenüber<br />

in den Hintergrund. Er konzentriert s<strong>ich</strong> auf die Argumentation, daß<br />

er <strong>mit</strong> <strong>der</strong> NSDAP „nüscht <strong>zu</strong> schaffen" gehabt habe und deshalb auch froh gewesen<br />

sei, als er vom Volkssturm, <strong>der</strong> <strong>der</strong> NSDAP unterstand, wie<strong>der</strong> <strong>zu</strong>r<br />

Wehrmacht übernommen wurde. Er ber<strong>ich</strong>tet weiter, daß <strong>der</strong> Kompanieführer<br />

vom Volkssturm seine Übernahme <strong>zu</strong>r Wehrmacht auf Protektion <strong>zu</strong>rückführte.<br />

Herr Vogel bemüht s<strong>ich</strong> im Interview, den Verdacht <strong>der</strong> Protektion <strong>zu</strong>rück<strong>zu</strong>-<br />

157


weisen. Da<strong>zu</strong> verläßt er sein bisher vorherrschendes Schema, entlang <strong>der</strong> linearen<br />

Abfolge <strong>der</strong> Ereignisse <strong>zu</strong> erzählen, und versucht <strong>mit</strong> einer zeitl<strong>ich</strong>en Rückblende<br />

<strong>zu</strong> belegen, wie unbegründet dieser Verdacht sei. Er erzählt eine Gesch<strong>ich</strong>te<br />

aus <strong>der</strong> Zeit vor seinem Ein<strong>zu</strong>g <strong>zu</strong>m Volkssturm, die eine ihm drohende<br />

Denunziation belegen soll. Er <strong>hatte</strong> <strong>mit</strong> einem Bauern aus seinem<br />

Heimatdorf einen Disput über den <strong>Krieg</strong>sausgang geführt und dabei die deutsche<br />

Nie<strong>der</strong>lage vorausgesagt. Den Bauern beschimpfte er als „Idioten 44<br />

und<br />

prophezeite ihm, daß er noch werde „<strong>zu</strong>gucken müssen, wie se das Vieh aus<br />

den Ställen holen 44 . Seine auf diese Erzählung folgenden Argumentationen verdeutl<strong>ich</strong>en,<br />

welch erhebl<strong>ich</strong>e Probleme er <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Frage nach <strong>der</strong> Schuld an <strong>der</strong><br />

deutschen Nie<strong>der</strong>lage hat. Ausführl<strong>ich</strong> zitiert Herr Vogel seine damaligen Argumente<br />

gegenüber dem Bauern; insbeson<strong>der</strong>e die Materialunterlegenheit <strong>der</strong><br />

Deutschen Wehrmacht machte er für die <strong>zu</strong> erwartende Nie<strong>der</strong>lage verantwortl<strong>ich</strong>.<br />

Bei diesen Zitationen im Interview ereifert er s<strong>ich</strong> sehr und argumentiert<br />

lange Strecken über die Schuld an <strong>Krieg</strong>sausbruch und -verlauf. Es handelt s<strong>ich</strong><br />

hierbei um die längste Sequenz im Interview, in <strong>der</strong> er in dieser Breite politisiert:<br />

„heut<strong>zu</strong>tage wird groß geschrieen Deutschland ist schuld am <strong>Krieg</strong>, den <strong>Krieg</strong> haben wir angefangen,<br />

das stimmt aber vorbereitet haben ihn die an<strong>der</strong>en (2) „ (13 /18)<br />

Herr Vogel beginnt in seiner Erregtheit, nervös <strong>mit</strong> dem Mikrophon <strong>zu</strong> spielen.<br />

Ganze Textpassagen sind unverständl<strong>ich</strong>; er echauffiert s<strong>ich</strong> bei seinen<br />

Schil<strong>der</strong>ungen über die beson<strong>der</strong>s schwierige politische Situation in Schlesien<br />

und benennt aufgebracht den von ihm am meisten verachteten Schuldigen: „Polen<br />

drückt schon lange uff <strong>Krieg</strong> 44 . Weitere Schuldige zählt er auf:<br />

„und <strong>der</strong> Haupt- <strong>Krieg</strong>sgegner, <strong>Krieg</strong>streiber, war ja Churchill und Roosevelt, das warn — Churchill<br />

kann <strong>ich</strong> n<strong>ich</strong> verstehen, daß man den heute (2) Stadt Aachen <strong>zu</strong>m Ehrenbürger ( ) und <strong>der</strong><br />

hat, und Roosevelt da<strong>zu</strong> die haben denn gewartet gewartet gewartet und denn haben se s<strong>ich</strong> <strong>mit</strong> den<br />

Russen verbunden (3) warn wir eingezäumt <strong>der</strong> <strong>Krieg</strong>, bloß wir waren <strong>zu</strong> schwach ... (( Fehler des<br />

Zweifronten-<strong>Krieg</strong> und geographische Bestimmung aller Fronten )) .. ja das war, verfehlte Politik<br />

von <strong>Hitler</strong> (3) er wollte <strong>zu</strong> viel (5) <strong>ich</strong> war ja nie in <strong>der</strong> Partei, deshalb wurde <strong>ich</strong> auch bei den ersten<br />

eingezogen ((spielt hektisch <strong>mit</strong> dem Mikro))" (W/ U)<br />

Für Herrn Vogel war das Ausland für den <strong>Krieg</strong>sausbruch verantwortl<strong>ich</strong> und<br />

daher auch schuldig an <strong>der</strong> deutschen Kapitulation. Man könnte seine Argumentation<br />

folgen<strong>der</strong>maßen paraphrasieren: „Hätte das Ausland den <strong>Krieg</strong> n<strong>ich</strong>t<br />

begonnen, hätte Deutschland ihn auch n<strong>ich</strong>t verloren 44 . Da<strong>mit</strong> kann er die Verantwortung<br />

für die deutsche Nie<strong>der</strong>lage wenigstens <strong>zu</strong>m Teil auf das Ausland<br />

abschieben und die Deutschen davon freisprechen. Für die verfehlte Politik <strong>Hitler</strong>s,<br />

für dessen Größenwahn, so die Argumentation Oskar Vogels, kann er als<br />

fórteiloser ohnehin n<strong>ich</strong>t verantwortl<strong>ich</strong> gemacht werden. Seine Parteilosigkeit<br />

führte seiner Meinung nach <strong>zu</strong> seinen Einberufungen <strong>zu</strong> Wehrmacht und Volkssturm.<br />

Da<strong>mit</strong> wurde er <strong>zu</strong>m Opfer dieses Deutschland aufgezwungenen <strong>Krieg</strong>es.<br />

S<strong>ich</strong> selbst als Opfer dieser Zeit <strong>zu</strong> begreifen und gle<strong>ich</strong>zeitig das Schicksal<br />

158


<strong>der</strong> eigentl<strong>ich</strong>en Opfer des Nationalsozialismus n<strong>ich</strong>t <strong>zu</strong> thematisieren ist ein<br />

Verarbeitungsmuster, das Herr Vogel <strong>mit</strong> vielen Zeitzeugen des „Dritten Re<strong>ich</strong>es"<br />

teilt. Fallspezifisch und da<strong>mit</strong> fur die weitere Auslegung relevant, ist <strong>der</strong><br />

von ihm betriebene Argumentationsaufwand, seine Erregtheit bei diesem<br />

Thema und sein Wechsel im Darstellungsmodus vom chronologischen Erzählen<br />

<strong>zu</strong>r Argumentation. Er hat im Interview <strong>zu</strong> keinem an<strong>der</strong>en historischen Ereigniss<br />

<strong>der</strong>art politisierend Stellung bezogen. We<strong>der</strong> hat er die politischen Hintergründe<br />

des Ersten Weltkrieges thematisiert, noch hat er über an<strong>der</strong>e historische<br />

Ereignisse viel ber<strong>ich</strong>tet, schon gar n<strong>ich</strong>t ohne explizite Nachfrage <strong>der</strong> Interviewerinnen.<br />

Der Schlüssel <strong>zu</strong>m Verständnis liegt in erster Linie in den biographischen<br />

Konsequenzen <strong>der</strong> deutschen Nie<strong>der</strong>lage von 1945 für Herrn Vogel. So<br />

überrascht auch n<strong>ich</strong>t, daß er s<strong>ich</strong> nach weiteren Argumenten, die den oben zitierten<br />

in ihrer Aussage ähneln, <strong>zu</strong>m ersten Mal im Gespräch explizit als Vertriebener<br />

einführt. Daraufhin for<strong>der</strong>te <strong>ich</strong> ihn <strong>zu</strong>r Erzählung über die Vertreibung<br />

auf, ließ m<strong>ich</strong> da<strong>mit</strong> auf seine Relevanzen ein und versäumte, ihn <strong>zu</strong> bitten,<br />

bei seinem Ein<strong>zu</strong>g <strong>zu</strong>r Wehrmacht 1945 fort<strong>zu</strong>fahren.<br />

5.2.7 Die Gegenwartsschwelle: Vertreibung aus <strong>der</strong> Heimat<br />

Auf die Bitte <strong>der</strong> Interviewerin, die Gesch<strong>ich</strong>te seiner Vertreibung <strong>zu</strong> erzählen,<br />

gibt Herr Vogel kurz die Information, daß er, aus sowjetischer Gefangenschaft<br />

entlassen, im Dezember 1945 nach Schlesien <strong>zu</strong>rückgekehrt sei. Darauf beginnt<br />

er <strong>mit</strong> <strong>der</strong> lakonischen Bemerkung: „die Ftolacken <strong>hatte</strong>n s<strong>ich</strong> schon festgesetzt",<br />

sehr detailliert über den Zustand seines Hauses und den Verbleib seines<br />

Mobiliars <strong>zu</strong> ber<strong>ich</strong>ten. Seine besten Möbel seien von <strong>der</strong> sowjetischen Kommandantur,<br />

die s<strong>ich</strong> im Nachbarhaus einquartiert <strong>hatte</strong>, konfisziert und <strong>mit</strong>tlerweile<br />

von <strong>der</strong> polnischen Verwaltung, die jetzt in diesem Haus residierte, übernommen<br />

worden. Herr Vogel setzte alles daran, sein Haus wie<strong>der</strong> in Ordnung<br />

<strong>zu</strong> bringen und dachte <strong>zu</strong>nächst n<strong>ich</strong>t an Umsiedlung. Obwohl die Ausweisung<br />

<strong>der</strong> deutschen Bevölkerung schon im Juni 1945 begonnen <strong>hatte</strong>, hoffte er auf ein<br />

Bleiben und auf ein Schlesien unter deutscher Regierung. Er verdingte s<strong>ich</strong><br />

nach seiner Rückkehr bei <strong>der</strong> polnischen Verwaltung als Waldarbeiter; vielle<strong>ich</strong>t<br />

stärkte ihn dies in seiner Hoffnung, da Facharbeiter bestimmter Industriezweige<br />

<strong>zu</strong>nächst n<strong>ich</strong>t ausgewiesen wurden. Seine Tochter erzählte mir, daß sie<br />

und ihre Mutter Tag für Tag die Ausweisung herbeigesehnt hätten, während ihr<br />

Vater immer habe bleiben wollen. Der "Väter habe in seiner „Dickköpfigkeit"<br />

daran geglaubt, daß s<strong>ich</strong> die „Verhältnisse wie<strong>der</strong> beruhigen" würden. Doch<br />

das Gegenteil trat ein, sein Eigentum wurde konfisziert und sein Haus einer polnischen<br />

Familie übereignet:<br />

„kommt eine Baiin <strong>mit</strong> vier Kin<strong>der</strong>n (2) und da sagt se, war=das einzige=was=se=deutsch==konnte<br />

(1) du Chef? μ, jetzt <strong>ich</strong> Chef, alles alles meine (2) clutscha, Schlüssel (1) wenn die Miliz<br />

n<strong>ich</strong> dabei gewesen wäre <strong>ich</strong> hätte se <strong>zu</strong>sammengeschlagen, geschlagen und rausjeschmissen ((sehr<br />

aggressiv und auffallend stark im schlesischen Tonfall)) (2) ja die <strong>Krieg</strong>sschäden waren ein paar Ein-<br />

159


schlage im Grundstücke, hab alles wie<strong>der</strong> ausgebessert, war alles wie<strong>der</strong> in Schuß (3) da war Schluß<br />

(2Γ (17/20)<br />

Nun gab es auch keinen Grund <strong>mehr</strong>, da<strong>zu</strong>bleiben. Es war viel<strong>mehr</strong><br />

„Schluß", Schluß <strong>mit</strong> all dem, was er s<strong>ich</strong> seit 1928 aufgebaut <strong>hatte</strong>. Sehr detailliert<br />

beschreibt Herr Vogel, was er selbst an seinem Haus alles gebaut <strong>hatte</strong>:<br />

Zentralhei<strong>zu</strong>ng, fließendes Wasser, Parkettfußböden etc.. Und dieses mühevoll<br />

aufgebaute Heim <strong>hatte</strong>n nun die Polen übernommen; ihm und seiner Familie<br />

blieb <strong>zu</strong>nächst noch die Wohnung im zweiten Stock.<br />

„Am 72. Juli, dann war es soweit" fahrt er fort und ber<strong>ich</strong>tet, wie die Miliz<br />

ins Dorf <strong>kam</strong> und verkündete: „morgen geht's wie<strong>der</strong> los morgen kommts raus".<br />

Auch bei dieser Erzählung steht <strong>der</strong> Besitz im Vor<strong>der</strong>grund. Er ber<strong>ich</strong>tet, daß<br />

man nur soviel <strong>mit</strong>nehmen durfte, wie man tragen konnte. Weiter erzählt er, wie<br />

Milizangehörige die Rä<strong>der</strong> von den Leiterwagen <strong>der</strong> Aussiedler kaputtschlugen<br />

und das Gepäck, das man n<strong>ich</strong>t tragen konnte, liegen blieb. Zu guter Letzt waren<br />

es die „Pollacken", die s<strong>ich</strong> an dem deutschen Eigentum noch bere<strong>ich</strong>erten:<br />

B: „dann <strong>kam</strong>en die Pollacken und hoben es auf (8) ja ja (3) das waren Zeiten (6)<br />

I: das tut Ihnen heute noch weh wenn Sie daran denken daß Sie Ihre Heimat verloren haben<br />

B: das geht nie weg (2) <strong>ich</strong> hab mein Grundstück so <strong>zu</strong>rechtgemacht für meine Töchter (5) <strong>ich</strong> hab<br />

in mein Grundstück (2) 65000 Mark umgesteckt (2) das waren über 80 Kilogramm Gold"<br />

(18/18)<br />

Herr Vogel verliert s<strong>ich</strong> in seinen Erinnerungen, wie die ungewöhnl<strong>ich</strong> langen<br />

Pausen zeigen. Er denkt an sein Eigentum, das er verloren hat. Er erzählt weiter,<br />

daß seine Tochter und sein Schwiegersohn vor wenigen Jahren in seinem Heimatort<br />

waren und ihm über den schlechten Zustand <strong>der</strong> Häuser ber<strong>ich</strong>tet haben.<br />

Dabei beginnt er <strong>zu</strong> weinen und erzählt, wieviele Häuser nur noch „Mist und<br />

Ruinen" seien, und daß von den 53 landwirtschaftl<strong>ich</strong>en Höfen nur noch drei in<br />

Betrieb seien.<br />

Sein Haus <strong>hatte</strong> er für s<strong>ich</strong> und seine Tochter gebaut, für <strong>der</strong>en <strong>zu</strong>künftige Familie<br />

er ein Stockwerk ausgebaut <strong>hatte</strong>. Auch hier spr<strong>ich</strong>t er n<strong>ich</strong>t von seiner<br />

Frau. Die gesamte Erzählung über die Vertreibung erfolgt im Singular. Es entsteht<br />

<strong>der</strong> Eindruck, als habe er <strong>zu</strong> dieser Zeit überhaupt keine Familie gehabt.<br />

Es mag sein, daß er keine glückl<strong>ich</strong>e Ehe geführt hat, doch diese Interpretation<br />

soll hier — da wir darüber keine Aussagen von ihm haben — n<strong>ich</strong>t weiter verfolgt<br />

werden. Die Konzentration auf sein Eigentum, das für ihn seine Berufskarriere<br />

symbolisiert, und die Vernachlässigung <strong>der</strong> Familienbiographie hängt auf<br />

jeden Fall da<strong>mit</strong> <strong>zu</strong>sammen, daß er das Eigentum verlor, während ihm die Familie<br />

ganz selbstverständl<strong>ich</strong> blieb. Vom Verlust seiner Ehefrau, ihrem Tod 1975,<br />

erzählt er dann auch wie<strong>der</strong> ausführl<strong>ich</strong>.<br />

Für Herrn \fogel ist die Erzählung seiner Vertreibung <strong>mit</strong> dem Verlust des<br />

letzten Eigentums beendet. Es gibt n<strong>ich</strong>ts <strong>mehr</strong> <strong>zu</strong> erzählen, denn sein sozialer<br />

Aufstieg wurde im Juli 1946, als er fast 50 Jahre alt war, zerstört, und es begann<br />

eine neue Gegenwart als Vertriebener. Wie er nach Westdeutschland <strong>kam</strong>, in<br />

welchen Berufen er später gearbeitet hat, davon ber<strong>ich</strong>tet er n<strong>ich</strong>t.<br />

160


Von seiner Tochter wissen wir, daß Herrn Vogel ein berufl<strong>ich</strong>es Fußfassen in<br />

<strong>der</strong> Bundesrepublik nie <strong>mehr</strong> gelungen ist. Er hat bis <strong>zu</strong>r Verrentung als einfacher<br />

Arbeiter bei <strong>der</strong> Stadtverwaltung gearbeitet.<br />

Herr Vogel fahrt in seiner Lebensgesch<strong>ich</strong>te <strong>mit</strong> dem Tod seiner Ehefrau fort.<br />

Zu diesem Zeitpunkt war er schon seit 12 Jahren Rentner. Ausfuhrl<strong>ich</strong> erzählt<br />

er, wie seine Frau 1975 eines Abends ganz unerwartet und plötzl<strong>ich</strong> neben ihm<br />

im Bett an einem Herzschlag starb. Er erzählt auch ausfuhrl<strong>ich</strong> über die Zeit<br />

nach ihrem Tod bis <strong>zu</strong> seiner Einlieferung ins Krankenhaus. In den letzten Jahren<br />

lebte er <strong>mit</strong> einer „Bekannten" <strong>zu</strong>sammen, die auch aus Schlesien stammt.<br />

Die Krankenhauseinlieferung repräsentiert für ihn einen neuerl<strong>ich</strong>en Wendepunkt,<br />

den er wie<strong>der</strong> <strong>mit</strong> einer Gesch<strong>ich</strong>te darstellt. Er erzählt, wie er seine Bekannte,<br />

die s<strong>ich</strong> seiner Meinung nach n<strong>ich</strong>t gut allein versorgen konnte, <strong>zu</strong>r<br />

Rückkehr <strong>zu</strong> ihrer Familie überredet habe. Er wird vermutl<strong>ich</strong> geahnt haben,<br />

daß er <strong>zu</strong> seinem vor <strong>der</strong> Einlieferung geführten Leben n<strong>ich</strong>t <strong>mehr</strong> würde <strong>zu</strong>rückkehren<br />

können.<br />

Herrn Vogel gelingt es, <strong>mit</strong> dem Überspringen <strong>der</strong> Lebensphase zwischen<br />

1946 und 1975 das eigentl<strong>ich</strong> Problematische seines Lebens, seine Entwurzelung<br />

und seinen sozialen Abstieg, aus<strong>zu</strong>blenden. We<strong>der</strong> erzählt er von den Wendepunkten<br />

— selbst die Verrentung bleibt unerwähnt —, noch argumentiert er<br />

im Zusammenhang <strong>mit</strong> seinem ausgebliebenen berufl<strong>ich</strong>en Erfolg. Hier wird<br />

nun deutl<strong>ich</strong>, weshalb die Frage nach <strong>der</strong> <strong>Krieg</strong>sschuld für ihn so virulent blieb,<br />

weshalb er s<strong>ich</strong> heute noch so darüber aufregt. Er hat s<strong>ich</strong> in <strong>der</strong> Beschäftigung<br />

<strong>mit</strong> seinem Lebensproblem, dem sozialen Abstieg vom erfolgre<strong>ich</strong>en Unternehmer<br />

<strong>zu</strong>m unbedeutenden Arbeiter, völlig auf den <strong>Krieg</strong>sverlauf und da<strong>mit</strong><br />

den Verlust <strong>der</strong> deutschen Ostgebiete beschränkt. Indem er beim Thema<br />

<strong>Krieg</strong>sschuld stehenbleibt und hier nach Ursachen des historischen Werdegangs<br />

sucht, vermeidet er, über seinen eigenen biographischen Werdegang nachdenken<br />

<strong>zu</strong> müssen. Da<strong>mit</strong> gelingt es ihm jedoch gerade n<strong>ich</strong>t, seinen Werdegang <strong>zu</strong><br />

akzeptieren und s<strong>ich</strong> <strong>zu</strong><strong>zu</strong>gestehen, daß man <strong>mit</strong> 47 Jahren berufl<strong>ich</strong> n<strong>ich</strong>t noch<br />

einmal da anfangen kann, wo man 1919 nach <strong>der</strong> Rückkehr aus dem Ersten<br />

Weltkrieg angefangen <strong>hatte</strong>.<br />

Zusammenfassend können wir festhalten, daß die entscheidende biographische<br />

Verän<strong>der</strong>ung für Herrn Vogel seine Vertreibung 1946 war. Dieser Wendepunkt<br />

repräsentiert für ihn die Gegenwartsschwelle, von <strong>der</strong> aus er auf die Vergangenheit<br />

vor dieser Schwelle <strong>zu</strong>rückschaut, von <strong>der</strong> aus er aber auch die <strong>zu</strong>künftige<br />

Gegenwart betrachtet. Die nach <strong>der</strong> Vertreibung n<strong>ich</strong>t geglückte berufl<strong>ich</strong>e<br />

Karriere mißt er an dem berufl<strong>ich</strong>en Leben vor <strong>der</strong> Vertreibung. Da es ihm<br />

n<strong>ich</strong>t gelang, wie<strong>der</strong> ein neues Leben auf<strong>zu</strong>bauen, ob nun materiell o<strong>der</strong> ideell,<br />

liegt seine zentrale Lebensperspektive in seiner erfolgre<strong>ich</strong>en Zeit in Schlesien.<br />

Während Sterbende häufig ihre zentrale Lebensperspektive in die Vergangenheit<br />

verschieben, da sie keine Zukunft <strong>mehr</strong> antizipieren können, beschrankt s<strong>ich</strong><br />

diese Vergangenheit bei Herrn Vogel auf die Zeit vor 1946. Vermutl<strong>ich</strong> lebte Herr<br />

Vogel schon lange, bevor er ans Sterben dachte, in dieser Vergangenheit 1 .<br />

161


3.2.8 Reparaturstrategie: Das Ausblenden von Problematischem<br />

Biographen erzählen jene Erfahrungen und Ereignisse, die von lebensgesch<strong>ich</strong>tl<strong>ich</strong>er<br />

Relevanz für sie sind, die aus den Alltagsroutinen herausragen.<br />

Sie erzählen von biographischen Krisen, die <strong>zu</strong> Verän<strong>der</strong>ungen ihres Lebens<br />

führen, und von Statuspassagen. Die Darstellung biographischer Wendepunkte<br />

an Hand von Interaktionsgesch<strong>ich</strong>ten, wie wir sie auch bei Herrn Vogel antreffen,<br />

ist also <strong>zu</strong>nächst n<strong>ich</strong>t bemerkenswert. Beze<strong>ich</strong>nend für diesen Biographen<br />

jedoch ist, daß er s<strong>ich</strong> fest ausschließl<strong>ich</strong> an diesen Wendepunkten orientiert<br />

und <strong>zu</strong>dem über die Phasen, die zwischen den Wendepunkten liegen, kaum etwas<br />

erzählt. Sofern diese Phasen <strong>mit</strong> unangenehmen und belastenden Erinnerungen<br />

verbunden sind, erzählt er nur noch über die Wendepunkte. Dabei<br />

orientiert er s<strong>ich</strong> zeitl<strong>ich</strong> an Punkten, die dem eigentl<strong>ich</strong> Belastenden vorausgehen<br />

bzw. auf die belastenden Ereignisse folgen. Dieser Biograph repräsentiert<br />

so<strong>mit</strong> einen Typus, <strong>der</strong> Erlebnisse n<strong>ich</strong>t explizit leugnet, wie wir es häufig im<br />

Zusammenhang <strong>mit</strong> <strong>der</strong> NS-VergangenheitsÜiematisierung antreffen, son<strong>der</strong>n<br />

diese Erlebnisse erst gar n<strong>ich</strong>t anspr<strong>ich</strong>t. Er verfügt also hauptsächl<strong>ich</strong> über<br />

eine Strategie im Umgang <strong>mit</strong> problematischen Erlebnissen und Erfahrungen.<br />

Auf den ersten Blick unterscheiden s<strong>ich</strong> Herrn Vogels Ber<strong>ich</strong>te über die beiden<br />

Weltkriege n<strong>ich</strong>t. Er orientiert s<strong>ich</strong> jeweils an den heteronom produzierten<br />

Wendepunkten, dem Statuswechsel vom Zivilisten <strong>zu</strong>m Soldaten, <strong>der</strong> unabhängig<br />

von seiner eigenen Handlungsplanung vollzogen werden mußte. Und jeweils<br />

blendet er die Zeit zwischen Ein<strong>zu</strong>g und Entlassung, die Zeit als Soldat, aus.<br />

Betrachten wir seine Ber<strong>ich</strong>te genauer — und dies bedeutet auch, zwischen<br />

zwei für Oskar Vogel relevanten Phasen im Zweiten Weltkrieg, dem Polenfeld<strong>zu</strong>g<br />

<strong>zu</strong> Beginn und den letzten <strong>Krieg</strong>smonaten, <strong>zu</strong> differenzieren —, zeigen s<strong>ich</strong><br />

etl<strong>ich</strong>e Unterschiede. Diese liegen <strong>zu</strong>erst auf <strong>der</strong> Ebene <strong>der</strong> Textstruktur: Während<br />

er über die Zeit bei <strong>der</strong> Kaiserl<strong>ich</strong>en Armee erzählt und we<strong>der</strong> über seinen<br />

Ein<strong>zu</strong>g noch den <strong>Krieg</strong>sverlauf politisiert, herrscht bei <strong>der</strong> Darstellung des<br />

Zweiten Weltkrieges, insbeson<strong>der</strong>e bei den letzten <strong>Krieg</strong>smonaten, die Textstruktur<br />

<strong>der</strong> Argumentation vor. Rechtfertigt er beim Polenfeld<strong>zu</strong>g nur seinen<br />

Ein<strong>zu</strong>g, so argumentiert er bei den letzten <strong>Krieg</strong>smonaten in aller Ausführl<strong>ich</strong>keit<br />

über die Urheber und die Ursachen von <strong>Krieg</strong>sbeginn und -ausgang. Die<br />

Frage nach <strong>der</strong> <strong>Krieg</strong>sschuld steht fur ihn <strong>der</strong>art im Vor<strong>der</strong>grund, daß er über<br />

das <strong>Krieg</strong>sende überhaupt n<strong>ich</strong>ts <strong>mehr</strong> erzählt, viel<strong>mehr</strong> die erzählerische<br />

Lücke <strong>mit</strong> Argumentationen füllt. Beim Zweiten Weltkrieg besteht für diesen<br />

Biographen also ein Legitimationsbedarf, <strong>der</strong> s<strong>ich</strong> sowohl auf sein eigenes Soldatsein<br />

als auch auf die Rolle Deutschlands an und in diesem <strong>Krieg</strong> bezieht.<br />

Doch n<strong>ich</strong>t nur textstrukturell unterscheiden s<strong>ich</strong> die Darstellungen <strong>der</strong> beiden<br />

<strong>Krieg</strong>e. Auch die Emotionalität, die s<strong>ich</strong> in Herrn \fogels Darstellung den Zuhörerinnen<br />

<strong>mit</strong>teilt, ist bei beiden <strong>Krieg</strong>en unterschiedl<strong>ich</strong>. Ist es bei den Erzählungen<br />

über den Ersten Weltkrieg Trauer, die spürbar wird, so sind die Argumentationen<br />

<strong>zu</strong>m Zweiten <strong>Krieg</strong> von Wut geprägt. Bei seinen Erinnerungen an<br />

162


1917/18 gelingt es ihm noch, seine primären Gefühle, seine Trauer in <strong>der</strong> damaligen<br />

Situation, aus<strong>zu</strong>drücken. Dagegen ist seine Trauer beim Zweiten Weltkrieg<br />

überlagert von Wut. Da<strong>mit</strong> kann er auch n<strong>ich</strong>t um die in den letzten<br />

<strong>Krieg</strong>smonaten erlebten leidvollen Erfahrungen und über sein <strong>mit</strong> dem <strong>Krieg</strong><br />

<strong>zu</strong>sammenhängendes Schicksal <strong>der</strong> Vertreibung trauern, geschweige denn über<br />

die von Deutschen begangenen Verbrechen.<br />

Die Strategie des Ausblendens von Erlebnissen und Erfahrungen aus den<br />

„drei" <strong>Krieg</strong>sphasen, die er <strong>mit</strong>erlebt hat, dient also unterschiedl<strong>ich</strong>en<br />

Zwecken. Beim Ersten Weltkrieg kann Herr Vogel da<strong>mit</strong> die leidvoilen, existentiell<br />

bedrohl<strong>ich</strong>en Fronterlebnisse ausblenden. Beim Bolenfeld<strong>zu</strong>g gelingt es<br />

ihm <strong>mit</strong> dieser Strategie, das Leid <strong>zu</strong> dethematisieren, das von Angehörigen des<br />

deutschen Volkes an<strong>der</strong>en Menschen <strong>zu</strong>gefügt wurde. Die Darstellung <strong>der</strong> letzten<br />

<strong>Krieg</strong>smonate ist bestimmt von <strong>der</strong> Frage nach <strong>der</strong> Schuld am <strong>Krieg</strong>sausgang,<br />

<strong>der</strong> für ihn im Unterschied <strong>zu</strong> an<strong>der</strong>en historischen Ereignissen <strong>zu</strong>m<br />

Thema wurde, weil er sein Leben so nachhaltig verän<strong>der</strong>te. We<strong>der</strong> die deutsche<br />

Nie<strong>der</strong>lage 1918 noch die Weltwirtschaftskrise 1929 <strong>hatte</strong>n für ihn lebensverän<strong>der</strong>nde<br />

Auswirkungen: 1918 war er von <strong>der</strong> Todesgefahr an <strong>der</strong> Front befreit und<br />

<strong>hatte</strong> danach während Inflation und Weltwirtschaftskrise erfolgre<strong>ich</strong> seine berufl<strong>ich</strong>e<br />

Existenz aufgebaut und eine Familie gegründet. Die deutsche Nie<strong>der</strong>lage<br />

1945 <strong>hatte</strong> dagegen <strong>zu</strong>r Folge, daß er seinen Besitz und seine Heimat verlor<br />

und sein erfolgre<strong>ich</strong>es Leben beendet war. Hier liegt, wie bereits diskutiert,<br />

sein eigentl<strong>ich</strong>es Problem, über das er jedoch n<strong>ich</strong>t sprechen kann. Er konnte<br />

den Verlust <strong>der</strong> Heimat n<strong>ich</strong>t überwinden, war vielle<strong>ich</strong>t n<strong>ich</strong>t <strong>mehr</strong> flexibel genug,<br />

um s<strong>ich</strong> auf eine neue Lebenssituation einstellen <strong>zu</strong> können. Da das Problem<br />

seines sozialen Abstiegs ungelöst im Vor<strong>der</strong>grund steht und ihn quält, ist<br />

<strong>der</strong> Weg <strong>zu</strong>r Reflexion von Problemen, die ihn selbst n<strong>ich</strong>t nachhaltig tangierten,<br />

versperrt. Dim ist auch die Eins<strong>ich</strong>t in die Rolle Deutschlands in diesem<br />

<strong>Krieg</strong> versperrt. Er ist bemüht, die Schuld an dieser Nie<strong>der</strong>lage und da<strong>mit</strong> auch<br />

an seiner Vertreibung n<strong>ich</strong>t Deutschland, son<strong>der</strong>n dem Ausland an<strong>zu</strong>lasten —<br />

eine Konstruktion, die ihm ermögl<strong>ich</strong>t, auch als Vertriebener im Westen weiterhin<br />

Mitglied des Kollektivs <strong>der</strong> Deutschen <strong>zu</strong> sein, die nach ihrer eigenen Mythenkonstruktion<br />

alle Opfer des Faschismus sind.<br />

Anmerkung<br />

1 Wie weitere Interviews, die <strong>ich</strong> <strong>mit</strong> Vertriebenen geführt habe, zeigen, leben diejenigen in <strong>der</strong><br />

\fergangenheit, denen es nach <strong>der</strong> Vertreibung n<strong>ich</strong>t <strong>mehr</strong> gelungen ist, s<strong>ich</strong> ein neues Leben<br />

auf<strong>zu</strong>bauen bzw., ideeller formuliert, weiterhin <strong>mit</strong> ihrem Lebensalltag <strong>zu</strong>frieden <strong>zu</strong> sein. Dagegen<br />

gibt es Männer <strong>der</strong> Generation Herrn Vfogels, die <strong>mit</strong> ihren ca. 90 Jahren immer noch eine<br />

Zukunft antizipieren. Z.B. antwortete mir ein vertriebener, den <strong>ich</strong> fragte, was seine schönste<br />

Zeit im Leben gewesen sei, „wieso gewesen, die ist immer noch und wird es weiterhin auch<br />

sein' 4 .<br />

163


4. Die Soldaten <strong>der</strong> Etappe und Zeugen <strong>der</strong> NS-Verbrechen<br />

Martina<br />

Schiebel<br />

4.1 Walter Langenbach: „Und dann gings los das große Morden"<br />

4.1.1 Kindheit und Jugend: „Das Schicksal einer Knegshalbwaisen"<br />

Wir haben Herrn Langenbach einige Male im Interview gebeten, über seine<br />

Kindheit und Jugend <strong>zu</strong> erzählen. In seiner Darstellung dieser Lebensphasen<br />

waren Argumentationen über den Tod seines leibl<strong>ich</strong>en Vaters vorherrschend,<br />

die jedoch nur vor dem Hintergrund seiner Erfahrungen als Erwachsener verstehbar<br />

werden.<br />

Walter Langenbach wurde im März 1914 in einer <strong>mit</strong>telgroßen westfälischen<br />

Stadt geboren. <strong>Als</strong> er kaum ein halbes Jahr alt war, begann <strong>der</strong> Erste Weltkrieg;<br />

<strong>der</strong> Vater wurde als Infanterist an die Front nach Belgien eingezogen, wo er<br />

schon nach wenigen Wochen fiel.<br />

Herr Langenbach macht s<strong>ich</strong> heute ein genaues Bild vom Tod seines Vaters.<br />

Er ber<strong>ich</strong>tet, eine Granate habe seinen Vater in kleine Stücke gerissen, die dann<br />

von Ratten gefressen worden seien. Seine Beschreibung wirkt, als habe er die<br />

Szene genau vor Augen. Vielle<strong>ich</strong>t spielen dabei selbst erlebte <strong>Krieg</strong>sszenen<br />

eine Rolle, die er auf den Tod seines Vaters überträgt. So erzählt er auch im Zusammenhang<br />

einer eigenen <strong>Krieg</strong>sverwundung im Zweiten Weltkrieg vom<br />

Schicksal seines Vaters:<br />

„<strong>ich</strong> konnts gar n<strong>ich</strong> glauben, daß <strong>ich</strong> die Verlet<strong>zu</strong>ng überstehen werde mein Huer (1) war auch Infantrist<br />

genau wie <strong>ich</strong> <strong>der</strong> hat vierzehn wie <strong>ich</strong>=n halbes Jahr alt war (1) ((Räuspern)) in Belgien (1)<br />

öh: (2) nachdem=er acht Tage an=ner Front war nen Volltreffer bekommen <strong>der</strong> is zerrissen worden,<br />

da hat man nur noch seine:, gravierte Uhr und das Tagebuch gefunden (2) und: <strong>ich</strong> glaubte ja nie daß<br />

<strong>ich</strong> den Kriech überleben würde weil die Waffen ja, noch viel schlimmer geworden warn (1) beim<br />

Zweiten Vveltkrieg 44 (TL/2) 1<br />

Diese Verknüpfung <strong>der</strong> eigenen <strong>Krieg</strong>serfahrungen, <strong>der</strong> eigenen Angst vor<br />

dem Tod an <strong>der</strong> Front <strong>mit</strong> dem Tod des Vaters nimmt Herr Langenbach noch an<br />

weiteren Stellen vor. Es sind die Stellen in den beiden Interviews, bei denen<br />

seine Trauer spürbar wird und er <strong>mit</strong> den Tränen kämpft. Diese Trauer, die er so<br />

deutl<strong>ich</strong> nur bei den Erzählungen über den Tod des Vaters <strong>zu</strong>m Ausdruck bringen<br />

kann, muß daher im thematischen Zusammenhang seiner eigenen <strong>Krieg</strong>serlebnisse<br />

gesehen werden.<br />

Der Vater galt, als er 1914 fiel, <strong>zu</strong>nächst als vermißt. Erst zwei Jahre später,<br />

als seine Uhr und das Tagebuch gefunden und über das Rote Kreuz an Walters<br />

Mutter weitergeleitet wurden, wurde <strong>der</strong> Vater amtl<strong>ich</strong> für tot erklärt. Herr Langenbach<br />

meint:<br />

165


„ICH KANN MICH SEHR GUT ERINNERN, meine Mutter (2) HAT (2) in ALLEN KRIECHS<br />

JAHREN (2) WOCHENLANG (1) ZUMINDEST NACHTS erbittert ,geweint 4 (1)" (52/14)<br />

Erinnert er s<strong>ich</strong> da tatsächl<strong>ich</strong> an das damalige Weinen <strong>der</strong> Mutter, o<strong>der</strong> erinnert<br />

er s<strong>ich</strong> an spätere Erzählungen <strong>der</strong> Mutter darüber? Für die zweite Deutung<br />

spr<strong>ich</strong>t, daß seine Mutter ihm viel über den Vater erzählt hat; so auch, <strong>mit</strong> welchen<br />

Worten s<strong>ich</strong> <strong>der</strong> \ater bei <strong>Krieg</strong>sbeginn verabschiedete:<br />

„er schied von meiner Mutter hat sie oft gesa.cht ((weinerl<strong>ich</strong>^)) (2) LASS UNS MAN ERST DA<br />

SEIN (1) .dann schmeißen wir den Laden schon" 4 . (51 /52)<br />

1920, als Walter Langenbach fünf Jahre alt war, heiratete seine Mutter einen<br />

kleinen Beamten. Die Ehe blieb kin<strong>der</strong>los. Walter Langenbach <strong>hatte</strong> nun einen<br />

Stiefvater, den er als einen „herzensguten 44<br />

Menschen beschreibt, <strong>zu</strong> dem er ein<br />

gutes Verhältnis <strong>hatte</strong> und den er als Autorität anerkannte. Trotzdem ist es ihm<br />

w<strong>ich</strong>tig <strong>zu</strong> betonen, daß er ohne leibl<strong>ich</strong>en Vater aufgewachsen ist.<br />

Von 1920 bis 1928 besuchte Walter Langenbach die Volksschule in seinem<br />

Heimatort. In seiner Freizeit half er in einer Baumschule aus und entwickelte<br />

den Wunsch, Gärtner <strong>zu</strong> werden. Sein Stiefvater riet ihm jedoch davon ab. Im<br />

Jahre 1929 gelang es Walter Langenbach, eine Lehrstelle bei einem Zimmermann<br />

<strong>zu</strong> finden. Er erlernte den Beruf des Zimmermanns. Nach seiner Darstellung<br />

mußte er während <strong>der</strong> vierjährigen Lehrzeit hauptsächl<strong>ich</strong> als „Laufjunge 44<br />

arbeiten und fühlte s<strong>ich</strong> ausgenutzt. 1932, als die Arbeitslosigkeit ihren Höchststand<br />

erre<strong>ich</strong>te, legte Walter Langenbach seine Gesellenprüfung ab. Die Zimmerei<br />

„machte Pleite 44 , und er verlor seinen Arbeitsplatz, doch konnte ihm sein<br />

Stiefvater nach wenigen Wochen Arbeitslosigkeit einen Aushilfsjob ver<strong>mit</strong>teln.<br />

Walter Langenbach war von seinem Stiefvater sozialdemokratisch erzogen<br />

worden, und ungefähr <strong>zu</strong>m Zeitpunkt seiner Stellensuche trat er in die Jugendorganisation<br />

<strong>der</strong> SPD, in die Sozialistische Arbeiterjugend, ein. Die SAJ warb<br />

<strong>zu</strong> jener Zeit verstärkt um die Jugend; in Ostwestfalen veröffentl<strong>ich</strong>te sie <strong>zu</strong>m<br />

Ende eines Schuljahres in ihrem Presseorgan, <strong>der</strong> ,Volkswacht 4 , einen Aufruf an<br />

die jugendl<strong>ich</strong>en Schulentlassenen, ihrer Organisation bei<strong>zu</strong>treten. Während<br />

Walter Langenbachs Lehrzeit wurden von <strong>der</strong> SAJ erstmals wie<strong>der</strong> massive For<strong>der</strong>ungen<br />

im Bere<strong>ich</strong> von Jugendrecht und Jugendschutz erhoben (vgl. Bracher<br />

/Hartmann 1983: 86).<br />

Herr Langenbach fühlte s<strong>ich</strong> in seiner Interpretation, als Lehrjunge ausgenutzt<br />

<strong>zu</strong> werden, von <strong>der</strong> SAJ unterstützt; vielle<strong>ich</strong>t <strong>hatte</strong> er auch Hoffhungen in<br />

die Politik <strong>der</strong> Sozialdemokraten gesetzt. Er ber<strong>ich</strong>tet über den politischen Unterr<strong>ich</strong>t<br />

in <strong>der</strong> SAJ und meint:<br />

„an allen möchJ<strong>ich</strong>en, Beispielen wurde dann erläutert (2) wie, Politik gemacht wird die die Re<strong>ich</strong>en<br />

unterstützt und die Armen ärmer macht 44<br />

(II./5)<br />

Die N<strong>ich</strong>terfüllung seiner Hoffhungen und seine Arbeitslosigkeit ab 1932<br />

erklären vielle<strong>ich</strong>t, weshalb er heute distanziert über seine Zeit in <strong>der</strong> SAJ ber<strong>ich</strong>tet,<br />

wenig darüber erzählt und auch seine Enttäuschung über diese Organisation<br />

bei seinen Ausführungen spürbar wird. Doch es sind auch spätere Er-<br />

166


lebnisse <strong>mit</strong> <strong>der</strong> SPD, die seine heutige S<strong>ich</strong>t <strong>der</strong> SAJ bestimmen; darauf<br />

werde <strong>ich</strong> später noch eingehen.<br />

Insgesamt gesehen, schil<strong>der</strong>t Herr Langenbach seine Kindheit und Jugend als<br />

entbehrungsre<strong>ich</strong>e Zeit. Obwohl er in den Jahren <strong>der</strong> Weltwirtschaftskrise eine<br />

Lehrstelle <strong>hatte</strong>, stellt er ledigl<strong>ich</strong> die negativen Aspekte, das Ausbeutungsverhältnis<br />

und die spätere Erwerbslosigkeit, dar. Er weist beson<strong>der</strong>s darauf hin,<br />

daß er s<strong>ich</strong> seinen eigentl<strong>ich</strong>en Berufswunsch n<strong>ich</strong>t erfüllen konnte. Auch erzählt<br />

er keine positiven Erinnerungen an seine Zeit in <strong>der</strong> Jugendorganisation.<br />

4.1.2 Die Laufbahn in militänschen Institutionen ab 1933<br />

Der historische Wendepunkt 1933, das Ende <strong>der</strong> Weimarer Republik und <strong>der</strong><br />

Beginn <strong>der</strong> NS-Diktatur, korrespondierte bei Herrn Langenbach <strong>mit</strong> einem<br />

biographischen Wendepunkt. N<strong>ich</strong>t nur seine Mitgliedschaft in <strong>der</strong> nun verbotenen<br />

SAJ war jetzt <strong>zu</strong> Ende, er meldete s<strong>ich</strong> auch freiwillig <strong>zu</strong>m Re<strong>ich</strong>sarbeitsdienst,<br />

<strong>zu</strong> dem nach <strong>der</strong> „Gle<strong>ich</strong>schaltung 44<br />

1933 nur noch nationalsozialistische<br />

Träger <strong>zu</strong>gelassen wurden. Hier stellt s<strong>ich</strong> die Frage, ob er s<strong>ich</strong> von<br />

seiner bis dahin eher sozialdemokratischen Gesinnung bewußt distanzierte,<br />

o<strong>der</strong> ob er s<strong>ich</strong> nur an die neuen politischen Machtverhältnisse anpaßte und<br />

s<strong>ich</strong> als Arbeitsloser etwas von ihnen versprach. Sehen wir, wie er selbst seine<br />

Meldung begründet:<br />

„ICH HABE ERST (1) FREIWILLIG SOGAR BIN ICH ZUM ARBEITSDIENST GEGAN­<br />

GEN, <strong>zu</strong> <strong>der</strong>Zeit war mein Vater Pedell in einer Schule (2) UND DA WAR KLAR: (1) die wußten<br />

ja <strong>mehr</strong> wie: <strong>der</strong> normale Mensch die Beamten (2) bei <strong>Hitler</strong>, daß <strong>der</strong>: (1) Arbeitsdienst Pfl<strong>ich</strong>t<br />

wurde, und da wurde jesprochen (1) daß <strong>der</strong> Jahrgang dreizehn als erster (1) eingezogen würde und<br />

nun war <strong>ich</strong> Jahrgang vierzehn also (1) war <strong>ich</strong> dran gewesen (1) und <strong>ich</strong> wurde, arbeitslos ... und<br />

weil <strong>ich</strong>, arbeitslos war und auch schlecht Arbeit <strong>zu</strong> bekommen war (2) und die: Angestellten<br />

sachten <strong>zu</strong> meinem Vater (1) Mensch er soll doch jetzt frziwill<strong>ich</strong> machen denn is-er davon ab und<br />

ivtiwill<strong>ich</strong> is vielle<strong>ich</strong>t n<strong>ich</strong> so schlimm, wie nachher <strong>mit</strong> Zwang (3)" (U. /12)<br />

Herr Langenbach versucht, seine freiwillige Meldung <strong>zu</strong>nächst <strong>mit</strong> dem<br />

schon 1933 <strong>zu</strong> erwartenden Pfl<strong>ich</strong>tdienst <strong>zu</strong> begründen, und schiebt die<br />

Verantwortung für seine Handlung auf Autoritätspersonen sowie auf die politischen<br />

Verhältnisse. In <strong>der</strong> damaligen Zeit wird für seine Entscheidung seine<br />

Arbeitslosigkeit ausschlaggebend gewesen sein. In <strong>der</strong> Hoffnung auf Arbeit<br />

wird er s<strong>ich</strong> <strong>mit</strong> dem Nationalsozialismus arrangiert haben und s<strong>ich</strong> da<strong>mit</strong> von<br />

den Sozialdemokraten, die diese Hoffnung n<strong>ich</strong>t erfüllt <strong>hatte</strong>n, distanziert haben.<br />

Aus <strong>der</strong> Zeit seines Arbeitsdienstes, den man als paramilitärische Organisation<br />

betrachten muß, ist ihm das Exerzieren <strong>mit</strong> dem Spaten, dem Symbol<br />

des Arbeitersoldaten, beson<strong>der</strong>s in Erinnerung. Herr Langenbach beschreibt<br />

eingehend den militärischen Drill und schil<strong>der</strong>t z.B., wie beim Spatenexerzieren<br />

Männer ohnmächtig <strong>zu</strong>sammenbrachen.<br />

Nach halbjährigem Arbeitsdienst arbeitete Herr Langenbach kurze Zeit in<br />

seinem Zivilberuf und wurde dann kurz nach <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>einführung <strong>der</strong> allge-<br />

167


meinen Wehrpfl<strong>ich</strong>t am 16.3.1935 gemustert. 2<br />

Er wurde als Pionier eingeteilt.<br />

Pioniere sind Soldaten einer Truppe, die vor allem die Bewegungen <strong>der</strong><br />

eigenen Truppen <strong>zu</strong> gewährleisten und die des Feindes <strong>zu</strong> verhin<strong>der</strong>n hat; ihre<br />

Aufgaben umfassen z.B. Brückenbauen, Sprengungen, Verlegen und Suchen<br />

von Minen. Herr Langenbach erklärt s<strong>ich</strong> diese Einteilung <strong>mit</strong> seinem Handwerksberuf.<br />

Im Herbst des gle<strong>ich</strong>en Jahres wurde Herr Langenbach <strong>mit</strong> dem ersten<br />

Wehrpfl<strong>ich</strong>tsjahrgang <strong>zu</strong>m einjährigen aktiven Wehrdienst eingezogen, <strong>der</strong> im<br />

August 1936 dann auf zwei Jahre erhöht wurde. Er <strong>kam</strong> <strong>zu</strong> einem Infanterie-<br />

Bataillon in <strong>der</strong> Nähe seines Heimatortes. Über die ersten Schießübungen erzählt<br />

er:<br />

.Ja und, dann (2) die erste kleine Erschütterung gab es wie <strong>ich</strong> als Rekrut ins Gelände mußte,<br />

und die: älteren Gefreiten, die teilweise vom (2) Re<strong>ich</strong>sbanner ((leise lachend)) Re<strong>ich</strong>sbanner=war=ja=die<br />

SPD—Organisation von <strong>der</strong> Re<strong>ich</strong>swehr <strong>kam</strong>en, die=<strong>hatte</strong>n=im=Gelände<br />

=sogenannte=Papp<strong>kam</strong>eraden =aufgestellt=aas=wum =also(\) Köpfe <strong>mit</strong> Stahlhelm und<br />

eventuell noch die obere Schulterpartie warn so übers Heidekraut so eben <strong>zu</strong> sehn und auf die<br />

sollten wir, <strong>mit</strong> Platzpatronen schießen (2) DA <strong>kam</strong> mir <strong>zu</strong>m Bewußtsein daß <strong>ich</strong> später eventuell<br />

als Infantrist (2) auf, solche, im=Heidekraut=1 legenden=Menschen schießen mußte die <strong>ich</strong> vorher<br />

nie gesehen <strong>hatte</strong> und die mir praktisch auch n<strong>ich</strong>ts getan <strong>hatte</strong>n, dieselben würden natürl<strong>ich</strong><br />

auf m<strong>ich</strong> schießen und dann <strong>kam</strong>=s drauf an wer <strong>zu</strong>erst trifft (3) ja:, aber, <strong>der</strong> Schmerz<br />

ging=vorüber auch die Ausbildung 44 (1 /35)<br />

Der Beginn <strong>der</strong> Erzählung läßt ahnen, daß es im militärischen Leben von<br />

Herrn Langenbach noch weitere und weit größere Erschütterungen gegeben<br />

hat. Was hier noch Papp<strong>kam</strong>eraden waren, waren später lebende Menschen.<br />

In <strong>der</strong> damaligen Situation realisierte Walter Langenbach, daß sein Leben im<br />

Ernstfall ebenso wie das <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en gefährdet sein würde. Empfand er <strong>zu</strong>nächst<br />

„Schmerz 44<br />

über diese Eins<strong>ich</strong>t, so ging dieser bald „vorüber 44 . Herr<br />

Langenbach zog die Konsequenz, daß er schneller als <strong>der</strong> Gegner sein müßte.<br />

Er bemühte s<strong>ich</strong> nun, ein guter Schütze <strong>zu</strong> werden, und stolz ber<strong>ich</strong>tet er von<br />

seinen Erfolgen:<br />

„<strong>ich</strong> war tatsächl<strong>ich</strong> ob Sie es glauben o<strong>der</strong> n<strong>ich</strong> (1) <strong>der</strong> beste Scharfschütze im ganzen Batallion<br />

44 (43/13)<br />

Bei Herrn Langenbach hat <strong>der</strong> Gedanke an die Gefährdung des eigenen Lebens<br />

im <strong>Krieg</strong>sfall n<strong>ich</strong>t da<strong>zu</strong> geführt, daß er auf den Frieden hoffte und vertraute.<br />

Er bemühte s<strong>ich</strong> viel<strong>mehr</strong>, die für den Ernstfall notwendigen Fähigkeiten<br />

<strong>zu</strong> schulen. Er begann — wie im folgenden noch deutl<strong>ich</strong> wird —, s<strong>ich</strong> allmähl<strong>ich</strong><br />

<strong>mit</strong> <strong>der</strong> Institution <strong>der</strong> Armee <strong>zu</strong> identifizieren. So bedauert er es<br />

auch heute noch, daß er während seines Wehrdienstes n<strong>ich</strong>t beför<strong>der</strong>t wurde,<br />

obwohl er die „Befehle hun<strong>der</strong>tprozentig ausgeführt 44<br />

hat. Doch manchmal<br />

habe er s<strong>ich</strong> „bockig gestellt 44 , meint er und führt darauf seine N<strong>ich</strong>t­<br />

Beför<strong>der</strong>ung <strong>zu</strong>rück. Den Sozialisationseffekt <strong>der</strong> Militärzeit sieht er darin,<br />

daß „die jungen Leute brutal und radikal werden 44 . Er erzählt von einer Rede<br />

eines Hauptmannes während <strong>der</strong> Wehrmachtsausbildung, bei <strong>der</strong> sogar gefor-<br />

168


<strong>der</strong>t worden sei, daß ein Soldat auf Befehl auf seinen Vater schießen müsse.<br />

Aus dem Wehrdienst entlassen, arbeitet Herr Langenbach von 1937 bis 1939<br />

wie<strong>der</strong> in seinem Zivilberuf. Im März 1939, als die Beset<strong>zu</strong>ng des tschechischen<br />

Teils <strong>der</strong> Tschechoslowakei, des <strong>zu</strong>m Protektorat Böhmen und Mähren<br />

erklärten Gebietes, bevorstand, meldete s<strong>ich</strong> Walter Langenbach vermutl<strong>ich</strong><br />

freiwillig <strong>zu</strong>r Wehrmacht. Er wurde jedoch abgelehnt.<br />

Zu diesem Zeitpunkt war Herr Langenbach seit kurzer Zeit verheiratet.<br />

Seine Braut harte er bereits 1933 kennengelernt. Wie bisher die meisten seiner<br />

biographischen Entscheidungen begründet er auch seine Heirat als von außen<br />

auferlegt und n<strong>ich</strong>t aus eigenem Antrieb motiviert. Herr Langenbach betont,<br />

daß es keine Liebesheirat gewesen sei. Zum einen gibt er an, daß er von seinen<br />

Schwiegereltern wie auch von seiner Mutter <strong>zu</strong>r Ehe genötigt worden sei.<br />

Zum an<strong>der</strong>en nennt er seine damalige <strong>Krieg</strong>santizipation als Motiv für die<br />

Ehe. Die Darstellung seiner Eheschließung als eine von außen — sowohl<br />

durch den <strong>zu</strong> erwartenden <strong>Krieg</strong> als auch von an<strong>der</strong>en Personen — auferlegte,<br />

wird aus <strong>der</strong> Gegenwart <strong>der</strong> heute gescheiterten Ehe, verständl<strong>ich</strong>. Dieser<br />

Aspekt wird später noch einmal aufgegriffen. Auffallend in seiner Darstellung<br />

ist des weiteren, daß er in beiden Interviews die unterschiedl<strong>ich</strong>sten Daten <strong>zu</strong>r<br />

Eheschließung angibt. Er nennt 1933, 1935 und 1939 als Heiratstermine. Hier<br />

stellt s<strong>ich</strong> die Frage, ob die falschen Zeitangaben von 1933 und 1935 reine Zufälligkeiten<br />

sind o<strong>der</strong> ob s<strong>ich</strong> dahinter eine Bedeutung verbirgt. Zu allen genannten<br />

Daten vollzog Herr Langenbach im Bere<strong>ich</strong> seiner militärischen Karriere<br />

einen Statuswechsel. 1933 begann seine Karriere im RAD, 1935 wurde<br />

er <strong>zu</strong>m Militär eingezogen und 1939 <strong>zu</strong>m <strong>Krieg</strong>sdienst. Ebenso wie den Statuswechsel<br />

vom Ledigen <strong>zu</strong>m Ehemann begreift er diese Wendepunkte als heteronom<br />

produzierte, als von außen auferlegte. Es wird im weiteren <strong>zu</strong> fragen<br />

sein, ob diese S<strong>ich</strong>t eines heteronom produzierten biographischen Werdegangs<br />

die seine Vergangenheitsrekonstruktion bestimmende Perspektive repräsentiert,<br />

und weiter, ob es einen thematischen Zusammenhang zwischen<br />

Ehe und <strong>Krieg</strong> gibt. An dieser Stelle können wir aus seiner Erklärung, er habe<br />

geheiratet, weil er glaubte, es werde <strong>Krieg</strong> geben, folgern, daß er in gewisser<br />

Weise den <strong>Krieg</strong> für seine Eheschließung verantwortl<strong>ich</strong> macht.<br />

4.1.3 Die soldatische Laufbahn ab 1939<br />

4.1.3.1 In <strong>der</strong> Etappe in Frankre<strong>ich</strong>: „<strong>zu</strong> jung, um <strong>zu</strong> sterben"<br />

Mit den ausgebildeten Wehrpfl<strong>ich</strong>tigen des Geburtsjahres 1914 wurde auch<br />

Walter Langenbach im August 1939 einberufen. Nach <strong>Krieg</strong>sbeginn wurde er<br />

n<strong>ich</strong>t <strong>der</strong> fechtenden Truppe <strong>zu</strong>geteilt, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Etappe. Er <strong>kam</strong> <strong>zu</strong>m Divisionsnachschub,<br />

<strong>zu</strong> einem Wachkommando also, das für die Bewachung <strong>der</strong><br />

Wehrmachtsgüter verantwortl<strong>ich</strong> war. Zunächst war er an <strong>der</strong> französischen<br />

169


Grenze, später <strong>mit</strong> den Versorgungstruppen im rückwärtigen Operationsgebiet<br />

in einem kleinen französischen Ort eingesetzt. Herr Langenbach hält seinen<br />

Einsatz in <strong>der</strong> Etappe für legitimationsbedürftig: Sein Stiefvater habe einen<br />

Antrag auf Zurückstellung von <strong>der</strong> fechtenden Truppe gestellt, <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Begründung,<br />

Walter sei <strong>der</strong> „einzige Namensträger 44<br />

<strong>der</strong> Familie. Ebenso<br />

plausibel ist jedoch, daß seine Erfassung <strong>zu</strong>r Etappe auf eine ärztl<strong>ich</strong>e Taugl<strong>ich</strong>keitseinstufung<br />

auf „garnisonsverwendungsfähig 44 , jedoch n<strong>ich</strong>t „kriegsverwendugsfähig<br />

44<br />

<strong>zu</strong>rück<strong>zu</strong>führen ist. Dies ist anges<strong>ich</strong>ts seiner Biographie während<br />

des <strong>Krieg</strong>es wahrscheinl<strong>ich</strong>: Herr Langenbach wurde bis <strong>zu</strong>m Jahr 1943 in Län<strong>der</strong>n<br />

und Gebieten eingesetzt, die bereits besetzt waren; d.h., er gehörte da<strong>mit</strong><br />

n<strong>ich</strong>t einmal <strong>zu</strong>r Etappe hinter den kämpfenden Truppen.<br />

Aufgrund dieses Einsatzes befand s<strong>ich</strong> Walter Langenbach während des<br />

<strong>Krieg</strong>es in verhältnismäßiger S<strong>ich</strong>erheit. Interessant ist in diesem Zusammenhang,<br />

daß er trotzdem betont, n<strong>ich</strong>t an sein eigenes Überleben geglaubt <strong>zu</strong> haben.<br />

War sein Vater als Infanterist nach 14 Tagen gefallen, so hoffte Walter<br />

Langenbach: „vielle<strong>ich</strong>t haste Glück daß de nen halbes Jahr <strong>mit</strong>machst 44 . Dieser<br />

Gedankengang habe ihn auch da<strong>zu</strong> bewogen, seiner Frau den Wunsch auf<br />

ein Kind n<strong>ich</strong>t <strong>zu</strong> erfüllen, „weil es n<strong>ich</strong>t ohne Vater groß werden sollte 44 .<br />

Herrn Langenbachs Erzählungen über seine <strong>Krieg</strong>serlebnisse konzentrieren<br />

s<strong>ich</strong> auch heute noch, entsprechend seiner damaligen Todesfurcht, auf<br />

Konfrontationen <strong>mit</strong> dem Tod; es sind Erzählungen, die in diesem Ausmaß<br />

und insbeson<strong>der</strong>e in <strong>der</strong> detaillierten und ausführl<strong>ich</strong>en Form nur in sehr wenigen<br />

<strong>Krieg</strong>serzählungen <strong>zu</strong> finden sind.<br />

Beson<strong>der</strong>s stark haben ihn Tod und Verwundung von Gle<strong>ich</strong>altrigen berührt,<br />

<strong>mit</strong> <strong>der</strong>en Schicksal er s<strong>ich</strong> identifizierten konnte. Schon im November<br />

1939 wurde er <strong>mit</strong> dem Tod eines jungen deutschen Soldaten konfrontiert.<br />

Seine Gefühle evaluiert Walter Langenbach <strong>mit</strong> folgenden Worten:<br />

„das war <strong>der</strong> erste Verletzte und es war ein (1) Student (2) ehm: (1) na wie nennt man es <strong>der</strong> Pfarrer<br />

werden wollte (2) und einziger Sohn einer alleinstehenden Mutter 4 s ging uns allen <strong>zu</strong> Herzen<br />

wir haben dann auch eine Straße in dem Ort nach seinem Namen getauft (( stockend ))" (4/24)<br />

Für Herrn Langenbach hat es beson<strong>der</strong>e Bedeutung, daß dieser Student <strong>der</strong><br />

Sohn einer alleinstehenden Mutter war. Dies ist ein Schicksal, das seinem eigenen<br />

gle<strong>ich</strong>t. Herr Langenbach erinnert s<strong>ich</strong> weiter an einen jungen französischen<br />

Leutnant, auf den er beim Querfeldeinfahren stieß und <strong>der</strong> vermutl<strong>ich</strong><br />

schon seit <strong>mehr</strong>eren Stunden tot war. Sehr detailliert beschreibt Walter Langenbach<br />

den Toten; er erinnert s<strong>ich</strong>, wie ihm die Maden aus den Augen, dem<br />

Mund und <strong>der</strong> Nase krochen. Im Kontrast <strong>zu</strong> diesem schreckl<strong>ich</strong>en Bild betont<br />

Herr Langenbach die „wun<strong>der</strong>schöne saubere Uniform 44 , das gepflegte Aussehen<br />

und vor allem die Jugend des Toten.<br />

Auch hier ist für ihn wie<strong>der</strong> das Alter des Toten entscheidend: „er hätte nun<br />

auch noch leben wollen, er fing erst an <strong>zu</strong> leben 44 . Er selbst war damals 25 o<strong>der</strong><br />

26 Jahre alt und fürchtete den Tod in so frühem Alter.<br />

170


Doch die Konfrontation <strong>mit</strong> dem Sterben und <strong>mit</strong> den Grausamkeiten des<br />

<strong>Krieg</strong>es führte, soweit wir es dem Interview entnehmen können, n<strong>ich</strong>t da<strong>zu</strong>,<br />

daß Herr Langenbach die Sinnlosigkeit des <strong>Krieg</strong>es o<strong>der</strong> den <strong>Krieg</strong> generell<br />

anprangerte. Die von ihm geäußerte Kritik r<strong>ich</strong>tet s<strong>ich</strong> gegen die französische<br />

Armee, während er <strong>der</strong> deutschen Wehrmacht seine Anerkennung zollt. So ereifert<br />

er s<strong>ich</strong> z.B. darüber, wie schlecht die senegalesischen Kolonialsoldaten<br />

von <strong>der</strong> französischen Armee, in <strong>der</strong> es selbst nach dem <strong>Krieg</strong> noch Prügelstrafe<br />

gab, behandelt worden seien, während es ihnen bei <strong>der</strong> deutschen Wehrmacht<br />

offenbar gut ergangen sei:<br />

„aber wenn se ((die senegalesischen Soldaten )) wenn (wir) se denn ein-zwei Tage beschäftigt<br />

<strong>hatte</strong>n=die Infantrie <strong>kam</strong>, und mußte se <strong>zu</strong>rückfuhren, denn harn die bitterl<strong>ich</strong> geweint, daß wir<br />

se abgeben mußten" (5/25)<br />

Wie ,gut 4<br />

die Senegalesen von den Deutschen behandelt wurden, macht<br />

Herr Langenbach <strong>mit</strong> einem ganz an<strong>der</strong>en Erlebnis deutl<strong>ich</strong>. S<strong>ich</strong>tl<strong>ich</strong> bewegt<br />

erzählt er, wie er in einer Heidelandschaft, in welcher die Kampfhandlungen<br />

zwischen <strong>der</strong> französischen und <strong>der</strong> deutschen Armee schon seit einigen<br />

Tagen abgeschlossen waren, einen ehemaligen „Gefechtsstand 44<br />

inspiziert<br />

und dabei einen senegalesischen Soldaten gefunden habe, <strong>der</strong> von deutschen<br />

Soldaten geköpft worden war. Er schreibt die Tat einzelnen Personen <strong>zu</strong>, die<br />

er als „Schlächter und Metzger in <strong>der</strong> Wehrmacht 44<br />

beze<strong>ich</strong>net. Da<strong>mit</strong> ist Herr<br />

Langenbach in <strong>der</strong> Lage, diese Brutalität einzelnen Personen an<strong>zu</strong>lasten und<br />

sie <strong>zu</strong> verurteilen, ohne die deutsche Wehrmacht an s<strong>ich</strong> <strong>zu</strong> kritisieren bzw.<br />

s<strong>ich</strong> von ihr distanzieren <strong>zu</strong> müssen. Die Gründe für eine solche Tat sieht er<br />

wie folgt:<br />

„und Adolf <strong>hatte</strong> ja, den Rassenwahn (1) seinem Volke eingebläut (1) Alles was: n<strong>ich</strong> germanischer<br />

Herkunft is, sind Untermenschen (1) die: sind gar n<strong>ich</strong> wert, dafi-se leben (2) 44 (57/ 16)<br />

Mit dieser Argumentation entlastet er alle, die im Sinne <strong>Hitler</strong>s gehandelt<br />

haben, also auch die „Schlächter und Metzger 44 , und macht „den Führer 44<br />

für<br />

ihr Verhalten verantwortl<strong>ich</strong>. Da<strong>mit</strong> gelingt es ihm, die Schuld für rassistische<br />

Handlungen auf die Person <strong>Hitler</strong>s ab<strong>zu</strong>schieben.<br />

Am 16.4.1940 wurde Paris <strong>kam</strong>pflos besetzt. Der damals 26jährige Walter<br />

Langenbach empfand es als „seltenes Glück 44 , in Paris stationiert <strong>zu</strong> sein. Bestimmende<br />

Erfahrungen waren für ihn die bis auf einige Ausnahmen guten<br />

Kontakte <strong>zu</strong>r französischen Bevölkerung. Dies belegt er insbeson<strong>der</strong>e <strong>mit</strong> Erzählungen<br />

über seine „Chancen bei den französischen Frauen 44 . Herr Langenbach<br />

erzählt u.a. von einem Bordellbesuch, bei dem eine Prostituierte ihn eingeladen<br />

habe, sie am nächsten Tag <strong>zu</strong> Hause <strong>zu</strong> besuchen. Diese Einladung —<br />

für ihn ein Beweis seiner Männl<strong>ich</strong>keit — habe er natürl<strong>ich</strong> dankend angenommen,<br />

so ber<strong>ich</strong>tet er den Interviewerinnen voller Stolz. Das Thema »sexuelle<br />

Erlebnisse 4<br />

durchzieht das gesamte Interview, was auch ein Interaktionsprodukt<br />

zwischen ihm und uns Studentinnen sein mag. Vor allem aber verdeutl<strong>ich</strong>t<br />

es, welche Bedeutung seine Erlebnisse <strong>mit</strong> Frauen damals für ihn<br />

171


<strong>hatte</strong>n: Er konnte durch sie selbst dem <strong>Krieg</strong> noch angenehme Seiten abgewinnen<br />

und diese Zeit in guter Erinnerung behalten:<br />

„<strong>ich</strong> habe IMMER versucht (1) AUCH HEUTE , dem Leben, auch in schlechten Situationen<br />

(1) die schönen Seiten ab<strong>zu</strong>gewinnen" (42/8)<br />

Ein an<strong>der</strong>er Bere<strong>ich</strong>, <strong>der</strong> ihm „schöne Momente 44<br />

bot, ist das Schachspielen,<br />

von dem er immer wie<strong>der</strong> erzählt. Er habe in Paris gegen den „Weltmeister<br />

44 gespielt und sogar gewonnen, so prahlt er. Diese „schönen Momente 44<br />

erlauben Herrn Langenbach, in <strong>der</strong> kasernierten Situation des Soldaten eine<br />

gewisse Handlungsautonomie <strong>zu</strong> bewahren und s<strong>ich</strong> so n<strong>ich</strong>t nur als Befehlsempfanger<br />

<strong>der</strong> Institution <strong>zu</strong> fühlen, son<strong>der</strong>n Gefühle <strong>der</strong> Machtlosigkeit und<br />

Bedeutungslosigkeit <strong>zu</strong> kompensieren.<br />

4.1.3.2 Die Geiselerschießung in Jugoslawien:<br />

„und dann ging's neuen Abenteuern entgegen (3) auch dort war's<br />

schreckl<strong>ich</strong> 44<br />

Lassen wir die „Abenteuer 44<br />

vorerst unkommentiert und gehen <strong>zu</strong>nächst auf<br />

die „schreckl<strong>ich</strong>e 44<br />

Situation in Jugoslawien ein. Im April 1941 wurde Jugoslawien<br />

nach <strong>der</strong> militärischen Beset<strong>zu</strong>ng durch deutsche und italienische Truppen<br />

in zehn Regionen aufgespalten, von denen Serbien, <strong>der</strong> größte Teil des<br />

Gebiets, unter deutsche Militärverwaltung <strong>kam</strong>. Auf den <strong>zu</strong>nehmenden Partisanen<strong>kam</strong>pf<br />

gegen die Besat<strong>zu</strong>ngstruppen in Serbien reagierten die deutschen<br />

Besatzer <strong>mit</strong> verstärktem Terror, Massenerschießungen und Verhaftungen.<br />

Einlieferungen in Konzentrationslager, Folterungen und Erschießungen<br />

standen auf <strong>der</strong> Tagesordnung. Die in Serbien operierenden Polizeitruppen<br />

konnten die Aufstände n<strong>ich</strong>t nie<strong>der</strong>schlagen; deshalb wurde u.a. die aus<br />

Frankre<strong>ich</strong> eintreffende Infanteriedivision unter Befehlsgewalt des Generals<br />

<strong>der</strong> Infanterie Franz Böhme für die Exekutive eingesetzt. Durch einen Befehl<br />

des Oberkommandos <strong>der</strong> Wehrmacht vom 16. September 1941 <strong>hatte</strong>n diese<br />

Verbände die Vollmacht, „im Zuge <strong>der</strong> Repressalien und Sühnemaßnahmen 4<br />

für jeden getöteten Okkupanten 100 bzw. 50 gefangene Serben o<strong>der</strong> Geiseln <strong>zu</strong><br />

erschießen. ... Insgesamt erschlugen und erschossen Wehrmachtseinheiten<br />

1941 in zahlre<strong>ich</strong>en Städten und Dörfern Serbiens etwa 20.000 Männer,<br />

Frauen, Kin<strong>der</strong> und Greise ... 44<br />

(DEUTSCHLAND IM ZWEITEN WELTKRIEG<br />

1983, Bd.2: 144).<br />

Weiterhin wird in <strong>der</strong> zitierten Quelle folgendes ber<strong>ich</strong>tet: „Während 1941<br />

vor allem Wehrmachtseinheiten die Bevölkerung terrorisierten, ging diese<br />

Aufgabe im Laufe des Jahres 1942 immer <strong>mehr</strong> an die SS-und Polizeieinheiten<br />

über, ohne daß die Heeresverbände ihre Tätigkeit verringerten. ... Alle Strafund<br />

Konzentrationslager in Serbien ... standen unter dem Kommando und unter<br />

<strong>der</strong> Aufs<strong>ich</strong>t <strong>der</strong> Polizei. Sie dienten hauptsächl<strong>ich</strong> als Auffanglager für „Sühnegefangene<br />

44<br />

und Geiseln. Bei <strong>der</strong> Festnahme von Geiseln und „Sühnegefangenen<br />

44 wirkten Einheiten <strong>der</strong> Wehrmacht eng <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Polizei <strong>zu</strong>sammen. 44<br />

172


Herr Langenbach war <strong>mit</strong> dem Divisionsnachschub in Serbien stationiert<br />

und für die Bewachung des Treibstoffes <strong>zu</strong>ständig. Er spr<strong>ich</strong>t von „Bandenbekämpfungen<br />

4 ' und von einem KZ in Serbien. Nach seinen Angaben befanden<br />

s<strong>ich</strong> in dem Lager, von dem er erzählt, ca. 3.000 männl<strong>ich</strong>e Angehörige <strong>der</strong><br />

serbischen Zivilbevölkerung, darunter auch Greise, wie er betont. Walter<br />

Langenbach erzählt, das Lager von innen gesehen <strong>zu</strong> haben. Da<strong>zu</strong> sei es gekommen,<br />

nachdem er <strong>mit</strong> einem Wachhabenden, <strong>der</strong> <strong>der</strong> SS angehörte, gesprochen<br />

habe:<br />

„sag=<strong>ich</strong> (1) man is ja neugierig, kann <strong>ich</strong> mir das n<strong>ich</strong> mal ansehen von innen ((fragend)) (2).<br />

ja selbstverständl<strong>ich</strong> (1) öh:, wie jesacht <strong>zu</strong> <strong>der</strong> Zeit war <strong>ich</strong> Unteroffizier (2) Wehrmacht" (II. / 8)<br />

Bei <strong>der</strong> ,,Bes<strong>ich</strong>tigung 44<br />

des KZs sah Walter Langenbach, wie die Gelangenen<br />

auf vom Regen aufgewe<strong>ich</strong>tem Boden im Schlamm lebten und s<strong>ich</strong> nur <strong>mit</strong><br />

Stroh und Säcken wärmen konnten. Unterbringung und hygienische Verhältnisse<br />

waren menschenunwürdig, die Verpflegung äußerst notdürftig. In den<br />

Zellen war teilweise <strong>zu</strong> wenig Platz, um beim Schlafen liegen <strong>zu</strong> können. In<br />

wohl je<strong>der</strong> zweiten Zelle befand s<strong>ich</strong> ein „Spion 44<br />

wie s<strong>ich</strong> Herr Langenbach<br />

ausdrückt, <strong>der</strong> Landsleute verriet, die angebl<strong>ich</strong> einen deutschen Soldaten gefoltert<br />

o<strong>der</strong> liquidiert <strong>hatte</strong>n. Nach Walter Langenbachs Darstellung boten<br />

s<strong>ich</strong> die „Spione 44<br />

freiwillig <strong>der</strong> Lagerfuhrung an. Weiterhin erläutert er: „die<br />

Spione die durften ungestraft <strong>zu</strong>r Toilette 44 , während alle an<strong>der</strong>en <strong>mit</strong> Stöcken<br />

und Gummiknüppeln brutal geschlagen wurden, wenn sie über den Flur gingen.<br />

Alle diese Maßnahmen dienten da<strong>zu</strong>, die Organisation des serbischen<br />

Wi<strong>der</strong>standes auf<strong>zu</strong>decken und <strong>zu</strong> zerschlagen. Um dieses Ziel <strong>zu</strong> erre<strong>ich</strong>en,<br />

bedienten s<strong>ich</strong> die deutschen Pölizeikommandeure in dem Lager noch weiterer<br />

Foltermethoden. Hier möchte <strong>ich</strong> Herrn Langenbachs Darstellung wie<strong>der</strong>geben:<br />

„dann wurde <strong>der</strong> raus gerufen kriechte aufm Flur schon seine Schläge und mußte <strong>zu</strong>m Kommandanten<br />

(1) <strong>der</strong> Kommandant (1) saß (1) im Sessel so wie Sie mir jetzt gegenübersitzen, und <strong>der</strong>:<br />

(1) Gefangene (1) mußte vorm Schreibtisch stehn, links und rechts eskortiert von SS Leuten die natürl<strong>ich</strong><br />

auch nen Knüppel inner Hand <strong>hatte</strong>n (2) die Jugoslawen <strong>hatte</strong>n fast alle keine Schuhe an,<br />

barfuß, liefen die rum (3) und: wenn man denn irgendetwas n<strong>ich</strong> <strong>zu</strong>geben wollte was <strong>der</strong> Spion<br />

dem Kommandanten verraten <strong>hatte</strong> vorher=5 Minuten vorher (2) dann hieß=es (2) rechte Hand<br />

hoch ((Befehlston)) (1) kaum <strong>hatte</strong> er se hoch dann schlug, einer <strong>zu</strong>mindest schon <strong>mit</strong> nem Knüppel<br />

auf de Hand daß die Finger nach oben standen (2) o<strong>der</strong> es hieß, RECHTEN FUSS HOCH ((<br />

Befehlston )), o<strong>der</strong> linken Fuß hoch, dann schlug <strong>der</strong> nächste über=de Fußsohle, und das denn:<br />

im Laufe <strong>der</strong> nächsten halben Stunde dutzende Male daß die Sohle aufplatzte und das Blut am Fluam<br />

Fuß runterfloß" (7/40)<br />

Herr Langenbach behauptet, die hier detailliert geschil<strong>der</strong>ten Folterungen<br />

n<strong>ich</strong>t selbst gesehen <strong>zu</strong> haben. Die von ihm als „Sadisten 44<br />

beze<strong>ich</strong>neten Bewacher<br />

hätten ihm davon erzählt. Selbst wenn man ihm Glauben schenkte — er wi<strong>der</strong>spr<strong>ich</strong>t<br />

s<strong>ich</strong> da<strong>zu</strong> im Interview des öfteren —dann hat er s<strong>ich</strong> doch <strong>zu</strong>mindest<br />

die Details von Angehörigen <strong>der</strong> SS-Wachmannschaften erzählen lassen und <strong>zu</strong>gelassen,<br />

daß jene s<strong>ich</strong> <strong>mit</strong> ihren sadistischen Taten auch noch brüsteten.<br />

173


Er ber<strong>ich</strong>tet des weiteren von Aufrufen <strong>der</strong> Wehrmacht an die jugoslawische<br />

Bevölkerung, die an öffentl<strong>ich</strong>en Plätzen ausgehängt wurden; u.a. wurde eine<br />

hohe Belohnung für die Auslieferung Titos versprochen. Wenn <strong>der</strong> Tod eines<br />

deutschen Soldaten bekannt wurde, erinnert s<strong>ich</strong> Walter Langenbach, fanden<br />

Massenerschießungen von Geiseln als Sühnemaßnahmen statt. Willkürl<strong>ich</strong><br />

wurden Personen <strong>zu</strong>r Erschießung aus den Lagern ausgewählt. Auch dies hat<br />

Herr Langenbach erlebt:<br />

„und in diesem Lager wurden (1) Opfer ausgewählt (1) die erschossen werden sollten bei Massenerschießungen<br />

(1) weil wie<strong>der</strong> ein=zwei Soldaten getötet waren" (II. /7)<br />

Da<strong>mit</strong> die Wehrmacht keine Arbeit <strong>mit</strong> den Toten <strong>hatte</strong>, mußten die <strong>zu</strong>r Erschießung<br />

Verurteilten ihr Grab selbst schaufeln; es wurden lange Gräben ausgehoben:<br />

„ES WURDE IMMER VORGESORCHT DAMIT GENUCH GRÄBEN DA WARN (2)"<br />

(II./8)<br />

Herr Langenbach erzählt detailliert und szenisch von den Erschießungen<br />

dieser Menschen. Wie<strong>der</strong> behauptet er jedoch, daß er selbst n<strong>ich</strong>t dabei gewesen<br />

sei, son<strong>der</strong>n daß ihm von diesen Greueltaten erzählt worden sei. Die Gefangenen<br />

wurden auf Lastwagen geladen; sie hätten s<strong>ich</strong> n<strong>ich</strong>t gewehrt. Walter<br />

Langenbach mutmaßt, sie hätten geglaubt, nur <strong>zu</strong>m Gräbenausheben abtransportiert<br />

<strong>zu</strong> werden. Angst hätten sie erst bekommen, als sie ausgeladen wurden<br />

und gesehen hätten, daß da bereits Gräben vorhanden waren. Er erzählt<br />

weiter:<br />

,Ja: und am nächsten Tag hieß es dann ja, die un die <strong>der</strong> un=<strong>der</strong> Flur rauf auf die Lastwagen<br />

(2) ,dann* gings <strong>zu</strong> diesen ausgehobenen Gräben, und <strong>mit</strong> Maschinengewehr Gewehr und Pistole<br />

wurden se dann umgemäht (1) manche kriegten noch nen Gnadenschuß wenn se s<strong>ich</strong> im Graben<br />

noch, bewegten (1) meist knieten se, vor dem Graben (2) und=wurden=dann von hinten erschossen<br />

(2) es versuchten sogar manche s<strong>ich</strong> noch, durch Heil <strong>Hitler</strong> was sie irgendwie vorher schon<br />

mal gehört <strong>hatte</strong>n von Deutschen (1) s<strong>ich</strong> frei<strong>zu</strong>kaufen indem se nen paar Mal Heil <strong>Hitler</strong><br />

schrieen=aber das half ja Alles n<strong>ich</strong> (2)" (8/4)<br />

Für Herrn Langenbach sind es „dolle herzzerreißende Sachen", die s<strong>ich</strong> da<br />

abspielten. Zwar ist zwischen den Zeilen seiner Erzählung Betroffenheit spürbar,<br />

doch er legitimiert diese Morde da<strong>mit</strong>, daß <strong>der</strong> Tod deutscher Soldaten<br />

vergolten werden mußte. Er glaubte an die Rechtmäßigkeit <strong>der</strong> deutschen Weisung.<br />

Immer wie<strong>der</strong> fand er Bestätigungen für „unrechtmäßige" Handlungen<br />

<strong>der</strong> Partisanen:<br />

„wir fanden auch immer wie<strong>der</strong>, diese Sachen bestätigt, die (( deutschen Soldaten )) wurden,<br />

durch Messerst<strong>ich</strong>e getötet, erschossen (2)" (7/6)<br />

Findet er die Massenerschießungen zwar grundsätzl<strong>ich</strong> gerechtfertigt, so<br />

hat er <strong>zu</strong>mindest Probleme <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Ungewißheit, ob die <strong>zu</strong>r Erschießung ausgewählten<br />

Jugoslawen tatsächl<strong>ich</strong> auch solche Taten <strong>zu</strong> verantworten <strong>hatte</strong>n:<br />

„das war grauenhaft, grauenhaft, und man wußte ja gar n<strong>ich</strong> ob se nun tatsächl<strong>ich</strong> irgendeinen<br />

Wehrmachtsangehörigen, gequält o<strong>der</strong> getötet <strong>hatte</strong>n, ne (2)" (II. /9)<br />

174


Hier kann man die Frage stellen, ob die Auswahl von Gefangenen in Herrn<br />

Langenbachs Zuständigkeitsbere<strong>ich</strong> lag und er gerade deshalb Probleme <strong>mit</strong><br />

einer eventuellen Unschuld dieser Gefangenen hat. Die Interviewerin versucht,<br />

ihn auf seine Gefühle an<strong>zu</strong>sprechen, fragt ihn, was in ihm „vorgegangen<br />

sei als er davon gehört habe* 4 . Er antwortet: „Ja was will man machen, <strong>ich</strong><br />

bin MACHTLOS* 4 . Mit dem Gefühl <strong>der</strong> Machtlosigkeit will s<strong>ich</strong> die Interviewerin<br />

jedoch n<strong>ich</strong>t <strong>zu</strong>friedengeben:<br />

II: „was empfindet man da? wird man<br />

B: DASS DAS- (2) das GEMEINSTE is was man s<strong>ich</strong> überhaupt DENKEN KANN, MAN<br />

STAUNT DASS=ES SOWAS GIBT, MAN HATTE JA VORHER NIE ETWAS DAVON GE­<br />

HÖRT (l) ICH HABE AUCH NICHTS VON JUDENERSCHIESSUNGEN IN POLEN<br />

UND SO WEITER GEHÖRT, DAS HAB ICH WIRKLICH ERST, NACH EM KRIEJE ER­<br />

FAHREN (2) EHRLICH (1) NUR DIES, DAS Η ABWICH GESEHEN (1) DAS HÄTT ICH<br />

MIR VORHER NICH AUSMALEN KÖNNEN<br />

II: schämt man s<strong>ich</strong> da n<strong>ich</strong> daß man Deutscher is?<br />

Β: JA SICHER (1) JA SICHER, ABER AUCH ANDERE SÍND SCHWEINE DIE ANDEREN<br />

SOLDATEN SIND NICHTS BESSER GEWESEN WIE WIR (1) ÖHM (2) ICH SAGE IM­<br />

MER (1) GUTE UND SCHLECHTE MENSCHEN, GIBT'S IN ALLEN VOLKSSCHICH­<br />

TEN UND IN ALLEN VÖLKERN" (II. /90<br />

In Walter Langenbachs Schil<strong>der</strong>ung seiner damaligen Erlebnisse klingt die<br />

Fassungslosigkeit und das Entsetzen an, das er damals beim Anblick <strong>der</strong> Massenerschießungen<br />

empfunden haben mag, wenn er sagt: „Nur dies, das hab<br />

<strong>ich</strong> gesehen das hätt <strong>ich</strong> mir vorher n<strong>ich</strong>t ausmalen können. 44<br />

Doch es gelingt<br />

ihm we<strong>der</strong>, Gefühle und Trauer über das Schicksal dieser Menschen, noch<br />

Gefühle <strong>der</strong> Scham aus<strong>zu</strong>drücken. Die Frage nach seinen Gefühlen beantwortet<br />

er <strong>mit</strong> „man staunt 44 . Diese Formulierung wirkt in diesem Zusammenhang<br />

befremdend, wird sie doch meistens als Ausdruck beson<strong>der</strong>er Überraschung<br />

und Verwun<strong>der</strong>ung gebraucht. Das Geschehen und das Geschehene bleiben<br />

ihm äußerl<strong>ich</strong>. Er bringt we<strong>der</strong> eine Verurteilung <strong>der</strong> Massenerschießungen<br />

<strong>zu</strong>m Ausdruck, noch das Zugeständnis, daß die Deutschen Verbrechen in unvergle<strong>ich</strong>l<strong>ich</strong>em<br />

Ausmaß begangen haben. Indem er die Verbrechen, die im<br />

Auftrag <strong>der</strong> Institution, <strong>der</strong> er selbst angehörte, einzelnen „schlechten Menschen<br />

44<br />

anlastet, die es seiner Meinung nach in jedem Volk gibt, muß er we<strong>der</strong><br />

die Wehrmacht noch seine eigene Verstrickung in diese Verbrechen reflektieren.<br />

Inwieweit er verstrickt war, auf was s<strong>ich</strong> diese Äußerng „nur dies, das hab<br />

<strong>ich</strong> gesehen 44<br />

bezieht, kann aus dem Interview n<strong>ich</strong>t abschließend geklärt werden.<br />

Es liegt jedoch die Vermutung nahe, daß Herr Langenbach fur die Zusammenstellung<br />

<strong>der</strong>jenigen, die erschossen werden sollten, <strong>zu</strong>mindest für <strong>der</strong>en<br />

Abtransport in Lastwagen, verantwortl<strong>ich</strong> war, denn in seinem Zuständigkeitsbere<strong>ich</strong><br />

als Unterleutnant lag die Betreuung <strong>der</strong> Fahrzeuge. Er muß<br />

jedenfalls in irgendeiner Funktion, <strong>mit</strong> irgendeinem Auftrag in dem Lager gewesen<br />

sein; ansonsten hätte er wohl kaum diesen Einblick bekommen. Wie<br />

sehr Walter Langenbach unter seinen <strong>Krieg</strong>serlebnissen gelitten haben mag,<br />

175


lassen auch die Alpträume, unter denen er noch viele Jahre nach <strong>Krieg</strong>sende<br />

gelitten hat, ahnen. An dieser Stelle kann festgehalten werden, daß diese Erlebnisse<br />

wesentl<strong>ich</strong>en Einfluß auf seine Einstellung gegenüber dem Zweiten<br />

Weltkrieg haben. Ferner gewinnt <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Kenntnis über seine Erlebnisse in Jugoslawien<br />

die Interpretation, daß er Legitimationsprobleme <strong>mit</strong> seinem Ein<strong>zu</strong>g<br />

<strong>zu</strong>r Etappe hat, Plausibilität. Wäre er an <strong>der</strong> Front gewesen, wäre er in die<br />

Vorkommnisse in Jugoslawien n<strong>ich</strong>t verstrickt gewesen und könnte evtl. wie<br />

im Zusammenhang <strong>mit</strong> den „Judenerschießungen in Polen und so weiter" beteuern,<br />

davon n<strong>ich</strong>ts gehört und gewußt <strong>zu</strong> haben.<br />

4.1.3.3 Verwundung und Rückkehr in die Heimat:<br />

„Haste doch noch Glück gehabt"<br />

Mit Beginn des Jahres 1942 wurde Walter Langenbach in <strong>der</strong> UdSSR eingesetzt.<br />

Er schil<strong>der</strong>t den weiteren <strong>Krieg</strong>sverlauf <strong>mit</strong> den Worten:<br />

„von da aus (( von Jugoslawien)) gings dann nach Russland (4) da gabs, tolle Bil<strong>der</strong> (2) hartgefrorener<br />

Boden, 30 Grad Kälte, <strong>ich</strong> persönl<strong>ich</strong> war wie<strong>der</strong>, bei einem Wachkommando 44 (8/ L5)<br />

Die Aufgabe dieses sog. Wachkommandos, das s<strong>ich</strong> 70 km vor Moskau befand,<br />

bestand in <strong>der</strong> Bewachung von Schlitten, Skiern und Pelzbekleidung.<br />

Stationiert an einem Güterbahnhof, sorgte Herr Langenbach <strong>zu</strong>nächst dafür,<br />

daß aus Bahnschwellen ein „splitters<strong>ich</strong>erer Unterstand" err<strong>ich</strong>tet wurde, wie<br />

er betont. Die „tollen Bil<strong>der</strong>", von denen er spr<strong>ich</strong>t, beziehen s<strong>ich</strong> auf Le<strong>ich</strong>en,<br />

die aufgrund <strong>der</strong> Kälte n<strong>ich</strong>t beerdigt werden konnten und so „schwarz<br />

gefroren" im Gelände lagen.<br />

Nach ca. 4 Wochen wurde Walter Langenbach verwundet; da<strong>mit</strong> war für ihn<br />

<strong>der</strong> Einsatz in <strong>der</strong> Sowjetunion beendet. Nach diversen Lazarettaufenthalten<br />

erholte er s<strong>ich</strong> in <strong>der</strong> Heimat. Zunächst war er n<strong>ich</strong>t <strong>mehr</strong> außerhalb des<br />

Re<strong>ich</strong>sgebietes einsatzfahig, son<strong>der</strong>n wurde bis <strong>zu</strong>m Herbst 1943 als Ausbil<strong>der</strong><br />

<strong>der</strong> Wehrmacht im „Re<strong>ich</strong>" eingesetzt.<br />

Welche Bedeutung diese Unterbrechung seiner soldatischen Karriere für<br />

Herrn Langenbach <strong>hatte</strong>, wird von ihm n<strong>ich</strong>t explizit ausgeführt. Er äußert an<br />

keiner Stelle, daß er froh war, <strong>zu</strong>rück in die Heimat <strong>zu</strong> kommen, o<strong>der</strong> gar, daß<br />

er die Hoffnung <strong>hatte</strong>, <strong>zu</strong> seiner Frau <strong>zu</strong>rückkehren <strong>zu</strong> können. Viel<strong>mehr</strong> bedauert<br />

er es, daß <strong>mit</strong> seiner Verwundung <strong>der</strong> „herrl<strong>ich</strong>e Kontakt <strong>zu</strong>r russischen<br />

Bevölkerung" und vor allem die Bekanntschaft <strong>zu</strong> einer jungen Russin<br />

unterbrochen wurde. Er wäre noch gerne in <strong>der</strong> Sowjetunion geblieben.<br />

Betrachten wir seine ausführl<strong>ich</strong>e Erzählung über seine Verwundung genauer,<br />

so wird deud<strong>ich</strong>, welche biographische Bedeutung sie für Herrn Langenbach<br />

<strong>hatte</strong>. Während eines Feuerüberfalls von sowjetischen Migs, kleinen<br />

Flugzeugen <strong>mit</strong> Ein-Mann-Besat<strong>zu</strong>ng, auf einen Bahnhof wurde Herr Langenbach<br />

von Splittern in Kopf und Bauch getroffen. Er fürchtete, „innerhalb<br />

weniger Minuten sterben <strong>zu</strong> müssen", und dachte an die in Frankre<strong>ich</strong> an<br />

Bauchschüssen gestorbenen Soldaten. Es gelang ihm jedoch noch, auf die<br />

176


Straße <strong>zu</strong> laufen und s<strong>ich</strong> an <strong>der</strong> Motorhaube eines vorbeifahrenden Lastwagens,<br />

einem Verwundetentransporter, fest<strong>zu</strong>halten. Auf einem Verbandsplatz<br />

wurden seine Wunden ohne Narkose provisorisch behandelt. Der Sanitäter<br />

vers<strong>ich</strong>erte ihm, die Verlet<strong>zu</strong>ngen seien n<strong>ich</strong>t tödl<strong>ich</strong>. Doch Walter Langenbach<br />

schenkte ihm keinen Glauben; er sah darin ledigl<strong>ich</strong> „nen Trost für die<br />

Fahrt gen Himmel".<br />

Szenisch und detailliert ber<strong>ich</strong>tet Herr Langenbach über seine leibl<strong>ich</strong>en<br />

Beschwerden. Der Tod, vor dem er s<strong>ich</strong> seit Beginn des <strong>Krieg</strong>es gefürchtet<br />

bzw. den er antizipiert <strong>hatte</strong>, stand nach seinem Empfinden nun bevor.<br />

Genau registriert er alle leibl<strong>ich</strong>en Verän<strong>der</strong>ungen, und alles leibl<strong>ich</strong> Spürbare<br />

wird unter <strong>der</strong> Perspektive eines mögl<strong>ich</strong>en Todes thematisch. Erst als<br />

man ihm ein Marmeladenbrot <strong>zu</strong>m Essen anbot, glaubte er, „haste doch noch<br />

Glück gehabt, daß de <strong>mit</strong> dem Leben davonkommst". Mit seiner Verwundung<br />

war das eingetreten, was er seit Beginn des <strong>Krieg</strong>es so gefürchtet <strong>hatte</strong>, näml<strong>ich</strong><br />

so <strong>zu</strong> sterben wie sein eigener Vater. So sehr war er von dieser Todeserwartung<br />

durchdrungen, daß er an einem glückl<strong>ich</strong>en Ausgang kaum <strong>zu</strong> glauben<br />

wagte:<br />

„<strong>ich</strong> könnt es gar n<strong>ich</strong> glauben, daß <strong>ich</strong> die Verlet<strong>zu</strong>ng überstehen werde mein Vater (1) war<br />

auch Infantrist genau wie <strong>ich</strong>" (II./2)<br />

Doch Walter Langenbach überlebte seine Verwundungen, und in gewisser<br />

Weise war für ihn da<strong>mit</strong> <strong>der</strong> <strong>Krieg</strong> in <strong>der</strong> Bedeutung, an <strong>der</strong> Front „zerrissen"<br />

<strong>zu</strong> werden, vorüber. Die Erwartung, wie <strong>der</strong> Vater sterben <strong>zu</strong> müssen, die wie<br />

ein Damoklesschwert über ihm hing, und w<strong>ich</strong>tige Entscheidungen beeinflußte,<br />

<strong>hatte</strong> s<strong>ich</strong> n<strong>ich</strong>t erfüllt. In diesem Zusammenhang ist <strong>zu</strong> berücks<strong>ich</strong>tigen,<br />

daß er seiner Frau den Wunsch auf ein Kind verwehrt <strong>hatte</strong>, weil er aus<br />

dem <strong>Krieg</strong> n<strong>ich</strong>t <strong>mehr</strong> <strong>zu</strong>rück<strong>zu</strong>kehren glaubte. Auch die Entscheidung <strong>zu</strong>r<br />

Heirat stellt er in diesen Sinn<strong>zu</strong>sammenhang. Mit seinem Überleben wurde er<br />

nun von dieser Bedrohung befreit. Es stellt s<strong>ich</strong> hier die Frage, ob s<strong>ich</strong> <strong>mit</strong> dieser<br />

Befreiung etwas in seiner Lebensplanung, seinem Lebensgefühl und in seiner<br />

Wahrnehmung des <strong>Krieg</strong>es än<strong>der</strong>te und s<strong>ich</strong> diese Än<strong>der</strong>ung auch in seiner<br />

biographischen Erzählung nie<strong>der</strong>schlägt.<br />

Mit einem Schwerverwundetentransport <strong>kam</strong> Walter Langenbach <strong>zu</strong>nächst<br />

nach Warschau ins Lazarett und von dort aus nach Nordbayern, wo es ihm allmähl<strong>ich</strong><br />

besser ging. Aufgrund seiner Verwundungen war er <strong>zu</strong>nächst n<strong>ich</strong>t<br />

<strong>mehr</strong> im <strong>Krieg</strong>sgebiet einsatzfahig. Es wurde ihm <strong>der</strong> Einsatz als Ausbil<strong>der</strong><br />

bei <strong>der</strong> Wehrmacht im Re<strong>ich</strong>sgebiet angeboten:<br />

„JA, und dann <strong>kam</strong> (1) eine Kommission, die Ausbil<strong>der</strong> brauchte (2) sie <strong>kam</strong>en <strong>zu</strong> mir, Unteroffizier<br />

Infantrist, oh: AKTIV GEDIENT, Μenschenskind den BRAUCHEN WER DOCH / WIE<br />

LANGE BLEIBEN SE DENN NOCH HIER (( fragend ))" (13/36)<br />

Herr Langenbach wurde als Ausbil<strong>der</strong> <strong>zu</strong>m Feldwebel beför<strong>der</strong>t. Die Erzählung<br />

über diese Zeit dreht s<strong>ich</strong> hauptsächl<strong>ich</strong> um Auseinan<strong>der</strong>set<strong>zu</strong>ngen<br />

<strong>mit</strong> einem Rekruten, einem aktiven Parteigenossen. Dieser trug s<strong>ich</strong>tbar das<br />

177


Parteiabze<strong>ich</strong>en und Herr Langenbach meint da<strong>zu</strong>: „an <strong>der</strong> Front war ihm das<br />

vergangen". Für ihn standen Soldatsein und Parteiaktivitäten im Gegensatz <strong>zu</strong><br />

einan<strong>der</strong>, was vermutl<strong>ich</strong> auch aus <strong>der</strong> von etl<strong>ich</strong>en Partei<strong>mit</strong>glie<strong>der</strong>n genutzten<br />

Mögl<strong>ich</strong>keit, den Fronteinsatz <strong>zu</strong> umgehen, resultierte. Dieser Parteigenosse<br />

warf ihm vor, daß er längst wie<strong>der</strong> an die Front gehöre. Herr Langenbach<br />

meldete den Vorfall und erre<strong>ich</strong>te, daß <strong>der</strong> Rekrut einige Tage Arrest erhielt.<br />

An<strong>der</strong>e Ausbil<strong>der</strong>, die von dem Vorfall erfuhren, schikanierten diesen<br />

Rekruten nach seinem Arrest:<br />

„und dann ham wer dem erst mal nen bißchen (1) das Soldatendasein beigebracht" (14/22)<br />

Bei <strong>der</strong> Erzählung über diese Begebenheit ereifert s<strong>ich</strong> Walter Langenbach<br />

sehr, und er wird wütend. Doch seine Ausführungen lassen n<strong>ich</strong>t erkennen, ob<br />

es nur die Wut über den an ihn herangetragenen Vorwurf, n<strong>ich</strong>t an <strong>der</strong> Front<br />

<strong>zu</strong> sein, o<strong>der</strong> eine generelle Wut gegen die Parteiaktivisten ist o<strong>der</strong> ob die Wut<br />

s<strong>ich</strong> gar gegen alle Verantwortl<strong>ich</strong>en des <strong>Krieg</strong>es r<strong>ich</strong>tet.<br />

Vermutl<strong>ich</strong> ist sie aus dem gespeist, was er im letzten <strong>Krieg</strong>sjahr an <strong>der</strong><br />

Front, <strong>zu</strong>m ersten Mal bei <strong>der</strong> fechtenden Truppe, erlebte.<br />

4.1.3.4 Der letzte Einsatz in Italien und die Gefangennahme<br />

Nachdem die Alliierten im September 1943 in Italien gelandet waren und Italien<br />

kapituliert <strong>hatte</strong>, wurde Herr Langenbach an die Front in den Pöntinischen<br />

Sümpfen bei Rom eingezogen, „weil wir die Amis wie<strong>der</strong> aus Italien<br />

rauswerfen wollten' 4 , wie er s<strong>ich</strong> ausdrückt.<br />

Zuletzt als Ausbil<strong>der</strong> in <strong>der</strong> Heimat eingesetzt, sah er mögl<strong>ich</strong>erweise nun<br />

die Chance, s<strong>ich</strong> noch aktiv an einem Kampf für den deutschen Sieg <strong>zu</strong> beteiligen.<br />

Nach vierjähriger <strong>Krieg</strong>sdauer war es für ihn <strong>der</strong> erste Einsatz direkt an<br />

<strong>der</strong> Front. Heute begründet er seinen Ein<strong>zu</strong>g wie folgt:<br />

„wer irjendwie, noch einigermaßen kriechen konnte mußte an ne Front" (14/49)<br />

Zunächst befand s<strong>ich</strong> Walter Langenbach im rückwärtigen Kampfgebiet,<br />

wurde jedoch bald als Zugführer eines sog. Stoßtrupps eingesetzt. Zur Unterstüt<strong>zu</strong>ng<br />

wurden ihnen Panzer versprochen. <strong>Als</strong> sie in R<strong>ich</strong>tung Haupt<strong>kam</strong>pflinie<br />

marschierten, näherten s<strong>ich</strong> ihnen die deutschen Panzer, die jedoch sogle<strong>ich</strong><br />

durch amerikanische „Panzerabwehrkanonen 44<br />

beschossen wurden.<br />

Eine Granate flog direkt über die Köpfe <strong>der</strong> deutschen Soldaten und traf den<br />

ersten Panzer; die darin befindl<strong>ich</strong>e Munition explodierte, und <strong>der</strong> Panzer <strong>mit</strong>samt<br />

den Soldaten wurde „zerrissen 44 .<br />

Um s<strong>ich</strong> keiner weiteren Gefahr aus<strong>zu</strong>setzen, verließen die deutschen Soldaten<br />

gemeinsam <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Besat<strong>zu</strong>ng <strong>der</strong> beiden an<strong>der</strong>en deutschen Panzer das<br />

Gelände. Bei diesem Rück<strong>zu</strong>g gelangten sie <strong>zu</strong> einem deutschen „Funktrupp 44 ,<br />

<strong>der</strong> s<strong>ich</strong> in leerstehenden Siedlungshäusern einquartiert <strong>hatte</strong>. Auch dort erlebte<br />

Herr Langenbach wie zwei deutsche Soldaten starben; einem wurde <strong>der</strong><br />

Kopf abgetrennt:<br />

178


„<strong>der</strong> lach da (1) dem fehlte nur <strong>der</strong> &>p/(3) VOLLTREFFER, HALS WEG (1) aus (2) „tja"<br />

(2), 5k) hats da viele erwischt' (3)" (56/3)<br />

Viele seiner Kameraden erlitten das gle<strong>ich</strong>e Schicksal wie sein Vater und<br />

wurden durch einen Volltreffer „zerrissen 44 . So auch ein deutscher Soldat einer<br />

an<strong>der</strong>en Kompanie, <strong>der</strong> <strong>mit</strong> einem Stoßtrupp ebenfalls gegnerische Stellungen<br />

erkunden sollte. Dieser Soldat <strong>kam</strong> plötzl<strong>ich</strong> stolpernd auf Herrn Langenbach<br />

<strong>zu</strong> und stammelte ständig die gle<strong>ich</strong>en Worte: „mein Gott, wofür<br />

werde <strong>ich</strong> bestraft ? 44 . Mit den Worten: „DER HATTE DAS PECH auf eine<br />

Tretmine <strong>zu</strong> treten 44<br />

leitet Herr Langenbach die Erzählung ein. Er habe s<strong>ich</strong><br />

den Kameraden angesehen und festgestellt, daß die amerikanischen Metallkonserven,<br />

welche er bei s<strong>ich</strong> gehabt habe, zwar einen Teil <strong>der</strong> Splitter abgehalten<br />

hätten, trotzdem sei er von einem Splitter am Kopf getroffen worden<br />

und habe ein „faustgroßes Loch 44<br />

im Hinterkopf gehabt. Er war selbst fassungslos,<br />

daß dieser Mann „noch bei Verstand 44<br />

war. Herr Langenbach<br />

schickte seinen Mel<strong>der</strong> <strong>mit</strong> dem Verletzten <strong>zu</strong>m nächsten Verbandsplatz, sah<br />

jedoch beide n<strong>ich</strong>t wie<strong>der</strong> und nimmt heute an, daß sie gestorben sind.<br />

Hatte Herr Langenbach nach seiner Genesung die Hoffnung geschöpft, den<br />

<strong>Krieg</strong> doch noch <strong>zu</strong> überleben, so kehrte anges<strong>ich</strong>ts dieser Erfahrungen die<br />

alte Todesfurcht <strong>zu</strong>rück. Doch <strong>hatte</strong> er es früher als unabwendbares Schicksal<br />

hingenommen, sterben <strong>zu</strong> müssen. Jetzt begann er, s<strong>ich</strong> gegen dieses Schicksal<br />

auf<strong>zu</strong>lehnen, und versuchte alles <strong>zu</strong> tun, um sein Leben <strong>zu</strong> schützen. Erstmals<br />

äußerte er nun massive Kritik am Verhalten deutscher Wehrmachtsangehöriger.<br />

So erzählt er, deutsche Flieger, die amerikanische Stellungen erkunden<br />

sollten, hätten aus Angst vor dem Beschuß ihrer Maschinen ihre<br />

Munition über „den eigenen Linien 44<br />

abgeworfen. Herr Langenbach beschimpft<br />

sie heute als „Feigelinge 44 und „Schweine 44 und betont, er habe<br />

Leuchtkugeln abgeschossen, „da<strong>mit</strong> die Drecksäcke merkten wo se ihre Bomben<br />

abgeladen <strong>hatte</strong>n 44 . Noch heute gerät er in Wut, wenn er über das Verhalten<br />

<strong>der</strong> deutschen Flieger spr<strong>ich</strong>t.<br />

Nach ca. einem Vierteljahr war für Walter Langenbach <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Gefangennahme<br />

<strong>der</strong> <strong>Krieg</strong> dann <strong>zu</strong> Ende. Sein Zug bestand <strong>mit</strong>tlerweile nur noch aus<br />

ungefähr 20 Soldaten; viele waren gefallen, und an<strong>der</strong>e waren <strong>zu</strong> den Alliierten<br />

übergelaufen. Zur Gefangennahme <strong>kam</strong> es, als Walter Langenbach gemeinsam<br />

<strong>mit</strong> einem Kameraden auf die Rückkehr des Verpflegungstrupps<br />

wartete. Im Dunkel <strong>der</strong> Nacht hielt er auf ihn <strong>zu</strong>kommende „schemenhafte<br />

Gestalten 44<br />

für deutsche Soldaten, die s<strong>ich</strong> dann aber als Amerikaner entpuppten.<br />

Herr Langenbach meint, daß eine Verteidigung zwecklos gewesen wäre:<br />

„aber was will <strong>ich</strong> gegen so viele machen, die: mal eine Handgranate in mein Loch werfen bin<br />

<strong>ich</strong> weg, ne <strong>hatte</strong> keinen Zweck <strong>ich</strong> ergebe m<strong>ich</strong>" (18/5)<br />

Insgesamt können wir festhalten, daß die biographische Erzählung Walter<br />

Langenbachs bis <strong>zu</strong> diesem Zeitpunkt entscheidend durch den antizipierten<br />

Tod im <strong>Krieg</strong> geprägt ist. Da<strong>mit</strong> <strong>zu</strong>sammenhängend begreift er sein Leben bis<br />

179


<strong>zu</strong> diesem Zeitpunkt weitgehend als von außen auferlegtes Schicksal; die Verantwortung<br />

für Entscheidungen schreibt er den politischen Verhältnissen o<strong>der</strong><br />

aber an<strong>der</strong>en Personen <strong>zu</strong>. Sah er für s<strong>ich</strong> keine Chance, den <strong>Krieg</strong> lebend <strong>zu</strong><br />

überstehen, unternahm er auch keine Versuche, Handlungen <strong>der</strong> Wehrmacht<br />

<strong>zu</strong> kritisieren, son<strong>der</strong>n er fügte s<strong>ich</strong>. Nachdem er jedoch die Verwundungen<br />

überlebt und selbst die lebensgefährl<strong>ich</strong>sten Situationen in Italien überstanden<br />

<strong>hatte</strong>, wuchs seine Hoffnung, doch am Leben <strong>zu</strong> bleiben. Da<strong>mit</strong> verbunden<br />

war ein Ablösungsprozeß von <strong>der</strong> Wehrmacht, <strong>der</strong>en Entscheidungen er nun<br />

n<strong>ich</strong>t <strong>mehr</strong> einfach hinnahm. Statt dessen war er bemüht, seine neugewonnene<br />

Hoffnung auf ein Leben nach dem <strong>Krieg</strong> <strong>zu</strong> realisieren.<br />

4Λ.4 Gefangenschaft<br />

4.1.4.1 „Man is ja ein armer Mann, man is überhaupt kein Mensch <strong>mehr</strong>,<br />

wenn man in Gefangenschaft gerät* 4<br />

Unter diesem Motto steht für Walter Langenbach die gesamte Anfangsphase<br />

seiner Gefangenschaft. Wie schon erwähnt, wurde <strong>der</strong> 30jährige 1944 von<br />

amerikanischen Soldaten gefangengenommen, entwaffnet und durchsucht.<br />

Diese Durchsuchung hat er als beson<strong>der</strong>s entwürdigendes Erlebnis in Erinnerung;<br />

die Amerikaner hätten s<strong>ich</strong> dabei persönl<strong>ich</strong> bere<strong>ich</strong>ert, meint er. Außerdem<br />

seien ihm persönl<strong>ich</strong>e Fotografien und Papiere abgenommen worden,<br />

die von den „Amis 44<br />

zerrissen und anschließend „IN NEN SCHLAMM GE­<br />

TRETEN 4 * worden seien. Herr Langenbach glaubt, daß dieses Erlebnis bei<br />

ihm <strong>zu</strong> einer Än<strong>der</strong>ung seiner Einstellung gegenüber den Amerikanern geführt<br />

habe. Seitdem würde er sie hassen und n<strong>ich</strong>t <strong>mehr</strong> als kultivierte Menschen<br />

betrachten. Noch heute ist er sehr wütend über diese Erfahrung:<br />

„ WARUM ZERREISST MAN NEN HARMLOSES BILD, DA KANN ICH KEINEN MIT TÜTEN<br />

0Γ (69/40)<br />

Er betont, selbst nie so gehandelt <strong>zu</strong> haben, und es wird in seiner Darstellung<br />

deutl<strong>ich</strong>, daß ihm diese Handlung vollkommen unverständl<strong>ich</strong> bleibt. Er<br />

empfindet es als Entwürdigung, realisiert allerdings n<strong>ich</strong>t, daß dies mögl<strong>ich</strong>erweise<br />

gerade <strong>der</strong> beabs<strong>ich</strong>tigte Effekt war.<br />

Zunächst <strong>kam</strong>en die deutschen Soldaten in ein Gefangenenlager am Fuße<br />

des Vesuvs, in <strong>der</strong> Nähe von Neapel. Sie erlebten einen Vulkanausbruch, <strong>der</strong><br />

Herrn Langenbach noch heute — auch wie<strong>der</strong>um — als „dolles Erlebnis 44<br />

in<br />

Erinnerung ist. Die Gefangenen sollten später in Afrika „an die Franzosen<br />

ausgeliefert werden 44<br />

und mußten <strong>mit</strong> Schiffen nach Afrika transportiert werden.<br />

Bei dieser Überfahrt seien sie anständig behandelt worden, meint Walter<br />

Langenbach. Alle Gefangenen wurden für den Fall eines Angriffes <strong>mit</strong><br />

Schwimmwesten ausgerüstet. Während <strong>der</strong> Überfahrt <strong>kam</strong> das Schiff in ein<br />

schweres Gewitter; Blitze schlugen in die Drahtseile und Fesselballons <strong>der</strong><br />

180


Schiffe ein, die explodierten und verglühten. Herr Langenbach erlebte diese<br />

Szenen als „Strafger<strong>ich</strong>t Gottes". Er läßt allerdings offen, wofür er s<strong>ich</strong> selbst<br />

o<strong>der</strong> die deutsche Armee als ganze bestraft sieht. Die Frage nach <strong>der</strong> Verantwortung<br />

für diesen <strong>Krieg</strong>, die hier naheliegt, läßt er so<strong>mit</strong> weiter unbeantwortet.<br />

Auch gibt es im Interview keine Hinweise darauf, daß er seine Zeit in Gefangenschaft<br />

als Strafe versteht. Im Vor<strong>der</strong>grund seiner Erzählung über die<br />

Zeit in <strong>der</strong> Gefangenschaft steht die seiner Meinung nach menschenunwürdige<br />

Behandlung durch die französische Armee.<br />

Er befand s<strong>ich</strong> in Nordafrika <strong>zu</strong>nächst in einem großen Lager und die ersten<br />

Monate waren vom Kampf ums Überleben bestimmt. Doch im Verhältnis <strong>zu</strong><br />

manch an<strong>der</strong>em Soldaten ging es ihm relativ gut. Aufgrund seines Handwerksberufes<br />

wurde er <strong>zu</strong> einem Arbeitskommando, das bessere Verpflegung<br />

erhielt, eingeteilt. Trotzdem litt Herr Langenbach insbeson<strong>der</strong>e unter <strong>der</strong><br />

schlechten Ernährungslage, <strong>der</strong>etwegen er — wie viele an<strong>der</strong>e Gefangene —<br />

Tropengeschwüre be<strong>kam</strong>.<br />

Walter Langenbach wurde in dieser Zeit beinahe Opfer eines Mordanschlages<br />

von noch überzeugten Nationalsozialisten. Soldaten des ehemaligen Afrikacorps,<br />

die schon seit 1943 in Gefangenschaft waren, wollten von ihm Auskunft<br />

über die <strong>Krieg</strong>ssituation in Deutschland haben, da sie den Nachr<strong>ich</strong>ten<br />

<strong>der</strong> Alliierten keinen Glauben schenkten. Walter Langenbach bestätigte jedoch<br />

diese Nachr<strong>ich</strong>ten wie z.B., daß deutsche Städte vom feindl<strong>ich</strong>en Beschuß<br />

in Brand ständen. Er wurde daraufhin gefragt, ob er noch an den deutschen<br />

Endsieg glaube, und antwortete:<br />

„ja da muß meiner Meinung nach schon mal nen kleines Wun<strong>der</strong> geschehn, wenn wir den Endsiech<br />

noch erre<strong>ich</strong>en wollen (3)" (28/39)<br />

<strong>Als</strong> Reaktion <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en auf seine Antwort folgte „das Schlimmste 44 . Herr<br />

Langenbach wurde <strong>zu</strong>nächst <strong>zu</strong> einem sog. Vertrauensmann gerufen, einem<br />

„alten Parteigenossen <strong>mit</strong> goldenem Parteiabze<strong>ich</strong>en 44 . Ihm wurde ein „Untergraben<br />

<strong>der</strong> Wehrkraft 44<br />

vorgeworfen, für das er s<strong>ich</strong> später in Deutschland vor<br />

einem <strong>Krieg</strong>sger<strong>ich</strong>t <strong>zu</strong> verantworten haben werde. Mit an<strong>der</strong>en Worten, dieser<br />

Parteigenosse glaubte noch an eine deutsche Militärger<strong>ich</strong>tsbarkeit nach<br />

einem deutschen Endsieg.<br />

Herr Langenbach <strong>hatte</strong> Angst, tatsächl<strong>ich</strong> noch vor ein deutsches Ger<strong>ich</strong>t<br />

gestellt <strong>zu</strong> werden, denn er <strong>hatte</strong> von <strong>der</strong> Entwicklung <strong>der</strong> sog. Wun<strong>der</strong>waffen<br />

gehört, die einen deutschen Sieg vielle<strong>ich</strong>t doch noch ermögl<strong>ich</strong>ten. Doch<br />

jene faschistischen und fanatischen Soldaten wollten ihn sofort <strong>zu</strong>r Verantwortung<br />

ziehen. Eines Nachts hörte er Stimmen und erblickte zwei von den „Anklägern<br />

44 , beide kräftige Männer. Herrn Langenbach war sofort klar, daß ihm<br />

ein „heiliger Geist 44<br />

drohte:<br />

„EIN HEILIGER GEIST BESTEHT DARIN (1) DEM KAMERADEN DER IHN HABEN<br />

SOLL NE DECKE ÜBERN KOPF, ODER NEN ALTEN MANTEL, ÜBERN KOPF ZU LE­<br />

GEN DAMIT=ER NICH SEHEN KANN, WER DEN HEILIGEN GEIST VERPASST (1)<br />

181


DANN WIRD=ER FESTGEHALTEN EIN=ODER=ZWEI HALTEN IHN FEST UND DIE<br />

ANDEREN SCHLAGEN MIT KNÜPPEL ODER KOPPEL o<strong>der</strong> sonstwas auf Kreuz und Gesäß<br />

o<strong>der</strong> auf die Beine" (34/45)<br />

Doch bevor dieser „Geist über ihn <strong>kam</strong>", schrie er die beiden an. Einer <strong>der</strong><br />

beiden konnte ihm entkommen, den an<strong>der</strong>en be<strong>kam</strong> er <strong>zu</strong> fassen und schleifte<br />

ihn über den Betonboden, so daß dieser starke Schürfwunden davontrug. Walter<br />

Langenbach schreibt dieses Verhalten seiner Sozialisation als Soldat <strong>zu</strong>,<br />

durch die er „schlecht" geworden sei:<br />

„und er wollte s<strong>ich</strong> nun befreien und schrie laß m<strong>ich</strong> los laß m<strong>ich</strong> los (1) schlecht wie <strong>ich</strong> als<br />

Soldat auch geworden bin (2) ziehe <strong>ich</strong> ihn wie er s<strong>ich</strong> heftig wehrt, <strong>mit</strong> dem Kopf, so r<strong>ich</strong>tig<br />

drück=<strong>ich</strong>=n noch auf den Betonboden (2)" (32/20)<br />

Noch heute gerät Walter Langenbach bei <strong>der</strong> Erinnerung an diese Szene in<br />

Wut. Zwar ist ihm bewußt, daß sein Verhalten, vor allem die Brutalität, <strong>mit</strong><br />

<strong>der</strong> er s<strong>ich</strong> an seinem Angreifer gerächt hat, „schlecht" ist, doch stellt er es<br />

als für die damalige Situation selbstverständl<strong>ich</strong> hin: Er „hätte jeden kalt gemacht",<br />

<strong>der</strong> ihn „angefaßt" hätte. Um s<strong>ich</strong> besser verteidigen <strong>zu</strong> können, habe<br />

er dann ein „Stecheisen" gestohlen, das er immer bei s<strong>ich</strong> getragen habe.<br />

Nachdrückl<strong>ich</strong> betont er:<br />

„<strong>ich</strong> hätte dem nächsten <strong>der</strong> nachts an meinem Bett erschienen war, das Ding, in nen Körper<br />

gerammt (1)" (32/54)<br />

Insgesamt war das Klima in dem Gefangenenlager von Brutalität, Gewalt<br />

und Rivalität gekennze<strong>ich</strong>net. So erzählt Walter Langenbach z.B. von einigen<br />

Mitgefangenen, die s<strong>ich</strong> freiwillig <strong>zu</strong>r Fremdenlegion melden wollten, weil<br />

sie „das Gefangenendasein n<strong>ich</strong>t <strong>mehr</strong> ertragen konnten":<br />

„JA, UND DAS WAR NATÜRLICH (2) LANDESVERRAT FÜR unsere Unteroffiziere daß<br />

s<strong>ich</strong> da: (1) Leute für de Fremdenlegion .meldeten'" (34/35)<br />

Diese seien kaltblütig ermordet worden. Herr Langenbach selbst erlebte<br />

<strong>mit</strong>, wie jemand einen „heiligen Geist in Form eines Todes" be<strong>kam</strong>. Dieser<br />

deutsche Gefangene sei nachts überfallen und <strong>mit</strong> einer Betäubungsspritze<br />

„ruhig gestellt" worden. Dann habe man ihm ein Elektrokabel um den Hals<br />

gelegt und ihn aufgehängt, um einen Selbstmord vor<strong>zu</strong>täuschen. Am nächsten<br />

Morgen sei dann eine Meldung über den Suizid des Mitgefangenen gemacht<br />

worden. Eine ärztl<strong>ich</strong>e Untersuchung habe jedoch ergeben, daß es s<strong>ich</strong> n<strong>ich</strong>t<br />

um Selbstmord gehandelt habe, da <strong>der</strong> Einst<strong>ich</strong> von <strong>der</strong> Spritze und diverse<br />

Verlet<strong>zu</strong>ngen entdeckt worden seien, erzählt Walter Langenbach weiter. Die<br />

Verantwortl<strong>ich</strong>en seien durch die französische Lagerverwaltung an das<br />

<strong>Krieg</strong>sger<strong>ich</strong>t überstellt worden.<br />

Obwohl Herr Langenbach beinahe selbst ermordet worden wäre, kann er<br />

s<strong>ich</strong> von <strong>der</strong> Zugehörigkeit <strong>zu</strong> dieser Gemeinschaft n<strong>ich</strong>t vollständig lossagen.<br />

Dies wird deutl<strong>ich</strong>, als er eine französische Zeitung zitiert, die über diesen<br />

Akt <strong>der</strong> Selbstjustiz ber<strong>ich</strong>tete:<br />

182


„und einen Tach später ((zittrige weinerl<strong>ich</strong>e Stimme)) (1) (( räuspern )) <strong>kam</strong> die französische<br />

Zeitung bei uns ins Lager (1) BALKENüberschrift (2) .schreckl<strong>ich</strong>* (1) Wölfe, unter s<strong>ich</strong> (1) das<br />

waren WIR (3)" (35/28)<br />

Zwar gehörte er n<strong>ich</strong>t <strong>zu</strong>r Gemeinschaft <strong>der</strong> immer noch aufrechten Nationalsozialisten,<br />

doch fühlte er s<strong>ich</strong> von <strong>der</strong> ,Wolfs-Metapher\ die die französische<br />

Presse gebraucht <strong>hatte</strong>, betroffen. Er konnte s<strong>ich</strong> umso weniger von dieser<br />

Gruppe distanzieren, als er selbst in diese Auseinan<strong>der</strong>set<strong>zu</strong>ngen verwickelt<br />

war und eine <strong>zu</strong>nehmende Verrohung auch an s<strong>ich</strong> selbst feststellen<br />

konnte: „schlecht wie <strong>ich</strong> als Soldat auch geworden war. 44<br />

Von <strong>der</strong> Außenwelt<br />

<strong>mit</strong> Wölfen vergl<strong>ich</strong>en <strong>zu</strong> werden, empfindet Walter Langenbach als<br />

„schreckl<strong>ich</strong> 44 , doch war er <strong>zu</strong>gle<strong>ich</strong> durchaus stolz darauf, <strong>zu</strong>r Gemeinschaft<br />

<strong>der</strong> deutschen Soldaten <strong>zu</strong> gehören und überhaupt deutsch <strong>zu</strong> sein. Dies<br />

kommt vor allem in seinen Schil<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> nordafrikanischen Bevölkerung,<br />

ihrer Kultur und Sitten <strong>zu</strong>m Ausdruck.<br />

Wenn er über ihre Zeremonien, z.B. die Hochzeitsfeste, über ihre Lebensund<br />

Wohnverhältnisse spr<strong>ich</strong>t o<strong>der</strong> das Geschlechterverhältnis beschreibt,<br />

werden seine negativen Bewertungen deutl<strong>ich</strong>. Ihn belustigten die Fastenrituale<br />

<strong>der</strong> Mohammedaner, und die Gefangenen „foppten 44<br />

die Fastenden <strong>mit</strong><br />

dem Hinweis, sie könnten ruhig etwas essen, da Allah sie durch die Zeltwand<br />

ja n<strong>ich</strong>t sehen könne. Zwar lobt er die arabische Gastfreundschaft, sagt jedoch<br />

im gle<strong>ich</strong>en Atem<strong>zu</strong>g, daß „Betrügen an ner Tagesordnung war 44 . Des weiteren<br />

bedauert er die afrikanischen Frauen, welche hart arbeiten müßten und <strong>der</strong>en<br />

Wert in Kamelen gemessen werde. Bei <strong>der</strong> Auswahl „<strong>der</strong> Bräute 44<br />

sei es<br />

„schlimmer wie en Pferdehandel 44 , meint Walter Langenbach. Es ist ihm<br />

w<strong>ich</strong>tig, die Überlegenheit <strong>der</strong> deutschen Kultur hervor<strong>zu</strong>heben. Seine ethnozentristische<br />

Einstellung zeigt s<strong>ich</strong> z.B., wenn er betont:<br />

„und UNS, das hab=<strong>ich</strong> eben noch vergessen, wollten se so gerne <strong>mit</strong> ihren Töchtern verheiraten,<br />

die Araber, weil wir (1) <strong>mehr</strong>: Ausbildung besitzen ne" (67/11)<br />

Dagegen kann er ein Loblied auf die Deutschen singen:<br />

„DIE DEUTSCHEN SIND JA (1) ERFINDERISCHER UND WISSEN SICH ZU HELFEN,<br />

INTELLIGENTER WIE DIE NATURVÖLKER die n<strong>ich</strong> lesen und schreiben können" (35/5)<br />

So mußte, nach seiner Darstellung, erst ein gefangener deutscher Medizinstudent<br />

kommen, um „die dollsten Operationen nur <strong>mit</strong> Taschenmesser 44<br />

durch<strong>zu</strong>führen, <strong>zu</strong> denen die Einheimischen n<strong>ich</strong>t in <strong>der</strong> Lage gewesen seien.<br />

Ausführl<strong>ich</strong> und voller Stolz erzählt er von dem „Erfindungsgeist 44<br />

<strong>der</strong> deutschen<br />

Gefangenen, die eine Aluminiumlegierung als L<strong>ich</strong>tquelle verwendeten,<br />

aus alten Flugzeugteilen Gebrauchsgegenstände bastelten und sogar <strong>mit</strong><br />

Kopfhörern und Telefondraht die Gespräche <strong>der</strong> französischen Lagerkommandantur<br />

belauschten.<br />

Welche Funktion hat die Betonung <strong>der</strong> beson<strong>der</strong>en Fähigkeiten <strong>der</strong> Deutschen<br />

für Walter Langenbach? Hier stellt s<strong>ich</strong> die Frage, ob dieser Nationalstolz<br />

und Ethnozentrismus Ausdruck einer schon vor <strong>der</strong> Gefangenschaft ver-<br />

183


innerl<strong>ich</strong>ten Weltanschauung ist o<strong>der</strong> ob diese Einstellung <strong>mit</strong> den beson<strong>der</strong>en<br />

Bedingungen von Gefangenschaft <strong>zu</strong>sammenhängt. Diese Frage stellt s<strong>ich</strong> beson<strong>der</strong>s,<br />

da Biographen im thematischen Zusammenhang von Gefangenschaft<br />

häufig in <strong>der</strong> Art wie Herr Langenbach erzählen. Man muß bedenken, daß<br />

Handlungsmögl<strong>ich</strong>keiten in <strong>der</strong> Gefangenschaft äußerst eingeschränkt sind.<br />

Die Gefangenen sind in einer hilflosen Situation gegenüber ihren Bewachern,<br />

denen sie im <strong>Krieg</strong> als Feinde gegenüber gestanden haben —- und denen sie im<br />

Kampf und nun als Gefangene unterlegen sind. Eine Mögl<strong>ich</strong>keit, diese Hilflosigkeit<br />

<strong>zu</strong> kompensieren, liegt in dem ständigen Beweis <strong>der</strong> eigenen Cleverness<br />

und geistig-kulturellen Überlegenheit.<br />

Auch Herrn Langenbach gelang es so, s<strong>ich</strong> trotz <strong>der</strong> deutschen Nie<strong>der</strong>lage<br />

weiterhin als Angehöriger eines beson<strong>der</strong>en Volkes <strong>zu</strong> fühlen.<br />

Wie schon in früheren Situationen, schaffte s<strong>ich</strong> Walter Langenbach in <strong>der</strong><br />

Gefangenschaft Freiräume, in denen er sein Können beweisen und durch die<br />

er relative und kompensatorische »Handlungsfreiheiten 4<br />

gewinnen konnte.<br />

Jetzt war es wie<strong>der</strong> das Schachspiel, das sein Selbstbewußtsein stärkte: Er<br />

schnitzte Schachfiguren und veranstaltete Schachturniere, bei denen er seiner<br />

Darstellung nach immer <strong>der</strong> Sieger blieb.<br />

4.1.4.2 Das Leben „normalisiert 44 s<strong>ich</strong><br />

Herr Langenbach konnte schon während <strong>der</strong> Gefangenschaft an seine früheren<br />

Berufsroutinen anknüpfen: So wurde er in Nordafrika <strong>mehr</strong>eren „Arbeitskommandos<br />

44<br />

<strong>zu</strong>geteilt. Bei <strong>der</strong> Erzählung über sein letztes Kommando — das<br />

aus insgesamt drei Gefangenen bestand — auf einer Olivenfarm, das er als<br />

Kommandoführer begleitete, gewinnt man den Eindruck, als habe er dort sehr<br />

selbstbestimmt handeln können. Der Status eines Kommandoführers scheint<br />

für die Darstellung seiner Kompetenzen und Handlungsfähigkeiten beson<strong>der</strong>s<br />

w<strong>ich</strong>tig.<br />

Erzählenswerte Erlebnisse dieser Lebensphase sind für Herrn Langenbach<br />

vor allem die, die sein handwerkl<strong>ich</strong>es Geschick sowie die Überlegenheit <strong>der</strong><br />

deutschen Gefangenen hervorheben. So erinnert er s<strong>ich</strong> z.B., wie er gemeinsam<br />

<strong>mit</strong> an<strong>der</strong>en deutschen Gefangenen seines Kommandos nachts in einen<br />

Weinberg eingedrungen sei und dort Weintrauben gestohlen habe. Um den<br />

Verdacht auf Araber <strong>zu</strong> lenken, seien sie barfuß gegangen, denn die Araber<br />

seien <strong>zu</strong> arm gewesen, um s<strong>ich</strong> Sandalen leisten <strong>zu</strong> können. Noch heute ist er<br />

auf das Gelingen dieser List stolz und meint lachend:<br />

„ja so hat man doch immer noch versucht, dem Leben die guten Seiten ((lachend)) ab<strong>zu</strong>gewinnen,<br />

auch mal Spaß <strong>zu</strong> haben (1)" (30/38)<br />

Das Ende des <strong>Krieg</strong>es im Mai 1945, das Walter Langenbach in Gefangenschaft<br />

erlebte, erwähnt er im Interview wie beiläufig. Da er ohnehin schon an<br />

einem deutschen Sieg gezweifelt <strong>hatte</strong>, dürfte ihn diese Nachr<strong>ich</strong>t n<strong>ich</strong>t <strong>mehr</strong><br />

son<strong>der</strong>l<strong>ich</strong> überrascht haben. Auch bedeutete die deutsche Nie<strong>der</strong>lage <strong>zu</strong>-<br />

184


nächst keine Unterbrechung seiner alltägl<strong>ich</strong>en Routinen. Mittelbar griff sie<br />

jedoch in sein Leben ein: Er wurde von seinem Arbeitskommando auf <strong>der</strong> Olivenfarm<br />

<strong>zu</strong>rück in das Lager beor<strong>der</strong>t. Die französische Lagerverwaltung<br />

wollte die „Selbstverwaltung" <strong>der</strong> Gefangenen den neuen politischen Verhältnissen<br />

anpassen und den bisherigen deutschen Lagerführer ersetzen:<br />

„und nun war immer noch (1) ein (2) ALTER KÄMPFER, Lagerfiihrer, in einem Lager in<br />

Sousse (1) wo <strong>ich</strong> <strong>zu</strong>gehörte <strong>zu</strong> dem Lager gehörte <strong>ich</strong> , UND DEN NAZI WOLLTEN SE ABLÖ­<br />

SEN, ABER WOHER NUN NEN ANTIFASCHISTEN nehmen (( fragend )) (2) und DA KAM<br />

dem Kommandanten (1) <strong>zu</strong> Ohren daß <strong>ich</strong> doch wohl ein Antifaschist sein müßte weil <strong>ich</strong> n<strong>ich</strong><br />

<strong>mehr</strong> an nen Endsiech geglaubt hätte (2) und eh <strong>der</strong> Nazilagerflihrer (1) m<strong>ich</strong>, ans <strong>Krieg</strong>sger<strong>ich</strong>t<br />

liefern wollte (2)" (35/51)<br />

Walter Langenbach wurde Lagerfuhrer. Seine Formulierung: „daß <strong>ich</strong> doch<br />

wohl ein Antifaschist sein mußte" läßt offen, ob er s<strong>ich</strong> selbst als Antifaschist<br />

begreift, <strong>der</strong> den Nationalsozialismus als System ablehnt. Doch man gewinnt<br />

eher den Eindruck, als habe er diese Zuschreibung übernommen. Es stellt<br />

s<strong>ich</strong> die Frage, wie er <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Zuschreibung, Antifaschist gewesen <strong>zu</strong> sein,<br />

umging. Eine Mögl<strong>ich</strong>keit ist, daß er s<strong>ich</strong> von diesem Moment an von aller<br />

Mitverantwortl<strong>ich</strong>keit losgesprochen fühlte und s<strong>ich</strong> selbst als Opfer <strong>der</strong> politischen<br />

Umstände begriff, die aus seiner S<strong>ich</strong>t einzelne Partei<strong>mit</strong>glie<strong>der</strong> verursacht<br />

<strong>hatte</strong>n, an denen es s<strong>ich</strong> <strong>zu</strong> rächen galt. Da<strong>mit</strong> wäre er dann auch n<strong>ich</strong>t<br />

gezwungen, s<strong>ich</strong> <strong>mit</strong> seinen eigenen Verstrickungen in den Nationalsozialismus<br />

auseinan<strong>der</strong><strong>zu</strong>setzen <strong>zu</strong> müssen. Neben seiner Feindschaft gegenüber jenem<br />

„alten Kämpfer", <strong>der</strong> ihm noch in Gefangenschaft <strong>mit</strong> dem <strong>Krieg</strong>sger<strong>ich</strong>t<br />

gedroht <strong>hatte</strong>, r<strong>ich</strong>tete s<strong>ich</strong> seine Wut vor allem gegen jene ehemaligen Parteigenossen,<br />

die schon während des <strong>Krieg</strong>es „die dicken Gehälter eingestr<strong>ich</strong>en,<br />

s<strong>ich</strong> als Witwentröster betätigt <strong>hatte</strong>n". Walter Langenbach hingegen identifizierte<br />

s<strong>ich</strong> <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Rolle des Frontsoldaten:<br />

„UND WIR MUSSTEN AN NER FRONT, UNSERE KNOCHEN UND UNSER BLUT<br />

SPENDEN' 1 (37/18)<br />

In dieser Rolle fühlte s<strong>ich</strong> Walter Langenbach gegenüber den Parteigenossen<br />

benachteiligt. Dieses Gefühl <strong>der</strong> eigenen Benachteiligung ebenso wie die<br />

Bedrohung, die er selbst erfahren <strong>hatte</strong>, mag da<strong>zu</strong> gefuhrt haben, daß er als<br />

Lagerführer Racheakte an<strong>der</strong>er Gefangener gegenüber den „Nazis" deckte<br />

bzw. über sie hinwegsah. Vor allem für diejenigen, die schon wegen geringfügiger<br />

Delikte <strong>zu</strong> „Verbrechern" gestempelt worden waren, brachte er Verständnis<br />

auf. Auch seinen eigenen Rachewünschen konnte er nun nachgeben:<br />

Er erzählt, wie er jenen alten „PG", <strong>der</strong> in dem ersten Gefangenenlager Lagerführer<br />

war und <strong>der</strong> ihn nach dem deutschen Endsieg einem deutschen<br />

<strong>Krieg</strong>sger<strong>ich</strong>t überstellen wollte, eines Nachts <strong>zu</strong>sammengeschlagen hat.<br />

Herr Langenbach versteht s<strong>ich</strong> selbst als durch den Nationalsozialismus<br />

und den Zweiten Weitkrieg ungerecht behandelt und fühlt s<strong>ich</strong> in gewisser<br />

Weise als Opfer <strong>der</strong> politischen Verhältnisse.<br />

185


Im Jahre 1947 wurde Walter Langenbach als Gefangener <strong>mit</strong> einem „Arbeitskommando<br />

44<br />

nach Frankre<strong>ich</strong> verlegt. Gemeinsam <strong>mit</strong> an<strong>der</strong>en Gefangenen<br />

arbeitete er in einer Papierfabrik, wo er aufgrund seiner Ausbildung als<br />

Zimmermann bald <strong>zu</strong> einem unverz<strong>ich</strong>tbaren Arbeiter geworden sei:<br />

„wie <strong>ich</strong> acht Tage da drin war, da wußte <strong>der</strong> Ingenieur <strong>der</strong> Langenbach<br />

kann alles 44 (40/51)<br />

4.1.5 Die Rückkehr ins Zivilleben<br />

4.1.5.1 Die gescheiterte Ehe<br />

Nach seiner Entlassung aus französischer <strong>Krieg</strong>sgefangenschaft im Jahr<br />

1948 kehrte Walter Langenbach nach Hause <strong>zu</strong>rück. Von seiner Frau, die er<br />

im Januar 1939 geheiratet <strong>hatte</strong>, war er seit fast neun Jahren getrennt. Abgesehen<br />

von einigen wenigen Heimaturlauben vor seiner Gefangenschaft standen<br />

sie nur in briefl<strong>ich</strong>em Kontakt. Das Ehepaar Langenbach <strong>hatte</strong> bisher also<br />

keine Möglickeit gehabt, ein gemeinsames Leben auf<strong>zu</strong>bauen.<br />

Das Wie<strong>der</strong>sehen hat Walter Langenbach dann auch als sehr enttäuschend in<br />

Erinnerung. Er erzählt, daß er seine Rückkehr telegraphisch angekündigt habe.<br />

<strong>Als</strong> er dann spät in <strong>der</strong> Nacht eintraf, habe seine Frau ihn nur kühl begrüßt:<br />

„meine Frau, macht die Tür auf <strong>ich</strong> stehe da im, im abgerissenen Zeug (2) war ja kaum noch Uniform<br />

ne (2) OCH WALTER (1) sie dreht s<strong>ich</strong> um (2) Tür is noch so spaltweit offen (1) GEHT ZU­<br />

RÜCK ÜBER NEN KLEINEN KORRIDOR UND=NE=KÜCHE WALTER is da (2)" (71 /42)<br />

Nach <strong>der</strong> jahrelangen Trennung war es für das Ehepaar äußerst schwierig,<br />

s<strong>ich</strong> aneinan<strong>der</strong> <strong>zu</strong> gewöhnen — vor allem sexuell, wie Walter Langenbach<br />

hervorhebt. Seine Frau habe s<strong>ich</strong> <strong>mit</strong> immer neuen Ausreden seinen sexuellen<br />

Annäherungen entzogen. Daß s<strong>ich</strong> eine „normale Frau 44<br />

von ihm abwandte,<br />

paßte n<strong>ich</strong>t in Walter Langenbachs Selbstbild. Er vermutete, daß seine Frau<br />

ihn in seiner Abwesenheit „betrogen 44<br />

<strong>hatte</strong> und unterstellte ihr sogar, von einem<br />

an<strong>der</strong>en Mann ein Kind erwartet und abgetrieben <strong>zu</strong> haben. Mißtrauisch<br />

begann er, seiner Frau nach<strong>zu</strong>spionieren. Er suchte sogar in Hamburg einen<br />

Mann auf, dessen Adresse er in den Notizen seiner Frau gefunden <strong>hatte</strong>, um<br />

ihn <strong>zu</strong> bitten, ihm „reinen Wein ein<strong>zu</strong>schenken 44 . Zwar bestritt dieser Mann,<br />

Erna Langenbach überhaupt <strong>zu</strong> kennen, doch Walter Langenbachs Mißtrauen<br />

war n<strong>ich</strong>t <strong>zu</strong> besänftigen. Obwohl seine Frau in diesem Jahr noch schwanger<br />

von ihm wurde, dachte er an Scheidung, was nach seiner Darstellung vor allem<br />

daran scheiterte, daß „Adenauer die Ehegesetze erhärtet <strong>hatte</strong> 44 . Auch<br />

nach <strong>der</strong> Geburt des gemeinsamen Sohnes im Oktober 1948 stabilisierte s<strong>ich</strong><br />

die Ehe n<strong>ich</strong>t. Über seinen Sohn erzählt Walter Langenbach ledigl<strong>ich</strong>, daß „er<br />

gut geraten ist 44 .<br />

Während des Interviews versucht Walter Langenbach n<strong>ich</strong>t, s<strong>ich</strong> in die Perspektive<br />

seiner Frau hinein<strong>zu</strong>versetzen. Die durch <strong>Krieg</strong> und jahrelange Trennung<br />

hervorgerufene Entfremdung thematisiert er n<strong>ich</strong>t.<br />

186


Da das Ehepaar in <strong>der</strong> kurzen Zeit vor <strong>Krieg</strong>sbeginn noch keine gemeinsame<br />

Lebenspraxis aufgebaut <strong>hatte</strong>, an die es jetzt hätte anknüpfen können,<br />

hätte es s<strong>ich</strong> <strong>zu</strong>nächst um den Aufbau eben dieser gemeinsamen Ehewirkl<strong>ich</strong>keit<br />

bemühen müssen. Doch scheint Walter Langenbach in <strong>der</strong> langen Zeit seiner<br />

Gefangenschaft an <strong>der</strong> Illusion <strong>der</strong> ehel<strong>ich</strong>en Gemeinsamkeit festgehalten<br />

<strong>zu</strong> haben. Er fühlte s<strong>ich</strong> von seiner Frau enttäuscht und betrogen. Hilflos<br />

schreibt er die Schuld für das Scheitern seiner Ehe dem <strong>Krieg</strong>sbeginn <strong>zu</strong> bzw.<br />

fühlt s<strong>ich</strong> überhaupt in diese Ehe gedrängt: Sowohl seine Mutter als auch seine<br />

Schwiegermutter hätten ihn an seine Frau „gefesselt* 1 . Im Bewußtsein <strong>der</strong> gescheiterten<br />

Ehe meint er heute, er habe schon damals ein Mißlingen dieser<br />

Ehe antipiziert:<br />

„ABER ICH WUSSTE daß wir einfach n<strong>ich</strong> <strong>zu</strong>sammenpassen" (II. /16)<br />

4.1.5.2 Die gescheiterte Parteikarriere in <strong>der</strong> SPD<br />

Nach seiner Rückkehr aus <strong>der</strong> Gefangenschaft mußte Walter Langenbach fest<br />

stellen, daß die Personen, denen er die Verantwortung für das NS-System <strong>zu</strong>schrieb,<br />

vielfach wie<strong>der</strong> hohe gesellschaftl<strong>ich</strong>e Positionen inne<strong>hatte</strong>n und<br />

auch politisch wie<strong>der</strong> aktiv waren. Er ist <strong>der</strong> Ans<strong>ich</strong>t, daß diejenigen, die diesen<br />

Prozeß hätten verhin<strong>der</strong>n können, wie etwa er selbst, in Gefangenschaft<br />

waren.<br />

In dieser ersten Zeit, ca. 1948, trat er in die SPD ein und blieb ein Jahr Mitglied.<br />

Seinen Beitritt begründet er folgen<strong>der</strong>maßen:<br />

„<strong>ich</strong> wollte aber wie<strong>der</strong> nen bißchen politisch <strong>mit</strong>machen (1) um (2) die Sache wie<strong>der</strong> nen bißchen<br />

<strong>zu</strong>recht<strong>zu</strong>rücken" (II./6)<br />

Welche „Sache" er wie<strong>der</strong> „<strong>zu</strong>rechtrücken 4 * wollte, läßt Walter Langenbach<br />

an dieser Stelle offen. Vermutl<strong>ich</strong> hat er den Nationalsozialismus bzw.<br />

diejenigen, die er für sein Zustandekommen verantwortl<strong>ich</strong> macht, im Blick.<br />

Mögl<strong>ich</strong>erweise wollte er durch seine Mitgliedschaft in <strong>der</strong> SPD gerade die<br />

Verantwortl<strong>ich</strong>en <strong>zu</strong>r Rechenschaft ziehen. Vielle<strong>ich</strong>t ging es ihm aber auch<br />

darum, sein eigenes Engagement im Nationalsozialismus „<strong>zu</strong>recht<strong>zu</strong>rücken 44 ,<br />

d.h., vor s<strong>ich</strong> selbst und vor an<strong>der</strong>en seine eigene Vergangenheit durch das<br />

Engagement in dieser Partei <strong>zu</strong> bereinigen. Mit seinem Eintritt in die SPD<br />

knüpfte er an seine Mitgliedschaft in <strong>der</strong> SAJ an und konnte da<strong>mit</strong> s<strong>ich</strong> selbst<br />

und seiner Umwelt demonstrieren, daß er schon immer sozialdemokratisch<br />

orientiert war.<br />

Doch <strong>kam</strong> es für Walter Langenbach bald <strong>zu</strong> Spannungen in <strong>der</strong> SPD: Er begegnete<br />

dort einer bekannten Persönl<strong>ich</strong>keit seiner Heimatstadt, die vor 1933<br />

beim sozialdemokratisch orientierten Re<strong>ich</strong>sbanner organisiert war, dann aber<br />

1933 eine <strong>der</strong> ersten war, die „Funktionäre in Adolfs Partei 44 wurden. Wolter<br />

Langenbach war empört darüber, diesen Mann nun als SPD-Mitglied, und da<strong>mit</strong><br />

quasi rehabilitiert, wie<strong>der</strong><strong>zu</strong>treffen. Diese Rehabilitation empfand er als<br />

verlogen. Aus Protest dagegen gab er 1949 sein fórteibuch wie<strong>der</strong> <strong>zu</strong>rück.<br />

187


4.1.5.3 Die erfolgre<strong>ich</strong>e Benifskarriere<br />

Schon in <strong>der</strong> französischen <strong>Krieg</strong>sgefangenschaft war es Herrn Langenbach<br />

gelungen, an alte Berufsroutinen als Zimmermann an<strong>zu</strong>knüpfen. Wie lange er<br />

dann nach seiner Rückkehr arbeitslos war, wissen wir lei<strong>der</strong> n<strong>ich</strong>t. Zunächst<br />

fand er eine Stelle als Zimmermann in einem Krankenhaus, wo er <strong>mehr</strong>ere<br />

Jahre blieb. Später arbeitete er jeweils <strong>mehr</strong>ere Jahre in verschiedenen Zimmereibetrieben.<br />

Im Jahr 1965, <strong>mit</strong> 51 Jahren, legte Walter Langenbach die Meisterprüfung<br />

ab, arbeitete noch einige Jahre als Meister in einem Betrieb und machte s<strong>ich</strong><br />

dann selbständig. Sein Betrieb blieb ein „Ein-Mann-Betrieb" wie er betont:<br />

„<strong>ich</strong> war immer noch Lehrling=Geselle=Meister=Buchhalter=Kraftfahrer, und noch so was,<br />

alles in einer Person" (40/58)<br />

Herr Langenbach war also in <strong>der</strong> Lage, in seinem Beruf trotz anfangl<strong>ich</strong>er<br />

Schwierigkeiten wie<strong>der</strong> Fuß <strong>zu</strong> fassen, alte Berufsroutinen auf<strong>zu</strong>nehmen und<br />

aus<strong>zu</strong>bauen. Hier fand er persönl<strong>ich</strong>e Bestätigung und gewann individuelle<br />

Handlungsautonomie. Selbstbewußt erzählt er von seinem Können und seinen<br />

Leistungen. Vor allem <strong>mit</strong> jenen 15 Jahren seiner Berufstätigkeit, in <strong>der</strong> er als<br />

selbständiger Zimmermann arbeitete, kann er s<strong>ich</strong> identifizieren. Rückblickend<br />

evaluiert Walter Langenbach seine berufl<strong>ich</strong>e Laufbahn <strong>mit</strong> den<br />

Worten:<br />

„<strong>ich</strong> habe meinen Beruf sehr geliebt und habe viel Spaß dran jehabt aber war lei<strong>der</strong> auch, durch<br />

meine Militärsachen (1) dem Beruf ungefähr (1) zehn bis elf Jahre entzogen (1)" (79/19)<br />

4.1.5.4 Ein ausgefülltes Leben als Rentner<br />

Herr Langenbach, <strong>der</strong> seinen Betrieb vor ein paar Jahren aufgegeben hat, lebt<br />

inzwischen <strong>mit</strong> seiner Ehefrau in einer Art Wohngemeinschaft. Sein Bedürfnis<br />

nach einer Intimbeziehung befriedigt er außerhalb seiner Ehebeziehung.<br />

Im Interview erzählt Walter Langenbach stolz von seinen beiden Freundinnen<br />

— wohl auch, um uns Frauen <strong>mit</strong> seiner scheinbar ungebrochenen männl<strong>ich</strong>en<br />

Anziehungskraft <strong>zu</strong> beeindrucken. Mit seinen Freundinnen fahre er häufig in<br />

Urlaub o<strong>der</strong> mache kleinere Tagesausflüge. Erst kurze Zeit vor dem Interview<br />

hat s<strong>ich</strong> <strong>der</strong> <strong>mit</strong>tlerweile 72jährige ein neues Auto gekauft.<br />

Seine ganze Leidenschaft gehört <strong>der</strong> Kleintierzüchtung. In seiner ehemaligen<br />

Werkstatt hat er Tauben, Kaninchen, Zwerghühner und diverse exotische<br />

Vogelarten untergebracht. Um Langeweile gänzl<strong>ich</strong> vor<strong>zu</strong>beugen, hat er <strong>zu</strong>dem<br />

den Hausmeisterposten in seinem Mietshaus übernommen.<br />

4.1.6 Reparaturstrategie: Ein auferlegter Lebensweg<br />

Mit einer Unterbrechung von knapp zwei Jahren war Herr Langenbach von<br />

seinem 22sten bis 34sten Lebensjahr als Soldat bzw. <strong>Krieg</strong>sgefangener dem zi-<br />

188


vilen Leben entzogen. Während des <strong>Krieg</strong>es erlebte er die Grausamkeiten des<br />

Soldatendaseins und wurde Zeuge von nationalsozialistischen Verbrechen.<br />

Hier sind vor allem seine Erlebnisse in Jugoslawien <strong>zu</strong> nennen. <strong>Als</strong> er aus <strong>der</strong><br />

Gefangenschaft <strong>zu</strong>rückkehrte, bereitete ihm das Einleben in den Alltag als Zivilist<br />

erhebl<strong>ich</strong>e Probleme. Seine Ehe scheiterte und sein Versuch, s<strong>ich</strong> politisch<br />

wie<strong>der</strong> in <strong>der</strong> SPD <strong>zu</strong> binden, schlug fehl.<br />

Anges<strong>ich</strong>ts <strong>der</strong> Dauer seiner Soldatenzeit und ihrer Auswirkungen auf seinen<br />

späteren Lebensweg kann Walter Langenbach diese Phase seines Lebens<br />

n<strong>ich</strong>t einfach als „Militärsachen 44<br />

abtun, die seine Berufslaufbahn unterbrochen<br />

hätten. Wie also geht dieser Mann <strong>mit</strong> seinem Lebensweg um, wie hat<br />

er die <strong>Krieg</strong>serlebnisse und ihre Auswirkungen auf sein späteres Leben verarbeitet?<br />

Die Vergangenheitsrekonstruktion von Herrn Langenbach wird maßgebl<strong>ich</strong><br />

bestimmt durch die S<strong>ich</strong>t, daß sein Lebenslauf n<strong>ich</strong>t Produkt aktiver Handlungsgestaltung,<br />

son<strong>der</strong>n ihm von außen auferlegt worden ist. Diese Perspektive<br />

läßt s<strong>ich</strong> an den entscheidenden biographischen Stationen belegen: So<br />

sieht er seine gesamte Militärkarriere, von seiner freiwilligen Meldung <strong>zu</strong>m<br />

RAD bis hin <strong>zu</strong> seinem Einsatz in <strong>der</strong> Etappe in Jugoslawien, als heteronom<br />

produziert. Auch <strong>zu</strong>r Ehe, die nach <strong>Krieg</strong>sende einen problematischen Verlauf<br />

nahm, wurde er seiner Darstellung <strong>zu</strong>folge genötigt.<br />

Diese S<strong>ich</strong>tweise des eigenen Lebens bzw. <strong>der</strong> problematisch gewordenen<br />

Lebensbere<strong>ich</strong>e und -phasen korrespondiert zwar einerseits — <strong>zu</strong>mindest teilweise<br />

— <strong>mit</strong> <strong>der</strong> durch die historischen Verhältnisse aufgezwungenen Lebensführung:<br />

Das Soldatendasein und später die Gefangenschaft determinierten<br />

immerhin fast zwölf Jahre seines gesamten Lebens und ließen als totale Institutionen<br />

keine autonomen Handlungsplanungen <strong>zu</strong>. An<strong>der</strong>erseits erlaubt<br />

diese S<strong>ich</strong>tweise Walter Langenbach auch, s<strong>ich</strong> <strong>der</strong> Frage nach <strong>der</strong> Eigenverantwortung<br />

für seine Handlungen und Entscheidungen <strong>zu</strong> entziehen.<br />

Er stellt die Lebensbere<strong>ich</strong>e, die er als gescheitert sieht, wie seine Ehe,<br />

ebenso wie jene Anteile seiner Persönl<strong>ich</strong>keit, die er ablehnt, gewissermaßen<br />

außerhalb seiner selbst. Da<strong>mit</strong> braucht er sie n<strong>ich</strong>t s<strong>ich</strong> selbst an<strong>zu</strong>lasten. Er<br />

kann s<strong>ich</strong> daher offen da<strong>zu</strong> bekennen, daß er als Soldat „schlecht 44<br />

und <strong>zu</strong>m<br />

„Wolf 4<br />

geworden war, doch weckt er gle<strong>ich</strong>zeitig den Eindruck, als habe dies<br />

alles <strong>mit</strong> ihm selbst n<strong>ich</strong>ts <strong>zu</strong> tun.<br />

We<strong>der</strong> die Ablehnung einer Eigenverantwortung fur sein Leben noch seine<br />

Versuche, s<strong>ich</strong> <strong>der</strong> Verstrickung in die NS-Verbrechen <strong>zu</strong> entziehen, befreien<br />

ihn aber letztl<strong>ich</strong> von seiner Vergangenheit. Das Interview gehört vermutl<strong>ich</strong><br />

<strong>zu</strong> den ersten Versuchen, über seine Vergangenheit <strong>zu</strong> reden.<br />

Zwar ist ihm daran gelegen, ein Gespräch <strong>mit</strong> uns <strong>zu</strong> führen und über seine<br />

Erlebnisse in Jugoslawien <strong>zu</strong> erzählen, doch kann er seine eigene Rolle in diesem<br />

Geschehen n<strong>ich</strong>t vollständig enthüllen. Walter Langenbach spürt selbst,<br />

wie schwer ihm dieser Erinnerungsprozeß fallt:<br />

189


,Ja (1) das sind schon EINdrücke, <strong>ich</strong> darf es gar n<strong>ich</strong> sagen was <strong>ich</strong> alles so gesehen hab und<br />

erlebt habe* (( weinerl<strong>ich</strong> )) (2) .Mensch nein* (2) ICH HABS AUCH NOCH, NIEMAND gesacht,<br />

<strong>ich</strong> denke nun (2) breit=es man nen bißchen aus da<strong>mit</strong> an<strong>der</strong>e noch (1) / davon lernen können<br />

((weinerl<strong>ich</strong>)) (1) es warn schon mal, Zeitungsnotizen, daß irgendwelche (1) Soldaten <strong>mit</strong><br />

häßl<strong>ich</strong>en Erlebnissen (2) besuchen wollten um / das <strong>der</strong> Nachwelt <strong>zu</strong> erhalten, <strong>ich</strong> mach es das<br />

erste Mal (2) aber SIE MERKEN JA (1) ES FÄLLT EINEM VERDAMMT SCHWER, die Sachen<br />

<strong>zu</strong>m besten <strong>zu</strong> geben (1) (( weinend ))" (57/29)<br />

Walter Langenbach gelang es bisher n<strong>ich</strong>t, über jene grauenvollen Szenen,<br />

die s<strong>ich</strong> ihm ins Gedächnis eingeprägt haben, <strong>mit</strong> an<strong>der</strong>en <strong>zu</strong> reden, und er<br />

wurde jahrelang von Alpträumen verfolgt.<br />

Er erzählt, er habe zwanzig Jahre lang jede zweite Nacht von <strong>Krieg</strong> und<br />

Mord geträumt und sei von seinen eigenen Schreien schweißgebadet aufgewacht.<br />

Er habe geträumt, wie er von Menschen und Tieren gejagt werde, die<br />

ihn zerfleischen wollten, „dawi", meint er, „nahm es langsam ab und heute is<br />

alles vergessen (1) heute is es weg".<br />

Heute träumt er zwar n<strong>ich</strong>t <strong>mehr</strong> von ihnen, doch vergessen sind diese Erlebnisse<br />

in Jugoslawien wohl n<strong>ich</strong>t, sonst hätte er n<strong>ich</strong>t das Bedürfnis, endl<strong>ich</strong><br />

darüber <strong>zu</strong> sprechen. Obwohl er in unserem Gespräch den Zusammenhang<br />

zwischen den Träumen und den Massenerschießungen in Jugoslawien selbst<br />

herstellt, ist es fragl<strong>ich</strong>, ob er auch einen Zusammenhang zwischen seiner<br />

Rolle als Gejagter in seinen Träumen und seiner Rolle bei den Exekutionen<br />

sieht. Er wird s<strong>ich</strong> kaum die Frage gestellt haben, weshalb er in seinen Träumen<br />

in <strong>der</strong> Rolle des Gejagten ist, weshalb „man" o<strong>der</strong> „es" ihn verfolgt und<br />

von wem er verfolgt wird. <strong>Als</strong> Zuhörer/innen und Leser/innen fragen wir uns<br />

jedoch, ob er in seinen Träumen von denjenigen verfolgt wird, die in Jugoslawien<br />

auf <strong>der</strong> Seite <strong>der</strong> Verfolgten standen. Die Träume lassen jedenfalls<br />

Schuldgefühle vermuten. Zwar rechtfertigt er die Erschießungen <strong>der</strong> Jugoslawen<br />

<strong>mit</strong> ihren Partisanenaktionen, weist ihnen also selbst Schuld <strong>zu</strong> und bringt<br />

das Argument vor, in je<strong>der</strong> Nation gebe es Schweine und er brauche s<strong>ich</strong> für<br />

die deutschen Verbrechen n<strong>ich</strong>t <strong>zu</strong> schämen — doch diese Rechtfertigungen<br />

beruhigen ihn n<strong>ich</strong>t vollends. Mit diesen Argumentationen bagatellisiert er ledigl<strong>ich</strong><br />

die Schreckensszenen. Herr Langenbach kann ebensowenig über das<br />

von ihm selbst Erlittene wie über das grausame Schicksal <strong>der</strong> im „Dritten<br />

Re<strong>ich</strong>" verfolgten Menschen trauern.<br />

Dafür ist er von einem ungeheueren Gefühl <strong>der</strong> Wut erfüllt, das s<strong>ich</strong> u.a. gegen<br />

die politisch Verantwortl<strong>ich</strong>en <strong>der</strong> Bundesrepublik r<strong>ich</strong>tet. Im Anschluß<br />

an die oben zitierte Textstelle, in <strong>der</strong> es um seine Schwierigkeiten geht, über<br />

seine Erinnerungen <strong>zu</strong> sprechen, wird deutl<strong>ich</strong>, wie s<strong>ich</strong> bei Herrn Langenbach<br />

die Traurigkeit über sein jahrelang erlittenes und <strong>mit</strong>erlebtes Leid <strong>mit</strong><br />

Aggressionen mischt:<br />

B: „ES FÄLLT EINEM VERDAMMT SCHWER, die Sachen <strong>zu</strong>m besten <strong>zu</strong> geben (1) ker (3)<br />

DAS LEBEN KANN SO SCHÖN<br />

I: „hm"<br />

B: SEIN (2) (( weinend )) ABER IMMER WIEDER DIES SCHEISS AUFRÜSTEN, ICH<br />

190


KÖNNTE SE ERSCHIESSEN DIE DRECKSÄCKE (I) KOHL UND KONSORTEN ((weinerl<strong>ich</strong>))<br />

NUR DAS GROSSKAPITAL IST INTERESSIERT AN DEN KRIEGEN (1) UM DIE<br />

MIUTÄRGESCHÄFTE ZU MACHEN DER KLEINE MANN MUSS SEIN BLUT HINHAL­<br />

TEN (1) SEINEN KÖRPER" (57/39)<br />

Walter Langenbach ereifert s<strong>ich</strong> in den nachfolgenden Bissagen über ganz<br />

unterschiedl<strong>ich</strong>e politisch aktuelle Themen: über Atomkraft, das Fischsterben<br />

in den Flüssen und die Überbevölkerung <strong>der</strong> Erde. Seine Wut eskaliert dann<br />

bei seinem Unverständnis für Menschen, die in dieser Situation immer noch<br />

„Kin<strong>der</strong> in die Welt setzen 44 . Er beschimpft sie als „Schweine 44 .<br />

<strong>Als</strong> Zuhörer / innen ahnen wir, daß hinter Walter Langenbachs berechtigtem<br />

und nachvollziehbarem Zorn über Umweltverschmut<strong>zu</strong>ng, Überbevölkerung<br />

und Wettrüsten ganz an<strong>der</strong>e Probleme liegen. Es sind Probleme, die von seiner<br />

<strong>Krieg</strong>svergangenheit herrühren. Er endet dann auch <strong>mit</strong> dem Resümee,<br />

daß „<strong>der</strong> Mensch immer wie<strong>der</strong> versagt 44 . Da<strong>mit</strong> weist er auch auf das Versagen<br />

<strong>der</strong> Menschen während <strong>der</strong> NS-Diktatur und des Zweiten Weltkrieges<br />

hin. Herr Langenbach ist in seiner Wut hilflos. Es fehlt ihm <strong>der</strong><br />

weltanschaul<strong>ich</strong>-politische Halt für eine produktive Umset<strong>zu</strong>ng seiner Wut<br />

und dafür, daß er s<strong>ich</strong> n<strong>ich</strong>t nur als passiv erleidendes Opfer sehen muß, son<strong>der</strong>n<br />

s<strong>ich</strong> auch als jemand erfahren kann, <strong>der</strong> aktiv sein Leben und seine Umwelt<br />

gestaltet. Er, <strong>der</strong> nach seiner Rückkehr aus <strong>der</strong> Gefangenschaft erhebl<strong>ich</strong>e<br />

Probleme <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>einglie<strong>der</strong>ung in das zivile Leben <strong>hatte</strong>, fond in<br />

<strong>der</strong> bundesrepublikanischen Gesellschaft keine Hilfe bei <strong>der</strong> Verarbeitung seiner<br />

<strong>Krieg</strong>serlebnisse. Schon während seiner Zeit als Gefangener <strong>hatte</strong> Herr<br />

Langenbach, angestoßen durch die Zuschreibung <strong>der</strong> französischen Verwaltung,<br />

er müsse ein Antifaschist sein, s<strong>ich</strong> <strong>zu</strong>nehmend in Gegnerschaft <strong>zu</strong> den<br />

Nazis gesehen. Sein Wie<strong>der</strong>eintritt in die SPD war ein Versuch, seine NS-<br />

Vergangenheit aus<strong>zu</strong>blenden und an die Zeit vor 1933 an<strong>zu</strong>knüpfen.<br />

Diese Gegnerschaft hätte aber, um n<strong>ich</strong>t nur in <strong>der</strong> Abgren<strong>zu</strong>ng vom Nationalsozialismus<br />

und im S<strong>ich</strong>-frei-Fühlen von einer Verstrickung <strong>zu</strong> verharren,<br />

einer weiteren Aufarbeitung bedurft. Eine aktive Parteiarbeit bzw. die kollektive<br />

Aufarbeitung <strong>der</strong> NS-Vergangenheit in einer Organisation hätte ihm vielle<strong>ich</strong>t<br />

helfen können, seine Erlebnisse besser <strong>zu</strong> verstehen und <strong>zu</strong> verarbeiten.<br />

Herr Langenbach <strong>hatte</strong> jedoch die Illusion, s<strong>ich</strong> durch den Eintritt in die<br />

SPD von allem, was an die NS-Vergangenheit erinnerte, reinwaschen <strong>zu</strong> können.<br />

Dieser Versuch mußte aber durch die Anwesenheit eines „alten Nazis 44 ,<br />

<strong>der</strong> die Erinnerung an den Nationalsozialismus wachhielt, scheitern.<br />

In <strong>der</strong> Gefangenschaft <strong>hatte</strong> Walter Langenbach begonnen, s<strong>ich</strong> <strong>mit</strong> dem<br />

Status des Opfers <strong>zu</strong> identifizieren, und er verharrt bis heute im Gefühl des<br />

Opfers, das den Verhältnissen hilflos ausgeliefert ist. Diese Hilflosigkeit kann<br />

s<strong>ich</strong> nur in hilfsloser Wut einen Weg bahnen.<br />

In Herrn Langenbachs eigener Einschät<strong>zu</strong>ng haben ihn seine Erlebnisse<br />

während des Zweiten Weltkrieges vor allem <strong>zu</strong> einem ausgesprochenen<br />

<strong>Krieg</strong>sgegner werden lassen. Doch diese Gegnerschaft bleibt auf <strong>der</strong> Ebene<br />

191


<strong>der</strong> Wut gegen alles und jeden stehen. Im Zusammenhang <strong>mit</strong> seinem Austritt<br />

aus <strong>der</strong> SPD meint er sogar, seitdem „radikal kommunistisch" <strong>zu</strong> denken. Allerdings<br />

ist diese Gesinnung nur Ausdruck seines Gefühls des Ausseits-<br />

Stehens:<br />

„UND VON DER ZEIT AN (( SPD-Austritt)) (2) bin <strong>ich</strong> ganz ehrl<strong>ich</strong>, denke <strong>ich</strong> RADIKAL<br />

KOMMUNISTISCH (3) kann =Se glauben (1) und <strong>ich</strong> wäre in ner Lage (2) Schweinehunde, um die<br />

Ecke <strong>zu</strong> bringen, solch eine Wut so eine (1) Schweinerei habe <strong>ich</strong> <strong>mit</strong>gemacht während des <strong>Krieg</strong>es<br />

<strong>ich</strong> habe Massenerschießungen und sonstwas gesehen (1) n<strong>ich</strong> <strong>mit</strong>gemacht" (II. /6)<br />

Anmerkungen<br />

1 Herr Langenbach wurde von uns ein zweites Mal interviewt. Alle daraus zitierten Textstellen<br />

werden <strong>mit</strong> (II. / x) gekennze<strong>ich</strong>net.<br />

<strong>Als</strong> wir <strong>zu</strong>m verabredeten Zeitpunkt bei ihm eintrafen, war er n<strong>ich</strong>t <strong>zu</strong> Hause. Daraufhin<br />

suchten wir ihn in seiner ehemaligen Werkstatt auf, wo er heute Kleintiere züchtet. Bei unserm<br />

Erscheinen entschuldigte er s<strong>ich</strong> dafür, den Termin vergessen <strong>zu</strong> haben, und erklärte<br />

s<strong>ich</strong> sofort bereit, das Gespräch durch<strong>zu</strong>fuhren.<br />

2 „Die Wehrpfl<strong>ich</strong>tigen des Geburtsjahrgangs 1914 wurden in <strong>der</strong> Zeit vom Anfang Juni bis<br />

15.8.1935 gemustert und im Herbst 1935 o<strong>der</strong> Herbst 1936 <strong>zu</strong>r Erfüllung <strong>der</strong> aktiven Dienstpfl<strong>ich</strong>t<br />

herangezogen. Diejenigen Reservisten, die nach Ableistung ihrer Dienstpfl<strong>ich</strong>t im<br />

Herbst 1936, 1937 o<strong>der</strong> 1938 entlassen worden waren, wurden im allgemeinen ab 26.8.1939<br />

wie<strong>der</strong> einberufen." (Absolon 1960: 154)<br />

192


Gabriele Rosenthal<br />

unter Mitarbeit von Thomas Rosemann<br />

4.2 Dieter Acka: „Das war das Mieseste, was <strong>ich</strong> da geleistet <strong>hatte</strong>".<br />

Vorbemerkung von Thomas Rosemann<br />

Das Interview <strong>mit</strong> Dieter Acka und seine Ausweitung gestaltete s<strong>ich</strong> in vielfacher<br />

Hins<strong>ich</strong>t sehr schwierig. Herr Acka <strong>hatte</strong> s<strong>ich</strong> auf unsere Zeitungsannonce<br />

hin telefonisch als Interviewpartner angeboten. Er wurde informiert,<br />

daß das Gespräch auf Tonband aufgeze<strong>ich</strong>net werden sollte.<br />

Das Interview wurde von mir und Juliane Brandstäter geführt. <strong>Als</strong> wir <strong>zu</strong><br />

dem vereinbarten Gesprächstermin <strong>kam</strong>en, weigerte s<strong>ich</strong> Herr Acka <strong>zu</strong>nächst<br />

jedoch, auf Tonband <strong>zu</strong> sprechen. Es bedurfte unserer ganzen Überzeugungskraft,<br />

um ihn <strong>zu</strong>r Zustimmung <strong>zu</strong>r Aufnahme <strong>zu</strong> bewegen. Nach ca. dreiviertelstündigem<br />

Wortwechsel lenkte Herr Acka ein und begann <strong>mit</strong> seiner biographischen<br />

Großerzählung. Zum damaligen Zeitpunkt noch <strong>zu</strong> wenig vertraut <strong>mit</strong> allen<br />

historischen Aspekten <strong>der</strong> Zeit des „Dritten Re<strong>ich</strong>es" und <strong>der</strong> von den<br />

Einsatzgruppen in <strong>der</strong> Sowjetunion begangenen Verbrechen, gelang es uns wahrend<br />

des Interviews n<strong>ich</strong>t, die entscheidenden Hinweise von Herrn Acka auf<br />

seine angedeutete Verstrickung in die NS-Verbrechen <strong>zu</strong> „hören" o<strong>der</strong> ihnen gar<br />

<strong>mit</strong> weiteren Fragen nach<strong>zu</strong>gehen. Während des Interviews entging mir auch<br />

<strong>der</strong> von ihm selbst gegebene Hinweis auf seine „SA-Anwärterschaft".<br />

Ebenso schwierig gestaltete s<strong>ich</strong> <strong>zu</strong>nächst die Auswertungsphase: Beginnend<br />

<strong>mit</strong> <strong>der</strong> Rekonstruktion seiner Lebensgesch<strong>ich</strong>te bzw. enger gefaßt: <strong>mit</strong><br />

dem chronologischen Ablauf seiner Erfahrungen und Erlebnisse wahrend des<br />

NS, verhin<strong>der</strong>te <strong>der</strong> auffallend geringe Indexikalitätsgrad seiner Erzählungen<br />

die Erstellung eines konsistenten Bildes. So blieb <strong>zu</strong>nächst völlig unklar, wann<br />

Herr Acka wo und in welcher Funktion war. M.a.W., die Gesch<strong>ich</strong>ten, die er<br />

erzählte, konnten zeitl<strong>ich</strong> und oft auch geographisch n<strong>ich</strong>t verortet werden.<br />

Beson<strong>der</strong>s ungewöhnl<strong>ich</strong> ist, daß <strong>der</strong> Grad <strong>der</strong> Indexikalisierung, d.h. die<br />

genaue Nennung von Ort, Zeit und beteiligten Personen, abnimmt, je <strong>mehr</strong><br />

Gesch<strong>ich</strong>ten Herr Acka erzählt. Dieses Phänomen könnte da<strong>mit</strong> <strong>zu</strong>sammenhängen,<br />

daß Herr Acka unter zieml<strong>ich</strong>em Leidens- o<strong>der</strong> nennen wir es Erzähldruck<br />

hins<strong>ich</strong>tl<strong>ich</strong> seiner Zeit in <strong>der</strong> Sowjetunion, d.h. von 1941 -1943, steht,<br />

er jedoch das eigentl<strong>ich</strong> Quälende aus dieser Zeit verschleiern muß. Da<strong>mit</strong> <strong>der</strong><br />

Zuhörer keinen Verdacht schöpft, darf er seine Erlebnisse räuml<strong>ich</strong> und zeitl<strong>ich</strong><br />

n<strong>ich</strong>t verorten, s<strong>ich</strong> auch n<strong>ich</strong>t dem narrativen Erzählfluß hingeben und<br />

in <strong>der</strong> temporalen Abfolge erzählen. Hier<strong>mit</strong> möchte <strong>ich</strong> keineswegs behaupten,<br />

daß Herr Acka diese Darstellung bewußt bzw. geplant vornimmt. Das Bedürfnis,<br />

seine Erlebnisse endl<strong>ich</strong> „los<strong>zu</strong>werden", s<strong>ich</strong> davon <strong>zu</strong> befreien, vermischt<br />

<strong>mit</strong> dem Bedürfnis sowie dem jahrelangen Training, sie <strong>zu</strong> verschleiern<br />

193


und <strong>zu</strong> verleugnen, produziert diese Art <strong>der</strong> Darstellung eher jenseits seiner<br />

bewußten Handlungsplanung.<br />

Erst ein aufwendiges Quellenstudium ermögl<strong>ich</strong>te, etwas L<strong>ich</strong>t auf seine<br />

Vergangenheit in den Jahren 1941-1943 <strong>zu</strong> werfen. Dabei verstärkte s<strong>ich</strong> <strong>der</strong><br />

Verdacht, daß Herr Acka n<strong>ich</strong>t unbedingt <strong>der</strong> Wehrmacht unterstellt gewesen<br />

sein muß, son<strong>der</strong>n eventuell Angehöriger einer Einsatzgruppe bzw. des von<br />

dieser benötigten Hilfspersonals war. Zumindestens befand er s<strong>ich</strong> jeweils in<br />

<strong>der</strong>en Operationsgebiet und hat un<strong>mit</strong>telbar <strong>der</strong>en Verbrechen <strong>mit</strong>erlebt.<br />

Kurz einige Bemerkungen <strong>zu</strong> den Einsatzgruppen. Die Einsatzgruppen waren<br />

motorisierte, n<strong>ich</strong>t dauernd an den gle<strong>ich</strong>en Standort gebundene Polizeieinheiten,<br />

die für „Son<strong>der</strong>aufgaben im Auftrag des Führers" einger<strong>ich</strong>tet<br />

wurden. Die Mannschaften bestanden aus Angehörigen <strong>der</strong> Ordnungspolizei<br />

und <strong>der</strong> Waffen-SS. Erstmals wurden sie bei <strong>der</strong> Beset<strong>zu</strong>ng Österre<strong>ich</strong>s im<br />

März 1938, des Sudetenlandes im Oktober 1938 und <strong>der</strong> Rest-<br />

Tschechoslowakei im März 1939 eingesetzt. Nach einem Aktenvermerk von<br />

Reinhard Heydr<strong>ich</strong> vom 2. Juli 1940 (vgl. Buchheim 1979:72) war ihre Aufgabe,<br />

„systematisch durch Verhaftung, Beschlagnahme und S<strong>ich</strong>erstellung<br />

w<strong>ich</strong>tigsten politischen Materials heftige Schläge gegen die re<strong>ich</strong>sfeindl<strong>ich</strong>en<br />

Elemente' 4<br />

<strong>zu</strong> fuhren. Mit Beginn des 2. Weltkrieges, dem Überfall auf Polen,<br />

folgten die Einsatzgruppen den Truppen <strong>der</strong> Wehrmacht und ermordeten<br />

„nach vorbereiteten Fahndungslisten in Polen Tausende von einflußre<strong>ich</strong>en<br />

polnischen Bürgern.** (Kammer/Bartsch 1982: 56).<br />

Bei Beginn des <strong>Krieg</strong>es <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Sowjetunion wurde je<strong>der</strong> <strong>der</strong> vier Heeresgruppen<br />

<strong>der</strong> Wehrmacht eine neu einger<strong>ich</strong>tete Einsatzgruppe <strong>zu</strong>geordnet.<br />

Neben Anwärtern des leitenden Dienstes <strong>der</strong> S<strong>ich</strong>erheitspolizei wurden auch<br />

Teilnehmer eines Lehrgangs für die Fachprüfung I des Kriminaldienstes geschlossen<br />

abgeordnet. Es gab auch freiwillige Meldungen <strong>zu</strong> den Einsatzgruppen.<br />

Unter dem Hilfspersonal <strong>der</strong> Einsatzgruppen (Dolmetscher, Kraftfahrer,<br />

Funker, Fernschreiber etc.) „befanden s<strong>ich</strong> auch N<strong>ich</strong>t<strong>mit</strong>glie<strong>der</strong> <strong>der</strong><br />

SS, die auf Grund <strong>der</strong> ,Notdienstverordnung* vom 15.10.1938 <strong>zu</strong> »langfristigem<br />

Notdienst* herangezogen waren** (Kmusnick 1985: 125).<br />

Außer <strong>der</strong> Ermordung unzähliger Menschen <strong>der</strong> n<strong>ich</strong>t-jüdischen sowjetischen<br />

Zivilbevölkerung „wurde nahe<strong>zu</strong> die gesamte jüdische Bevölkerung <strong>der</strong><br />

eroberten Gebiete durch Massenerschießungen ermordet und in Massengräbern<br />

verscharrt*' (Kammer/Bartsch 1982: 56).<br />

Seinen eigenen geographischen Angaben <strong>zu</strong>folge hielt s<strong>ich</strong> Herrn Acka im<br />

Einsatzgebiet <strong>der</strong> Einsatzgruppe D auf. Diese Einsatzgruppe, die vor dem<br />

Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 einger<strong>ich</strong>tet worden war, war <strong>der</strong><br />

<strong>mit</strong> den beiden rumänischen Armeen vorrückenden 11. Armee <strong>der</strong> Heeresgruppe<br />

Süd — <strong>mit</strong> dem Ziel Kaukasus — <strong>zu</strong>geteilt worden. Sie war nach ihrem<br />

ersten Tätigkeitsbere<strong>ich</strong> in Bessarabien/Bukowina im Südteil <strong>der</strong> Ukrainischen<br />

SSR und auf <strong>der</strong> Krim stationiert. Die 11. Armee griff am 2. Juli 1941<br />

von Rumänien aus die Sowjetunion an; die Einsatzgruppen folgten ihr.<br />

194


Infolge <strong>der</strong> Nie<strong>der</strong>lage von Stalingrad verließ das Son<strong>der</strong>kommando im Februar<br />

1943 <strong>zu</strong>sammen <strong>mit</strong> den deutschen Truppen den Kaukasus.<br />

4.2.1 Der Versuch eines sozialen Aufstiegs in: JV — HJ — SA — RAD<br />

Über die Herkunftsfamlilie von Herrn Acka haben wir n<strong>ich</strong>ts erfahren; von<br />

seinem Vater wissen wir nur, daß er „bei <strong>der</strong> Stadt 44<br />

war. Dennoch ließ s<strong>ich</strong><br />

<strong>der</strong> im folgenden dargestellte biographische Werdegang bis <strong>zu</strong>m Jahr 1939 —<br />

im Unterschied <strong>zu</strong> <strong>der</strong> Zeit danach — verhältnismäßig le<strong>ich</strong>t rekonstruieren.<br />

Er erzählt zwar recht wenig, dafür jedoch n<strong>ich</strong>t wi<strong>der</strong>sprüchl<strong>ich</strong> o<strong>der</strong> unklar.<br />

Dieter Acka wurde 1921 in einer ostdeutschen Großstadt geboren. Schon<br />

sehr früh trat er ins Deutsche Jungvolk (JV) ein, vermutl<strong>ich</strong> gle<strong>ich</strong> nach dessen<br />

Gründung im Sommer 1933. Er und ein Freund waren die ersten in ihrem<br />

Bezirk, die s<strong>ich</strong> freiwillig <strong>zu</strong> dieser NS-Jugendorganisation für die<br />

10- 14jährigen meldeten. Bei den Klassen<strong>kam</strong>eraden ernteten sie dafür jedoch<br />

nur Gelächter:<br />

"und die an<strong>der</strong>n die lachten s<strong>ich</strong> natürl<strong>ich</strong> kaputt die sagten ihr seid ja Spinner und so war es dann<br />

daß <strong>ich</strong> dann <strong>mit</strong> einem Freund eh <strong>hatte</strong>n wir uns dann <strong>ich</strong> hab m<strong>ich</strong> bin noch in einen ganz an<strong>der</strong>n<br />

Bezirk gegangen .. hab <strong>ich</strong> m<strong>ich</strong> da gemeldet" (34 / 22)<br />

Insbeson<strong>der</strong>e die Fahrten <strong>mit</strong> dem JV seien sehr schön gewesen, erzählt<br />

Herr Acka. „Der Zwang 44<br />

habe ihn zwar gestört, doch „es war auch n<strong>ich</strong><br />

schlecht, es gab ja auch keine an<strong>der</strong>e 44<br />

Jugendorganisation, in die er habe eintreten<br />

können. Mit 14 Jahren wurde er dann in die <strong>Hitler</strong>jugend übernommen.<br />

Auf die Frage <strong>der</strong> Interviewerin, was man auf den Heimabenden gemacht<br />

habe, antwortet er: „erstmal wurde deutsch erzogen 44 , wo<strong>mit</strong> er insbeson<strong>der</strong>e<br />

die paramilitärische Ausbildung meint. Auch den rassenideologischen Anteil<br />

dieser Erziehung erwähnt er, versucht ihn jedoch in seinem Ausmaß herunter<strong>zu</strong>spielen.<br />

In diesem Zusammenhang spr<strong>ich</strong>t er das in <strong>der</strong> Propaganda so beliebte<br />

Thema <strong>der</strong> „jüdischen Verfuhrung arischer Mädchen 44<br />

an, die s<strong>ich</strong> wegen<br />

<strong>der</strong> „rassischen Verunreinung 44<br />

das Leben nahmen, wie es in dem Propagandafilm<br />

„Jud Süß 44<br />

dargestellt wurde. Wie etl<strong>ich</strong>e Jugendl<strong>ich</strong>e seines Alters<br />

war er vermutl<strong>ich</strong> beson<strong>der</strong>s an <strong>der</strong> „schlüpfrigen 44<br />

Aufmachung dieser Gesch<strong>ich</strong>ten<br />

interessiert. Seine Evaluation dieses Themas: „es kann ja alles mögl<strong>ich</strong><br />

sein 44<br />

macht deutl<strong>ich</strong>, daß er diese Darstellung <strong>der</strong> NS-Propaganda auch<br />

heute noch n<strong>ich</strong>t generell in Zweifel zieht. Zugle<strong>ich</strong> betont er aber, daß er <strong>mit</strong><br />

Menschen jüdischen Glaubens o<strong>der</strong> Abstammung immer gut ausgekommen<br />

sei. Er erzählt auch, jeden Tag an <strong>der</strong> in einem Schaukasten ausgehängten NS-<br />

Propagandazeitung „Der Stürmer 44<br />

vorbeigekommen <strong>zu</strong> sein, will jedoch<br />

heute den Eindruck hervorrufen, in seiner Wohngegend, die „ne gute Einstellung<br />

für Juden 44<br />

gehabt habe, habe diese Zeitung niemand gelesen. Auf die Bedeutung<br />

dieser beson<strong>der</strong>en Hervorhebung des guten Verhältnisses <strong>zu</strong>r jüdischen<br />

Bevölkerung werden wir an späterer Stelle noch einmal eingehen.<br />

195


Dieter Ackas Interesse an den Heimabenden ließ allmähl<strong>ich</strong> nach. Mitte <strong>der</strong><br />

30er Jahre <strong>hatte</strong> er eine Lehre als Koch begonnen und unterstand so<strong>mit</strong> n<strong>ich</strong>t<br />

<strong>mehr</strong> so sehr <strong>der</strong> Kontrolle <strong>der</strong> HJ wie ein Schüler. Er schwänzte häufiger die<br />

HJ-Veranstaltungen, zog s<strong>ich</strong> jedoch n<strong>ich</strong>t völlig <strong>zu</strong>rück. So machte er auch<br />

das Wehrsportabze<strong>ich</strong>en. Die Vorteile einer frühen soldatischen Erziehung<br />

schil<strong>der</strong>t er aus <strong>der</strong> Perspektive seines späteren Soldatseins:<br />

„dort waren Wehrübungen drin also es war alles schon, ... wir <strong>kam</strong>en <strong>zu</strong>m Militär und konnten<br />

schon, wußten schon was Ordnung ((klopft auf den Tisch)) was rechts was links war wir konnten<br />

es, brauchten also n<strong>ich</strong>t <strong>mehr</strong> viel <strong>zu</strong> lernen die Disziplin war eigentl<strong>ich</strong> schon da, <strong>der</strong> Gehorsam<br />

und die Disziplin das is was für eine-, ein <strong>Krieg</strong> braucht, das war schon da sonst war es näml<strong>ich</strong><br />

auch gar n<strong>ich</strong> mögl<strong>ich</strong> gewesen dort wo wir gew-wo die Deut- wo <strong>der</strong> deutsche Soldat stand war<br />

es nie gewesen wenn dieya/irelange Vorbildung n<strong>ich</strong> schon dagewesen wäre" (41 II)<br />

„Dort wo wir gewesen sind, war <strong>der</strong> Gehorsam und die Disziplin ganz beson<strong>der</strong>s<br />

vonnöten 44 , kann man seine Aussagen paraphrasieren, und wir können<br />

uns fragen, ob dieses „dort 4 * ein beson<strong>der</strong>es „dort 44<br />

war.<br />

Während seiner HJ-Zeit, in <strong>der</strong> er noch n<strong>ich</strong>t wissen konnte, wie er die paramilitärische<br />

Ausbildung in <strong>der</strong> Zukunft noch würde gebrauchen können,<br />

war seine Teilnahme an Veranstaltungen sowie <strong>der</strong> spätere Eintritt in eine weitere<br />

NS-Organisation durch die Hoffnung auf Aufstiegsmögl<strong>ich</strong>keiten motiviert:<br />

„weil <strong>ich</strong> praktischerweise keine Lust <strong>hatte</strong>, <strong>hatte</strong> m<strong>ich</strong> so, so, durchmogeln können, und bin eigentl<strong>ich</strong><br />

dann nur dageblieben weil eben um irgendwelche Vorteile und irgendwelchen Anschluß<br />

dort mal <strong>zu</strong> haben" (38/22)<br />

<strong>Als</strong> „Anschlußmögl<strong>ich</strong>keit 44<br />

bot s<strong>ich</strong> ihm die SA, in die er 1939 <strong>mit</strong> 18 Jahren<br />

nach <strong>der</strong> Entlassung aus <strong>der</strong> HJ eintrat. Er begründet seinen Eintritt wie<br />

folgt:<br />

„jetzt bin <strong>ich</strong> aber dann die SA zwar übernommen als SA-Anwärter und da war es etwas was<br />

mir mein Vater immer wie<strong>der</strong> geraten <strong>hatte</strong> daß <strong>ich</strong> ja jetzt nie austreten sollte, denn für irgendwelche<br />

Bewerbungen war es ja irgendwie w<strong>ich</strong>tig daß Sie konnten sagen Sie sind von da bis da<br />

und sind da drin, <strong>ich</strong> <strong>hatte</strong> auch vor dann in die Partei <strong>zu</strong> gehen nur war <strong>zu</strong> <strong>der</strong> Zeit ne Parteisperre<br />

weil ja viele sagten da biste frei da zahlste deinen Beitrag und da biste frei, aber dieses auf<strong>zu</strong>hören<br />

war in verschiedenen Benifen überhaupt für ein verschiedenes Weiterkommen und es war ja alles<br />

staatl<strong>ich</strong> war es schädl<strong>ich</strong> gewesen" (36/7)<br />

Es wird wohl weniger die Mitglie<strong>der</strong>sperre <strong>der</strong> NSDAP gewesen sein, die<br />

auch 1939 aufgehoben wurde 1 , son<strong>der</strong>n viel<strong>mehr</strong> seine Aufstiegsorientierung<br />

und sein Wunsch nach berufl<strong>ich</strong>em Vorwärtskommen, die ihn <strong>zu</strong>m Eintritt in<br />

die SA motivierten.<br />

Über Erfahrungen und Erlebnisse als SA-Mann erfahren wir von Herrn<br />

Acka n<strong>ich</strong>ts. Wenn diese Zeit <strong>zu</strong>r Sprache kommt, versucht er sehr schnell, <strong>zu</strong><br />

seiner Zeit beim Re<strong>ich</strong>sarbeitsdienst (RAD) und dann <strong>zu</strong>r „Soldatenzeit 44<br />

über<strong>zu</strong>leiten:<br />

A: „eh, ja und dann <strong>kam</strong> dann eh die SA, da war <strong>ich</strong> dann als als SA-Dieter und dann <strong>kam</strong> <strong>ich</strong><br />

ja, <strong>zu</strong>m Arbeitsdienst,<br />

196


I: ach<br />

A: das ging dann, nahtlos das ging dann das ging dann- <strong>ich</strong> eh bin ja <strong>mit</strong> achtzehn Jahren Soldat<br />

geworden, <strong>kam</strong> <strong>ich</strong> dann <strong>zu</strong>m Arbeitsdienst und ((Luftholen)) da wars dann erledigt" (38 / 36)<br />

Es ist ihm heute unlieb, über seine Zeit als „SA-Dieter 44<br />

<strong>zu</strong> sprechen. Der<br />

Arbeitsdienst, <strong>zu</strong> dem er ja verpfl<strong>ich</strong>tet war, ist dagegen unverfängl<strong>ich</strong>er. Er<br />

kann vorgeben: „da wars dann erledigt 44 , und meint da<strong>mit</strong> vermutl<strong>ich</strong> die 0/-<br />

fens<strong>ich</strong>tl<strong>ich</strong>e Zugehörigkeit <strong>zu</strong> einer NS-Organisation. Betrachtet man seine<br />

auf obiges Zitat folgenden Argumentationen, so wird deutl<strong>ich</strong>, daß es außer<br />

<strong>der</strong> Erle<strong>ich</strong>terung über das vermeintl<strong>ich</strong>e Ende <strong>der</strong> SA-Zeit noch eine an<strong>der</strong>e<br />

Perspektive gibt:<br />

„aber, eh das war natürl<strong>ich</strong> jetzt gut gewesen angenommen eh eh <strong>der</strong> <strong>Krieg</strong> war gut ausgegangen<br />

eh und man hätte dann vorlegen können du sag mein Lieber von <strong>der</strong> ersten Stunde hier n<strong>ich</strong>t<br />

von <strong>der</strong> ersten Stunde aber, vom ersten Strampeln vom ersten Luftholen wo <strong>ich</strong> denken könnt<br />

((Klopfen auf den Tisch)) jetzt möcht <strong>ich</strong> den Posten haben ... war wahrscheinl<strong>ich</strong> bei <strong>der</strong> Lufthansa<br />

dann gewesen ... wenn <strong>ich</strong> n<strong>ich</strong>t hierher gekommen war in <strong>der</strong> DDR dann war <strong>ich</strong> wahrscheinl<strong>ich</strong><br />

bei <strong>der</strong> Volkspolizei" (39/7)<br />

Die SA-Mitgliedschaft, seine Zugehörigkeit <strong>zu</strong> einer NS-Organisation von<br />

<strong>der</strong> ersten bis <strong>zu</strong>r letzten Stunde, ist fur Herrn Acka erst aus <strong>der</strong> Perspektive<br />

eines verlorenen <strong>Krieg</strong>es problematisch geworden. Während des „Dritten<br />

Re<strong>ich</strong>es 44<br />

<strong>hatte</strong> er auf eine erfolgre<strong>ich</strong>e Karriere und da<strong>mit</strong> auch auf einen<br />

deutschen Sieg gebaut. Er dachte dabei n<strong>ich</strong>t an eine Karriere in seinem zivilen<br />

Beruf als Koch, viel<strong>mehr</strong> an eine weitere, bereits eingeschlagene Karriere<br />

in einer nazistischen Organisation. Er mutmaßt, nach einem deutschen Sieg<br />

entwe<strong>der</strong> Polizist geworden <strong>zu</strong> sein — und denkt dabei vermutl<strong>ich</strong> an seinen<br />

hilfspolizeil<strong>ich</strong>en Einsatz als SA-Mann —; er hätte aber auch seine während<br />

<strong>der</strong> <strong>Krieg</strong>sjahre eingeschlagene Fliegerlaufbahn bei <strong>der</strong> Luftwaffe fortsetzen<br />

können. Diese Mutmaßung läßt auch Rückschlüsse auf seine damaligen biographischen<br />

Pläne <strong>zu</strong>.<br />

Kommen wir <strong>zu</strong> seinem Lebenslauf im „Dritten Re<strong>ich</strong> 44<br />

<strong>zu</strong>rück. Nachdem<br />

im September 1939 <strong>der</strong> Zweite Weltkrieg begonnen <strong>hatte</strong>, wurde Herr Acka —<br />

vermutl<strong>ich</strong> im Juni 1940 — <strong>zu</strong>m Re<strong>ich</strong>sarbeitsdienst eingezogen. Der RAD<br />

folgte <strong>der</strong> kämpfenden Truppe auf fast alle <strong>Krieg</strong>sschauplätze und seine Baubataillone<br />

und -kompanien wurden in die Wehrmacht überführt (vgl. Absolon<br />

1960:105). Herr Acka <strong>kam</strong> <strong>zu</strong>nächst <strong>mit</strong> dem RAD ins Sudetenland und danach<br />

ins besetzte Belgien. Er war von <strong>der</strong> Vorstellung <strong>der</strong> Eroberung „unserer<br />

deutschen Gebiete 44<br />

begeistert und gesteht heute auch sein damaliges „Hurraschreien<br />

44 ein. Er war stolz, wenigstens als „halber 44 Soldat, als „Arbeitersoldat<br />

44 , wie die RADler in <strong>der</strong> NS-Propaganda genannt wurden, dabei sein <strong>zu</strong><br />

können.<br />

Zunächst mußte er s<strong>ich</strong> jedoch an das kasernierte Leben gewöhnen:<br />

„<strong>kam</strong> dann <strong>zu</strong>m Re<strong>ich</strong>sarbeitsdienst, <strong>der</strong> mir dann natürl<strong>ich</strong> den ersten Schock versetzt <strong>hatte</strong>, denn<br />

dort <strong>kam</strong> man ja natürl<strong>ich</strong> von Elternhaus erstmal weg und dann merkte man die erste Härte obwohl<br />

wir ja hart ausgebildet worden sind durch die <strong>Hitler</strong>jugend durch die WEHRÜBUNGEN" (4/4)<br />

197


Er schil<strong>der</strong>t, wie schwer ihm die erste Zeit gefallen ist und erzählt, daß er<br />

auch einige Male geweint habe. Er mußte erste Desillusionierungen seines<br />

Glaubens an die soldatische Kameradschaft hinnehmen. Vom Vater, vermutl<strong>ich</strong><br />

einem Teilnehmer des Ersten Weltkrieges, immer wie<strong>der</strong> auf den höchsten<br />

moralischen Wert, die Kameradschaft unter Soldaten, hingewiesen, war<br />

für ihn <strong>der</strong> Egoismus <strong>der</strong> Kameraden, die z.B. ihre Pakete n<strong>ich</strong>t teilten, sehr<br />

enttäuschend.<br />

Wie Herr Acka diese Enttäuschung über die Wirkl<strong>ich</strong>keit des soldatischen<br />

Alltags bewältigte, verdeutl<strong>ich</strong>t uns folgendes Zitat:<br />

„und dann wenn man natürl<strong>ich</strong> dann länger dabei is und älter wird dann sucht man s<strong>ich</strong> dann<br />

Freiheiten und dann muß man eh- am schnellsten ging es ja für diejenigen die ihren Geist aufgegeben<br />

<strong>hatte</strong>n und sagten jawoll <strong>ich</strong> bin blöd .... aber denken durfte man n<strong>ich</strong>t denn diese Zeit war<br />

furchtbar 44 (25/ 11)<br />

4.2.2 Verstrickt in die NS-Verbrechen<br />

Vorbemerkung: Die Rekonstruktion <strong>der</strong> Erlebnisse von Herrn Acka in <strong>der</strong> Zeit<br />

von 1941 bis 1943, insbeson<strong>der</strong>e <strong>der</strong>en temporale Abfolge, war nur begrenzt<br />

und <strong>mit</strong> erhebl<strong>ich</strong>er Analysearbeit mögl<strong>ich</strong>. Die größte Schwierigkeit unserer<br />

Rekonstruktion bestand darin, daß Herr Acka we<strong>der</strong> in <strong>der</strong> temporalen Abfolge<br />

erzählt, noch die einzelnen Gesch<strong>ich</strong>ten zeitl<strong>ich</strong> verortet.<br />

Während er seine Lebensphase bis <strong>zu</strong>m Ein<strong>zu</strong>g <strong>zu</strong>r „Wehrmacht 44<br />

nur kurz<br />

streift, jedoch zieml<strong>ich</strong> klar darüber ber<strong>ich</strong>tet, verhält es s<strong>ich</strong> bei <strong>der</strong> Zeitspanne<br />

von 1941 — 1943 gerade umgekehrt: Er erzählt zwar viel über die Zeit<br />

zwischen 1941 und 1943, doch seine Ausführungen sind unklar und wi<strong>der</strong>sprüchl<strong>ich</strong>.<br />

Sehen wir, von welchen <strong>mehr</strong> o<strong>der</strong> weniger ges<strong>ich</strong>erten Daten,<br />

Ereignissen und Handlungen wir ausgehen können.<br />

Vor dem „Rußlandfeld<strong>zu</strong>g". „Die Wehrpfl<strong>ich</strong>tigen des Geburtsjahrgangs<br />

1921 wurden in <strong>der</strong> Zeit vom 27.5. — 22.6.1940 gemustert und nach Ableistung<br />

<strong>der</strong> Arbeitsdienstpfl<strong>ich</strong>t (ab Juni 1940) beginnend ab 1.2.1941 <strong>zu</strong>m aktiven<br />

Wehrdienst einberufen 44<br />

(Absolon 1960:155). Von Herrn Acka erfahren wir,<br />

daß er über die Einberufung <strong>zu</strong>m Wehrdienst sehr froh war, da er jetzt ein<br />

„ganzer Soldat 44<br />

wurde. Er ber<strong>ich</strong>tet, daß er <strong>zu</strong>r Ausbildung in eine Luftnachr<strong>ich</strong>tenkaserne<br />

seiner Heimatstadt gekommen sei; dort habe er in <strong>der</strong> Kraftfahrzeugkompanie<br />

seinen Führerschein gemacht. Er wollte jedoch n<strong>ich</strong>t länger<br />

in <strong>der</strong> Heimatstadt bleiben, wollte raus an die Front:<br />

„dann <strong>hatte</strong>n wir die Nase voll und wollten weg, wir wollten raus, wir wollten noch raus-und<br />

<strong>ich</strong> <strong>hatte</strong> dann <strong>ich</strong> war ja vor- em Russlandfeld<strong>zu</strong>g lag <strong>ich</strong> noch in Polen (1) wir wollten draußen<br />

hin 44 (53/32)<br />

Herr Acka gibt an, <strong>mit</strong> einer Luftnachr<strong>ich</strong>tenkompanie in Polen an <strong>der</strong> sowjetischen<br />

Grenze gelegen <strong>zu</strong> haben.<br />

Ab diesem Zeitpunkt, d.h. ca. ab Frühjahr 1941, bis <strong>zu</strong>m Rück<strong>zu</strong>g <strong>der</strong> deutschen<br />

Armee und <strong>der</strong> Einsatzgruppe D aus dem Kaukasus im Frühjahr 1943<br />

198


wird die Erzählung von Herrn Acka sehr undurchs<strong>ich</strong>tig. Vor allem ist unklar,<br />

<strong>zu</strong> welcher Einheit und <strong>mit</strong> welchen Aufgaben er eingezogen war, ob er überhaupt<br />

Angehöriger <strong>der</strong> Wehrmacht war o<strong>der</strong> viel<strong>mehr</strong> <strong>zu</strong>r Einsatzgruppe D<br />

bzw. <strong>der</strong>en Hilfepersonal gehörte.<br />

Er erzählt n<strong>ich</strong>t in <strong>der</strong> linearen Abfolge <strong>der</strong> Ereignisse; nur <strong>mit</strong> Hilfe historischer<br />

Quellen können wir annährungsweise die zeitl<strong>ich</strong>e Einbettung einzelner<br />

erzählter Erlebnisse vornehmen. Immer wie<strong>der</strong> versucht er, <strong>zu</strong> <strong>der</strong> Phase<br />

nach dem Frühjahr 1943 über<strong>zu</strong>leiten, und erzählt über militar-biographische<br />

Ereignisse, die erst nach dieser Zeit stattgefunden haben können, als härten sie<br />

s<strong>ich</strong> schon vorher <strong>zu</strong>getragen.<br />

Wir wissen, daß er <strong>zu</strong>nächst in <strong>der</strong> Provinz Transnistrien und danach in <strong>der</strong><br />

südukrainischen Stadt Chersson war.<br />

Kurz einige historische Hinweise <strong>zu</strong> dem ukrainischen Gebiet, das von Rumänien<br />

<strong>zu</strong>r Provinz Transnistrien erklärt wurde. Das <strong>mit</strong> Deutschland verbündete<br />

Rumänien <strong>hatte</strong> dieses Gebiet, das südl<strong>ich</strong> von dem Fluß Dnjestr, nördl<strong>ich</strong><br />

von dem Fluß Bug und westl<strong>ich</strong> vom San begrenzt wird, nach dem Überfall<br />

auf die UdSSR im August 1941 okkupiert. Die Einsatzgruppe D war in<br />

Bessarabien/Bukowina, dem südl<strong>ich</strong> daran angrenzenden Gebiet, stationiert<br />

und <strong>hatte</strong> insbeson<strong>der</strong>e den Auftrag, den Versuch <strong>der</strong> Rumänen, „die Juden<br />

und Russen Bessarabiens über den Dnjestr nach Osten ab<strong>zu</strong>schieben,.. <strong>mit</strong> allen<br />

Mitteln" <strong>zu</strong> verhin<strong>der</strong>n (zitiert nach Krausnick 1985: 173). Die Einsatzkommandos<br />

trieben im Juli und August 1941 viele <strong>der</strong> von den Rumänen abgeschobenen<br />

Juden wie<strong>der</strong> über den Dnjestr <strong>zu</strong>rück.<br />

Auch Herr Acka erwähnt Abschiebungen von Angehörigen <strong>der</strong> jüdischrumänischen<br />

Bevölkerung, <strong>der</strong>en Vertreibung durch das faschistische Rumänien<br />

sowie seine eigene Fluchthilfe. Er erzählt, daß er jüdische Rumänen über<br />

die Grenze, über den San, <strong>der</strong> südl<strong>ich</strong> an das damals von Deutschland besetzte<br />

Polen angrenzt, gebracht habe.<br />

Um seine Erzählung im Sinn<strong>zu</strong>sammenhang seiner Ausführungen betrachten<br />

<strong>zu</strong> können, <strong>zu</strong>nächst einige Anmerkungen über die textuelle Einbettung<br />

dieser Erzählung. Diese Erzählung wird da<strong>mit</strong> eingeleitet, daß Herr Acka<br />

vom Interviewer gefragt wird, welche Funktion er bei <strong>der</strong> Kompanie <strong>hatte</strong>. Er<br />

meint darauf: „Ich war eigentl<strong>ich</strong> so <strong>zu</strong> zbV ((<strong>zu</strong>r beson<strong>der</strong>en Verwendung))<br />

als Organisator", und stellt unerwartet die Frage, ob die Projektleiterin, da sie<br />

einen jüdischen Namen habe, Jüdin sei. Die Frage wird von den Interviewern<br />

verneint. Hier muß man s<strong>ich</strong> fragen, ob es einen Zusammenhang zwischen<br />

seinem Einsatz als ,zbV 4 und dem Thema „Juden 44 gibt. Er meint jedenfalls:<br />

„und wo wir ja hin<strong>kam</strong> wurd die- «Juden» wurden die eh (1) sofort <strong>zu</strong>sammen in ein Ghetto<br />

gemacht=da=half aber jetzt <strong>der</strong> Russe <strong>mit</strong>" (70/36).<br />

Anstatt über die Aktionen <strong>der</strong> deutschen Einsatzgruppen <strong>zu</strong> erzählen, ber<strong>ich</strong>tet<br />

er im folgenden, daß er erlebt habe, wie ein Russe einen Juden erschlagen<br />

habe. Es folgt eine kaum <strong>zu</strong> verstehende Gesch<strong>ich</strong>te, die von <strong>der</strong> Plünde-<br />

199


ung eines jüdischen Hauses und eigenen unerlaubten Handelsgeschäften <strong>mit</strong><br />

Juden handelt. Er leitet über <strong>zu</strong> einer Erzählung über seine Rettungsaktionen,<br />

bei denen er Juden über die Grenze brachte, br<strong>ich</strong>t aber ab und erzählt <strong>zu</strong>nächst<br />

etwas, das an<strong>der</strong>e ihm über die Behandlung <strong>der</strong> rumänischen Juden<br />

durch Angehörige ihrer eigenen Nation erzählt haben.<br />

Betrachten wir diese Erzählung genauer. Er war <strong>zu</strong>r Lebens<strong>mit</strong>telbeschaffung<br />

<strong>mit</strong> einem „Geheimschreibwagen* 4<br />

in <strong>der</strong> Provinz Transnistrien unterwegs<br />

und <strong>kam</strong> in ein Dorf, in dem jüdische Rumänen nach ihrer Vertreibung<br />

lebten. Er lernte einen jüdischen Grafen und Baron kennen.<br />

Detailliert erzählt er von einem Gespräch <strong>mit</strong> diesem:<br />

„<strong>der</strong> Rumäne hat näml<strong>ich</strong> seine Juden alle rausgenommen alle, eh raus und hat se alle in das<br />

Transnistrische Gebiet reingestellt so erzählte er mir, er hat se dort reingestellt und die mußten in<br />

diesem Dorf mußten die dann bleiben und durften das Dorf n<strong>ich</strong>t verlassen, und, da sind natürl<strong>ich</strong><br />

Epidemien gekommen und viele viele Leute sind dort gestor-=viele Juden sind gestorben=wir<br />

harn se nie: verbrannt son<strong>der</strong>n die harn s<strong>ich</strong> selber schon, da da umgebracht weil sie nix <strong>zu</strong> Essen<br />

<strong>hatte</strong>n und und alles, und da is also ganz schreckl<strong>ich</strong> Verhältnisse erzählt <strong>der</strong> mir alles und da<br />

sacht er DEUTSCHIand ist aber gut DEUTSCHland konn- konnte man die Juden die konnten s<strong>ich</strong><br />

melden und konnten abhauen" (73/27)<br />

Herr Acka versucht <strong>mit</strong> dieser Erzählung zwar, den Verwaltungsmassenmord<br />

an <strong>der</strong> jüdischen Bevölkerung an<strong>der</strong>en Nationen an<strong>zu</strong>lasten und die<br />

Verbrechen <strong>der</strong> Deutschen <strong>zu</strong> verharmlosen, verstrickt s<strong>ich</strong> dabei jedoch in<br />

eine Erzählung, bei <strong>der</strong> auch noch eine an<strong>der</strong>e „Realität 44<br />

durchschimmert.<br />

Es ist wohl kaum an<strong>zu</strong>nehmen, daß Herr Acka <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Aussage „wir harn se<br />

nie verbrannt, son<strong>der</strong>n die harn s<strong>ich</strong> selber schon da umgebracht 44 , einen jüdischen<br />

Mann zitiert. Eher könnte man versucht sein, Herrn Acka selbst <strong>zu</strong><br />

diesem „wir 44 — <strong>zu</strong>mindest generell im Sinne „wir Deutschen 44 — <strong>zu</strong> rechnen.<br />

Einige läge blieben er und <strong>der</strong> Fahrer des „Geheimschreibwagens 44<br />

in dem<br />

Dorf. Sie versorgten s<strong>ich</strong> <strong>mit</strong> Lebens<strong>mit</strong>teln; Herr Acka trieb Handelsgeschäfte<br />

<strong>mit</strong> dem jüdischen Adligen und gab <strong>zu</strong>r besseren Geschäftsabwicklung<br />

vor, selbst Halbjude <strong>zu</strong> sein. Er evaluiert diese Zeit: „wir harn herrl<strong>ich</strong>e Zeiten<br />

dort verlebt 44 .<br />

Aus diesem und den umliegenden Dörfern habe es nun jüdische Rumänen<br />

gegeben, die <strong>zu</strong> ihren Verwandten und Bekannten in die rumänische Heimat<br />

<strong>zu</strong>rück wollten. Diese hat Herr Acka gemeinsam <strong>mit</strong> dem Schirrmeister, dem<br />

Fahrer des „Geheimschreibwagens* 4 , nachts über die Grenze gebracht:<br />

„sind ma an die Dörfer gefahrn wir harn die Juden aufgeladen <strong>mit</strong> Kind und Kegel, es warn<br />

circa dreißig Leute, reingeladen, das schwierigste war an <strong>der</strong> Grenze das jetzt kein Kind denwurde<br />

<strong>der</strong> Mund <strong>zu</strong>gebunden und alles das ja niemand was was merkte, und für uns wars ja, das<br />

war ja deklariert, Geheimschreibwagen die Wägen warn verblombt, bin <strong>ich</strong> dann Nacht fur Nacht<br />

rübergefahren und hab die Juden dann, <strong>ich</strong> weiß nit es- es is jetzt n<strong>ich</strong>t a- warum, vielle<strong>ich</strong>t eine<br />

menschl<strong>ich</strong>e Geste <strong>ich</strong> <strong>ich</strong> <strong>ich</strong> wett auch daß das auch JEDER gemacht jedenfalls auch bei uns<br />

dürft es ja auch niemand wissen meine gut <strong>der</strong> Schirrmeister durfts eh <strong>der</strong>- er war eingeweiht, un<br />

un und <strong>der</strong> kassierte ja auch das Geld" (78 /11)<br />

200


„Vielle<strong>ich</strong>t war es eine menschl<strong>ich</strong>e Geste" meint er; auf jeden Fall spielte,<br />

wie wir aus den letzten Zeilen entnehmen können, <strong>der</strong> Profit eine Rolle.<br />

Der „Rußlandfeld<strong>zu</strong>g". Der historische Wendepunkt im <strong>Krieg</strong>sverlauf <strong>mit</strong><br />

dem Überfall <strong>der</strong> deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion repräsentiert<br />

auch für Herrn Acka eine Zeitgrenze. Für ihn begann <strong>der</strong> <strong>Krieg</strong> erst <strong>mit</strong> dem<br />

Einmarsch in die SU, da er erst ab diesem Zeitpunkt eine Gefahr für sein Leben<br />

antizipierte. Außerdem begann für ihn die Phase, in <strong>der</strong> es „<strong>mit</strong> den Juden<br />

anfing". Das folgende Zitat steht im Zusammenhang <strong>der</strong> Erzählung über seine<br />

Gefangenschaft, in <strong>der</strong> ihm ein jüdischer Amerikaner geholfen habe. Recht<br />

makaber wirkt seine eingeschobene Erzählung über einen Juden, dem er es <strong>zu</strong><br />

verdanken habe, daß er „über den <strong>Krieg</strong> gekommen sei":<br />

„das hab <strong>ich</strong> auch wie<strong>der</strong> einem Juden, wahrscheinl<strong>ich</strong> <strong>zu</strong> verdanken, <strong>der</strong>, en Jude, es war noch<br />

vorm Rußlandfeld<strong>zu</strong>g also vorm Rußlandkrieg, <strong>der</strong> <strong>der</strong>, <strong>der</strong> hing an mir, und dort wars eigentl<strong>ich</strong><br />

noch gar n<strong>ich</strong>t so schlimm dort warn die Juden noch <strong>mit</strong> uns so <strong>zu</strong>sammen es war dann erst, fing<br />

das eigentl<strong>ich</strong> erst nach dem <strong>Krieg</strong> eh eh erst eh erst wo wo wo die besetzt werden in Polen warn<br />

die Juden noch, noch überall verteilt, und jedenfalls wie <strong>ich</strong> da von ihm wegging wie <strong>ich</strong> wegging<br />

da <strong>kam</strong> <strong>der</strong> und dach brachte <strong>der</strong> noch irgendwas und sagte <strong>ich</strong> habe die ganze Nacht für d<strong>ich</strong> gebetet<br />

dir wird bestimmt nix passieren, daran hab <strong>ich</strong> geglaubt" (85 /13)<br />

Die hier erkennbare Strategie von Herrn Acka, die ihm von jüdischen Menschen<br />

entgegengebrachte Sympathie und Hilfeleistung argumentativ als Entlastung<br />

von seiner Schuld <strong>zu</strong> gebrauchen, werden wir an späterer Stelle ausführl<strong>ich</strong>er<br />

diskutieren. Hier stellt s<strong>ich</strong> <strong>zu</strong>nächst die Frage, inwiefern es <strong>der</strong> jüdischen<br />

Bevölkerung in <strong>der</strong> Sowjetunion noch grauenvoller ergehen konnte als<br />

in dem von <strong>der</strong> Deutschen Wehrmacht besetzten Polen. Nimmt man seine<br />

Ausführungen wörtl<strong>ich</strong>, so gab es in Polen noch einige Juden, die am Leben<br />

waren und <strong>mit</strong> denen er noch Kontakt <strong>hatte</strong>; in <strong>der</strong> Sowjetunion dagegen war<br />

es seiner Meinung nach schlimmer, hier wurden alle Juden ermordet.<br />

Sehen wir, was Herr Acka, dessen Einsatzort in <strong>der</strong> Sowjetunion die Stadt<br />

Chersson war, erlebte bzw. nach historischen Kenntnissen <strong>mit</strong>erlebt haben mag.<br />

Die 11. Armee griff am 2. Juli 1941 von Rumänien aus die Sowjetunion an.<br />

Bereits am 20. August 1941 war das Son<strong>der</strong>kommando IIa <strong>der</strong> Einsatzgruppe<br />

D in <strong>der</strong> südukrainischen Stadt Chersson, um „im Einvernehmen <strong>mit</strong> den<br />

Dienststellen des rumänischen Herres dessen »Operationsgebiet um Odessa"*<br />

<strong>zu</strong> betreuen „und blieb in Erwartung <strong>der</strong> Einnahme <strong>der</strong> Stadt dort ,in Bereitschaft<br />

für s<strong>ich</strong>erheitspolizeil<strong>ich</strong>e Arbeit 4 " (Krausnick 1985: 175). Krausnick<br />

ber<strong>ich</strong>tet weiter über Exekutionen, die in diesem Gebiet stattfanden, und gibt<br />

nach den Ereignismeldungen bis <strong>zu</strong>m 30. Sept. 1941 „eine Gesamtzahl von 35<br />

782 allein durch die Gruppe D erschossenen Juden und Kommunisten 44 an. Es<br />

fanden Massenexekutionen statt, in denen „an <strong>mehr</strong>eren aufeinan<strong>der</strong>folgenden<br />

lägen zwischen dem 16. und 30.9.41 »mindestens 4000 jüdische Männer,<br />

Frauen und Kin<strong>der</strong> 4 getötet wurden 44 (Krausnick 1985: 338).<br />

Auch Herr Acka erzählt uns von Massenexekutionen in Chersson. Er<br />

spr<strong>ich</strong>t wie<strong>der</strong>holt und schon im Vorgespräch des Interviews von dem „Erleb-<br />

201


nis <strong>mit</strong> den Juden 44 , das, wie bei <strong>der</strong> Textinterpretation deutl<strong>ich</strong> wurde, sein<br />

entscheidendes und quälendes aus dieser Zeit ist.<br />

Betrachten wir seine Erzählung Sequenz für Sequenz:<br />

„dieses Erlebnis <strong>mit</strong> den Juden in Chersson die da, ausgetrieben wurden und und .sind dann<br />

vern<strong>ich</strong>tet worden 4 , <strong>ich</strong>=<strong>ich</strong>=<strong>ich</strong> könnt vielle<strong>ich</strong>t dort ne Heldentat machen aber das war das<br />

Mieseste was <strong>ich</strong> da da geleistet <strong>hatte</strong> 44<br />

Mit dieser Einleitung könnte <strong>der</strong> Leser erwarten, daß Herr Acka nun weiter<br />

erzählt, was er „Mieses geleistet 44<br />

hat, und er wird vermutl<strong>ich</strong> annehmen,<br />

daß Herr Acka am „Austreiben 44 o<strong>der</strong> am „Vern<strong>ich</strong>ten 44 teilgenommen hat.<br />

Eine Heldentat, <strong>mit</strong> <strong>der</strong> man eine Gegenwehr gegen diesen organisierten<br />

Massenmord assoziiert, erwartet man dagegen nach dieser Sequenz n<strong>ich</strong>t.<br />

Herr Acka fährt fort:<br />

„dort mußten von je<strong>der</strong> Einheit (1) mußten Leute abgestellt werden, weil sie die Juden die sie<br />

dann in ein Ghetto gestellt <strong>hatte</strong>n die wurden ja dann erschossen 44<br />

Herr Acka gehörte vermutl<strong>ich</strong> <strong>zu</strong> solch einer Einheit, von <strong>der</strong> Männer für<br />

die Exekutionen „abgestellt 44<br />

wurden. Man fragt s<strong>ich</strong>, was das für eine Einheit<br />

war. Die Wehrmacht war, soweit es den historischen Quellen <strong>zu</strong> entnehmen<br />

ist, an den oben genannten Erschießungen <strong>der</strong> jüdischen Bevölkerung in<br />

Chersson n<strong>ich</strong>t beteiligt. In den Akten des Armeeoberkommandos<br />

11 / Ab. Ic/AO ist von diesen Massenerschießungen in Chersson n<strong>ich</strong>ts <strong>zu</strong> lesen<br />

(Krausnick 1985: 1%). Außerdem versuchten die dem Armeeoberkommando<br />

ber<strong>ich</strong>tenden SS-Führer, diese Mordaktionen gegen die jüdische Bevölkerung<br />

und <strong>zu</strong> verschleiern. Allerdings tat das Standortkommando <strong>der</strong><br />

Wehrmacht „am 29. August <strong>der</strong> Bevölkerung von Chersson kund(tat), daß als<br />

,Sühnemaßnahmen wegen ... heute 100 Juden und 10 Bolschewistenführer erschossen<br />

4<br />

worden seien, woran s<strong>ich</strong> das erwähnte Vorkommando des SK IIa<br />

vermutl<strong>ich</strong> beteiligt <strong>hatte</strong> 44 (Krausnick 1985: 213).<br />

Aufgrund dieser Informationen bleibt es also ungewiß, von welchen Erschießungen<br />

Herr Acka ber<strong>ich</strong>tet und <strong>zu</strong> welcher Einheit er gehörte.<br />

Er erzählt weiter:<br />

A: „das=hat=man=dort- das war die Zeit, s war 41, wo <strong>ich</strong>s erste mal überhaupt was gehört<br />

habe (2)<br />

I: mhm<br />

A: und da harn wir uns alle krankgemeldet wir warn fünf Leute die da <strong>mit</strong> hin sollten wir haben<br />

uns krankgemeldet, man hats uns zwar n<strong>ich</strong>t abgenommen aber wir <strong>hatte</strong>n was eingenommen<br />

daß man Durchfall kriegte und harn uns dann abgemeldet"<br />

„Man hat's uns zwar n<strong>ich</strong>t abgenommen 44 , meint er, und es stellt s<strong>ich</strong> die<br />

Frage, ob Herr Acka dann doch da<strong>zu</strong> eingeteilt wurde. Dieser s<strong>ich</strong> dem Leser<br />

eröffnende Verdacht kann <strong>mit</strong> den weiteren Aussagen von Herrn Acka n<strong>ich</strong>t<br />

geklärt werden; viel<strong>mehr</strong> evaluiert dieser sein Verhalten so, daß dies sowohl<br />

auf ein Mitmachen wie auch ein N<strong>ich</strong>t-Mitmachen bezogen sein kann:<br />

202


„<strong>ich</strong> weiß n<strong>ich</strong> ob das ne Heldensache =das war ne feige Sache aber <strong>hatte</strong>n wirs n<strong>ich</strong>t gemacht<br />

hätten wir uns <strong>mit</strong> erschießen lassen sollen das war eben- das war eben die R<strong>ich</strong>tung es gab kein<br />

Aussteigen, es gab kein- es gab kein NEINsagen" (9/12)<br />

War es nun feige, daß er s<strong>ich</strong> krankgemeldet hat, o<strong>der</strong> war es feige, daß er<br />

es „gemacht* 4<br />

hat? Wenn er <strong>mit</strong> dem Krankmelden Erfolg <strong>hatte</strong>, wieso war<br />

dies dann n<strong>ich</strong>t ein „Aussteigen 44 ? Insgesamt gesehen ist die dieser Erzählung<br />

<strong>zu</strong>grundeliegende Realität vieldeutig.<br />

Herr Acka leitet nach dieser Erzählung <strong>zu</strong> einer generellen Argumentation<br />

über; er rechtfertigt diese Verbrechen, indem er sie als <strong>zu</strong>m <strong>Krieg</strong> gehörende<br />

Handlungen erklärt. Dies ist eine Argumentationsfigur, die zwar in <strong>der</strong> bundesrepublikanischen<br />

Bevölkerung häufig vertreten wird, doch Herrn Ackas<br />

Ausfuhrungen weisen noch etwas Beson<strong>der</strong>es auf:<br />

„JEDES HEER, was über ein Land herzieht, is im <strong>Krieg</strong>s<strong>zu</strong>stand und im <strong>Krieg</strong>s<strong>zu</strong>stand is ne<br />

andr- sind andre Gesetze" (10/3)<br />

W<strong>ich</strong>tig ist ihm <strong>zu</strong> betonen, daß jedes Heer s<strong>ich</strong> im <strong>Krieg</strong>s<strong>zu</strong>stand befindet,<br />

also n<strong>ich</strong>t nur die kämpfenden Truppen, n<strong>ich</strong>t nur die Wehrmacht, son<strong>der</strong>n<br />

alle, die „über ein Land herziehen* 4 . Nach dieser Deutung fallen die Einsatzgruppen<br />

wie auch die Wachverbände <strong>der</strong> SS in den Konzentrations- und Vern<strong>ich</strong>tungslagern<br />

außerhalb des Re<strong>ich</strong>sgebietes unter diese s<strong>ich</strong> im <strong>Krieg</strong>s<strong>zu</strong>stand<br />

befindenden Heere, für die an<strong>der</strong>e Gesetze gelten. Herr Acka nimmt generell<br />

eine Trennung zwischen den Verbrechen im Re<strong>ich</strong>sgebiet und im<br />

Feindesland vor, wie im weiteren noch <strong>zu</strong> diskutieren sein wird.<br />

Zunächst folgen wir seinem Ber<strong>ich</strong>t über eine weitere Fluchthilfe, die —<br />

nach seiner eigenen Einschät<strong>zu</strong>ng — im Unterschied <strong>zu</strong> <strong>der</strong> schon erwähnten<br />

„Fluchthilfe** für rumänische Juden eine „wohltätige 44<br />

Handlung war: „das<br />

war die erste Wohltat die <strong>ich</strong> getan hab 44 . War bei seiner Erzählung über die<br />

Fluchthilfe in Rumänien bereits evident, daß hierbei Geld eine Rolle spielte,<br />

so fragt man s<strong>ich</strong>, was geschehen mußte, daß Herr Acka s<strong>ich</strong> <strong>zu</strong> einer „ersten 44<br />

Wohltat genötigt fühlte.<br />

Interessant sind <strong>zu</strong>nächst die Hintergrundsinformationen, die Herr Acka für<br />

die Erzählung über „das Laufenlassen von Gefangenen 44<br />

einfuhren mußte.<br />

Herr Acka war <strong>zu</strong>r Beschaffung von Lebens<strong>mit</strong>teln und Benzin wie<strong>der</strong> <strong>zu</strong>sammen<br />

<strong>mit</strong> dem Schirrmeister unterwegs. Um s<strong>ich</strong> Wehrmachtsverpflegung „organisieren**<br />

<strong>zu</strong> können, besaß er diverse Marschbefehle, die auf an<strong>der</strong>e Einheiten<br />

ausgestellt waren, und er wies s<strong>ich</strong> bei den verschiedensten Wehrmachtseinheiten<br />

<strong>mit</strong> unterschiedl<strong>ich</strong>en falschen Feldpostnummern aus. Auch<br />

hier drängt s<strong>ich</strong> <strong>der</strong> Verdacht auf, daß er selbst eventuell n<strong>ich</strong>t <strong>zu</strong>r Wehrmacht<br />

gehörte.<br />

In Chersson war er <strong>zu</strong> einem Gefangenenlager gefahren und <strong>hatte</strong> s<strong>ich</strong> wie<strong>der</strong><br />

<strong>mit</strong> gefälschten Papieren fünf Gefangene <strong>zu</strong>r Arbeit „ausgeliehen**. Nach<br />

getaner Arbeit ließ er die Gefangenen laufen; ihm und seinem Kameraden<br />

203


drohte keine Gefahr, da sie von <strong>der</strong> Lagerkommandantur aufgrund <strong>der</strong> falschen<br />

Papiere n<strong>ich</strong>t <strong>zu</strong> identifizieren waren. Bevor s<strong>ich</strong> die Gefangenen jedoch<br />

davonmachten, dankten sie ihren Rettern:<br />

„und da harn wir denn gesacht so, jetzt eßt schon und haut ab, und wir erzähln uns noch so im<br />

Führerhaus auf einmal geht die Tür rechts und links auf, dachten wir jetzt bringen die uns um und<br />

da standen die und küßten uns die Füße und sagten .... «russisches Zitat)) warn rührendes Bild<br />

<strong>ich</strong> denke heute noch oft daran' 4 (14/25)<br />

Im Unterschied <strong>zu</strong> seinen Begegnungen <strong>mit</strong> vom Tod bedrohten Menschen<br />

in Transnistrien wird diese Begegnung durch den Dank <strong>der</strong> Gefangenen <strong>zu</strong> einer<br />

zwischenmenschl<strong>ich</strong> bedeutungsvollen, die ihn berührt. Es mag sein, daß<br />

er die Gefangenen freiließ, weil es <strong>zu</strong> riskant o<strong>der</strong> auch <strong>zu</strong> umständl<strong>ich</strong> war,<br />

sie wie<strong>der</strong> ins Gefangenenlager <strong>zu</strong>rück<strong>zu</strong>bringen; doch in seiner Erzählung<br />

wird ansatzweise auch Mitleid <strong>mit</strong> den Gefangenen, die n<strong>ich</strong>ts <strong>zu</strong> essen <strong>hatte</strong>n,<br />

spürbar.<br />

Bei einer weiteren Begebenheit wird deutl<strong>ich</strong>, was ihn emotional bewegt. Er<br />

leitet die Erzählung ein <strong>mit</strong>:<br />

„<strong>ich</strong> hab ein Erlebnis en en nen ganz eh eh schreckl<strong>ich</strong>es Erlebni- ((einatmen)) <strong>ich</strong> denke heute<br />

noch dran 44 (10/26)<br />

Er erzählt darüber, wie Angehörige <strong>der</strong> sowjetischen Zivilbevölkerung, die<br />

an <strong>der</strong> Poststelle <strong>der</strong> Wehrmacht Pakete gestohlen <strong>hatte</strong>n, erschossen und erhängt<br />

wurden. Er selbst war bei <strong>der</strong> Hinr<strong>ich</strong>tung von zwei Kin<strong>der</strong>n und einem<br />

älteren Mann dabei:<br />

„es war grausam, also das Bild des wird wird wird ehdes bleibt immer bei mir, und da hab <strong>ich</strong><br />

dann <strong>mit</strong> diesem Kommandant gesprochen, bin dann nach Wochen wie<strong>der</strong> mal hingekommen,<br />

und da hat er mir gesacht wir harn KEINE <strong>mehr</strong> erschießen brauchen (2)... was <strong>ich</strong> eben sagte<br />

im <strong>Krieg</strong> sind an<strong>der</strong>e Gesetze, und durch die drei Leute, eh sind viele viele Leute an am Leben<br />

geblieben 44 (12/13)<br />

Neben <strong>der</strong> Rechtfertigungsstrategie <strong>der</strong> Subsumierung von Verbrechen unter<br />

die Situation des <strong>Krieg</strong>es legitimiert Herr Acka die Morde <strong>mit</strong> ihrer Abschreckungswirkung,<br />

aufgrund <strong>der</strong>er an<strong>der</strong>e Menschen am Leben geblieben<br />

seien. Interessant ist seine Begründung, weshalb ihn dieses Erlebnis im Unterschied<br />

<strong>zu</strong> an<strong>der</strong>en bewegt hat:<br />

„<strong>ich</strong> hab m<strong>ich</strong> darum gekümmert weil das m<strong>ich</strong> getroffen <strong>hatte</strong> //hmh// weil es — weil es —<br />

das war-, das ging über ne menschl<strong>ich</strong>e Gesch<strong>ich</strong>te hinaus Kin<strong>der</strong> noch da<strong>zu</strong>, an<strong>der</strong>e na ja gut das<br />

mußte-, aber- aber, wissen Sie <strong>mit</strong> jemanden <strong>der</strong> s<strong>ich</strong> n<strong>ich</strong>t wehren kann das is dann- <strong>ich</strong> weiß<br />

n<strong>ich</strong>, <strong>ich</strong>=<strong>ich</strong>, aber, wenn man s<strong>ich</strong> da<strong>mit</strong> befaßt () sage es ging ja gar n<strong>ich</strong> an<strong>der</strong>s 4 ' (12/39)<br />

Weil es Kin<strong>der</strong> waren, die er im Unterschied <strong>zu</strong> ebenfalls unbewaffneten Erwachsenen<br />

als wehrlos betrachtet, hat es ihn betroffen gemacht, und es leuchtet<br />

ein, daß er s<strong>ich</strong> deshalb da<strong>mit</strong> auseinan<strong>der</strong>gesetzt hat.<br />

Während Herr Acka vom Mord an wehrlosen Menschen erzählt, weiß er<br />

hingegen n<strong>ich</strong>ts vom Sterben <strong>der</strong> Menschen, die an den kriegerischen Handlungen<br />

beteiligt waren, d.h. von Soldaten, <strong>zu</strong> ber<strong>ich</strong>ten. Er, <strong>der</strong> s<strong>ich</strong> jeweils im<br />

204


ückwärtigen Operationsgebiet und fern von <strong>der</strong> fechtenden Truppe aufhielt,<br />

wird vom Kampf gegen wehrfähige und bewaffnete Soldaten <strong>der</strong> Roten Armee<br />

wenig erlebt haben.<br />

Den Einmarsch in die Ukraine schil<strong>der</strong>t er unter dem Ges<strong>ich</strong>tspunkt des<br />

freundl<strong>ich</strong>en Empfangs durch die unter <strong>der</strong> Herrschaft <strong>der</strong> Sowjets leidende<br />

Bevölkerung:<br />

„wie wir rein<strong>kam</strong>en war es wirkl<strong>ich</strong> so daß die wirkl<strong>ich</strong> froh warn von <strong>der</strong> von den Russen abgelöst<br />

<strong>zu</strong> werden die Ukraine und wir harn ein wun<strong>der</strong>bares Verhältnis gehabt" (56/28)<br />

Seine Ausführungen über <strong>Krieg</strong>shandlungen beschränken s<strong>ich</strong> auf folgende<br />

Aussage:<br />

„sind wir ja so immer so hinter <strong>der</strong> Truppe <strong>mit</strong>gekommen also <strong>ich</strong> war noch n<strong>ich</strong> ganz, so vorne<br />

<strong>mit</strong> aber dort fing es dann schon an kritisch <strong>zu</strong> werden und so war es auch wie <strong>der</strong> erste Schuß<br />

fiel, also wie 1941 eh nach Rußland dann in ein wie ((stottert)) da wams so die ersten <strong>mit</strong> Flammenwerfer<br />

die <strong>kam</strong> dann verbrannt rüber" (54/11)<br />

Seine Klagen über den <strong>Krieg</strong> in <strong>der</strong> UdSSR beschränken s<strong>ich</strong> des weiteren<br />

auf die Witterungsverhältnisse. Er ber<strong>ich</strong>tet über die unglaubl<strong>ich</strong>e Kälte. Sein<br />

Generationsbewußtsein als gestählter <strong>Hitler</strong>junge, <strong>der</strong> vorgibt, alles <strong>zu</strong> begrüßen,<br />

was hart macht, wird dabei deutl<strong>ich</strong>:<br />

„vierzig Grad Kälte, <strong>ich</strong> sag und hier <strong>kam</strong> wie<strong>der</strong> das Jhaining, denn wir <strong>hatte</strong>n ja eben durch<br />

den Wehrsportabze<strong>ich</strong>en durch die <strong>Hitler</strong>jugend draußen Camping gemacht draußen ne, das<br />

könnte heute keiner durchhalten" (66/7)<br />

Neben <strong>der</strong> Erziehung in <strong>der</strong> <strong>Hitler</strong>jugend hätte die Generation seiner Lehrer<br />

— die meisten waren Veteranen des Ersten Weltkrieges — <strong>zu</strong> <strong>der</strong> Abhärtung<br />

seiner Generation schon frühzeitig beigetragen.<br />

Bis Anfang 1943 war Herr Acka in <strong>der</strong> UdSSR stationiert. Er spr<strong>ich</strong>t zwar<br />

wie<strong>der</strong>holt davon, daß „wir" bis <strong>zu</strong>m Kaukasus, <strong>zu</strong>m Elbrus Gebirge gekommen<br />

waren, doch er meint vermutl<strong>ich</strong> n<strong>ich</strong>t s<strong>ich</strong> selbst, son<strong>der</strong>n die deutschen<br />

Truppen. Da s<strong>ich</strong> alle von ihm erzählten Begebenheiten in <strong>der</strong> Umgebung von<br />

Chersson ereigneten und er auch n<strong>ich</strong>ts über die ab Dezember 1941 beginnende<br />

sowjetische Offensive auf die von <strong>der</strong> 11. Armee besetzten Krim erzählt,<br />

ist eher davon aus<strong>zu</strong>gehen, daß er während <strong>der</strong> gesamten Zeit in dieser<br />

Stadt stationiert war.<br />

4.2.3 Der Versuch einer fliegerischen Laufbahn<br />

Noch vor dem Rück<strong>zu</strong>g <strong>der</strong> deutschen Truppen von <strong>der</strong> Krim und aus <strong>der</strong><br />

Südukraine im Frühjahr 1943 gelang es Herrn Acka — schenkt man seiner Erzählung<br />

Glauben —, aus <strong>der</strong> Sowjetunion in die Heimat <strong>zu</strong> gelangen. Er wollte<br />

weg von <strong>der</strong> Einheit, die er in diesem Zusammenhang als „Nachr<strong>ich</strong>tenkompanie"<br />

beze<strong>ich</strong>net. Wie er erzählt, gab es für ihn dort keine Aufstiegschancen<br />

<strong>mehr</strong>:<br />

205


„und gabs für uns kein Nachschub und so<strong>mit</strong> auch keine Beför<strong>der</strong>ung <strong>mehr</strong>, und da, blieb mir<br />

weiter nix übrig als daß <strong>ich</strong> weg mußte, da bin <strong>ich</strong> dann <strong>zu</strong>m fliegenden Personal gegangen"<br />

(54/27)<br />

An an<strong>der</strong>er Stelle meint er:<br />

„für m<strong>ich</strong> war n<strong>ich</strong>ts weiter <strong>zu</strong> tun <strong>ich</strong> konnte n<strong>ich</strong> beför<strong>der</strong>t werden und hing nun da überall<br />

rum"<br />

Mit einer simulierten Blinddarmentzündung gelang es ihm, ins Lazarett<br />

verlegt <strong>zu</strong> werden. Dieses wurde einen Tag später wegen <strong>der</strong> näher rückenden<br />

Front aufgelöst und Herr Acka <strong>kam</strong> <strong>zu</strong>nächst in eine Genesungskompanie<br />

nach Deutschland, später nach Wien. Danach wurde er als Techniker <strong>zu</strong>m Regiment<br />

General Goring eingezogen.<br />

Des weiteren erzählt er, er habe s<strong>ich</strong> <strong>zu</strong> einer schulischen Ausbildung entschlossen<br />

und sei in die Fliegerschule nach Berlin/Prenzlau gekommen. Es<br />

ist <strong>zu</strong> vermuten, daß er eine Ausbildung <strong>zu</strong>m Flugzeugführer anstrebte. „Die<br />

als Flugzeugführer ausgewählten Unteroffiziere und Mannschaften <strong>mit</strong> Unteroffiziersbefahigung<br />

erhielten nach mindestens eineinhalbjähriger Gesamtdienstzeit<br />

eine 18monatige Ausbildung bei Flugzeugführer- und Fliegerwaffenschulen,<br />

die im allgemeinen <strong>mit</strong> dem Erwerb des erweiterten Militärflugzeugführerscheins<br />

endete 44<br />

(Absolon 1960:195f.).<br />

Es bleibt unklar, ob Herr Acka die Abschlußprüfung bestand, <strong>zu</strong>mal er einmal<br />

von einer halbjährigen, dann von einer einjährigen Schulzeit spr<strong>ich</strong>t.<br />

Über seine Karrieremögl<strong>ich</strong>keiten jedenfalls erzählt er:<br />

„nach Berlin nach Prenzlau gekommen und sehn Sie und jetzt-jetzt <strong>kam</strong> wie<strong>der</strong> eine ganz kritische<br />

Phase war, wenn <strong>ich</strong> jetzt die Fluchzeugsp-fuhrerprüfung n<strong>ich</strong>t bestanden <strong>hatte</strong> gab es für<br />

m<strong>ich</strong> zwei Teile, entwe<strong>der</strong> <strong>zu</strong>r Flak, das war da<strong>zu</strong>mal en Himmelkommando, ODER <strong>zu</strong>r 55, jetzt<br />

weiß <strong>ich</strong> aber nit-, jetzt weiß <strong>ich</strong> jetzt n<strong>ich</strong>t <strong>zu</strong> welcher SS <strong>zu</strong>r Waffen-SS o<strong>der</strong>, <strong>zu</strong>r an<strong>der</strong>n SS, jejetzt<br />

<strong>hatte</strong> jemand, <strong>der</strong> <strong>zu</strong>r SS kommt dahinkommen können ohne, das erst gar nie, gar niewollte=weil<br />

das sind ja n<strong>ich</strong> alle Schlächter" (79/25)<br />

Von Bedeutung an dieser Textstelle ist die Formulierung „jetzt <strong>kam</strong> wie<strong>der</strong><br />

eine ganz kritische Phase 44 , <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Herr Acka das Folgende einleitend evaluiert.<br />

Offen bleibt hier, welche Phase seiner <strong>Krieg</strong>serlebnisse <strong>zu</strong>vor für ihn<br />

„ganz kritisch 44 war, und man kann fragen, ob s<strong>ich</strong> dieses „wie<strong>der</strong> 44 auf seinen<br />

Einsatz in <strong>der</strong> UdSSR bezieht.<br />

Nach dieser Ausbildungszeit <strong>kam</strong> Herr Acka jedenfalls n<strong>ich</strong>t <strong>zu</strong>m Fronteinsatz,<br />

da er wegen eines Abszesses an den Mandeln ins Lazarett eingeliefert<br />

werden mußte. Danach sei er als Kurierflieger zwischen Prenzlau und dem in<br />

<strong>der</strong> besetzten Tschechei liegenden Prerau eingesetzt worden.<br />

Er konnte also nur als Transportflieger und n<strong>ich</strong>t als Kampf- bzw. Jagdflieger<br />

fliegen, und sein Traum vom soldatischen Einzel<strong>kam</strong>pf Flieger gegen<br />

Flieger und insbeson<strong>der</strong>e von einer Beför<strong>der</strong>ung, von einem „Weiterkommen<br />

44 , ging auch später n<strong>ich</strong>t <strong>mehr</strong> in Erfüllung.<br />

206


4.2.4 Das „neue Leben" und <strong>der</strong> Aufstieg bei den Alliierten<br />

Vorbemerkung. Herr Acka erzählt den nun folgenden biographischen Werdegang<br />

ausfuhrl<strong>ich</strong>, deutl<strong>ich</strong> und einfach nachvollziehbar. Es handelt s<strong>ich</strong> um<br />

jene Erzählungen während des Interviews, bei denen es keine Schwierigkeiten<br />

<strong>mehr</strong> bereitet, zwischen dem, was er selbst erlebt und erfahren hat, und dem,<br />

was er nur gehört hat, <strong>zu</strong> unterscheiden. Auf seinen letzten Fronteinsatz<br />

kommt er im Interview immer wie<strong>der</strong> <strong>zu</strong> sprechen. Es wird deutl<strong>ich</strong>, daß er<br />

s<strong>ich</strong> bei diesem Thema — im Unterschied <strong>zu</strong> seiner Zeit in <strong>der</strong> Sowjetunion<br />

— s<strong>ich</strong>er fühlt.<br />

Der letzte Einsatz an <strong>der</strong> Front. Ende 1944 war <strong>der</strong> Transportfliegerei wegen<br />

Benzinmangels ein Ende gesetzt, und Herr Acka <strong>kam</strong> <strong>zu</strong>m ersten Mal direkt<br />

an die Front <strong>zu</strong> einem „Festungsbataillon 44<br />

in die Eifel. Die Erzählung über<br />

diesen Fronteinsatz leitet er <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Bemerkung „dort war die Hölle los 44<br />

ein.<br />

Er ber<strong>ich</strong>tet, wie es ihm auch hier gelang, „n<strong>ich</strong>t ganz vorne <strong>zu</strong> sein 44 , indem<br />

er s<strong>ich</strong> einen „Granatwerfer<strong>zu</strong>g eroberte 44 . Er erlebte, wie viele angebl<strong>ich</strong> fahnenflüchtige<br />

Landser standrechtl<strong>ich</strong> verurteilt und an Bäumen aufgehängt<br />

wurden. Er erzählt von einem Hauptmann, <strong>der</strong> s<strong>ich</strong> <strong>mit</strong> einem Stuhl auf die<br />

Landstraße setzte und jeden Landser, <strong>der</strong> <strong>zu</strong>rück<strong>kam</strong>, erschießen ließ.<br />

Obwohl Herr Acka „kriegsmüde war und die Nase voll bis oben hin 44<br />

<strong>hatte</strong>,<br />

habe er wegen <strong>der</strong> Gefahr einer standrechtl<strong>ich</strong>en Erschießung weitergekämpft.<br />

Doch aus seinen Ausführungen wird auch deutl<strong>ich</strong>, daß er noch auf<br />

einen deutschen Endsieg hoffte und auf den Einsatz <strong>der</strong> Wun<strong>der</strong>waffen wartete.<br />

So äußert er s<strong>ich</strong> z.B. im Zusammenhang <strong>mit</strong> dem Attentat auf <strong>Hitler</strong>:<br />

„es war schon viel aufgegeben aber bis dahin <strong>hatte</strong>n wir noch Hoffnung auf den Sieg, wer<br />

würde denn gerne verlieren, selbst wenn die Schlacht noch so schlecht steht auf en Sportplatz gehen<br />

auf Ihren <strong>zu</strong> Ihren Verein hin und sagen na Gott <strong>der</strong> kann ruhig verlieren, selbst wenn Se auch<br />

mal schimpfen über den wie noch nie aber gewinnen möchten Sie ja doch und wenn Sie so lange<br />

<strong>mit</strong> dabei gewesen sind dann möchten Sie doch auch gewinnen, dann möchten Sie doch auch sagen<br />

jetzt gib mir- jetzt harn wir soviel <strong>mit</strong>gemacht soviel ((nuschelt)), das was wir jetzt wissen,<br />

daß <strong>der</strong> Leute in <strong>der</strong> Gas<strong>kam</strong>mer da umgebracht hat (2) daß das an <strong>der</strong> Front draußen gewesen<br />

is, ,also in Rußland draußen gewesen is war ja', aber daß das hier gewesen daß man Kin<strong>der</strong> und<br />

alles erschossen, das war fragen Se mal wer das wußte, erzählt hats keiner," (110/4)<br />

Wenn man schon soviel wie er „<strong>mit</strong>gemacht 44<br />

hat, wobei Herr Acka vor allem<br />

an die Massenmorde in <strong>der</strong> Sowjetunion denkt, dann muß man auch gewinnen.<br />

Mit einer deutschen Nie<strong>der</strong>lage würden diese Verbrechen und auch<br />

seine Verstrickung in sie sinnlos, während sie s<strong>ich</strong> bei einem deutschen Sieg<br />

als Mittel <strong>zu</strong>m Zweck rechtfertigen ließen.<br />

Herr Acka trennt hier zwischen den Morden im Ausland und den Verbrechen<br />

in <strong>der</strong> Heimat. Die im Ausland begangenen und von ihm selbst <strong>mit</strong>erlebten<br />

Verbrechen subsumiert er unter das <strong>Krieg</strong>sgeschehen und kann sie da<strong>mit</strong><br />

entschuldigen. Die Verbrechen in <strong>der</strong> Heimat, vor allem die Ermordung von<br />

Kin<strong>der</strong>n, verurteilt er dagegen. Insofern verurteilt er die Verbrechen, die er<br />

207


selbst n<strong>ich</strong>t un<strong>mit</strong>telbar <strong>mit</strong>erlebt hat, in die er s<strong>ich</strong> n<strong>ich</strong>t verstrickt fühlt und<br />

von denen er eventuell tatsächl<strong>ich</strong> n<strong>ich</strong>ts gewußt hat.<br />

Zurück <strong>zu</strong> seinen Erlebnissen in <strong>der</strong> Eifel. Detailliert erzählt Herr Acka<br />

über die letzte Schlacht, die er <strong>mit</strong>erlebte. Deutsche Offiziere hätten die Soldaten<br />

in einen Kessel hineingezwungen, obwohl es hoffnungslos gewesen sei.<br />

Innerhalb von zwei Stunden sei ein volles Bataillon (34 Kompanien) bis auf 33<br />

Soldaten „vollkommen verheizt worden 44 . Zu diesen 33 Soldaten gehörten<br />

Herr Acka und die ihm als Feldwebel unterstellten Soldaten des Granatwerfer<strong>zu</strong>gs.<br />

Es war ihm gelungen, den Kessel noch rechtzeitig <strong>zu</strong> verlassen:<br />

„<strong>ich</strong> <strong>hatte</strong> Glück daß <strong>ich</strong> sagen konnte, daß ICH SAGEN konnte, Granatwerfer raus weil <strong>ich</strong>s<br />

VERANTWORTEN konnte 4 (58/1)<br />

Für ihn repräsentiert dieses Erlebnis den Wie<strong>der</strong>gewinn seines Lebens.<br />

Seine Ehefrau meint im Interview: „da sagt mein Mann immer, hier hab <strong>ich</strong>s<br />

neue Leben gekriegt 44 . Noch heute ist er sehr erbost über den sinnlosen Tod<br />

<strong>der</strong> deutschen Soldaten, d.h. erbost über das Verhalten <strong>der</strong> deutschen Offiziere:<br />

„<strong>zu</strong>m niegen hätten sie m<strong>ich</strong> irgendwo hinschicken können da hätt <strong>ich</strong> <strong>mit</strong> ihnen gekämpft<br />

Mann gegen Mann das war was an<strong>der</strong>s, ja, aber dort wenn wir wi- wenn wenn so weit schon aussah<br />

da konnten ma sagen was solin was wollen wir noch, was wollen wir noch, aber Sie konnten<br />

n<strong>ich</strong>t aussteigen o<strong>der</strong> Sie mußten s<strong>ich</strong> erschießen" (60 / 7)<br />

An einen deutschen Sieg konnte er zwar kaum noch glauben, doch er wollte<br />

weiterkämpfen, wollte wie<strong>der</strong> als Flieger eingesetzt werden — den Befehl<br />

hierfür <strong>hatte</strong> er bereits. <strong>Als</strong> Flieger, Mann gegen Mann, so sagt er wie<strong>der</strong>holt,<br />

wollte er noch weiterkämpfen und n<strong>ich</strong>t in Gefangenschan gehen. Zu dem erhofften<br />

Einsatz als Jagdflieger <strong>kam</strong> es jedoch n<strong>ich</strong>t <strong>mehr</strong>; dieses von ihm angestrebte<br />

Ziel konnte er n<strong>ich</strong>t erre<strong>ich</strong>en. In diesem Zusammenhang ist interessant,<br />

daß er s<strong>ich</strong> uns bei <strong>der</strong> telefonischen Kontaktaufnahme als Jagdflieger<br />

vorgestellt <strong>hatte</strong>. Ebenso wie er seine Zeit in <strong>der</strong> Sowjetunion in Nebel hüllt,<br />

versucht er also, das Scheitern seiner Fliegerlaufbahn <strong>zu</strong> kaschieren. Dies erklärt<br />

im nachhinein auch die unverständl<strong>ich</strong>e Erzählung über die Flugzeugfiihrerprüfung.<br />

An dem Abend, als er aus dem Kessel entkommen war, telefonierte er <strong>mit</strong><br />

dem <strong>zu</strong>ständigen General, um seine Stellung <strong>zu</strong> übergeben. Er be<strong>kam</strong> <strong>zu</strong> hören:<br />

„Acka Sie sind feig, Sie bleiben noch hier bis morgen 44 . Da er diesen, seinen<br />

soldatischen Stolz kränkenden Vorwurf n<strong>ich</strong>t auf s<strong>ich</strong> sitzen lassen wollte,<br />

blieb er in seiner Stellung. Am nächsten Morgen war sein Zug umzingelt, und<br />

er <strong>kam</strong> <strong>mit</strong> den an<strong>der</strong>en in amerikanische Gefangenschaft nach Belgien:<br />

„und <strong>der</strong> General... war n<strong>ich</strong> da <strong>ich</strong> hätte gerne gewünscht <strong>ich</strong> hätt ihn nochmal getroffen (2)<br />

<strong>der</strong> war WEG, ohne mir was <strong>zu</strong> sagen <strong>ich</strong> <strong>hatte</strong> Verbindung <strong>mit</strong> ihm ohne <strong>mit</strong> <strong>der</strong> will so sagen<br />

<strong>der</strong> war verschwunden und <strong>ich</strong> bin denn in Gefangenschaft gegangen" (62 /11)<br />

208


Obwohl Herr Acka noch heute über das Verhalten deutscher Offiziere sehr<br />

empört ist. zweifelt er keineswegs am Befehlsgehorsam des Soldaten:<br />

„das ist eben das Soldatensein und das muß eigentl<strong>ich</strong> auch so sein, das klingt jetzt hart denn<br />

<strong>der</strong> Soldat muß s<strong>ich</strong> ja aufgeben <strong>der</strong> muß nit fragen ... es gibt kein humanes Heer, kein Kxiegsheer<br />

das ist hart und da gibt es nur den Befehl und wenn Sie n<strong>ich</strong>t <strong>mit</strong>marschiern dann bleiben Sie auf<br />

<strong>der</strong> Strecke liegen" (26/5)<br />

Er ist auch <strong>der</strong> Ans<strong>ich</strong>t, daß man eventuell den <strong>Krieg</strong>, keinesfalls aber das<br />

Soldatentum verurteilen kann:<br />

„aber als Soldat hab <strong>ich</strong> ne Verpfl<strong>ich</strong>tung ((schlägt auf den Tisch)) die sie, welchen Beruf sie<br />

auch mal gehen wollen, die Verpfl<strong>ich</strong>tung in ihrem Beruf dort ihren Mann <strong>zu</strong> stehen was es auch<br />

is, ob Sie Klümpchen verkaufen o<strong>der</strong> ob Sie irgendwas an<strong>der</strong>s verkaufen das müssen Sie dann vertreten<br />

sonst könn Sie in ihrem Beruf nix sein, und so is das wenn <strong>ich</strong> Soldat bin, noch da<strong>zu</strong> freiwillig<br />

vielle<strong>ich</strong>t noch da<strong>zu</strong>, dann muß <strong>ich</strong> en Soldat sein und dann is eben <strong>der</strong> Befehl und wenn <strong>der</strong><br />

Befehl nix gilt, das gilt doch" (21 /40)<br />

Wie sehr er die Pfl<strong>ich</strong>t des Soldaten verinnerl<strong>ich</strong>t <strong>hatte</strong>, stellte er noch in <strong>der</strong><br />

Gefangenschaft unter Beweis.<br />

Anhand seines Soldbuches wurde seine Zugehörigkeit <strong>zu</strong>m fliegenden Personal<br />

ers<strong>ich</strong>tl<strong>ich</strong>. Amerikanische Offiziere verhörten ihn, um von ihm Informationen<br />

über den deutschen Auswe<strong>ich</strong>flughafen, auf dem s<strong>ich</strong> auch seine Kameraden<br />

befanden, <strong>zu</strong> erhalten. Sie setzten ihm eine Frist bis <strong>zu</strong>m nächsten<br />

Morgen und drohten ihm <strong>mit</strong> Erschießung. Herr Acka gab keine Auskunft;<br />

selbst dann n<strong>ich</strong>t, als er am Morgen <strong>mit</strong> dem Ges<strong>ich</strong>t an die Wand gestellt<br />

wurde. Er erzählt heute, daß er den Schießbefehl habe abwarten wollen und<br />

s<strong>ich</strong> erst dann habe umdrehen und aussagen wollen.<br />

Der befehlshabende Offizier gab dem Exekutionskommando den Befehl <strong>zu</strong><br />

laden, doch Herr Acka entnahm den Geräuschen, daß die Gewehre n<strong>ich</strong>t <strong>mit</strong><br />

Munition geladen waren, und drehte s<strong>ich</strong> deshalb immer noch n<strong>ich</strong>t um. <strong>Als</strong><br />

<strong>der</strong> amerikanische Offizier ihm die Hand auf die Schulter legte, brach er <strong>zu</strong>sammen.<br />

Der Offizier war von Herrn Ackas soldatischem Ehrgefühl und seiner<br />

Verschwiegenheit beeindruckt; er for<strong>der</strong>te ledigl<strong>ich</strong> die Unterschrift unter<br />

ein Vernehmungsprotokoll, aus dem hervorging, daß <strong>mehr</strong>ere höhere Wehrmachtsoffiziere<br />

bereits den Flugplatz verraten <strong>hatte</strong>n. Herr Acka unterschrieb.<br />

Er bewertet sein damaliges Verhalten heute als Resultat seiner soldatischen<br />

Sozialisation, die ihn <strong>zu</strong> diesem Verhalten gezwungen habe:<br />

„hier könn Sie wie<strong>der</strong> sehen, diese ERZIEHUNG die wir <strong>hatte</strong>n, <strong>ich</strong> wollte da n<strong>ich</strong>t- <strong>ich</strong> wollthätte<br />

m<strong>ich</strong> da n<strong>ich</strong> an die Wand- hätte vielle<strong>ich</strong>t des Deutschlandlied gesungen auf keinen Fall,<br />

aber die Erziehung die wir dann <strong>hatte</strong>n, du läßt d<strong>ich</strong> nie unterkriegen du trickst den noch aus (2)<br />

<strong>ich</strong> hätte m<strong>ich</strong> dort ni- <strong>ich</strong> meine- mein <strong>ich</strong> wollte m<strong>ich</strong> umdrehen" (64/33)<br />

Er war so geprägt von dieser Erziehung, daß er dieses Erlebnis n<strong>ich</strong>t unter<br />

<strong>der</strong> Perspektive eines heldenhaften soldatischen Handelns erzählt. Statt dessen<br />

schil<strong>der</strong>t er sein Verhalten als durch ein internalisiertes Bedürfnis ausge-<br />

209


löst, den Feind noch „aus<strong>zu</strong>tricksen 44<br />

und die eigene Überlegenheit <strong>zu</strong> fühlen.<br />

Dieses Bedürfnis war stärker als sein Gespür für die reale Gefahr, in <strong>der</strong> er<br />

s<strong>ich</strong> befand.<br />

Berufl<strong>ich</strong>er Aufstieg im Zivilberuf bei <strong>der</strong> Armee. Herr Acka erhielt beim amerikanischen<br />

Militär eine gute Position. Er „übernahm 44<br />

die Küche eines Sanitätslagers<br />

und meint heute da<strong>zu</strong>: „seitdem hab <strong>ich</strong> dort ein sehr gutes Leben 44<br />

geführt. Dieses gute Leben habe er u.a. wie<strong>der</strong> einem Juden <strong>zu</strong> verdanken gehabt:<br />

„auch in <strong>der</strong> Gefangenschaft mir hat <strong>zu</strong>m Beispiel en Jude wie<strong>der</strong> geholfen, en Jude hat mir geholfen<br />

er hat gesacht Acka, eh <strong>ich</strong> will Ihnen garantieren, Sie werdens in unserer Gefangenschaft<br />

gut haben <strong>ich</strong> <strong>hatte</strong> es sehr gut (2) das hat <strong>der</strong> auch gemacht" (62/20)<br />

Nimmt man Herrn Acka beim Wort, so hat er sowohl den <strong>Krieg</strong> als auch die<br />

Gefangenschan aufgrund <strong>der</strong> Fürsprache und Hilfe jüdischer Menschen überlebt.<br />

Juden <strong>hatte</strong>n ihm, <strong>der</strong> auf <strong>der</strong> Seite <strong>der</strong> Verfolger stand, geholfen, ihm sogar<br />

Sympathie entgegengebracht. Zudem war es auch ein Jude gewesen, <strong>der</strong><br />

ihm angebl<strong>ich</strong> bestätigte, daß es die Juden in Deutschland besser hätten als in<br />

Rumänien. Herr Acka führt so<strong>mit</strong> jüdische Menschen als Entlastungszeugen<br />

an. Sie entlasten ihn von dem Vorwurf <strong>der</strong> Zugehörigkeit <strong>zu</strong> einem Volk von<br />

Tätern und von seiner eigenen Verstrickung in den Massenmord.<br />

<strong>Als</strong> Herr Acka im Mai 1945 aus <strong>der</strong> Zeitung von <strong>der</strong> bedingungslosen Kapitulation<br />

erfuhr, war er erle<strong>ich</strong>tert. Für ihn bedeutete das <strong>Krieg</strong>sende: „jetzt is<br />

es vorbei, Gott sei Dank, wir können heim" (10/20). Er habe hurra geschrien,<br />

meint er; von <strong>der</strong> Interviewerin wird er daraufhingewiesen, daß er doch gesagt<br />

habe, <strong>der</strong> <strong>Krieg</strong>sausgang sei schreckl<strong>ich</strong> fur ihn gewesen. Herr Acka erklärt<br />

diesen Wi<strong>der</strong>spruch recht plausibel: „es gibt in diesen Zeiten so viele<br />

Wechselbä<strong>der</strong> 44 . Dieses Wechselbad war fur Herrn Acka auf <strong>der</strong> einen Seite<br />

die Notwendigkeit eines deutschen Siegs, <strong>der</strong> die Sinnhaftigkeit <strong>der</strong> grausamen<br />

Handlungen <strong>zu</strong> legitimieren vermocht hätte. Auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite war er<br />

<strong>mit</strong> <strong>Krieg</strong>sende aus seiner Pfl<strong>ich</strong>t als Soldat, aus <strong>der</strong> bedingungslosen Unterwerfung<br />

seiner Person unter die Befehlsgewalt seiner Vorgesetzten entlassen.<br />

Da Herr Acka das Soldatsein als Beruf im Sinne einer Erwerbstätigkeit, die<br />

man <strong>mit</strong> <strong>der</strong> entsprechenden Arbeitsethik ausfuhrt, jedoch n<strong>ich</strong>t als ideologische<br />

Berufung begriff, war für ihn <strong>der</strong> <strong>Krieg</strong> <strong>mit</strong> seiner Gefangennahme <strong>zu</strong><br />

Ende. Er <strong>hatte</strong> seine Pfl<strong>ich</strong>t erfüllt, war <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Gefangennahme aus <strong>der</strong> Wehrmacht<br />

entlassen. Ein „Weiterkommen 44<br />

war im Zusammenhang des <strong>Krieg</strong>sgeschehens<br />

n<strong>ich</strong>t <strong>mehr</strong> mögl<strong>ich</strong>, und so wollte er jetzt wie<strong>der</strong> nach Hause ins zivile<br />

Leben.<br />

Im Zusammenhang <strong>mit</strong> den Reparationsleistungen an Belgien wurde er jedoch<br />

<strong>zu</strong>nächst <strong>zu</strong>m Einsatz in einer Kohlengrube vom amerikanischen Militär<br />

an belgische Behörden übergeben. Mit einem Trick gelang es ihm jedoch, in<br />

seinem alten Beruf als Koch arbeiten <strong>zu</strong> können: Er gab s<strong>ich</strong> <strong>mit</strong> einer dicken<br />

210


Brille als sehbehin<strong>der</strong>t aus und stieg <strong>zu</strong>m Koch des belgischen Offizierskasinos<br />

auf. Es ging ihm hervorragend:<br />

„und hab dann auch die belgische Uniform gehabt und dann bedient und hab das belgische Kasino<br />

voll und ganz verwaltet, <strong>ich</strong> <strong>hatte</strong> also so viel Geld <strong>ich</strong> hätte <strong>mit</strong> dem Zug heimfahren können,<br />

war dann auch frei, ging auch einkaufen wir <strong>hatte</strong>n dann auch en sehr schönes Leben**<br />

(89/22)<br />

Er kommt <strong>zu</strong>nehmend in Kontakt <strong>mit</strong> <strong>der</strong> belgischen Zivilbevölkerung, und<br />

ähnl<strong>ich</strong>, wie er die ihm von Menschen jüdischen Glaubens entgegengebrachte<br />

Sympathie als Entlastung benötigt, argumentiert er auch hier:<br />

„was man denn in in Filmen die Nachkriegsfilme die man da gehabt hat SS Kin<strong>der</strong> erschlagen<br />

und totmachen und alles zeigte man ja denn immer ne, wurde ja immer solche Filme eh, <strong>hatte</strong> man<br />

sie en bißchen aufgehetzt und s<strong>ich</strong>er, den den es überfallen wurden <strong>der</strong> würd vielle<strong>ich</strong>t genauso<br />

denken, aber dann merkt man hier sind also keine Deutschen son<strong>der</strong>n hier sind Menschen und eh,<br />

das war dann wirkl<strong>ich</strong> ganz phantastisches Verhältnis*' (92 /12)<br />

Von den Deutschen verfolgte Menschen dienen Herrn Acka als Entlastungszeugen,<br />

die die Menschl<strong>ich</strong>keit <strong>der</strong> Deutschen beweisen: Wenn verfolgte<br />

Menschen ihm Sympathie entgegenbringen, kann er ja kein Verbrecher sein.<br />

Die Verfolgten des Nationalsozialismus haben also in dieser Argumentationsfigur<br />

die Funktion, diejenigen, die auf Seiten <strong>der</strong> Verfolger standen, <strong>zu</strong> entlasten.<br />

Je<strong>der</strong> Überlebende ist ein Beweis dafür, daß n<strong>ich</strong>t alle umgebracht wurden,<br />

und kann da<strong>mit</strong> bezeugen, daß es — folgl<strong>ich</strong> — menschl<strong>ich</strong>e Deutsche<br />

gibt. So war es für Herrn Acka ja auch w<strong>ich</strong>tig, daraufhin<strong>zu</strong>weisen, daß es in<br />

Polen „noch Juden gegeben hätte". Und obwohl die Belgier „aufgehetzt 41<br />

worden<br />

seien, hätten sie die Menschl<strong>ich</strong>keit <strong>der</strong> Deutschen erkannt.<br />

Zwar ging es ihm gut, er <strong>hatte</strong> freundschaftl<strong>ich</strong>e Kontakte <strong>zu</strong> Belgiern und<br />

ihm wurde wegen <strong>der</strong> schlechten Versorgungslage in Deutschland angeraten<br />

<strong>zu</strong> bleiben, dennoch zog es ihn nach Hause: „<strong>ich</strong> wollte ganz frei sein". Nach<br />

seiner Entlassung aus <strong>der</strong> <strong>Krieg</strong>sgefangenschan im Jahre 1947 fuhr er <strong>zu</strong> <strong>der</strong><br />

Familie seines Bru<strong>der</strong>s nach Westdeutschland und begab s<strong>ich</strong> dort auf Arbeitssuche.<br />

Zunächst arbeitete er in einer Gaststätte, bewarb s<strong>ich</strong> dann bei <strong>der</strong> britischen<br />

Besat<strong>zu</strong>ngsmacht und erhielt erneut eine Stelle in einem Offizierskasino.<br />

Später wurde er privat von einem englischen Offizier angestellt. 1947,<br />

dem Jahr seiner Rückkehr nach Deutschland, heiratete <strong>der</strong> nun 26jährige.<br />

Über seine weitere berufl<strong>ich</strong>e Laufbahn ist uns n<strong>ich</strong>ts bekannt. Erwähnenswert<br />

ist nur noch, daß er gewisse Probleme da<strong>mit</strong> hat, nach <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>bewaffnung<br />

<strong>der</strong> Bundesrepublik n<strong>ich</strong>t als Berufssoldat, als Flieger, <strong>zu</strong>r Bundeswehr<br />

gekommen <strong>zu</strong> sein.<br />

4.2.5 Biographische Verarbeitung <strong>der</strong> Verstrickung in die NS-Verbrechen<br />

Es ist bisher deutl<strong>ich</strong> geworden, daß in Herrn Ackas Auseinan<strong>der</strong>set<strong>zu</strong>ng<br />

<strong>mit</strong> dem „Dritten Re<strong>ich</strong>" die nationalsozialistischen Verbrechen von zentraler<br />

211


Bedeutung sind. Für ihn bedarf <strong>der</strong> Verwaltungsmassenmord, insbeson<strong>der</strong>e<br />

die Ermordung <strong>der</strong> jüdischen Bevölkerung, einer Auslegung, da er s<strong>ich</strong> in<br />

diese Verbrechen verstrickt fühlt. Im folgenden möchten wir <strong>zu</strong>sammenfassend<br />

diskutieren, wie er versucht, s<strong>ich</strong> aus diesen Verstrickungen <strong>zu</strong> lösen.<br />

Welche Rechtfertigungsstrategien verwendet er, welche Reparaturen nimmt er<br />

bei <strong>der</strong> Rekonstruktion seiner Biographie vor?<br />

Seine Rechtfertigungsstrategien konzentrieren s<strong>ich</strong> auf Entlastung durch die<br />

Verfolgten des NS, Schuldabweisung an die jüdische Bevölkerung, Subsumierung<br />

<strong>der</strong> Verbrechen unter die <strong>Krieg</strong>ssituation, Abschiebung <strong>der</strong> Verantwortung<br />

an seine Sozialisationsbedingungen und Sühne durch die <strong>Krieg</strong>sverbrecherprozesse<br />

in Nürnberg.<br />

Inwiefern ihm die von Angehörigen <strong>der</strong> jüdischen Bevölkerung sowie von<br />

Belgiern entgegengebrachte Sympathie als Entlastung dient, haben wir bereits<br />

diskutiert. Es handelt s<strong>ich</strong> hierbei um eine in <strong>der</strong> deutschen Bevölkerung n<strong>ich</strong>t<br />

beson<strong>der</strong>s verbreitete Argumentationsfigur. Zwar weisen die Zeitzeugen in ihren<br />

Erzählungen sehr häufig daraufhin, daß sie Juden gekannt haben, erzählen<br />

von Juden, <strong>mit</strong> denen sie befreundet waren, bei denen sie eingekauft haben<br />

etc., doch da<strong>mit</strong> wollen sie belegen, daß sie keine Antise<strong>mit</strong>en waren und den<br />

Kontakt <strong>mit</strong> den Verfemten n<strong>ich</strong>t scheuten. Diese, in <strong>der</strong> biographischen Vergangenheit<br />

„aufgestöberten" jüdischen Menschen haben die Funktion eines<br />

Alibis; sie belegen die Sympathie, die die Erzähler den Juden vermeintl<strong>ich</strong><br />

entgegen gebracht <strong>hatte</strong>n. Herr Acka hingegen benötigt die Begegnungen <strong>mit</strong><br />

jüdischen Menschen im umgekehrten Sinne: Er will belegen, daß gerade Juden<br />

den Kontakt <strong>mit</strong> ihm, <strong>der</strong> auf <strong>der</strong> Seite <strong>der</strong> Verfolger stand, n<strong>ich</strong>t scheuten,<br />

ihm sogar Sympathie entgegenbrachten. Man könnte vermuten, daß für Herrn<br />

Acka — im Unterschied <strong>zu</strong> den Zeitzeugen, die aus <strong>der</strong> Gegenwartsperpektive<br />

einer problematischen Vergangenheit ihren Philose<strong>mit</strong>ismus belegen wollen<br />

— die Begegnungen <strong>mit</strong> Juden schon in <strong>der</strong> Vergangenheit biographische Relevanz<br />

<strong>hatte</strong>n. Vielle<strong>ich</strong>t gehörte Herr Acka <strong>zu</strong> denjenigen, die antise<strong>mit</strong>isch<br />

eingestellt waren, die Verfolgung <strong>der</strong> jüdischen Bevölkerung auch n<strong>ich</strong>t ablehnten<br />

und eventuell auch selbst daran beteiligt waren, jedoch <strong>zu</strong>r Aufrechterhaltung<br />

ihrer Moralität einem jüdischen Menschen halfen. Auf diese „paradoxe<br />

Moralität 44<br />

(Bar-On) verwies schon <strong>der</strong> „Re<strong>ich</strong>sführer <strong>der</strong> SS" Heinr<strong>ich</strong><br />

Himmler in seiner Ansprache in Posen 1943, in <strong>der</strong> er meinte, daß die Zahl <strong>der</strong><br />

„eigenen anständigen Juden 44 , denen man helfen wollte, weit größer sei als die<br />

gesamte jüdische Bevölkerung (S<strong>mit</strong>h, Peterson 1974: 169).<br />

Dies würde bedeuten, daß Herr Acka n<strong>ich</strong>t erst heute seine Vergangenheit<br />

nach Erlebnissen <strong>mit</strong> Juden durchstöbert, son<strong>der</strong>n diese Begegnungen und<br />

insbeson<strong>der</strong>e seine Fluchthilfen schon damals von beson<strong>der</strong>er Bedeutung fur<br />

ihn waren.<br />

Während Herr Acka seine Lebensgesch<strong>ich</strong>te <strong>mit</strong> diesen Erlebnissen „auffüllt<br />

44 , entleert er sie dagegen von all jenen Erlebnissen, bei denen er an <strong>der</strong><br />

Verfolgung und Vern<strong>ich</strong>tung <strong>der</strong> jüdischen Bevölkerung beteiligt war. Be-<br />

212


stimmten vermutl<strong>ich</strong> damals die Verfolgungen seinen Alltag — <strong>zu</strong> denken sei<br />

nur an die Aussage „überall wo wir hin<strong>kam</strong>en, wurden die in Ghettos gemacht<br />

44<br />

—, so blendet er sie heute aus seiner Erinnerung aus. Herr Acka repariert<br />

also seine <strong>zu</strong>m Problem gewordene Vergangenheit <strong>mit</strong> Hilfe von thematischen<br />

Ausblendungen respektive Einblendungen von Erlebnissen.<br />

Wie ausgeprägt sein Antise<strong>mit</strong>ismus war und ist, können wir dem Interview<br />

n<strong>ich</strong>t entnehmen. Im folgenden Zitat, bei dem es um den jüdischen Namen <strong>der</strong><br />

Projektleiterin geht, werden seine Ressentiments spürbar. Er geht soweit, daß<br />

er den Juden auch noch eine Mitschuld <strong>zu</strong>schreibt:<br />

Herr Acka: „Rosenthal ist das en Jude (2)<br />

I: mhm, nein<br />

Frau Acka: ((lacht))<br />

Herr Acka: na das is n<strong>ich</strong> schlimm eh<br />

I: hm<br />

Herr Acka: das is is is gar n<strong>ich</strong> schlimm, <strong>ich</strong> sage ja <strong>ich</strong> <strong>ich</strong>-, kann vielle<strong>ich</strong>t sagen <strong>ich</strong> (2) hab<br />

keine Beziehung <strong>zu</strong>m Bayern, so hab <strong>ich</strong> keine Beziehung <strong>zu</strong>m Juden ,is ja auch selber schuld <strong>der</strong><br />

Jude 4 , ne, das is ne an<strong>der</strong>e Gesch<strong>ich</strong>te ABER ABER <strong>ich</strong> <strong>ich</strong> meine des- des- wegen, es es- <strong>ich</strong><br />

finde es dumm daß man das n<strong>ich</strong> sagen darf' (69/40)<br />

Mit <strong>der</strong> Schuldabweisung an die Juden fühlt er s<strong>ich</strong> jedoch n<strong>ich</strong>t entlastet;<br />

er bedarf weiterer Argumente, um sein eigenes Handeln <strong>zu</strong> rechtfertigen.<br />

Wie<strong>der</strong>holt meint er, daß es für den Soldaten „kein Aussteigen gegeben hätte* 4 .<br />

In diesem Zusammenhang argumentiert er:<br />

„wenn sie weiterkommen wolln und <strong>ich</strong> wollte ja weiterkommen, und n<strong>ich</strong>t nur alleine wegen<br />

Weiterkommen <strong>ich</strong> konnte ja aus diesem Verband aus <strong>der</strong> Uniform n<strong>ich</strong>t heraus .. Sic können ledigl<strong>ich</strong><br />

das noch verbessern, daß Sie irgendwie ne bessere o<strong>der</strong> ne an<strong>der</strong>e Position harn" (114/40)<br />

Mit dieser Aussage ist jedoch auch das entscheidende Motiv seines biographischen<br />

Werdegangs angesprochen: Das Streben nach einem berufl<strong>ich</strong>en und<br />

sozialen Aufstieg <strong>hatte</strong> schon seine Teilnahme an den Veranstaltungen <strong>der</strong> <strong>Hitler</strong>jugend<br />

motiviert, ebenso seinen Eintritt in die SA. Es war we<strong>der</strong> Spaß und<br />

Freude an den Aktivitäten <strong>der</strong> NS-Organisationen, noch war es die Identifikation<br />

<strong>mit</strong> <strong>der</strong> nationalsozialistischen Weltanschauung, die seinen biographischen<br />

Werdegang in den NS-Organisationen bestimmte. Viel<strong>mehr</strong> trieb ihn<br />

<strong>der</strong> Wunsch nach sozialem Aufstieg und berufl<strong>ich</strong>em Weiterkommen an und<br />

motivierte seine beflissene Pfl<strong>ich</strong>terfüllung. Dieses Weiterkommen bestimmte<br />

auch sein Handeln während des <strong>Krieg</strong>es; auch hier <strong>hatte</strong> er s<strong>ich</strong> beflissen<br />

im Dienste seines Aufstiegs an bestimmten Aktivitäten, um es ganz<br />

neutral <strong>zu</strong> formulieren, beteiligt. Vielle<strong>ich</strong>t <strong>hatte</strong> er s<strong>ich</strong>, wie auch schon <strong>zu</strong>r<br />

SA, <strong>zu</strong>m Einsatz an die Ostfront bzw. <strong>zu</strong> irgendeiner Son<strong>der</strong>einheit freiwillig<br />

gemeldet, weil er zwar weiterkommen, jedoch n<strong>ich</strong>t den Heldentod an <strong>der</strong><br />

Front sterben wollte.<br />

Prekär an dem Bemühen um seinen Aufstieg ist heute, daß dieser mißlang.<br />

Sein Einlassen auf die Verbrechen in <strong>der</strong> Sowjetunion hat s<strong>ich</strong> we<strong>der</strong> für seine<br />

Laufbahn gelohnt, noch konnte ein deutscher Endsieg die Verbrechen als Mit-<br />

213


tel <strong>zu</strong>m Sieg rechtfertigen. Seine gescheiterte Fliegerlaufbahn, die ihn vermutl<strong>ich</strong><br />

schon während des <strong>Krieg</strong>es in seinem Selbstwertgefühl kränkte, ist unter<br />

dieser Perspektive noch problematischer. Um <strong>der</strong> Sinnlosigkeit seines freiwilligen<br />

Einsatzes in Rumänien und in <strong>der</strong> SU n<strong>ich</strong>t ins Auge sehen <strong>zu</strong> müssen, muß<br />

er auch das Scheitern seiner militärischen Laufbahn verschleiern. Auch nach<br />

dem <strong>Krieg</strong> hat s<strong>ich</strong> seine beflissene Pfl<strong>ich</strong>terfüllung in den <strong>Krieg</strong>sjahren n<strong>ich</strong>t<br />

ausgezahlt; er <strong>kam</strong> n<strong>ich</strong>t als Flugzeugführer <strong>zu</strong>r Bundeswehr.<br />

Mit dem Eingeständnis, daß er s<strong>ich</strong> um Erfolg bemühte, gesteht Herr Acka<br />

eine eigene „Mitwirkung" ein. Da<strong>mit</strong> entkräftet er in gewisser Weise sein Argument,<br />

daß man hineingezwungen wurde. Er kann also n<strong>ich</strong>t alles dem durch<br />

die äußeren Verhältnisse auferlegten Zwang <strong>zu</strong>schreiben und führt den eigenen<br />

Anteil auf seine Sozialisation <strong>zu</strong>rück:<br />

„wir sind praktischerweise in diese Sache hineingeboren, deswegen kommt eben das Gott sei<br />

Dank es ist wie<strong>der</strong> da — daß natürl<strong>ich</strong> Kin<strong>der</strong> o<strong>der</strong> was das tut jedem leid das muß auch jeden<br />

jeden alten un un und noch so harten Soldaten das will keiner, das könnte kein Mensch sein"<br />

(121/4)<br />

Trotz dieser Sozialisation gibt es noch etwas, das auch jedem noch so harten<br />

Soldaten leid tun muß. Wie an an<strong>der</strong>en Stellen deutl<strong>ich</strong> wurde, geschah für<br />

Herrn Acka <strong>der</strong> legitimationsbedürftige Mord an Wehrlosen, an Kin<strong>der</strong>n und<br />

alten Menschen, vornehml<strong>ich</strong> in den KZs des Re<strong>ich</strong>sgebietes, und dies hat fur<br />

ihn n<strong>ich</strong>ts <strong>mit</strong> dem <strong>zu</strong> tun, was er persönl<strong>ich</strong> erlebt hat. Viel<strong>mehr</strong> subsumiert<br />

er die Verbrechen, <strong>mit</strong> denen er selbst konfrontiert war, die er <strong>mit</strong>erlebt hat,<br />

unter <strong>Krieg</strong>shandlungen, die überall auf <strong>der</strong> Welt von je<strong>der</strong> Nation begangen<br />

würden. Dieses Argumentationsmuster, die Normalisierung <strong>der</strong> NS-<br />

Verbrechen durch die Subsumierung unter das <strong>Krieg</strong>sgeschehen, findet auch<br />

seinen Nie<strong>der</strong>schlag in <strong>der</strong> Lebensgesch<strong>ich</strong>te von Herrn Acka. So war es ihm<br />

in seiner Erzählung ein Anliegen, die SA-Zeit nur <strong>zu</strong> streifen und schnell <strong>zu</strong>m<br />

<strong>Krieg</strong>seinsatz über<strong>zu</strong>leiten. Er fühlte s<strong>ich</strong> sowohl in <strong>der</strong> Gesprächssituation<br />

als auch in seiner Vergangenheitsrekonstruktion darüber erle<strong>ich</strong>tert, daß <strong>mit</strong><br />

dem <strong>Krieg</strong>seinsatz die SA-Zeit „erledigt" war. Dadurch entsteht die merkwürdige<br />

Situation, daß er noch eher über die Zeit, in <strong>der</strong> er wohl am meisten<br />

in die NS-Verbrechen verstrickt war, erzählt als über die in seinen Augen stärker<br />

nationalsozialistische Vergangenheit davor. Der Zweite Weltkrieg und die<br />

deutschen militärischen Institutionen, die Wehrmacht und die SS, werden dagegen<br />

als etwas betrachtet, das <strong>mit</strong> dem NS n<strong>ich</strong>ts <strong>zu</strong> tun hat und vergle<strong>ich</strong>bar<br />

<strong>mit</strong> jedem an<strong>der</strong>en <strong>Krieg</strong> und je<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Armee ist.<br />

Verwerfl<strong>ich</strong> und n<strong>ich</strong>t unter „normale" <strong>Krieg</strong>shandlungen subsumierbar<br />

bleibt für Herrn Acka <strong>der</strong> Mord in den Konzentrationslagern in Deutschland.<br />

So gelingt es ihm auch n<strong>ich</strong>t, s<strong>ich</strong> völlig frei von Schuld <strong>zu</strong> fühlen. Dies wird<br />

an einer Stelle im Interview manifest:<br />

„<strong>ich</strong> würde <strong>zu</strong>m Beispiel nie nach Israel gehn NIE, ,<strong>ich</strong> könnte den Leuten n<strong>ich</strong>t in die Augen<br />

gucken was wir getan harn' diese Schande da und könnte sagen <strong>ich</strong> bin doch Deutscher und da sagt<br />

214


er wie alt ist <strong>der</strong> denn ... was da geschehen is das is- <strong>ich</strong> schäm m<strong>ich</strong> schon da<strong>mit</strong> aber .man muß,<br />

muß man n<strong>ich</strong>t immer jetzt eh eh, immer noch auf dem —, s<strong>ich</strong>er auf den Alten o<strong>der</strong>* Deutschen<br />

vergessen kann man das nie (4) denn das war etwas, man kann man kann <strong>Krieg</strong>sschaden, machen<br />

die n<strong>ich</strong>t sein mußten aber, aber Zivilisten und und alles .das is* (2) das was <strong>ich</strong> eingangs sagte<br />

.wenn man so Partisanen o<strong>der</strong> so irgendwas, das is ne Ordnung und Ordnung herstellen Bekannter<br />

von uns <strong>der</strong> hat ne Maus auf dem Dach die fangt er und die schafft er immer in den Garten raus<br />

und die kommt immer wie<strong>der</strong>* sacht totmachen kann <strong>ich</strong> se n<strong>ich</strong> is doch herrl<strong>ich</strong> ((lacht)) (114/30)<br />

Es handelt s<strong>ich</strong> hier um die einzige Stelle im Interview, an <strong>der</strong> er ansatzweise<br />

von einem Gefühl, das er im Zusammenhang <strong>mit</strong> dem Völkermord hat,<br />

von Scham, spr<strong>ich</strong>t. Diesem Gefühl will er s<strong>ich</strong> jedoch erst gar n<strong>ich</strong>t aussetzen,<br />

und deshalb will er n<strong>ich</strong>t nach Israel fahren. Auch im Interview möchte<br />

er schnell wie<strong>der</strong> von diesem Gefühl wegkommen; dies gelingt ihm <strong>mit</strong> <strong>der</strong><br />

für ihn belustigenden Gesch<strong>ich</strong>te von <strong>der</strong> Rettung einer Maus.<br />

Zwar spr<strong>ich</strong>t er hier von Scham, doch weist er an an<strong>der</strong>er Stelle Schuld von<br />

s<strong>ich</strong>:<br />

„und daß daß WIR beschuldigt worden sind, meine auch HEUTE laß <strong>ich</strong> auch nix <strong>mehr</strong> auf uns<br />

kommen <strong>ich</strong> laß m<strong>ich</strong> auch heute n<strong>ich</strong>t <strong>mehr</strong> beschuldigen eh in Nürnberg sind wir bestraft worden,<br />

dafür da hat man die gehangen und da hat man viel <strong>zu</strong> wenig gehangen, aber man hat es vergessen<br />

die nächsten die nächsten die <strong>Krieg</strong> gemacht <strong>hatte</strong>n wie<strong>der</strong> <strong>zu</strong> hängen" (8 / 25)<br />

Mit <strong>der</strong> Bestrafung in Nürnberg ist die Schuld, die auf „uns 41<br />

und ihm lastet,<br />

gesühnt worden. Hier kann man s<strong>ich</strong> fragen, wen Herr Acka <strong>mit</strong> „wir" meint,<br />

ob die Deutschen allgemein o<strong>der</strong> die Einsatzgruppen, die im Nürnberger Prozeß<br />

<strong>zu</strong> einer verbrecherischen Organisation erklärt wurden. Jedenfalls ist auch<br />

das Kollektiv, dem er angehört, bestraft worden, und so muß er s<strong>ich</strong> heute n<strong>ich</strong>t<br />

<strong>mehr</strong> beschuldigen lassen. Außerdem haben die Deutschen bewiesen, <strong>zu</strong> welchen<br />

Leistungen sie fähig sind. Herr Acka schwärmt von <strong>der</strong> Aufbauleistung<br />

<strong>der</strong> Deutschen in den Nachkriegsjahren, die etwas Pionierartiges gewesen sei,<br />

das wohl kein an<strong>der</strong>es Volk so „präzise gebracht hätte". Haben die Deutschen<br />

ihre Leistungsfähigkeit zwar im <strong>Krieg</strong> n<strong>ich</strong>t beweisen können, so wenigstens in<br />

<strong>der</strong> Nachkriegszeit. Auch diese Argumentation hat ihren biographischen Hintergrund:<br />

den <strong>der</strong> eigenen gescheiterten Karriere während des <strong>Krieg</strong>es.<br />

Bei <strong>der</strong> Analyse dieser Lebensgesch<strong>ich</strong>te ist sehr deutl<strong>ich</strong> geworden, wie entscheidend<br />

die biographische Dimensionierung für die Rekonstruktion von<br />

Rechtfertigungsstrategien, von Deutungsmustern ist. Erst vor dem Hintergrund<br />

<strong>der</strong> Lebensgesch<strong>ich</strong>te, <strong>der</strong> biographischen Relevanz von Argumentationen,<br />

werden diese verstehbar und wird ihre Funktion für den Biographen deutl<strong>ich</strong>.<br />

Anmerkung<br />

1 „Im April 1933 erließ die NSDAP eine Mitglie<strong>der</strong>sperre, die 1937 durch Anordnung des<br />

Stellvertreters des Führers dahingehend geän<strong>der</strong>t wurde, daß Bewerber nach einer zweijährigen<br />

Parteianwarterschaft Partei<strong>mit</strong>glied, Pg, werden konnten. Im Mai 1939 wurde auch diese<br />

Bedingung aufgehoben" (Kammer/Bartsch 1982:13). Die Anwärterschaft wäre für Herrn<br />

Acka auch aufgrund seiner jahrelangen Mitgliedschaft in <strong>der</strong> <strong>Hitler</strong>jugend entfallen.<br />

215


Gabriele<br />

Rosenthal<br />

4.3 Das Enthüllungsverbot fur erlebte NS-Verbrechen<br />

Mindestens zwei unserer männl<strong>ich</strong>en Befragten, Dieter Acka und Walter<br />

Langenbach, waren Zeugen von Massenerschießungen während des Zweiten<br />

Weltkrieges. Während des Gesprächs wurde ihre Zeugenschaft von den Interviewern<br />

bemerkenswerterweise n<strong>ich</strong>t direkt erkannt; erst die Textanalyse <strong>der</strong><br />

Interviews brachte dies <strong>zu</strong>tage. Bei beiden Männern bleibt die erzählte Realität<br />

<strong>mehr</strong>deutig. Inwieweit sie in die Verbrechen verstrickt waren, inwiefern<br />

Dieter Acka an Massenerschießungen in <strong>der</strong> Sowjetunion teilgenommen hat<br />

und inwiefern Walter Langenbach in die Geiselerschießungen in Jugoslawien<br />

verwickelt war, bleibt im Dunkeln. Offens<strong>ich</strong>tl<strong>ich</strong> ist, daß diese Männer s<strong>ich</strong><br />

in ihren Aussagen wi<strong>der</strong>sprechen. Dem Schritt in <strong>der</strong> Enthüllung nach vorne<br />

folgen sogle<strong>ich</strong> zwei Schritte <strong>zu</strong>rück. Erinnern wir uns beispielsweise an Walter<br />

Langenbach. Er offenbart im zweiten Interview: „Ich habe Massenerschießungen<br />

gesehen, n<strong>ich</strong>t <strong>mit</strong>gemacht." Danach gefragt, was er „gesehen"<br />

habe, nimmt er seine Äußerung <strong>zu</strong>rück: Er habe sie n<strong>ich</strong>t selbst gesehen,<br />

son<strong>der</strong>n habe von den Erschießungen nur erzählt bekommen. Doch lassen wir<br />

die Frage nach dem Ausmaß <strong>der</strong> Beteiligung dieser beiden Männer dahingestellt.<br />

Viel interessanter ist das Phänomen, daß einerseits die Zeugen <strong>der</strong> NS-<br />

Verbrechen nur <strong>zu</strong> Teilenthüllungen in <strong>der</strong> Lage waren und daß an<strong>der</strong>erseits<br />

diese Teile von den Zuhörern n<strong>ich</strong>t einmal in ihrer Bedeutung erkannt wurden.<br />

Dieses Phänomen beschränkt s<strong>ich</strong> n<strong>ich</strong>t nur auf die beiden Gespräche,<br />

n<strong>ich</strong>t nur auf diese beiden Zeitzeugen und die vier jungen Interviewer und Interviewerinnen,<br />

die schon <strong>zu</strong>r Generation <strong>der</strong> Enkel gehören. Es ist ein Phänomen,<br />

das in <strong>der</strong> Interaktion zwischen Angehörigen aller Generationen und<br />

zwischen den unterschiedl<strong>ich</strong>sten Zeugen auftritt. Alle Menschen, die <strong>zu</strong> jener<br />

Zeit gelebt haben, waren Zeugen <strong>der</strong> Verfolgungspolitik des „Dritten Re<strong>ich</strong>es".<br />

Sie waren zwar n<strong>ich</strong>t alle in demselben Ausmaß wie Dieter Acka und<br />

Walter Langenbach da<strong>mit</strong> konfrontiert, doch sie erlebten alle den „alltägl<strong>ich</strong>en"<br />

Terror des Nationalsozialismus. Wenn die Zeitzeugen immer wie<strong>der</strong><br />

beteuern, sie hätten „von n<strong>ich</strong>ts gewußt", meinen sie da<strong>mit</strong> meist nur den fabrikationsmäßigen<br />

Massenmord in den Konzentrationslagern und blenden da<strong>mit</strong><br />

den un<strong>mit</strong>telbar erlebten Terror gegen die vom NS verfolgten Menschen<br />

und Bevölkerungsgruppen aus.<br />

Im folgenden will <strong>ich</strong> anhand <strong>der</strong> beiden von uns analysierten Gespräche<br />

versuchen, diesem Phänomen des gemeinsamen Vermeidens einer Konfrontation<br />

<strong>mit</strong> <strong>der</strong> ganzen Realität <strong>der</strong> Vergangenheit, diesem Phänomen <strong>der</strong> interaktiven<br />

Herstellung eines grauen Schleiers <strong>zu</strong>r Verhüllung <strong>der</strong> Vergangenheit auf<br />

die Spur <strong>zu</strong> kommen.<br />

216


Vergegenwärtigen wir uns: Beiden Gesprächspartnern war es f<br />

wie die Analyse<br />

gezeigt hat, ein Bedürfnis, über ihre problematischen Erlebnisse <strong>zu</strong> sprechen.<br />

Beide haben s<strong>ich</strong> auf unser Zeitungsinserat gemeldet und <strong>zu</strong> einem Interview<br />

bereit erklärt, weil sie s<strong>ich</strong> von etwas Belastendem befreien wollten.<br />

Diesem Bedürfnis konnten sie zwar n<strong>ich</strong>t direkt Ausdruck geben, doch es zog<br />

s<strong>ich</strong> latent durch beide Gespräche. Während s<strong>ich</strong> Herr Langenbach seines<br />

Mitteilungswunsches bewußt war, <strong>hatte</strong> Herr Acka vermutl<strong>ich</strong> über seine Intention<br />

<strong>zu</strong>r Aufnahme des Gesprächskontaktes keine klare Vorstellung. Er<br />

fürchtete auch stärker als Herr Langenbach eine Enthüllung; so war er trotz<br />

vorheriger Absprache am Telefon beim Gesprächstermin nur schwer <strong>zu</strong>r Zustimmung<br />

<strong>zu</strong> einer Tonbandaufnahme <strong>zu</strong> bewegen, und er verweigerte uns die<br />

Sozialdaten, die wir jeweils am Ende <strong>der</strong> Gespräche erheben. Doch auch ihn<br />

bedrückt etwas. Es bedrückt ihn „das Mieseste was <strong>ich</strong> da geleistet habe* 4 , auf<br />

das er schon vor <strong>der</strong> Tonbandaufnahme hinwies, und so enthüllte er trotz seiner<br />

Furcht die <strong>mehr</strong>deutige Gesch<strong>ich</strong>te seiner Abkommandierung <strong>zu</strong> einer<br />

Massenerschießung. Er wird darauf vertraut haben, die Version, daß eine<br />

Krankmeldung ihn schließl<strong>ich</strong> von <strong>der</strong> Ausführung des Befehls bewahrt hätte,<br />

plausibel und glaubhaft darstellen <strong>zu</strong> können.<br />

Auffallend an seinen Darstellungen ist, daß s<strong>ich</strong> das für ihn Belastende auf<br />

ein herausragendes Erlebnis beschränkt. Obwohl er schon in Rumänien <strong>mit</strong><br />

den Vertreibungen und dem Völkermord konfrontiert war, stellt er die Erlebnisse<br />

aus dieser Zeit in seiner Erzählung n<strong>ich</strong>t als ihn belastende o<strong>der</strong> bedrückende<br />

dar.<br />

Dieter Acka blendet sein eigenes Handeln in diesem Themenkreis aus bzw.<br />

verschleiert es. Ähnl<strong>ich</strong> verhält es s<strong>ich</strong> bei Walter Langenbach. Auch von ihm<br />

erfahren wir n<strong>ich</strong>t, was er getan hat, in welcher Funktion er s<strong>ich</strong> in dem Konzentrationslager<br />

in Serbien befand, und vor allem n<strong>ich</strong>t, was er selbst gesehen<br />

hat und was n<strong>ich</strong>t.<br />

Wir vermuten also, daß beide Männer nur Ausschnitte aus ihrer Vergangenheit<br />

erzählen und das eigentl<strong>ich</strong> Belastende aus ihrer Erinnerung ausblenden.<br />

Es drängt s<strong>ich</strong> <strong>der</strong> Gedanke auf, daß das als belastend Erzählte gerade n<strong>ich</strong>t<br />

das Belastende ist. Vielle<strong>ich</strong>t hat Dieter Acka in einer an<strong>der</strong>en Situation „das<br />

Mieseste geleistet* 4 , während er s<strong>ich</strong> bei <strong>der</strong> erzählten Situation tatsächl<strong>ich</strong> erfolgre<strong>ich</strong><br />

krankgemeldet hat. Bei Walter Langenbach nahmen wir ja bereits<br />

an, daß sein Verstricktsein <strong>mit</strong> Tätigkeiten vor den Massenexekutionen <strong>zu</strong>sammenhängt,<br />

von denen er n<strong>ich</strong>ts erwähnt.<br />

Weiterhin ist diesen Männern gemeinsam, daß sie s<strong>ich</strong> zwar beide <strong>mit</strong> ihren<br />

Teilerinnerungen beschäftigen, auch unter ihnen leiden, doch bei <strong>der</strong> Erzählung<br />

dieser Erlebnisse keine direkte emotionale Beteiligung s<strong>ich</strong>tbar wird. Sie<br />

zeigen eine gewisse Empfindungslosigkeit, die Robert Lifton (1988) auch bei<br />

NS-Ärzten feststellte. Die gesamte Erzählung von Dieter Acka ist von dieser<br />

Empfindungslosigkeit durchzogen; er zeigt we<strong>der</strong> Trauer über das selbst erlittene<br />

Leid, noch trauert er über das Schicksal <strong>der</strong> verfolgten und ermordeten<br />

217


Menschen. Bei Walter Langenbach werden dagegen eine tiefe Traurigkeit und<br />

starke Aggressionen spürbar. Er trauert und wütet gegen das selbst erlittene<br />

Leid. Er stellt diese Trauer und Wut aber weniger in den Zusammenhang seiner<br />

Erlebnisse in Jugoslawien, son<strong>der</strong>n verschiebt viel<strong>mehr</strong> seine Trauer auf den<br />

Tod des Vaters im Ersten Weltkrieg, und seine Wut entlädt s<strong>ich</strong> bei aktuellen politischen<br />

Themen. Herr Langenbach leidet stärker unter seinen Erlebnissen; er<br />

hält sie s<strong>ich</strong> auch weniger <strong>mit</strong> Rechtfertigungsstrategien vom Leibe. Jahrelang<br />

hat er in Träumen unter dem von ihm Erlebten gelitten und seine Trauer kommt<br />

auch gegen seinen Willen bei <strong>der</strong> Thematisierung seines Vaters in Tränen <strong>zu</strong>m<br />

Vorschein. Diese Trauer macht ihn sehr hilflos, da sie s<strong>ich</strong> vom eigenen Erleben<br />

entfernt hat und von daher für ihn n<strong>ich</strong>t greifbar und verstehbar ist.<br />

Doch beiden Männern ist gemeinsam, daß sie sowohl auf <strong>der</strong> emotionalen<br />

als auch auf <strong>der</strong> kognitiven Ebene kaum Mitleid gegenüber den verfolgten und<br />

ermordeten Menschen zeigen. Es wäre jedoch vermessen <strong>zu</strong> unterstellen, sie<br />

wären im Unterschied <strong>zu</strong> an<strong>der</strong>en ohne moralisches Gewissen und ohne Gefühl<br />

für an<strong>der</strong>e. Auch wenn aufgrund ihrer biographischen Erfahrungen während<br />

des „Dritten Re<strong>ich</strong>es 44 , aufgrund ihrer Verwicklung in die NS-<br />

Verbrechen, bei diesen Männern die Fähigkeit des Mitempfindens, des Mitleidens<br />

<strong>mit</strong> an<strong>der</strong>en Menschen <strong>zu</strong>m Teil zerstört sein mag, so dürften sie s<strong>ich</strong><br />

darin n<strong>ich</strong>t all<strong>zu</strong> wesentl<strong>ich</strong> von an<strong>der</strong>en Zeitzeugen unterscheiden. Ihr paradoxes<br />

Bedürfnis, über ihre Erlebnisse <strong>zu</strong> sprechen und diese gle<strong>ich</strong>zeitig <strong>zu</strong><br />

verschleiern, ist viel<strong>mehr</strong> ein Ze<strong>ich</strong>en dafür, daß sie von ihrem Gewissen geplagt<br />

werden.<br />

Betrachtet man nun die ehemaligen NS-Täter und die Mittäter als zerstörte<br />

Persönl<strong>ich</strong>keiten, die keine moralische Instanz <strong>mehr</strong> besitzen — wie es n<strong>ich</strong>t<br />

nur von Alltagshandelnden, son<strong>der</strong>n auch in den Massenmedien und in <strong>der</strong><br />

wissenschaftl<strong>ich</strong>en Literatur häufig getan wird — vereinfacht man die gleitenden<br />

Übergänge zwischen Zeugen und Tätern, zwischen s<strong>ich</strong> selbst und den an<strong>der</strong>en,<br />

in ein ,Gut-Böse 4<br />

-Schema. Man kann s<strong>ich</strong> in <strong>der</strong> Gewißheit wiegen, die<br />

Täter würden nach an<strong>der</strong>en psychologischen Gesetzmäßigkeiten funktionieren<br />

als man selbst. In Abgren<strong>zu</strong>ng <strong>zu</strong> Konzepten <strong>der</strong> zerstörten Persönl<strong>ich</strong>keit<br />

von NS-Tätern, spr<strong>ich</strong>t <strong>der</strong> israelische Psychologe Dan Bar-On (1987a) von <strong>der</strong><br />

„fóradoxie von Moralität 44 , einer Paradoxic in <strong>der</strong> viele Menschen <strong>mit</strong> den<br />

unterschiedl<strong>ich</strong>sten Problemen leben.<br />

Ban-On geht davon aus, daß es NS-Täter gibt, die zwar eine Eins<strong>ich</strong>t in die<br />

Bedeutung ihrer verbrecherischen Handlungen unterdrücken, jedoch in be<strong>zu</strong>g<br />

auf einzelne Erinnerungen teilweise Schuld bekennen können. Dieses Teil-<br />

Schuldbekenntnis hat die doppelte Funktion, s<strong>ich</strong> selbst gegenüber ein Gefühl<br />

<strong>der</strong> Moralität aufrecht<strong>zu</strong>erhalten und gle<strong>ich</strong>zeitig die volle Eins<strong>ich</strong>t in eigene<br />

Handlungen und Verantwortung <strong>zu</strong> verhin<strong>der</strong>n. Eine solche Eins<strong>ich</strong>t würde<br />

den Zusammenbruch dieser Personen bedeuten. Sie schützen s<strong>ich</strong> vor diesem<br />

völligen psychischen Zusammenbruch, bauen vor s<strong>ich</strong> selbst eine Schutz wand<br />

auf, hinter die sie die meisten Erinnerungen verbannen.<br />

218


Unter diesem Ges<strong>ich</strong>tspunkt können wir auch die <strong>zu</strong>gelassenen Teilerinnerungen<br />

von Walter Langenbach und Dieter Acka betrachten. Sie haben ihre<br />

Erlebnisse n<strong>ich</strong>t völlig verleugnet, thematisieren anhand dieser Erinnerungen<br />

ihre Verstrickung und gestehen da<strong>mit</strong> <strong>zu</strong>mindest eine „Nähe** <strong>zu</strong> den NS-<br />

Verbrechen ein, ohne ihre gesamte Verstrickung <strong>zu</strong> thematisieren. Da<strong>mit</strong> können<br />

sie einen Teil <strong>der</strong> sie quälenden Vergangenheit loswerden, können an diesem<br />

Teil leiden, ohne am Leid über die gesamte Bedeutung ihrer Vergangenheit<br />

<strong>zu</strong> zerbrechen.<br />

In dem Wi<strong>der</strong>spruch zwischen Schuld- und Unschuldsgefühlen leben n<strong>ich</strong>t<br />

nur die „Mittäter** <strong>der</strong> nationalsozialistischen Verbrechen und die aktiven NS-<br />

Täter. Es handelt s<strong>ich</strong> viel<strong>mehr</strong> um einen Wi<strong>der</strong>spruch, <strong>der</strong> die bundesrepublikanische<br />

Wirkl<strong>ich</strong>keit insgesamt kennze<strong>ich</strong>net. Er kommt <strong>zu</strong> Gehör in Äußerungen<br />

wie: „Wir wußten etwas und wußten gle<strong>ich</strong>zeitig n<strong>ich</strong>ts**; „Meine<br />

Verwandten wußten etwas, doch eigentl<strong>ich</strong> wußten sie n<strong>ich</strong>ts**. Mit dem „etwas<br />

wissen** kann man vor s<strong>ich</strong> selbst den Eindruck einer gewissen Glaubwürdigkeit<br />

aufrechterhalten und <strong>mit</strong> dem „N<strong>ich</strong>t-Wissen** wird <strong>der</strong> von einem<br />

selbst als auch <strong>der</strong> von den Familienangehörigen n<strong>ich</strong>t geleistete Wi<strong>der</strong>stand<br />

gegen die Verbrechen sowie die damalige Identifikation <strong>mit</strong> dem NS-System<br />

entschuldigt.<br />

Das Eingeständnis, „etwas <strong>zu</strong> wissen**, erscheint für Zeitzeugen wie Walter<br />

Langenbach und Dieter Acka beson<strong>der</strong>s notwendig. Selbst wenn sie an keinerlei<br />

verbrecherischen Handlungen aktiv teilgenommen haben, waren sie doch<br />

un<strong>mit</strong>telbare Zeugen dieser Verbrechen. Sie können s<strong>ich</strong> n<strong>ich</strong>t so le<strong>ich</strong>t wie<br />

diejenigen, die Tötungsaktionen n<strong>ich</strong>t un<strong>mit</strong>telbar erlebten, <strong>mit</strong> dem N<strong>ich</strong>t-<br />

Wissen beruhigen. Jene konnten im Gegensatz <strong>zu</strong> ihnen Informationen abwehren<br />

o<strong>der</strong> sie als Feindpropaganda begreifen; sie konnten s<strong>ich</strong> <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Vorstellung<br />

besänftigen, die jüdische Bevölkerung käme in Arbeitslager o<strong>der</strong> würde<br />

umgesiedelt. Diese beiden Männer jedoch, die den Massenmord direkt vor<br />

Augen gehabt haben, konnten s<strong>ich</strong> damals wie heute n<strong>ich</strong>t <strong>mit</strong> diesen Argumentationen<br />

beruhigen. Zwar können sie die eigenen Anteile an diesen Verbrechen<br />

verdrängen, doch sie können ihr damaliges Wissen über den Holocaust<br />

n<strong>ich</strong>t leugnen, wollen sie s<strong>ich</strong> n<strong>ich</strong>t ihre Zurechnungsfähigkeit hins<strong>ich</strong>tl<strong>ich</strong><br />

des Realitätsgehalts ihrer Erinnerungen absprechen. Um vor s<strong>ich</strong> selbst<br />

n<strong>ich</strong>t den Eindruck <strong>der</strong> völligen Unaufr<strong>ich</strong>tigkeit <strong>zu</strong> haben, sind sie viel<strong>mehr</strong><br />

von dem Bedürfnis getrieben, wenigstens einen Teil ihrer Vergangenheit <strong>zu</strong><br />

enthüllen.<br />

Doch wie begegnen nun Zuhörer Menschen <strong>mit</strong> dem Bedürfnis nach Teilenthüllungen?<br />

Bei beiden Interviews haben die jeweiligen Interviewer die eventuelle Beteiligung<br />

ihrer Gesprächspartner an den NS-Verbrechen bzw. die Brisanz von<br />

einzelnen Erzählungen n<strong>ich</strong>t bemerkt; sie haben Erzählangebote im Zusammenhang<br />

<strong>mit</strong> NS-Verbrechen n<strong>ich</strong>t angenommen, d.h. sind auch n<strong>ich</strong>t <strong>mit</strong><br />

219


Vertiefungsfragen auf die Ausführungen <strong>der</strong> Gesprächspartner eingegangen.<br />

<strong>Als</strong> die transkribierten Interviews vorlagen und die jeweiligen Interviewer im<br />

Projekt <strong>mit</strong> dem s<strong>ich</strong> aufdrängenden Verdacht einer Teilnahme <strong>der</strong> Männer an<br />

den NS-Verbrechen konfrontiert wurden, löste dies <strong>zu</strong>nächst Entsetzen aus.<br />

Die Interviewer fühlten s<strong>ich</strong> irregeführt, <strong>hatte</strong>n sie doch in den Gesprächen<br />

teilweise Sympathien für die Befragten entwickelt und den Eindruck gehabt,<br />

<strong>mit</strong> „ganz normalen 44<br />

Menschen geredet <strong>zu</strong> haben. Auf das Erkennen einer<br />

weiteren Realitätsebene folgte <strong>zu</strong>nächst die Gegenreaktion: diese „normalen 44<br />

Menschen wurden jetzt in gewisser Weise als „Bestien 44<br />

betrachtet. Man<br />

traute ihnen jetzt alles <strong>zu</strong> und sah in allem und jedem ein Indiz für ihre Beteiligung<br />

an den Verbrechen. Erst nach dem Wie<strong>der</strong>einlassen auf die Lebensgesch<strong>ich</strong>ten<br />

gelang es, diese Tendenz <strong>der</strong> Dämonisierung <strong>der</strong> Befragten <strong>zu</strong> überwinden<br />

und <strong>der</strong> Einteilung <strong>der</strong> Menschheit in zwei Klassen, die Guten und die<br />

Bösen, die N<strong>ich</strong>t-Täter und die Täter, entgegen<strong>zu</strong>treten.<br />

Sowohl das N<strong>ich</strong>t-Hinhören-Wollen in den Interviews als auch die spätere<br />

Dämonisierung <strong>der</strong> Befragten repräsentieren eine Abwehrstrategie, die einen<br />

komplexen Verstehensprozeß <strong>zu</strong> blockiert.<br />

Dan Bar-On (1988a) diskutiert diese Blockade seitens <strong>der</strong> Zuhörer <strong>mit</strong> dem<br />

Konzept <strong>der</strong> „doppelten Wand 44 . Zusätzl<strong>ich</strong> <strong>zu</strong> <strong>der</strong> Barriere <strong>der</strong> Zeitzeugen,<br />

über die Erlebnisse <strong>zu</strong> sprechen, bauen die Zuhörer eine weitere Wand auf.<br />

Die NS-Täter, und wir müssen es allgemeiner fassen: die Zeitzeugen des NS<br />

generell, haben Erinnerungen und Erlebnisse hinter einer Wand verborgen.<br />

Wollen sie sie <strong>zu</strong>m Teil enthüllen, wird von den Zuhörern eine zweite Wand<br />

aufgebaut, die selbst diese Teilenthüllungen n<strong>ich</strong>t durchläßt. Diese zweite<br />

Wand entsteht durch das Dilemma des Zuhörers, <strong>der</strong> einerseits die verbrecherischen,<br />

mör<strong>der</strong>ischen Handlungen versteht und an<strong>der</strong>erseits versucht, Distanz<br />

da<strong>zu</strong> <strong>zu</strong> halten. Diese Distanz wird <strong>mit</strong> dem Aufbau einer Wand auf Kosten<br />

des Verstehens hergestellt. Wenn dann doch Informationen <strong>zu</strong>m Zuhörer<br />

durchdringen, kann <strong>der</strong> Verstehensprozeß, das S<strong>ich</strong>-Einlassen auf den Erzähler,<br />

<strong>mit</strong> <strong>der</strong> Vorstellung überwunden werden, die NS-Täter funktionierten<br />

nach an<strong>der</strong>en psychologischen Gesetzmäßigkeiten als <strong>der</strong> Zuhörer selbst.<br />

Dies bedeutet wie<strong>der</strong>um, daß man n<strong>ich</strong>t genau hinhören darf, da man sonst<br />

Gefahr läuft, die Gemeinsamkeiten zwischen s<strong>ich</strong> selbst und dem Erzähler <strong>zu</strong><br />

entdecken.<br />

Dieses Aufbauen von Schutz wänden, die ständige Reparatur von abbröckelnden<br />

Stellen, ist in <strong>der</strong> Bundesrepublik ein kollektiv geteiltes Bemühen.<br />

Die Enthüllung, selbst Zeugnis über die nationalsozialistische Verfolgungspolitik<br />

ablegen <strong>zu</strong> können und sogar als ganz normaler, unauffälliger<br />

Bürger darin verwickelt <strong>zu</strong> sein, bedroht den in <strong>der</strong> Nachkriegszeit entwickelten<br />

Mythos des Mitläufertums (vgl. M. Mitscherl<strong>ich</strong> 1987: 18ff.). Im Kollektiv<br />

<strong>der</strong> Mitläufer vers<strong>ich</strong>ert man s<strong>ich</strong> gegenseitig, keine Mitschuld am Nationalsozialismus<br />

<strong>zu</strong> haben, „von n<strong>ich</strong>ts gewußt <strong>zu</strong> haben 44<br />

und aufgrund <strong>der</strong> drohenden<br />

Repressalien keine Mögl<strong>ich</strong>keit <strong>zu</strong>r Gegenwehr besessen <strong>zu</strong> haben.<br />

220


Prominente Nazis und NS-Täter ebenso wie Antifaschisten wurden und werden<br />

aus diesem Kollektiv ausgeschlossen, da sie diesen Mythos bedrohen. Die<br />

prominenten Nazis und NS-Täter werden als pathologische Persönl<strong>ich</strong>keiten<br />

ausgegrenzt und müssen die Schuld allein tragen. Aber auch die NS-Gegner,<br />

insbeson<strong>der</strong>e die aktiven Wi<strong>der</strong>standskämpfer, bedrohen die Gewißheit, von<br />

n<strong>ich</strong>ts gewußt <strong>zu</strong> haben. Haben diese Wi<strong>der</strong>standskämpfer obendrein die<br />

Nazi-Zeit überlebt, sind sie im Unterschied <strong>zu</strong> den Hinger<strong>ich</strong>teten darüber<br />

hinaus eine Bedrohung <strong>der</strong> vermeintl<strong>ich</strong>en Gewißheit, daß „man ja n<strong>ich</strong>ts dagegen<br />

tun konnte".<br />

Beginnt nun jemand diesen Mythos <strong>mit</strong> dem Eingeständnis <strong>zu</strong> bedrohen, etwas<br />

selbst gesehen o<strong>der</strong> <strong>mit</strong>gemacht <strong>zu</strong> haben, muß entwe<strong>der</strong> seine Glaubwürdigkeit<br />

infrage gestellt o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Versuch unternommen werden, dieses Eingeständnis<br />

n<strong>ich</strong>t all<strong>zu</strong> deutl<strong>ich</strong> und n<strong>ich</strong>t all<strong>zu</strong> laut <strong>zu</strong> Gehör <strong>zu</strong> bringen. Bei Interviews,<br />

die <strong>ich</strong> <strong>mit</strong> sehr alten Menschen (88- bis 100jährige) führte, erlebte<br />

<strong>ich</strong> diese Versuche immer wie<strong>der</strong>. So wehrten die bei den Gesprächen gelegentl<strong>ich</strong><br />

anwesenden Kin<strong>der</strong> <strong>der</strong> Befragten, meist Angehörige <strong>der</strong><br />

<strong>Hitler</strong>jugend-Generation, häufig energisch den Einsturz <strong>der</strong> Mauern ab, wenn<br />

ihre Eltern, die s<strong>ich</strong> n<strong>ich</strong>t <strong>mehr</strong> so sehr an sozial erwünschten Regeln orientierten,<br />

Erzähltabus brachen. Beispielsweise erzählte mir ein etwa 90jähriger<br />

Mann, er habe als Briefträger im Gestapo-Gefangnis etl<strong>ich</strong>e Grausamkeiten<br />

gegenüber Gefangenen gesehen. Daraufhin versuchten sein Schwiegersohn<br />

und seine Ehefrau vehement, ihn <strong>zu</strong>m Zugeständnis <strong>zu</strong> bewegen, daß er dies<br />

n<strong>ich</strong>t selbst gesehen habe, son<strong>der</strong>n nur davon gehört habe.<br />

Kehren wir <strong>zu</strong>rück <strong>zu</strong> den Lebensgesch<strong>ich</strong>ten von Dieter Acka und Walter<br />

Langenbach. Auch sie werden es schon vor den Interviews immer wie<strong>der</strong> erlebt<br />

haben, daß niemand von ihren belastenden Erinnerungen hören will und<br />

daß sie für den Versuch von Eingeständnissen auch noch sanktioniert werden.<br />

Die von ihren Zuhörern aufgebaute zweite Wand, um diese Metapher weiter<br />

<strong>zu</strong> bemühen, wird ihre eigene Wand in all den Jahren nach dem „Dritten<br />

Re<strong>ich</strong>" weiter zementiert haben. Es ist auch fragwürdig, ob diese Wand überhaupt<br />

noch <strong>zu</strong> durchbrechen ist, selbst wenn sie heute verständnisvolle Zuhörer<br />

finden würden. Bei Herrn Langenbach habe <strong>ich</strong> selbst in einem zweiten Interview<br />

versucht, seine Barrieren <strong>zu</strong> überwinden und ihm <strong>zu</strong>m Erzählen <strong>zu</strong><br />

verhelfen. Ich habe ihn ausführl<strong>ich</strong> <strong>zu</strong> seinen Erlebnissen in Jugoslawien befragt<br />

und stellte ihm auch direkt die Frage, ob er selbst die Massenerschießungen<br />

gesehen habe. Er verneinte das. Er erzählte zwar weit ausführl<strong>ich</strong>er von<br />

seinen Erlebnissen in dieser Zeit, doch die Mehrdeutigkeit in be<strong>zu</strong>g auf seine<br />

eigene Rolle in diesem Geschehen blieb wie beim ersten Gespräch bestehen.<br />

Er konnte wie<strong>der</strong> n<strong>ich</strong>t deutl<strong>ich</strong> machen, was er nun gesehen hat und was<br />

n<strong>ich</strong>t.<br />

Bei manchem Leser wird s<strong>ich</strong> <strong>der</strong> Verdacht regen, wir klagten diese beiden<br />

Männer wegen ihrer Unfähigkeit <strong>zu</strong>m Eingeständnis, wegen ihrer Unfähigkeit<br />

<strong>zu</strong> trauern an. Wenn man bedenkt, daß das Eingeständnis von Erlebtem und<br />

221


„Gewußtem" — wie dies <strong>der</strong> beiden Männer — eher die Ausnahme bildet,<br />

müßte dies <strong>zu</strong>r Anklage gegen die meisten Zeitzeugen führen. Es wäre eine<br />

Anklage, die im Unverständnis für die Zeit des Nationalsozialismus wie für<br />

die heutige Zeit steckenbliebe. Wir haben dagegen versucht, in einem genauen<br />

und gelegentl<strong>ich</strong> schmerzhaften Prozeß des Verstehens die je beson<strong>der</strong>e Art<br />

und Weise <strong>der</strong> Vergangenheitsbewältigung aus dem lebensgesch<strong>ich</strong>tl<strong>ich</strong>en Zusammenhang<br />

heraus <strong>zu</strong> erklären. Nur indem man <strong>zu</strong> verstehen versucht, wird<br />

es mögl<strong>ich</strong> sein <strong>zu</strong> erklären, wie es da<strong>zu</strong> kommen kann, daß Menschen, die<br />

wir n<strong>ich</strong>t alle als psychopathische Bestien abtun können, s<strong>ich</strong> an <strong>der</strong> Vern<strong>ich</strong>tungsmaschinerie<br />

und ihren Hilfsinstanzen beteiligen können. Außerdem können<br />

wir herausfinden — und dies ist das Anliegen <strong>der</strong> vorliegenden Studie —,<br />

weshalb Menschen s<strong>ich</strong> nach solchen Zeiten des Terrors so schwer dabei tun,<br />

ihre eigene wie kollektive Verstrickung in diese Zeiten <strong>zu</strong> thematisieren.<br />

222


Gabriele<br />

Rosenthal<br />

5. Zweiter Weltkrieg und Nationalsozialismus:<br />

Zwei Themen ohne Zusammenhang?<br />

Ein Vergle<strong>ich</strong> <strong>der</strong><br />

Lebensgesch<strong>ich</strong>ten<br />

Sind nun — wie mancher Kritiker <strong>der</strong> hermeneutischen Verfahren und verstehenden<br />

Soziologie einwenden mag — die hier besprochenen Biographien<br />

Einzelfalle, die n<strong>ich</strong>ts über das Allgemeine aussagen, son<strong>der</strong>n <strong>zu</strong>fallig aus einer<br />

unbestimmten Gesamtheit ausgewählt wurden und nur das Subjektive, das<br />

Individuelle repräsentieren? Da wir keine Fetischisten sind, die in einzelne<br />

Teile verliebt sind und die n<strong>ich</strong>t zwischen Respräsentant und Repräsentat <strong>zu</strong><br />

trennen vermögen 1 , gehen wir von <strong>der</strong> prinzipiellen Auffindbarkeit des Allgemeinen<br />

im Beson<strong>der</strong>en aus. Vor dem Hintergrund eines dialektischen Verhältnisses<br />

von Individuellem und Allgemeinem stellt s<strong>ich</strong> n<strong>ich</strong>t die Frage, ob<br />

man von einzelnen Biographien ausgehend über das Allgemeine überhaupt etwas<br />

sagen kann, son<strong>der</strong>n viel<strong>mehr</strong> die Frage nach <strong>der</strong> Qualität unserer theoretischen<br />

Verallgemeinerungen. Da wir das Allgemeine n<strong>ich</strong>t im numerischen<br />

Sinne verstehen, hängt diese Qualität n<strong>ich</strong>t von <strong>der</strong> Häufigkeit des Auftretens<br />

eines Phänomens ab, son<strong>der</strong>n viel<strong>mehr</strong> vom nötigen Spürsinn <strong>zu</strong>m Auffinden<br />

des Allgemeinen in jedem einzelnen Fall, von <strong>der</strong> Phantasie, dem „Freilegen-<br />

Können von wirkl<strong>ich</strong>en, produktiven Fragen 44 (Gadamer 1966: 1070-<br />

Mit dem Ziel <strong>der</strong> Generierung von Annahmen — die selbstverständl<strong>ich</strong> einer<br />

weiteren empirischen Überprüfung bedürfen — werde <strong>ich</strong> versuchen,<br />

Hinweise darauf auf<strong>zu</strong>spüren, inwiefern die Verwendung <strong>der</strong> jeweils bei den<br />

Fallanalysen rekonstruierten Strategien im Umgang <strong>mit</strong> <strong>der</strong> <strong>Krieg</strong>s- und NS-<br />

Vergangenheit <strong>mit</strong>bedingt ist von Faktoren wie Generations<strong>zu</strong>gehörigkeit o<strong>der</strong><br />

dem <strong>Krieg</strong>serleben an <strong>der</strong> Front, in <strong>der</strong> Etappe o<strong>der</strong> in <strong>der</strong> Heimat. Zunächst<br />

werde <strong>ich</strong> auf die jeweilige Haltung <strong>der</strong> Biographen <strong>zu</strong>m Zweiten Weltkrieg<br />

und <strong>zu</strong> ihrem <strong>Krieg</strong>seinsatz eingehen und im weiteren dann ihre Strategien <strong>zu</strong>r<br />

Normalisierung <strong>der</strong> NS-Vergangenheit genauer beleuchten.<br />

Die Haltung <strong>zu</strong>m Zweiten Weltkrieg. Betrachten wir <strong>zu</strong>nächst die Haltung<br />

<strong>der</strong> Männer <strong>zu</strong> ihrem Soldatsein, so zeigen s<strong>ich</strong> hier einige Gemeinsamkeiten.<br />

Keiner dieser Männer hat wahrend des <strong>Krieg</strong>es eine beson<strong>der</strong>s kritische Distanz<br />

<strong>zu</strong>m Soldatsein eingenommen und die deutsche <strong>Krieg</strong>sfuhrung als unrechtmäßig<br />

abgelehnt. Erfüllte <strong>der</strong> Veteran, <strong>der</strong> schon unter dem Ersten Weltkrieg<br />

gelitten <strong>hatte</strong>, seinen erneuten Einsatz als Soldat nur noch unwillig, so<br />

arrangierten s<strong>ich</strong> die jüngeren Männer recht gut <strong>mit</strong> ihrem Soldatsein und ent-<br />

223


wickelten jeweils Karrierepläne in <strong>der</strong> Institution <strong>der</strong> Wehrmacht. Es wäre jedoch<br />

verfehlt <strong>zu</strong> meinen, diese Männer hätten dem von den NS-Ideologen propagierten<br />

Ideal des „politischen Soldaten** 2<br />

entsprochen, <strong>der</strong> in allen Lebenslagen<br />

für den Sieg des Nationalsozialismus kämpft und das Ziel verfolgt,<br />

die Rechtmäßigkeit <strong>der</strong> NS-Weltanschauung <strong>zu</strong> beweisen. Man könnte nun<br />

einwenden — und da<strong>mit</strong> einem heut<strong>zu</strong>tage n<strong>ich</strong>t all<strong>zu</strong> selten an<strong>zu</strong>treffenden<br />

Normalisierungsbedürfnis nachkommen —, dieses Ideal sei ohnehin nur ein<br />

Hirngespinst <strong>der</strong> NS-Propaganda gewesen. Jedoch zeigten frühere Analysen<br />

von Biographien von Angehörigen <strong>der</strong> <strong>Hitler</strong>jugend-Generation (Rosenthal<br />

1986; 1987b), daß es durchaus Männer gab, die fanatisch bis <strong>zu</strong>r Kapitulation<br />

dieses Ideal <strong>zu</strong> verwirkl<strong>ich</strong>en suchten und auch bereit waren, dafür <strong>zu</strong> sterben.<br />

Es ist an<strong>zu</strong>nehmen, daß diese ideologisch motivierte Kampfbereitschaft für<br />

den Sieg des NS — dieses Soldatsein als ideologischer NS-Auftrag — eher bei<br />

den jungen Soldaten an<strong>zu</strong>treffen war, die jahrelang <strong>zu</strong>vor in <strong>der</strong> <strong>Hitler</strong>jugend<br />

ideologisch darauf vorbereitet worden waren. Hierbei gilt es <strong>zu</strong> berücks<strong>ich</strong>tigen,<br />

daß diese jungen Männer im Unterschied <strong>zu</strong> Angehörigen älterer Jahrgänge<br />

n<strong>ich</strong>t seit <strong>Krieg</strong>sbeginn als Soldaten an <strong>der</strong> Front waren. Sie teilten <strong>mit</strong><br />

den älteren n<strong>ich</strong>t den jahrelangen Prozeß <strong>der</strong> Desillusionierung — vom Blitzkrieg<br />

<strong>zu</strong> den unaufhaltsamen Nie<strong>der</strong>lagen —, <strong>der</strong> Überanstrengung sowie <strong>der</strong><br />

Ernüchterung durch die ständigen Todeskonfrontationen.<br />

Kommen wir <strong>zu</strong> den Männern <strong>der</strong> vorliegenden Studie <strong>zu</strong>rück, so gibt es<br />

Hinweise dafür, daß — bis auf den Veteranen des Ersten Weltkrieges — auch<br />

diese Männer am Anfang ihrer Militärzeit einen ideologischen, nationalsozialistischen<br />

Auftrag <strong>zu</strong> erfüllen suchten. Doch dieser verlor <strong>zu</strong>nehmend, <strong>mehr</strong><br />

o<strong>der</strong> weniger unmerkl<strong>ich</strong>, an Bedeutung für sie. Im Laufe ihrer Militärzeit<br />

nahmen sie dem Soldatsein gegenüber viel<strong>mehr</strong> eine Haltung ein, die <strong>der</strong> einem<br />

zivilen Beruf gegenüber vergle<strong>ich</strong>bar ist, den man gewissenhaft und ordnungsgemäß<br />

<strong>zu</strong> erfüllen sucht 3 . Es waren in erster Linie die Mögl<strong>ich</strong>keit des<br />

sozialen Aufstiegs im Militär und ein im Verhältnis <strong>zu</strong>m Arbeitsalltag in <strong>der</strong><br />

Heimat abwechslungsre<strong>ich</strong>erer Alltag, die bei ihnen wesentl<strong>ich</strong> <strong>zu</strong>r Identifikation<br />

<strong>mit</strong> dem Soldatsein beitrugen.<br />

. Zwar beruhte ihre Kampfbereitschaft n<strong>ich</strong>t — wie wir es vom „politischen<br />

Soldaten" kennen — auf einer politischen Berufung <strong>zu</strong>m Soldaten, gle<strong>ich</strong>wohl<br />

war ihr Soldatsein für die <strong>Krieg</strong>sführung n<strong>ich</strong>t weniger funktional. Auch wäre<br />

es verfehlt, diesen Typus des Soldatseins ah Beruf, wie wir ihn nennen, als<br />

„unpolitisches Soldatsein 4 * in Abgren<strong>zu</strong>ng vom politischen <strong>zu</strong> deklarieren;<br />

da<strong>mit</strong> würden wir nur einem Politikverständnis aufsitzen, das das Politische<br />

auf eine abgegrenzte Sphäre des gesellschaftl<strong>ich</strong>en Lebens beschränkt. Auch<br />

das Soldatsein, das n<strong>ich</strong>t explizit als ideologischer Auftrag verstanden wird,<br />

repräsentiert eine politische Einstellung.<br />

Für die Konstitution des Typus des Soldatseins als Beruf — wie er von<br />

Herrn Sallmann, Herrn Langenbach und Herrn Acka repräsentiert wird —<br />

spielt s<strong>ich</strong>er auch die Zugehörigkeit <strong>zu</strong> den unteren und <strong>mit</strong>tleren Einkom-<br />

224


menssch<strong>ich</strong>ten und da<strong>mit</strong> meist <strong>zu</strong> den Mannschartssoldaten eine w<strong>ich</strong>tige<br />

Rolle; für einen Offizier war das Soldatsein wohl weniger ein Beruf als viel<strong>mehr</strong>,<br />

in unterschiedl<strong>ich</strong>er weltanschaul<strong>ich</strong>er Deutung, eine Berufung. Doch<br />

auch die Generations<strong>zu</strong>gehörigkeit, die bei <strong>der</strong> Weimarer Jugend <strong>zu</strong> einem<br />

jahrelangen <strong>Krieg</strong>seinsatz und da<strong>mit</strong> <strong>zu</strong>sammenhängend <strong>zu</strong>m Bedeutungsverlust<br />

an<strong>der</strong>er Lebensbere<strong>ich</strong>e führte, ist für ein Soldatsein als Beruf von Belang.<br />

Die historisch-lebensgesch<strong>ich</strong>tl<strong>ich</strong>e Konstellation: jahrelanges Aussetzen<br />

<strong>der</strong> zivilen Berufskarriere in ihrer Hauptaktivitätsphase vom Abschluß<br />

<strong>der</strong> Berufsausbildung bis <strong>zu</strong>m <strong>mit</strong>tleren Erwachsenenalter bedingte einen Bedeutungsverlust<br />

des zivilen Berufs gegenüber <strong>der</strong> militärischen Berufsrolle.<br />

Diese fur die Weimarer Jugendgeneration <strong>zu</strong>treffende Konstellation gilt auch<br />

für Herrn Acka, jenen Biographen, den wir als „Grenzgänger" zwischen <strong>der</strong><br />

Weimarer Jugendgeneration und <strong>der</strong> HJ-Generation in die Analyse aufgenommen<br />

haben. Auch er <strong>hatte</strong> vor dem Ein<strong>zu</strong>g <strong>zu</strong>r Wehrmacht einen Beruf erlernt,<br />

den er in <strong>der</strong> Wehrmacht (ab 1940) jedoch n<strong>ich</strong>t <strong>mehr</strong> ausübte. Statt dessen<br />

träumte er von einer militärischen Karriere als Flieger. Seine Lebensgesch<strong>ich</strong>te<br />

steht insgesamt <strong>der</strong> Weimarer Jugendgeneration näher als <strong>der</strong> HJ-Generation.<br />

Der Veteran des Ersten Weltkrieges, Herr \fogel, teilte dieses Verständnis des<br />

Soldatseins — als Beruf <strong>mit</strong> mögl<strong>ich</strong>en Aufstiegschancen — n<strong>ich</strong>t. Er erfüllte<br />

nur ungern, aber doch selbstverständl<strong>ich</strong> seine vaterländische Pfl<strong>ich</strong>t. Auch<br />

hier läßt s<strong>ich</strong> ein Zusammenhang <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Generations<strong>zu</strong>gehörigkeit n<strong>ich</strong>t von<br />

<strong>der</strong> Hand weisen. Die Männer <strong>der</strong> wilhelminischen Jugendgeneration befanden<br />

s<strong>ich</strong> 1939 in einer Lebensphase, in <strong>der</strong> die berufl<strong>ich</strong>e Laufbahn meist gefestigt<br />

o<strong>der</strong> gar auf dem Höhepunkt war und <strong>der</strong> Beruf eine zentrale Bedeutung im Leben<br />

einnahm. Sie werden daher weniger als jüngere Männer eine neue Karriere<br />

im Militär angestrebt bzw. aufgrund ihres Alters überhaupt für mögl<strong>ich</strong> gehalten<br />

haben, son<strong>der</strong>n die Einberufung eher als Unterbrechung ihrer Berufelaufbahn<br />

empfunden haben. Staatsloyal werden sie dann — wie Herr Vogel — trotzdem<br />

das Soldatsein n<strong>ich</strong>t selten als ihre vaterländische Pfl<strong>ich</strong>t angesehen haben,<br />

gegen die sie s<strong>ich</strong> n<strong>ich</strong>t auflehnen konnten und durften. Ich gehe also davon aus,<br />

daß dieses Soldatsein ab vaterländische Pfl<strong>ich</strong>t charakteristisch ist für die Generation<br />

von Männern, die noch im Untertanengeist des wilhelminischen Kaiserre<strong>ich</strong>es<br />

erzogen worden sind. Obwohl sie desillusioniert aus den Schützengräben<br />

des Ersten Weltkrieges <strong>zu</strong>rückgekehrt waren und daraus vielle<strong>ich</strong>t einen<br />

tiefverwurzelten, <strong>mehr</strong> impliziten Pazifismus entwickelt <strong>hatte</strong>n, haben die<br />

Männer dieser Generation bis auf wenige Ausnahmen — literarisch repräsentiert<br />

durch Er<strong>ich</strong> Maria Remarque — kaum diese vaterländische Pfl<strong>ich</strong>t öffentl<strong>ich</strong><br />

und offensiv in Frage gestellt. Auch Herr \fogel wünschte s<strong>ich</strong> nach den Erfahrungen<br />

des Ersten Weltkrieges keinen neuen <strong>Krieg</strong> und sträubte s<strong>ich</strong> 1939 innerl<strong>ich</strong><br />

gegen eine erneute Einberufung. Doch er stellt die Rechtmäßigkeit des<br />

von Deutschland geführten <strong>Krieg</strong>es n<strong>ich</strong>t in Frage, klagt das Vaterland für den<br />

<strong>Krieg</strong>sbeginn und -verlauf n<strong>ich</strong>t an, son<strong>der</strong>n versucht die <strong>Krieg</strong>sschuld an<strong>der</strong>en<br />

Nationen an<strong>zu</strong>lasten.<br />

225


Welche Bedeutung <strong>hatte</strong> nun die damalige Haltung <strong>zu</strong>m Soldatsein fur das<br />

Erleben des <strong>Krieg</strong>sendes und die Entlassung aus dieser Pfl<strong>ich</strong>t? Obwohl in<br />

dieser Studie kein Repräsentant des Typus Soldatsein als ideologischer NS-<br />

Auftrag vertreten ist, sei <strong>der</strong> Hinweis auf an<strong>der</strong>e Fallanalysen 5<br />

gestattet, die<br />

zeigen, wie sehr bei den Angehörigen <strong>der</strong> HJ-Generation die Identifikation<br />

<strong>mit</strong> dem politischen Soldatsein bei <strong>Krieg</strong>sende <strong>zu</strong> heftigen Orientierungskrisen<br />

führte. Die hier vorgestellten Biographen standen hingegen dem <strong>Krieg</strong>sende<br />

und insbeson<strong>der</strong>e <strong>der</strong> Zerschlagung des „Dritten Re<strong>ich</strong>es" indifferent<br />

bis erle<strong>ich</strong>tert gegenüber. Das Ende ihrer Soldatenzeit erlebten sie ähnl<strong>ich</strong> wie<br />

eine Entlassung aus einem Beruf, dessen Ausübung durch den <strong>Krieg</strong>sverlauf<br />

<strong>zu</strong>nehmend unerträgl<strong>ich</strong> wurde. Zu einer Orientierungskrise, in <strong>der</strong> <strong>der</strong> bisherige<br />

Glauben an den Sinn ihres Soldatseins wie des <strong>Krieg</strong>es überhaupt, an den<br />

aktiven Einsatz für den Fortbestand des „Dritten Re<strong>ich</strong>es" erschüttert wurde,<br />

führte die deutsche Nie<strong>der</strong>lage bei ihnen kaum. Da sie s<strong>ich</strong> n<strong>ich</strong>t <strong>mehr</strong> vordringl<strong>ich</strong><br />

<strong>mit</strong> dem Nationalsozialismus identifiziert <strong>hatte</strong>n, wurde für sie 1945<br />

ihre Weltanschauung n<strong>ich</strong>t fragwürdig. So waren sie entsprechend weniger als<br />

diejenigen, die in ideologische Orientierungskrisen gerieten, gezwungen, s<strong>ich</strong><br />

<strong>mit</strong> ihrer Haltung <strong>zu</strong>m NS, <strong>zu</strong>m politischen System auseinan<strong>der</strong><strong>zu</strong>setzen. Da<strong>mit</strong><br />

geht einher, daß sie auch weniger die Chance <strong>hatte</strong>n, s<strong>ich</strong> ihre impliziten,<br />

nationalsozialistisch gefärbten Einstellungen bewußt <strong>zu</strong> machen und <strong>zu</strong><br />

revidieren 6 . Gerieten sie in Krisen, so waren es weniger weltanschaul<strong>ich</strong>e<br />

Krisen, die ihre gesamte Identität in Frage stellten, son<strong>der</strong>n auf einzelne biographische<br />

Stränge beschränkte Krisen, die durch die folgende Gefangenschaft<br />

und die anhaltende Trennung von <strong>der</strong> Heimat und Familie ausgelöst<br />

wurden.<br />

Die Jahre in <strong>der</strong> Gefangenschaft sind ein weiterer generationstrennen<strong>der</strong><br />

Faktor zwischen den älteren Soldaten und den HJlern. Während die „Schülersoldaten",<br />

die n<strong>ich</strong>t in Gefangenschaft <strong>kam</strong>en, und die noch jüngeren<br />

14-16Jährigen, z.T. <strong>kam</strong>pfwilligen <strong>Hitler</strong>jungen den Zusammenbruch des politischen<br />

Systems in <strong>der</strong> Heimat un<strong>mit</strong>telbar erlebten, waren die <strong>Krieg</strong>sgefangenen<br />

weit entfernt vom politischen Tagesgeschehen und meist konzentriert auf<br />

das nackte Überleben. Zwar wurden auch die <strong>Krieg</strong>sgefangenen <strong>mit</strong> den NS-<br />

Vferbrechen konfrontiert, doch <strong>ich</strong> nehme an, daß sie daraufhin n<strong>ich</strong>t so eruptionsartig<br />

das „Böse des Nationalsozialismus" von s<strong>ich</strong> wiesen, son<strong>der</strong>n ihr<br />

Ablösungprozeß vom NS allmähl<strong>ich</strong>er vonstatten ging. In diesem Zusammenhang<br />

ist z.B. an das Phänomen <strong>der</strong> Aufrechterhaltung nazistischen Geistes<br />

und <strong>der</strong> Hierarchie nach NS-Rängen — bis <strong>zu</strong>m Abhalten von sogenannten<br />

Re<strong>ich</strong>sparteitagen — <strong>zu</strong> denken, das sowohl in amerikanischer wie sowjetischer<br />

Gefangenschaft auftrat. Die Erzählungen Herrn Langenbachs über die<br />

brutale Herrschaft <strong>der</strong> Nazis in <strong>der</strong> Gefangenschaft in Afrika sind hier keine<br />

Ausnahmen.<br />

Während die ehemals überzeugten Schülersoldaten 1945 also eher in ideologische<br />

Krisen gerieten, traten bei den <strong>Krieg</strong>sgefangenen nach jahrelangen,<br />

226


z.T. traumatischen Erfahrungen in <strong>der</strong> Gefangenschan eher nach Rückkehr in<br />

die Heimat biographische Krisen auf, als ihre Zukunftsantizipationen fragwürdig<br />

und brüchig wurden. Sie mußten nun <strong>mit</strong> Schwierigkeiten in <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>aufnahme<br />

des Arbeits- und Familienlebens kämpfen, waren vielle<strong>ich</strong>t von<br />

ihren Ehefrauen entfremdet und wurden von ihren Kin<strong>der</strong>n meist als fremde<br />

Eindringlinge abgelehnt 7 . Auch Herr Sallmann und Herr Langenbach haben<br />

uns darüber erzählt.<br />

Das Auftreten ideologischer Krisen ist jedoch n<strong>ich</strong>t nur vom biographischen<br />

Verlauf nach 1945, son<strong>der</strong>n auch von jenem vor 1945 abhängig. Wer<br />

s<strong>ich</strong> schon vor dem Zusammenbruch allmähl<strong>ich</strong> vom NS distanziert <strong>hatte</strong>, geriet<br />

1945 weniger in eine Orientierungskrise als jemand, <strong>der</strong> s<strong>ich</strong> bis <strong>zu</strong>letzt<br />

<strong>mit</strong> dem NS identifizierte. Der Verlauf: Identifikation <strong>mit</strong> dem NS bis 1945,<br />

heftige Orientierungskrise bei <strong>Krieg</strong>sende und darauf folgende Auseinan<strong>der</strong>set<strong>zu</strong>ng<br />

<strong>mit</strong> <strong>der</strong> vormaligen Identifikation ist vermutl<strong>ich</strong> eher für die HJ-<br />

Generation als für die älteren Generationen typisch. Dagegen nehme <strong>ich</strong> an,<br />

daß für die wilhelminische wie für die Weimarer Jugendgeneration eher zwei<br />

an<strong>der</strong>e Verläufe typisch sind. Einmal handelt es s<strong>ich</strong> um den Verlauf eines<br />

schon Jahre vor <strong>Krieg</strong>sende allmähl<strong>ich</strong> — in <strong>der</strong> Selbstwahrnehmung meist<br />

unmerkl<strong>ich</strong> — einsetzenden Ablösungsprozesses von <strong>der</strong> Identifikation <strong>mit</strong><br />

dem NS und eines S<strong>ich</strong>-Abfindens <strong>mit</strong> einem mögl<strong>ich</strong>erweise verlorenen<br />

<strong>Krieg</strong>. Tritt dagegen bei den Angehörigen <strong>der</strong> wilhelminischen und Weimarer<br />

Jugendgeneration aufgrund einer bis 1945 bestandenen Identifikation <strong>mit</strong> dem<br />

NS und aufgrund des Glaubens an seinen Fortbestand 1945 eine ideologische<br />

Orientierungskrise auf, ist eher ein Verlauf <strong>zu</strong> erwarten, <strong>der</strong> entwe<strong>der</strong> <strong>zu</strong>m<br />

Suizid o<strong>der</strong> <strong>zu</strong> einem weiteren Beharren auf <strong>der</strong> nationalsozialistischen Gesinnung<br />

führte. Für den Verlauf „Orientierungskrise und Reflexion**, den <strong>ich</strong> als<br />

typisch für die HJ-Generation beschrieben habe, im Unterschied <strong>zu</strong>m Verlauf<br />

„Orientierungskrise und weiteres Beharren auf <strong>der</strong> NS-Weltanschauung**,<br />

spr<strong>ich</strong>t, daß die Jugendl<strong>ich</strong>en und jungen Erwachsenen, die 1945 am Anfang<br />

ihrer Ausbildungs- und Familienkarriere standen, viel stärker da<strong>zu</strong> aufgefor<strong>der</strong>t<br />

waren, s<strong>ich</strong> auf die neue gesellschaftl<strong>ich</strong>e Wirkl<strong>ich</strong>keit ein<strong>zu</strong>lassen als ältere<br />

Menschen, die bereits auf erfolgre<strong>ich</strong>e Karrieren <strong>zu</strong>rückblicken konnten.<br />

Außerdem fiel es <strong>der</strong> HJ-Generation aufgrund <strong>der</strong> von den westl<strong>ich</strong>en Alliierten<br />

erlassenen Jugendamnestie und, da<strong>mit</strong> <strong>zu</strong>sammenhängend, des in dieser<br />

Generation vorherrschenden Entlastungsarguments: „wir waren <strong>zu</strong> jung, um<br />

<strong>zu</strong> begreifen** le<strong>ich</strong>ter, s<strong>ich</strong> <strong>zu</strong> einer ehemaligen Begeisterung <strong>zu</strong> bekennen.<br />

Und genau darin liegt die Chance für eine Umorientierung und für ein Aufarbeiten<br />

intemalisierter Deutungsmuster. Leugnet man hingegen seine frühere<br />

Faszination, kann man s<strong>ich</strong> die Gründe dafür auch kognitiv n<strong>ich</strong>t <strong>zu</strong>gängl<strong>ich</strong><br />

machen: Denkt man n<strong>ich</strong>t darüber nach, welche Inhalte <strong>der</strong> NS-Propaganda<br />

wie auch Praxis man akzeptiert hat, so besteht die Gefahr, daß die übernommenen<br />

Werthaltungen weiterhin unbemerkt das Denken und Handeln <strong>mit</strong>bestimmen.<br />

227


Auch wenn die Männer <strong>der</strong> <strong>Hitler</strong>jugend-Generation ebenfalls da<strong>zu</strong> tendieren<br />

— insbeson<strong>der</strong>e aus <strong>der</strong> Retrospektive — ihr Soldatsein aus dem Sinn<strong>zu</strong>sammenhang<br />

<strong>mit</strong> dem Nationalsozialismus <strong>zu</strong> lösen, so gestehen sie im Vergle<strong>ich</strong><br />

<strong>zu</strong> älteren Männern doch eher einen Zusammenhang ein und reflektieren<br />

stärker die ideologischen Gehalte dieses <strong>Krieg</strong>es. Insbeson<strong>der</strong>e können sie<br />

ihr politisches Engagement vor dem Ein<strong>zu</strong>g <strong>zu</strong>r Wehrmacht <strong>zu</strong>gestehen.<br />

Betrachten wir nun das Verhältnis <strong>der</strong> Frauen <strong>zu</strong>m <strong>Krieg</strong> bzw. <strong>zu</strong> ihrem Einsatz<br />

in diesem <strong>Krieg</strong> sowie die bei ihnen auftretenden o<strong>der</strong> ausbleibenden Krisenverläufe.<br />

Frau Heidt, die wir als Angehörige <strong>der</strong> <strong>Hitler</strong>jugend-Generation in unser<br />

Sample aufgenommen haben, gehört <strong>zu</strong> den Frauen, die nach ihrer Selbstdefinition<br />

eine <strong>der</strong> Soldatenrolle vergle<strong>ich</strong>bare Rolle eingenommen haben. Obwohl<br />

sie JM-Führerin war und s<strong>ich</strong> als junges Mädchen <strong>mit</strong> dieser Rolle identifiziert<br />

hat, sieht sie den <strong>Krieg</strong> und ihren Einsatz n<strong>ich</strong>t im Zusammenhang <strong>mit</strong><br />

dem NS. Ihre Identifikation <strong>mit</strong> dem Nationalsozialismus <strong>hatte</strong> <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Übernahme<br />

<strong>der</strong> Rolle als Krankenschwester und dem da<strong>mit</strong> einhergehenden Ende<br />

ihrer JM-Führerschaft nachgelassen, und so geriet sie bei <strong>Krieg</strong>sende auch<br />

n<strong>ich</strong>t <strong>mehr</strong> in eine ideologische Orientierungskrise. Dieser Verlauf muß vor<br />

ihrem familialen Hintergrund gesehen werden; die Bedeutung des Tradierungsprozesses<br />

zwischen <strong>der</strong> Wilhelminer- und <strong>der</strong> HJ-Generation wird hier<br />

sehr deutl<strong>ich</strong>. Vater wie Mutter waren aktive Teilnehmer des Ersten Weltkrieges;<br />

<strong>der</strong> Vater war Berufsoffizier. Frau Heidts Mitgliedschaft bei den Jungmädeln<br />

wurde zwar aus Opportunitätsgründen in <strong>der</strong> Familie gebilligt, doch ihr<br />

Engagement ideologisch s<strong>ich</strong>er n<strong>ich</strong>t geför<strong>der</strong>t. Mit <strong>der</strong> Übernahme <strong>der</strong><br />

„weibl<strong>ich</strong>en Soldatenrolle** nahm sie die Tradition <strong>der</strong> Familie dann auch wie<strong>der</strong><br />

auf, und die implizit in <strong>der</strong> Primärsozialisation übernommenen elterl<strong>ich</strong>en<br />

Wertvorstellungen drängten die NS-Ideologie <strong>zu</strong>nehmend in den Hintergrund.<br />

Wie im Elternhaus tradiert, bewegt Frau Heidt s<strong>ich</strong> in einem Deutungsrahmen,<br />

in dem <strong>der</strong> <strong>Krieg</strong> als Naturereignis verstanden wird, <strong>mit</strong> dem immer <strong>zu</strong><br />

rechnen ist und in dem Frau wie Mann ihren Einsatz <strong>zu</strong> leisten haben. Nach<br />

diesem Verständnis dient <strong>der</strong> <strong>Krieg</strong> n<strong>ich</strong>t vorrangig <strong>zu</strong>r Verfolgung spezifischer,<br />

aktueller politischer Ziele, viel<strong>mehr</strong> gehört er existentiell <strong>zu</strong>m Leben<br />

da<strong>zu</strong>; <strong>der</strong> <strong>Krieg</strong>sausgang ist in dieser S<strong>ich</strong>t auch n<strong>ich</strong>t das Entscheidende. Die<br />

mangelnde Erschütterung durch das <strong>Krieg</strong>sende bei Frau Heidt, ebenso ihre akzeptierende<br />

Haltung gegenüber feindl<strong>ich</strong>en Soldaten erklärt s<strong>ich</strong> vor diesem<br />

Hintergrund. Mit <strong>der</strong> Auffassung des <strong>Krieg</strong>es als immer wie<strong>der</strong> <strong>zu</strong> erwartendes<br />

Naturereignis korrespondiert die auch fur die Frontkämpfer des Ersten Weltkrieges<br />

typische Vorstellung ä la Ernst Jünger, <strong>der</strong> <strong>Krieg</strong> sei eine wünschenswerte<br />

historische Phase, in <strong>der</strong> man s<strong>ich</strong> bewahren und wesentl<strong>ich</strong>e Lernprozesse<br />

vollziehen könne, die in Friedenszeiten n<strong>ich</strong>t mögl<strong>ich</strong> seien. So zieht ja<br />

auch Frau Heidt für ihr Leben wesentl<strong>ich</strong>e Lehren aus ihren <strong>Krieg</strong>serlebnissen.<br />

Wir wollen daher Frau Heidts Haltung <strong>zu</strong> ihrem Einsatz als Frontschwester<br />

<strong>mit</strong> <strong>Krieg</strong>seinsatz als ideologischer Auftrag beze<strong>ich</strong>nen. Dies darf jedoch<br />

228


n<strong>ich</strong>t als Auftrag im Sinne <strong>der</strong> nationalsozialistischen Ideologie mißverstanden<br />

werden; <strong>der</strong> Auftrag steht viel<strong>mehr</strong> im Kontext <strong>der</strong> oben beschriebenen<br />

Haltung.<br />

Kontrastieren wir diese Haltung gegenüber dem <strong>Krieg</strong> <strong>mit</strong> <strong>der</strong> von Frau<br />

Schild, so zeigen s<strong>ich</strong>, oberflächl<strong>ich</strong> betrachtet, gewisse Ähnl<strong>ich</strong>keiten. Auch<br />

Frau Schild sieht den <strong>Krieg</strong> n<strong>ich</strong>t im Sinn<strong>zu</strong>sammenhang des NS, auch sie reflektiert<br />

n<strong>ich</strong>t die Ursachen für <strong>Krieg</strong>sbeginn und -verlauf, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> <strong>Krieg</strong><br />

brach wie ein Naturereignis unerwartet in ihr Leben ein. Diese S<strong>ich</strong>t resultiert<br />

jedoch weniger aus einer weltanschaul<strong>ich</strong>en Haltung gegenüber dem <strong>Krieg</strong> als<br />

aus <strong>der</strong> bemühten Selbstdefinition einer naiven und unpolitischen Frau. Frau<br />

Schild betrachtet den <strong>Krieg</strong> ebenso wie die gesellschaftl<strong>ich</strong>en Verhältnisse<br />

während <strong>der</strong> zwölf Jahre des „Dritten Re<strong>ich</strong>es" insgesamt aus einer am politischen<br />

Geschehen desinteressierten Perspektive. Diese Perspektive <strong>der</strong> politisch<br />

desinteressierten Frau dient zwar Frau Schild einerseits da<strong>zu</strong>, s<strong>ich</strong> weiteren<br />

Fragen nach <strong>der</strong> politischen Haftung <strong>der</strong> Deutschen <strong>zu</strong> entziehen, sie korrespondiert<br />

an<strong>der</strong>erseits doch in gewisser Weise auch <strong>mit</strong> den alltägl<strong>ich</strong>en<br />

Handlungsanfor<strong>der</strong>ungen an eine Frau, die als Mutter von zwei kleinen Kin<strong>der</strong>n<br />

einen von ständigen Bombenangriffen bedrohten Lebensalltag <strong>zu</strong> meistern<br />

<strong>hatte</strong> und eben n<strong>ich</strong>t wie Frau Heidt gesellschaftl<strong>ich</strong>e Aufgaben übernehmen<br />

und dabei irgendwelche ideellen Ziele verfolgen konnte.<br />

Die S<strong>ich</strong>t des <strong>Krieg</strong>es als Naturereignis, die Frau Schild und Frau Heidt in<br />

unterschiedl<strong>ich</strong>em Sinn<strong>zu</strong>sammenhang haben, könnte man nun als eine für<br />

Frauen typische Wahrnehmung begreifen, die <strong>mit</strong> ihrer allgemeinen Tendenz<br />

<strong>zu</strong>sammenhängt, s<strong>ich</strong> als Opfer von über sie hereinbrechenden Gewalten <strong>zu</strong><br />

verstehen (vgl. Tröger 1987). Doch diese Erklärung läßt die materiellen Lebensbedingungen<br />

<strong>der</strong> Zivilbevölkerung in <strong>der</strong> Heimat, von Frauen und Männern<br />

außer acht, die s<strong>ich</strong>er auch eine Bedingung für die Wahrnehmung des Erlebten<br />

sind. Die Zivilisten waren weit <strong>mehr</strong> dem <strong>Krieg</strong>sgeschehen passiv ausgeliefert<br />

als <strong>der</strong> Soldat an <strong>der</strong> Front, sie waren <strong>mehr</strong> passiv Erleidende als<br />

aktiv Handelnde, und sie sahen den Feind n<strong>ich</strong>t von Anges<strong>ich</strong>t <strong>zu</strong> Anges<strong>ich</strong>t,<br />

son<strong>der</strong>n erlebten den <strong>Krieg</strong> ähnl<strong>ich</strong> wie <strong>der</strong> Veteran des Ersten Weltkrieges als<br />

anonyme Materialschlacht. So ber<strong>ich</strong>ten auch Männer, daß sie s<strong>ich</strong> bei Bombenangriffen<br />

in <strong>der</strong> Heimat viel hilfloser und dem unkontrollierbaren Geschehen<br />

ausgelieferter fühlten als an <strong>der</strong> Front. Zum Teil waren sie sogar froh,<br />

wenn die Heimaturlaube <strong>zu</strong> Ende gingen.<br />

Die S<strong>ich</strong>t des <strong>Krieg</strong>es als Naturereignis hängt also auch <strong>mit</strong> den konkreten<br />

Lebensbedingungen, unter denen man den <strong>Krieg</strong> erlebte, <strong>zu</strong>sammen und dient<br />

außerdem da<strong>zu</strong>, s<strong>ich</strong> einer Auseinan<strong>der</strong>set<strong>zu</strong>ng über die Ursachen dieses<br />

<strong>Krieg</strong>es <strong>zu</strong> entziehen. Wie Annemarie Tröger (1987: 298) meint, beinhaltet sie<br />

eine politische Botschaft: „there is no collective or personal responsibility for<br />

war; it just breaks out, is not prepared for and not declared 44 . Bleiben wir in<br />

<strong>der</strong> Metaphorik des Naturereignisses, so läßt s<strong>ich</strong> aus dieser Perspektive das<br />

<strong>Krieg</strong>sende dann als Wetterumschwung kennze<strong>ich</strong>nen.<br />

229


Kehren wir <strong>zu</strong> Frau Schild <strong>zu</strong>rück, die das <strong>Krieg</strong>sende zwar als demütigend<br />

empfand, doch in keine ideologische Orientierungskrise geriet. Da ihr Ehemann<br />

we<strong>der</strong> eingezogen war noch in Gefangenschan <strong>kam</strong>, waren auch darüber<br />

hinaus <strong>mit</strong> dem Jahr 1945 keine biographischen Brüche für sie verbunden.<br />

Ganz an<strong>der</strong>s verhalt es s<strong>ich</strong> bei Frau Borke, die 1945 in eine Lebenskrise geriet,<br />

die sie bis <strong>zu</strong>m heutigen läge n<strong>ich</strong>t überwinden konnte. Sie lebte in labilem<br />

Gle<strong>ich</strong>gew<strong>ich</strong>t, ohne den Gewinn einer neuen Zukunft, weiter. Frau Borke <strong>hatte</strong><br />

s<strong>ich</strong> <strong>mit</strong> dem Nationalsozialismus identifiziert, und <strong>der</strong> <strong>Krieg</strong> war für sie <strong>mit</strong><br />

dem Ziel <strong>der</strong> Zurückgewinnung Lettlands, ihrer Heimat, verbunden. Vermutl<strong>ich</strong><br />

<strong>hatte</strong> sie schon vor 1939 auf den Anschluß Lettlands an das Deutsche Re<strong>ich</strong><br />

gehofft; <strong>mit</strong> <strong>Krieg</strong>sbeginn war es für sie s<strong>ich</strong>erl<strong>ich</strong> erklärtes <strong>Krieg</strong>sziel. Μ .a.W.,<br />

sie identifizierte s<strong>ich</strong> <strong>mit</strong> <strong>der</strong> auch von den Nationalsozialisten propagierten<br />

S<strong>ich</strong>t des <strong>Krieg</strong>es als Gewinnung neuen Lebensraums. Für sie <strong>hatte</strong> <strong>der</strong> <strong>Krieg</strong>sverlauf<br />

also durchaus eine politische Bedeutung. Entsprechend entpolitisiert sie<br />

den <strong>Krieg</strong> auch n<strong>ich</strong>t explizit, son<strong>der</strong>n versucht nur, ihr eigenes politisches Engagement<br />

<strong>zu</strong> verschleiern bzw. es auf eine deutsch-nationale Gesinnung <strong>zu</strong> reduzieren.<br />

Sie vermeidet auch, was für eine Vertriebene beson<strong>der</strong>s auffällig ist,<br />

eine Reflexion <strong>der</strong> NS-<strong>Krieg</strong>spolitik. Für diese Frau, die so viel Energie darauf<br />

verwenden muß, s<strong>ich</strong> „<strong>zu</strong>sammen<strong>zu</strong>halten", ist ein Nachdenken über den<br />

<strong>Krieg</strong>sverlauf und ihr eigenes Engagement für die nationalsozialistische Politik<br />

<strong>zu</strong> bedrohl<strong>ich</strong>. Um ihr labües psychisches Gle<strong>ich</strong>gew<strong>ich</strong>t n<strong>ich</strong>t <strong>zu</strong> gefährden,<br />

muß sie Gedanken darüber von s<strong>ich</strong> weisen, inwiefern die von ihr befürwortete<br />

NS-Politik anstelle des erwünschten Anschlusses Lettlands an das deutsche<br />

Re<strong>ich</strong> schon 1939 <strong>zu</strong>m Verlust ihrer Heimat führte. Da sie s<strong>ich</strong> aufgrund ihres<br />

politischen Engagements in den historischen Verlauf <strong>der</strong> Vertreibung viel verstrickter<br />

fühlt als Herr Vogel, leidet sie auch viel stärker darunter. Zwar gewannen<br />

we<strong>der</strong> Frau Borke noch <strong>der</strong> Vertriebene unseres Samples, Herr Vogel, nach<br />

dem Verlust <strong>der</strong> Heimat keine neue Zukunft, doch blieb Herrn Vogel immerhin<br />

die Erinnerung an eine ungetrübte Vergangenheit. Während er weiterhin in Erinnerung<br />

an die „gute alte Zeit" leben konnte, wurde für Frau Borke ja gerade<br />

ihre Vergangenheit fragwürdig und ein Rückblick <strong>zu</strong> bedrohl<strong>ich</strong> 8 .<br />

Die Reparatur <strong>der</strong> fragwürdig gewordenen Vergangenheit. Anhand unserer<br />

Fallanalysen konnten wir aufzeigen, daß die Frauen wie die Männer dieser<br />

Studie in unterschiedl<strong>ich</strong>er Art und Weise versuchen, ihr Leben während des<br />

„Dritten Re<strong>ich</strong>es" so weit wie mögl<strong>ich</strong> aus dem politischen Rahmen des NS-<br />

Systems <strong>zu</strong> lösen. Mit unterschiedl<strong>ich</strong>en Strategien gelingt es ihnen auch, den<br />

Zweiten Weltkrieg n<strong>ich</strong>t im Zusammenhang <strong>mit</strong> dem NS <strong>zu</strong> sehen. Jürgen Habermas<br />

spr<strong>ich</strong>t vom Wunsch nach uneingerahmter Erinnerung aus <strong>der</strong> Veteranenperspektive,<br />

dem „Wunsch, das subjektive Erleben <strong>der</strong> <strong>Krieg</strong>szeit aus jenem<br />

Rahmen heraus<strong>zu</strong>lösen, <strong>der</strong> retrospektiv alles <strong>mit</strong> einer an<strong>der</strong>en Bedeutung<br />

versehen mußte" (1987: 246).<br />

Betrachten wir im folgenden noch einmal detailliert, <strong>mit</strong> welchen biographischen<br />

Strategien und Argumenten es den Zeitzeugen gelingt, die fragwür-<br />

230


dig gewordene Vergangenheit wie<strong>der</strong> <strong>zu</strong> „reparieren". Zunächst eine kurze<br />

Anmerkung <strong>zu</strong>r Unterscheidung zwischen biographischen Strategien und<br />

Entlastungsargumentationen: Biographische Strategien konstituieren im Unterschied<br />

<strong>zu</strong> Entlastungsargumentationen — wie z.B. Argumente <strong>zu</strong>r Schuldabweisung<br />

und Schuldmin<strong>der</strong>ung — die Erzählung <strong>der</strong> Lebensgesch<strong>ich</strong>te. Es<br />

handelt s<strong>ich</strong> bei ihnen n<strong>ich</strong>t, wie bei den Entlastungsargumentationen, nur um<br />

Einstellungen, die den Alltagshandelnden in <strong>der</strong> öffentl<strong>ich</strong>en Diskussion angeboten<br />

werden und von ihnen übernommen werden können, son<strong>der</strong>n um Strategien,<br />

die die Selektion <strong>der</strong> <strong>zu</strong> erinnernden und <strong>zu</strong> erzählenden Erlebnisse<br />

steuern und meist „hinter dem Rücken" <strong>der</strong> Biographen ihre Rekonstruktion<br />

des bisherigen, gegenwärtigen und <strong>zu</strong>künftigen Lebens determinieren.<br />

Herr Vogel erzählt im Unterschied <strong>zu</strong> den an<strong>der</strong>en Männern kaum über<br />

seine <strong>Krieg</strong>serlebnisse. Diese Strategie <strong>der</strong> Ausblendung <strong>der</strong> <strong>Krieg</strong>serlebnisse<br />

in Verbindung <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Ausblendung <strong>der</strong> NS-Verbrechen wie überhaupt des<br />

Themas NS bestimmt seine Vergangenheitsrekonstruktion. Ebensowenig, wie<br />

er um sein durch den Zweiten Weltkrieg erlittenes Leid trauern kann, zeigt er<br />

Mitgefühl <strong>mit</strong> den Verfolgten. Er läßt die nationalsozialistische Verfolgungspolitik<br />

viel<strong>mehr</strong> als Thema überhaupt n<strong>ich</strong>t <strong>zu</strong>. Herr Vogel entpolitisiert also<br />

implizit die zwölf Jahre des „Dritten Re<strong>ich</strong>es", indem er den Nationalsozialismus<br />

als politisches System kaum thematisiert. Mit diesem impliziten Ausblenden<br />

des NS aus <strong>der</strong> Lebensgesch<strong>ich</strong>te wird es mögl<strong>ich</strong>, s<strong>ich</strong> <strong>der</strong> Frage nach <strong>der</strong><br />

politischen Haftung <strong>der</strong> Deutschen <strong>zu</strong> entziehen. Auch in an<strong>der</strong>en von mir geführten<br />

Gesprächen <strong>mit</strong> Männern <strong>der</strong> Wilhelminer-Jugendgeneration zeigt<br />

s<strong>ich</strong>, daß diese Strategie kennze<strong>ich</strong>nend für diese Generation ist: Es gab Interviews,<br />

in denen das Thema Nationalsozialismus von den Autobiographen<br />

kaum gestreift wurde.<br />

Diese Art und Weise, s<strong>ich</strong> <strong>der</strong> Diskussion über den NS <strong>zu</strong> entziehen, steht<br />

auch im Zusammenhang <strong>mit</strong> <strong>der</strong> biographischen Vergangenheit <strong>der</strong><br />

Wilhelminer-Jugendgeneration. Sie erlebte ihre Kindheit und Jugend in einer<br />

Zeit, in <strong>der</strong> es aus <strong>der</strong> Perspektive <strong>der</strong> Zeitzeugen, die das autoritäre System<br />

<strong>der</strong> Monarchie n<strong>ich</strong>t in Frage stellten, einen Kaiser gab, <strong>der</strong> die Politik<br />

machte, an <strong>der</strong> man in Bewun<strong>der</strong>ung für ihn teilnehmen konnte. Diese Perspektive<br />

desjenigen, <strong>der</strong> über die Identifikation <strong>mit</strong> dem „Führer" am Politischen<br />

partizipierte, konnte auch in <strong>der</strong> NS-Diktatur aufrechterhalten werden.<br />

Sie entsprach <strong>der</strong> Realität einer Diktatur, in <strong>der</strong> von den Herrschenden die Beschränkung<br />

auf eine <strong>der</strong>artige Form <strong>der</strong> Partizipation gefor<strong>der</strong>t wurde. Abgesehen<br />

von einer aktiven Opposition gegen den NS gab es während <strong>der</strong> zwölf<br />

Jahre des „Dritten Re<strong>ich</strong>es" also wie<strong>der</strong>um die Mögl<strong>ich</strong>keit, am Politischen<br />

<strong>zu</strong> partizipieren, indem man s<strong>ich</strong> <strong>mit</strong> <strong>Hitler</strong> auf ähnl<strong>ich</strong>e Weise wie <strong>mit</strong> dem<br />

Kaiser identifizierte o<strong>der</strong> s<strong>ich</strong> -— wie auch schon im Kaiserre<strong>ich</strong> mögl<strong>ich</strong> —<br />

vom Politischen ganz fernhielt.<br />

Ebenso wie wir davon ausgehen können, daß die Jugend des „Dritten Re<strong>ich</strong>es"<br />

gerne an die ihnen suggerierte politische Macht glaubte, können wir an-<br />

231


nehmen, daß die im Kaiserre<strong>ich</strong> sozialisierte Jugend <strong>der</strong> NS-Propaganda, die<br />

besagte, daß je<strong>der</strong> Volksgenosse Einflußmögl<strong>ich</strong>keiten habe, weniger Glauben<br />

schenkte. Da<strong>mit</strong> durchschaute sie also aufgrund ihrer Lebenserfahrungen<br />

einerseits die Unglaubwürdigkeit dieser Propaganda, dachte jedoch an<strong>der</strong>erseits<br />

auch n<strong>ich</strong>t an die Mögl<strong>ich</strong>keit einer aktiven Gegenwehr. Sie begriffen ihr<br />

Leben viel<strong>mehr</strong> als vom politischen System losgelöst.<br />

Auch Herr Sallmann, als Repräsentant <strong>der</strong> Weimarer Jugendgeneration,<br />

versucht, das Thema des Nationalsozialismus <strong>zu</strong> umgehen. Doch dabei setzt<br />

er ein an<strong>der</strong>es Muster <strong>der</strong> Entpolitisierung als Herr Vogel ein. Er verd<strong>ich</strong>tet<br />

die zwölf Jahre des „Dritten Re<strong>ich</strong>es" auf seine Militärzeit und definiert diese<br />

Zeit als unpolitisch. Mit <strong>der</strong> Ausblendung seines politischen Lebens vor dem<br />

Militär gelingt ihm die Bagatellisierung seiner parteipolitischen Aktivitäten.<br />

Da<strong>mit</strong> kann er s<strong>ich</strong> <strong>der</strong> Frage nach Mitverantwortung zwar <strong>zu</strong>m Teil entziehen,<br />

doch es bleibt ein gewisser Legitimationsbedarf fur sein Engagement in<br />

<strong>der</strong> HJ. Er versucht, s<strong>ich</strong> <strong>mit</strong> dem Abschieben <strong>der</strong> Verantwortung an die ältere<br />

Generation <strong>zu</strong> entlasten, und benutzt da<strong>mit</strong> — ähnl<strong>ich</strong> wie Herr Langenbach<br />

und Herr Acka — ein für die HJ-Generation typisches Argument. Doch während<br />

diese Entlastung den Angehörigen <strong>der</strong> HJ-Generation genügen kann, benötigen<br />

die Angehörigen <strong>der</strong> Weimarer Jugendgeneration weitere Argumente<br />

bzw. biographische Strategien, denn sie bedürfen ja noch <strong>der</strong> Entlastung fur<br />

die Lebensphase nach <strong>der</strong> Jugendzeit. Hier liegt die Entpolitisierung <strong>der</strong><br />

Wehrmacht und des <strong>Krieg</strong>es bzw. die Trennung <strong>der</strong> beiden Themen <strong>Krieg</strong> und<br />

Nationalsozialismus nahe. Man könnte wie folgt formulieren: Es gab die politische<br />

Jugendzeit, für die man aufgrund seines Alters n<strong>ich</strong>t verantwortl<strong>ich</strong> gemacht<br />

werden kann, und die unpolitische <strong>Krieg</strong>szeit, in <strong>der</strong> man <strong>mit</strong> dem NS<br />

n<strong>ich</strong>ts <strong>mehr</strong> <strong>zu</strong> tun <strong>hatte</strong>. Da jedoch zwischen dem Übergang vom jugendl<strong>ich</strong>en<br />

Aktivismus in <strong>der</strong> Vorkriegszeit bis <strong>zu</strong>m Einsatz während des <strong>Krieg</strong>es<br />

bei den Angehörigen <strong>der</strong> Weimarer Jugendgeneration — insbeson<strong>der</strong>e bei den<br />

älteren Jahrgängen — einige Jahre bleiben, bietet s<strong>ich</strong> die Strategie <strong>der</strong> Verd<strong>ich</strong>tung<br />

<strong>der</strong> zwölf Jahre des „Dritten Re<strong>ich</strong>es" auf die <strong>Krieg</strong>sjahre an. Da<strong>mit</strong><br />

gelingt es Angehörigen <strong>der</strong> Weimarer Jugendgeneration, ihr Engagement fur<br />

den NS während des Erwachsenenalters aus<strong>zu</strong>blenden. Herr Sallmann kann<br />

da<strong>mit</strong> seine HJ-Führerschaft nach Beendigung des 18. Lebensjahrs unbenannt<br />

lassen, Herr Acka seine SA-Zugehörigkeit bagatellisieren und Frau Borke ihr<br />

Engagement fur den Nationalsozialismus in Lettland vernachlässigen.<br />

Es sind also insbeson<strong>der</strong>e die Aktivisten, denen die biographische Strategie<br />

<strong>der</strong> Verd<strong>ich</strong>tung des NS auf die entpolitisierten <strong>Krieg</strong>sjahre da<strong>zu</strong> dient, vor<br />

s<strong>ich</strong> und an<strong>der</strong>en verhältnismäßig unbemerkt ihr parteipolitisches Engagement<br />

<strong>zu</strong> verschleiern. Und es sind gerade die Angehörigen <strong>der</strong> Weimarer Jugendgeneration,<br />

die diese Strategie beim Erzählen ihrer Lebensgesch<strong>ich</strong>te<br />

stringent anwenden können. Sie können über die ereignisre<strong>ich</strong>en Jugendjahre<br />

ber<strong>ich</strong>ten und dann le<strong>ich</strong>t die Vorkriegszeit, in ihrer Biographie die Zeit des<br />

frühen Erwachsenenalters, in <strong>der</strong> — stärker als in <strong>der</strong> Jugendzeit — die Routi-<br />

232


nen in Beruf und Familie s<strong>ich</strong> etablieren, überspringen. Über die s<strong>ich</strong> anschließende<br />

<strong>Krieg</strong>szeit, in <strong>der</strong> die biographischen Routinen unterbrochen<br />

wurden, können sie dann wie<strong>der</strong> ausführl<strong>ich</strong> erzählen.<br />

Betrachten wir noch einmal, wie Frau Borke diese Verd<strong>ich</strong>tung vornimmt.<br />

Sie versucht die Zeit zwischen 1918 und 1939, in <strong>der</strong> sie politisch fur das<br />

„Deutschtum 44<br />

aktiv war, aus ihrer Lebensgesch<strong>ich</strong>te aus<strong>zu</strong>blenden. Die Lebenszeit<br />

ab 1939 steht für sie im Sinn<strong>zu</strong>sammenhang des Leidens unter den<br />

<strong>Krieg</strong>sauswirkungen, <strong>der</strong> Vertreibung und <strong>der</strong> mangelnden Akzeptanz im<br />

Re<strong>ich</strong>sgebiet. M.a.W., während jene Lebenszeit legitimationsbedürftig ist, in<br />

<strong>der</strong> ihr politisches Engagement selbst gewählt und motiviert war, d.h. autonom<br />

konstituiert war, und deshalb ausgeblendet wird, kann die Phase des Erfeldens,<br />

in <strong>der</strong> sie s<strong>ich</strong> von den äußeren Verhältnissen hauptsächl<strong>ich</strong> „getrieben<br />

44<br />

fühlte, wie<strong>der</strong> erzählt werden 9 . Für ein heteronom produziertes Leben<br />

fühlt man s<strong>ich</strong> weniger <strong>zu</strong>r Verantwortung gezogen als für ein autonom konstituiertes.<br />

Dies bedeutet auch, daß man s<strong>ich</strong> für das <strong>Krieg</strong>sgeschehen n<strong>ich</strong>t so<br />

verantwortl<strong>ich</strong>, s<strong>ich</strong> n<strong>ich</strong>t so verstrickt fühlte, weil im <strong>Krieg</strong> das eigene Leiden<br />

vielfach im Vor<strong>der</strong>grund stand — und dies unabhängig davon, ob man s<strong>ich</strong> als<br />

Soldat an <strong>der</strong> Front dem <strong>Krieg</strong>sverlauf weniger handelnd als passiv ausgeliefert<br />

fühlte o<strong>der</strong> als Zivilistin s<strong>ich</strong> nur noch auf das <strong>Krieg</strong>sgeschehen reagierend<br />

wahrnahm. M.a.W., die eher als Zeit des Erfeldens erlebten <strong>Krieg</strong>sjahre<br />

— im Unterschied <strong>zu</strong> den als Zeit aktiver Handlungsplanung erlebten Vorkriegsjahren<br />

— spielen eine zentrale Rolle im Umgang <strong>der</strong> deutschen Bevölkerung<br />

<strong>mit</strong> <strong>der</strong> Frage nach <strong>der</strong> politischen Haftung für den NS. In Frau Borkes<br />

Fall könnte man einwenden, diese Frau stelle s<strong>ich</strong> selbst die Frage nach <strong>der</strong><br />

politischen Haftung <strong>der</strong> Deutschen n<strong>ich</strong>t, viel<strong>mehr</strong> werde diese Frage von den<br />

Interpretinnen — entgegen ihrer Tradition — von außen an das Material herangetragen.<br />

Doch auch Frau Borke wird, wie alle an<strong>der</strong>en Biographen dieser<br />

Studie, von dieser Frage, ob nun explizit gesteilt o<strong>der</strong> n<strong>ich</strong>t, gequält, denn<br />

auch <strong>der</strong> Versuch, ihr aus<strong>zu</strong>we<strong>ich</strong>en, ist ein Ze<strong>ich</strong>en für ihr Vorhandensein.<br />

Im Zusammenhang des Leugnens je<strong>der</strong> eigenen Mitwirkung am Geschehen<br />

jener Zeit, führen die Volkskundler Franziska Becker und Utz Jeggle (1989:<br />

12) aus:<br />

„...daß <strong>zu</strong>gle<strong>ich</strong> die zynische Unerbittl<strong>ich</strong>keit, <strong>mit</strong> <strong>der</strong> je<strong>der</strong> Anteil am Geschehen geleugnet<br />

wird, auch ein Ze<strong>ich</strong>en für die in <strong>der</strong> Verleugnung, allerdings nur da, anerkannten Schwere <strong>der</strong><br />

Schuld ist, daß <strong>der</strong> Zynismus ähnl<strong>ich</strong> wie die Lüge, das genau festhält, was er bestreitet, die Gültigkeit<br />

<strong>der</strong> Wahrheit auch über das eigene Handeln — paradox formuliert, <strong>ich</strong> gebe die 1st <strong>zu</strong>, indem<br />

<strong>ich</strong> sie bestreite."<br />

Kommen wir <strong>zu</strong>r Strategie <strong>der</strong> Verd<strong>ich</strong>tung des NS auf die <strong>Krieg</strong>sjahre <strong>zu</strong>rück.<br />

Auch Frau Heidt, Angehörige <strong>der</strong> HJ-Generation, läßt s<strong>ich</strong> als Repräsentantin<br />

dieser Strategie betrachten. Sie verd<strong>ich</strong>tet ihr Engagement im „Dritten<br />

Re<strong>ich</strong>" auf die für sie „harmlose 44<br />

JM-Zeit bis <strong>zu</strong>m 14. Lebensjahr, als die<br />

Mitgliedschaft im JM offiziell beendet war, und auf die letzten <strong>Krieg</strong>smonate,<br />

in denen sie als Rotkreuzschwester an <strong>der</strong> Front war und nach ihrer Definition<br />

233


n<strong>ich</strong>ts <strong>mehr</strong> <strong>mit</strong> dem NS <strong>zu</strong> tun <strong>hatte</strong>. Für die dazwischen liegende Zeit — also<br />

vom 14.-17. Lebensjahr — versucht sie, ihren Aktivismus als JM-Führerin aus<strong>zu</strong>blenden.<br />

Die Zeit im JM wie <strong>der</strong> spatere <strong>Krieg</strong>seinsatz ist für sie n<strong>ich</strong>t legitimationsbedürftig,<br />

und daher kann sie darüber auch erzählen. Auch hier zeigt<br />

s<strong>ich</strong> wie bei an<strong>der</strong>en Lebensgesch<strong>ich</strong>ten, daß Auslassungen in <strong>der</strong> Erzählung<br />

n<strong>ich</strong>t nur Ze<strong>ich</strong>en für biographisch irrelevante Phasen und Bere<strong>ich</strong>e sind, son<strong>der</strong>n<br />

insbeson<strong>der</strong>e auch Ze<strong>ich</strong>en für aus <strong>der</strong> Selbstwahrnehmung <strong>der</strong> Biographen<br />

belastende Zeiten — und dies sind die Zeiten, in denen man eher selbst<br />

motiviert ohne äußeren Zwang im Sinne des NS handelte.<br />

Frau Heidt kann ihre Faszination für die Jungmädel bis <strong>zu</strong>m 14. Lebensjahr<br />

eingestehen. Sie normalisiert sie, indem sie den JM ebenso wie ihr Elternhaus<br />

als unpolitisch charakterisiert. Ihre Strategie, die <strong>ich</strong> als die explizite Entpolitisierung<br />

des eigenen Sozialisations milieus beze<strong>ich</strong>nen möchte, ist eine für die<br />

Frauen <strong>der</strong> HJ-Generation typische (vgl. Rosenthal u.a. 1986).<br />

Im Unterschied <strong>zu</strong> Frau Heidt sind die Biographien <strong>der</strong> ehemaligen HJ-ler<br />

ansonsten meist weit <strong>mehr</strong> vom politischen System des NS durchdrungen als<br />

die Biographien von Angehörigen an<strong>der</strong>er Generationen; die NS-<br />

Vergangenheit wird hier n<strong>ich</strong>t so durchgängig entpolitisiert. Da es den NS-<br />

Pädagogen gelang, einer Vielzahl von Jugendl<strong>ich</strong>en die Gewißheit <strong>zu</strong> ver<strong>mit</strong>teln,<br />

sie seien aktiv am Aufbau des neuen Re<strong>ich</strong>es beteiligt, sie seien die Garanten<br />

<strong>der</strong> Zukunft, fallt es ihnen heute, wollen sie vor s<strong>ich</strong> selbst n<strong>ich</strong>t das<br />

Gefühl <strong>der</strong> Aufr<strong>ich</strong>tigkeit verlieren, n<strong>ich</strong>t so le<strong>ich</strong>t, ihre Vergangenheit vollständig<br />

<strong>zu</strong> entpolitisieren. Ihr vorherrschendes Rechtfertigungsmuster ist ein<br />

an<strong>der</strong>es: Sie waren <strong>zu</strong> jung, um <strong>zu</strong> begreifen. Sie können ihre damalige Begeisterung<br />

offen eingestehen, weil sie s<strong>ich</strong> aufgrund ihres Alters frei von Verantwortung<br />

fühlen und darin durch die von den Alliierten erlassene Jugendamnestie<br />

bestärkt werden. Wenn in dieser Generation entpolitisiert wird, dann sind<br />

es vor allem die Frauen, die wie Frau Heidt meinen, <strong>der</strong> JM o<strong>der</strong> <strong>der</strong> BDM<br />

sei unpolitisch gewesen. Da<strong>mit</strong> tradieren sie die im „Dritten Re<strong>ich</strong>" propagierte<br />

Vorstellung <strong>der</strong> unpolitischen Erziehung <strong>der</strong> Mädchen im Unterschied<br />

<strong>zu</strong> <strong>der</strong> politischen <strong>der</strong> Jungen.<br />

Frau Schild nun, Angehörige <strong>der</strong> Weimarer Jugendgeneration, gelingt es,<br />

ihr gesamtes Leben bis 1945 <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Verwendung des Stereotyps einer Frau<br />

ohne politischen Horizont <strong>zu</strong> entpolitisieren. Diese Entpolitisierung korrespondiert<br />

einerseits <strong>mit</strong> ihrem damaligen Erleben, hat in ihrer Überbetonung<br />

aber an<strong>der</strong>erseits auch aus <strong>der</strong> Gegenwartsperspektive eine Funktion. Frau<br />

Schild kann da<strong>mit</strong> weiterhin die Unwissende gegenüber den Tätigkeiten ihres<br />

Mannes „bleiben", dessen Uk-Stellung vermutl<strong>ich</strong> im Zusammenhang <strong>mit</strong> einer<br />

n<strong>ich</strong>t all<strong>zu</strong> NS-femen Tätigkeit stand und <strong>der</strong> in den Zwangsverkauf jüdischen<br />

Eigentums verstrickt war. Frau Schild war jedenfalls in den 30er Jahren,<br />

ver<strong>mit</strong>telt über ihren Ehemann und dessen Freund, <strong>mit</strong> <strong>der</strong> NS-Verfolgungspolitik<br />

konfrontiert. Da sie n<strong>ich</strong>t behaupten kann, von n<strong>ich</strong>ts gewußt <strong>zu</strong><br />

haben, zieht sie es vor, s<strong>ich</strong> als naive und unpolitische Frau dar<strong>zu</strong>stellen und<br />

234


s<strong>ich</strong> da<strong>mit</strong> weiteren Fragen <strong>zu</strong> entziehen. Wird sie <strong>zu</strong>m Thema <strong>der</strong> Judenverfolgung<br />

direkt angesprochen, benutzt sie Entlastungsargumente wie die Relativierung<br />

<strong>der</strong> deutschen Verbrechen durch den Hinweis auf Verbrechen an<strong>der</strong>er<br />

Nationen o<strong>der</strong> — ähnl<strong>ich</strong> wie Herr Acka — wie die Sympathie einer Jüdin<br />

als Beleg für ihre eigene philose<strong>mit</strong>ische Einstellung.<br />

Wir können an dieser Stelle festhalten, daß die Entpolitisierung des eigenen<br />

Lebens bei Frau Schild wie auch bei Frau Heidt, Frau Borke, Herrn Vogel,<br />

Herrn Sallmann und bei Herrn Acka eine biographische Strategie ist, die die<br />

Rekonstruktion ihrer Lebensgesch<strong>ich</strong>ten konstituiert, während die von ihnen<br />

verwendeten Argumente <strong>zu</strong>r Schuldabweisung und Schuldmin<strong>der</strong>ung Entlastungsargumentationen<br />

sind, die für ihre Erzählungen n<strong>ich</strong>t konstitutiv sind.<br />

Auch bei Herrn Sallmann ist die Verd<strong>ich</strong>tung auf die <strong>Krieg</strong>sjahre die seine<br />

Lebensgesch<strong>ich</strong>te prägende Strategie, während seine biographische Erzählung<br />

weniger von Entlastungsargumenten durchdrungen ist. Er entlastet s<strong>ich</strong><br />

<strong>mit</strong> dem Argument, s<strong>ich</strong> von den NS-Verbrechen aufgrund seiner Zugehörigkeit<br />

<strong>zu</strong>r kämpfenden Truppe, „voll und ganz freisprechen" <strong>zu</strong> können. Erbost<br />

ist er über die den Opfern entgegengebrachte Aufmerksamkeit: Er fühlt s<strong>ich</strong><br />

als unter <strong>Krieg</strong> und Gefangenschan noch immer leiden<strong>der</strong> Veteran ungerecht<br />

behandelt, <strong>hatte</strong> er doch Anerkennung für dieses Leid in <strong>der</strong> Heimat erwartet.<br />

Noch <strong>mehr</strong> als bei Herrn Vogel wird an seiner Gesch<strong>ich</strong>te deutl<strong>ich</strong>, daß die in<br />

<strong>der</strong> Bundesrepublik so häufig an<strong>zu</strong>treffende Empfindungslosigkeit gegenüber<br />

den Opfern des NS auch von <strong>der</strong> <strong>zu</strong> wenig geleisteten Trauerarbeit um die<br />

selbst erlebten traumatischen Situationen <strong>mit</strong>bedingt ist. Doch wie verhält es<br />

s<strong>ich</strong> <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Empathie für die Opfer des NS bei denjenigen, die selbst weniger<br />

traumatische <strong>Krieg</strong>serfahrungen <strong>zu</strong> erleiden <strong>hatte</strong>n, die aber <strong>zu</strong> Zeugen <strong>der</strong> an<br />

an<strong>der</strong>en Menschen verübten bestialischen Verbrechen wurden? Und wie entlasten<br />

s<strong>ich</strong> diese Zeugen und Mitverstrickten in die NS-Verbrechen?<br />

Herr Langenbach und Herr Acka, die als Angehörige <strong>der</strong> Etappe Zeugen<br />

<strong>der</strong> NS-Verbrechen wurden und <strong>der</strong>en <strong>Krieg</strong>serlebnisse n<strong>ich</strong>t vom Verwaltungsmassenmord<br />

<strong>zu</strong> trennen sind, können s<strong>ich</strong> n<strong>ich</strong>t so le<strong>ich</strong>t wie Herr Sallmann<br />

entlasten. Das bestimmende Muster <strong>der</strong> Vergangenheitsrekonstruktion<br />

von Herrn Langenbach ist die Wahrnehmung biographischer Entscheidungen<br />

und Wendepunkte als heteronom produzierte, als von außen auferlegte. Diese<br />

Wahrnehmung eines heteronom produzierten Lebens repräsentiert bei diesem<br />

Fall eine biographische Strategie, die hinter seinem Rücken seine Erzählung<br />

steuert und sein Lebensgefühl ganz entscheidend bestimmt. Es handelt s<strong>ich</strong><br />

hier also n<strong>ich</strong>t um eine „aufgesetzte" Argumentation, die nur <strong>der</strong> Entlastung<br />

dient — wie es bei biographischen Erzählungen von routinierten Angeklagten<br />

vor Ger<strong>ich</strong>t z.B. angewandt wird —, son<strong>der</strong>n ist wesentl<strong>ich</strong>er Bestandteil seiner<br />

biographischen Gesamts<strong>ich</strong>t.<br />

Diese Strategie verhilft Herrn Langenbach zwar da<strong>zu</strong>, den Fragen nach den<br />

eigenen Anteilen seiner Verstrickung in die Geiselerschießungen in Jugoslawien<br />

o<strong>der</strong> nach seiner Sozialisation <strong>zu</strong>m „Wölf 4 — <strong>zu</strong>mindest teilweise —<br />

235


auswe<strong>ich</strong>en <strong>zu</strong> können, doch sie befreit ihn letztl<strong>ich</strong> n<strong>ich</strong>t von Schuldgefühlen,<br />

Alpträumen und hilflosen Aggressionen. Seine Argumente <strong>zu</strong>r Schuldabweisung<br />

an Jugoslawen und sadistische SS-Männer o<strong>der</strong> jene <strong>zu</strong>r Schuldmin<strong>der</strong>ung<br />

aufgrund seiner eigenen Machtlosigkeit und seiner Unkenntnis über die<br />

Judenerschießungen in Polen nehmen ihm seine Schuldgefühle n<strong>ich</strong>t, er wird<br />

viel<strong>mehr</strong> von ihnen in seinen Träumen weiter verfolgt.<br />

Herr Acka als weiterer Zeuge <strong>der</strong> NS-Verbrechen wendet die biographische<br />

Strategie <strong>der</strong> Verd<strong>ich</strong>tung des „Dritten Re<strong>ich</strong>es" auf die <strong>Krieg</strong>sjahre an und<br />

kann s<strong>ich</strong> so<strong>mit</strong> Fragen nach seinen parteipolitischen Aktivitäten vor dem<br />

<strong>Krieg</strong>seinsatz entziehen. Mit <strong>der</strong> Ausblendung <strong>der</strong> vormilitärischen Zeit steht<br />

er jedoch vor dem Dilemma, daß die Zeit, über die er viel erzählt, die ihn belastendem<br />

Zeit ist. Während Herr Langenbach noch heute hilflos unter seiner<br />

Verstrickung in die Verbrechen leidet und Gefühle <strong>der</strong> Trauer und <strong>der</strong> Wut <strong>zu</strong>läßt,<br />

wirkt Herr Acka bei diesem Themenbere<strong>ich</strong> eher emotionslos. Auch hat<br />

er im Unterschied <strong>zu</strong> Herrn Langenbach ein ausgefeilteres Repertoire an<br />

Rechtfertigungen entwickelt bzw. übernommen. Vor allem eine Reparatur, die<br />

aus seiner Strategie <strong>der</strong> Verd<strong>ich</strong>tung auf die unpolitischen <strong>Krieg</strong>sjahre resultiert,<br />

hilft ihm, die NS-Verbrechen <strong>zu</strong> normalisieren: Er subsumiert sie unter<br />

das <strong>Krieg</strong>sgeschehen. Des weiteren entlastet er s<strong>ich</strong> <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Sympathie von<br />

Verfolgten, <strong>der</strong> Sühne durch die <strong>Krieg</strong>sverbrecherprozesse in Nürnberg und<br />

<strong>mit</strong> <strong>der</strong> Schuld<strong>zu</strong>weisung an die jüdische Bevölkerung selbst. Doch auch er<br />

leidet unter seiner Zeugenschaft o<strong>der</strong> Mitverstrickung, auch er will wie Herr<br />

Langenbach über diese Erlebnisse sprechen können, um s<strong>ich</strong> von ihnen <strong>zu</strong> befreien.<br />

Diese beiden Männer, die direkt <strong>mit</strong> dem Massenmord konfrontiert<br />

waren, können also diese problematische Zeit n<strong>ich</strong>t so einfach ausblenden wie<br />

die Zeitzeugen, die nur die Vorze<strong>ich</strong>en des Massenmords gesehen haben.<br />

Konnte man schon damals „wegsehen", wenn jüdische Nachbarn abgeholt<br />

wurden o<strong>der</strong> die SA <strong>der</strong>en Geschäfte und Wohnungen demolierte und jüdische<br />

Bürger prügelte, so kann man heute erst recht diese Erinnerungen verleugnen<br />

und n<strong>ich</strong>t darüber erzählen. Doch Zeugen <strong>der</strong> Massenerschießungen wie Herr<br />

Acka und Herr Langenbach konnten wohl schon damals kaum <strong>mit</strong> Wahrnehmungsabwehr<br />

reagieren, noch weniger können sie s<strong>ich</strong> heute, wollen sie n<strong>ich</strong>t<br />

das Gefühl <strong>der</strong> Aufr<strong>ich</strong>tigkeit vor s<strong>ich</strong> selbst verlieren, <strong>mit</strong> dem Argument<br />

„wir haben von n<strong>ich</strong>ts gewußt" entlasten. Sie haben das Grauen direkt vor Augen<br />

gehabt, und deshalb werden sie vom Leid <strong>der</strong> Opfer und von den Taten <strong>der</strong><br />

Täter weit <strong>mehr</strong> verfolgt als an<strong>der</strong>e, n<strong>ich</strong>t so un<strong>mit</strong>telbar Konfrontierte.<br />

Leiden die Soldaten <strong>der</strong> Etappe, die weit eher Zeugen <strong>der</strong> Verbrechen gegen<br />

die Menschl<strong>ich</strong>keit wurden als die Soldaten <strong>der</strong> fechtenden Truppe, zwar weniger<br />

unter selbst erlittenen traumatischen <strong>Krieg</strong>serlebnissen, so werden sie<br />

dagegen von Szenen des Schreckens, des bestialischen Ermordens von Menschen<br />

und da<strong>mit</strong> von stärkeren Scham- und Schuldgefühlen verfolgt als die<br />

Frontsoldaten und die von schweren Bombenangriffen betroffene Zivilbevölkerung.<br />

Es mag vielle<strong>ich</strong>t abenteuerl<strong>ich</strong> klingen, doch kann man n<strong>ich</strong>t die<br />

236


These formulieren, daß die Zeugen des Völkermords, die ja viel <strong>mehr</strong> verstrickt<br />

sind als an<strong>der</strong>e, s<strong>ich</strong> auch eher vom Leid <strong>der</strong> Opfer berührt fühlen und<br />

viel weniger <strong>der</strong>en Schicksal aus ihrem Gedächtnis abwehren als diejenigen,<br />

die n<strong>ich</strong>t un<strong>mit</strong>telbar Zeugen des Massenmords wurden? O<strong>der</strong> handelt es s<strong>ich</strong><br />

nur um Selbst<strong>mit</strong>leid darüber, daß man dies <strong>mit</strong>ansehen o<strong>der</strong> gar <strong>mit</strong>machen<br />

mußte? Herr Langenbach und Herr Acka repräsentieren diesen Typus, <strong>der</strong> nur<br />

Mitleid <strong>mit</strong> s<strong>ich</strong> selbst hat, m.E. n<strong>ich</strong>t. Es wäre auch problematisch, verfolgte<br />

man nur die Hypothese, die Täter hätten keine Schuldgefühle, da man da<strong>mit</strong><br />

das „Böse 44 und das „Gute 44 d<strong>ich</strong>otomisieren würde und die Täter <strong>zu</strong> Bestien<br />

deklarierte, die an<strong>der</strong>s sind als die an<strong>der</strong>en und vor allem als wir selbst (vgl.<br />

Kap. 4.3).<br />

Auch wenn uns bei Herrn Acka Emotionslosigkeit aufgefallen ist und wir<br />

wenig Gefühle von Schuld bemerkt haben, so setzt er s<strong>ich</strong> doch <strong>mehr</strong> als an<strong>der</strong>e<br />

<strong>mit</strong> den Verbrechen auseinan<strong>der</strong> bzw. bemüht s<strong>ich</strong>, Schuld ab<strong>zu</strong>weisen<br />

o<strong>der</strong> <strong>zu</strong> min<strong>der</strong>n. M.a.W.: Indem er diese Strategien anwendet — so peinl<strong>ich</strong><br />

sie auch sein mögen — gesteht er implizit das Problem einer schuldhaften Verstrickung<br />

im Unterschied <strong>zu</strong> denen ein, die über die politische Haftung <strong>der</strong><br />

Deutschen n<strong>ich</strong>t nachdenken. Je <strong>mehr</strong> s<strong>ich</strong> die Zeugen <strong>mit</strong> dem Leid <strong>der</strong> Opfer<br />

konfrontierten, sofern sie diese n<strong>ich</strong>t völlig als „Ungeziefer 44<br />

entmenschl<strong>ich</strong>t<br />

<strong>hatte</strong>n, um so <strong>mehr</strong> waren sie dann wie<strong>der</strong>um — um n<strong>ich</strong>t <strong>zu</strong> zerbrechen —<br />

<strong>zu</strong>r Abwehr dieses Leids genötigt. So bauten sie <strong>mit</strong> Entlastungsargumenten<br />

<strong>zu</strong>r Schuldabweisung und Schuldmin<strong>der</strong>ung Schutzmauern auf. Wir können<br />

also annehmen, daß Argumentationen <strong>zu</strong>r Schuldabweisung und Schuldrelativierung<br />

weit eher von Zeugen und Tätern <strong>der</strong> Verbrechen verwendet werden<br />

als von denen, die n<strong>ich</strong>t un<strong>mit</strong>telbar <strong>mit</strong> dem Massenmord konfrontiert waren.<br />

Diese Entlastungsargumente dürfen jedoch n<strong>ich</strong>t einfach als mangelnde Auseinan<strong>der</strong>set<strong>zu</strong>ng<br />

<strong>mit</strong> den Opfern verstanden werden. Vermutl<strong>ich</strong> haben s<strong>ich</strong><br />

die Zeugen und auch die Täter stärker <strong>mit</strong> diesem Thema konfrontiert und<br />

brauchen daher diese Argumentationen als Schutz, während s<strong>ich</strong> die an<strong>der</strong>en<br />

<strong>der</strong> Thematik <strong>der</strong> Verbrechen entziehen können.<br />

Resümee<br />

Die vorliegenden Fallanalysen zeigen sehr deutl<strong>ich</strong>, daß die biographische<br />

Strategie <strong>der</strong> Entpolitisierung <strong>der</strong> NS-Vergangenheit ganz wesentl<strong>ich</strong> die einzelnen<br />

Biographien prägt und wohl auch den Diskurs über die <strong>Krieg</strong>s- und<br />

NS-Vergangenheit in <strong>der</strong> Bundesrepublik weitgehend bestimmt. Im Unterschied<br />

<strong>zu</strong> Entlastungsargumentationen <strong>zu</strong>r „Schuldabweisung* 4<br />

o<strong>der</strong> <strong>zu</strong>r<br />

„Schuldrelativierung <strong>der</strong> NS-Verbrechen 44<br />

ist diese biographische Strategie<br />

für den Rückblick auf diese Vergangenheit, für das Leben heute <strong>mit</strong> dieser<br />

Vergangenheit und da<strong>mit</strong> auch für unsere Zukunft entscheidend.<br />

Doch kann man denn überhaupt von Entpolitisierung auch bei all den Zeitzeugen<br />

sprechen, die s<strong>ich</strong> schon während des „Dritten Re<strong>ich</strong>es 44<br />

n<strong>ich</strong>t als poli-<br />

237


tische Personen verstanden, s<strong>ich</strong> viel<strong>mehr</strong> während <strong>der</strong> 12 Jahre <strong>zu</strong>m politischen<br />

System in Distanz gehalten haben? Sind es denn n<strong>ich</strong>t nur die ehemals<br />

politisch Aktiven, die in/politisieren? Ob die Zeitzeugen nun das Ziel verfolgen,<br />

ein ehemals politisches Engagement <strong>zu</strong> verschleiern, o<strong>der</strong> ihren vorherrschenden<br />

Wahrnehmungsstil eines eigenen vom politischen System losgelösten<br />

Lebens aufrechterhalten, sie praktizieren jeweils die Herauslösung <strong>der</strong><br />

zwölf Jahre des „Dritten Re<strong>ich</strong>es" aus dem politischen Rahmen des NS und<br />

können s<strong>ich</strong> da<strong>mit</strong> <strong>der</strong> Frage nach <strong>der</strong> Verstrickung in das politische System<br />

des NS entziehen. Außerdem spielen bei <strong>der</strong> Frage, weshalb die Bundesbürger<br />

s<strong>ich</strong> heute bei bestimmten Argumentationen einig sind und diese Argumente<br />

da<strong>mit</strong> <strong>zu</strong> kollektiv geteilten Deutungen geworden sind, die den Umgang<br />

<strong>mit</strong> <strong>der</strong> Vergangenheit in <strong>der</strong> Bundesrepublik bestimmen, die Intentionen <strong>der</strong><br />

Subjekte, weshalb sie etwas als unpolitisch darstellen, keine Rolle <strong>mehr</strong>. Deshalb<br />

verwende <strong>ich</strong> den Begriff <strong>der</strong> Entpolitisierung auch in einem n<strong>ich</strong>t an die<br />

Intentionen <strong>der</strong> Subjekte gebundenen Sinne.<br />

Drei Typen von Entpolitisierungsstrategien ließen s<strong>ich</strong> anhand <strong>der</strong> vorliegenden<br />

Lebensgesch<strong>ich</strong>ten rekonstruieren: das implizite Ausblenden des NS<br />

aus <strong>der</strong> Lebensgesch<strong>ich</strong>te, die Verd<strong>ich</strong>tung des NS auf die entpolitisierten<br />

<strong>Krieg</strong>sjahre und die explizite Entpolitisierung des eigenen Sozialisationsmilieus.<br />

Etl<strong>ich</strong>e Hinweise sprechen dafür, daß die Verwendung dieser Typen <strong>mit</strong><br />

<strong>der</strong> Generations<strong>zu</strong>gehörigkeit korrespondiert. D.h. jedoch n<strong>ich</strong>t, daß das Auftreten<br />

dieser Typen auf bestimmte Generationen beschränkt ist, son<strong>der</strong>n ledigl<strong>ich</strong>,<br />

daß sie fur bestimmte Generationen typischer sind als fur an<strong>der</strong>e.<br />

Das Ausblenden des NS aus <strong>der</strong> Lebensgesch<strong>ich</strong>te ist typisch fur die<br />

Wtlhelminer-Jugendgeneration, die Verd<strong>ich</strong>tung des NS auf die <strong>Krieg</strong>sjahre<br />

für die Weimarer Jugendgeneration und die Entpolitisierung des eigenen Sozialisationsmilieus<br />

für die HJ-Generation.<br />

Gemeinsam ist den Angehörigen aller Generationen <strong>der</strong> Versuch, s<strong>ich</strong> aus<br />

den Verstrickungen in eine gelebte Vergangenheit <strong>zu</strong> lösen, indem sie — bewußt<br />

o<strong>der</strong> unbewußt — versuchen, diese Verstrickungen <strong>zu</strong> leugnen. Für die<br />

Soziologin stellt s<strong>ich</strong> hier die Frage: wie war es mögl<strong>ich</strong>, daß Angehörige unterschiedl<strong>ich</strong>er<br />

Generationen <strong>mit</strong> sehr unterschiedl<strong>ich</strong>en Vergangenheiten s<strong>ich</strong><br />

auf diese Art <strong>der</strong> Normalisierung einigten? Was waren die Bedingungen für<br />

die Institutionalisierung dieses Deutungsmusters einer unpolitischen Vergangenheit?<br />

Da<strong>zu</strong> möchte <strong>ich</strong> <strong>zu</strong>m Abschluß einige Gedanken vorstellen.<br />

Etl<strong>ich</strong>e Angehörige aller Generationen werden schon während des „Dritten<br />

Re<strong>ich</strong>es" <strong>zu</strong>mindestens <strong>mit</strong> dem diffusen Gefühl, daß Unrecht geschehe, <strong>zu</strong><br />

kämpfen gehabt haben und versucht haben, es „weg<strong>zu</strong>schieben", es n<strong>ich</strong>t <strong>zu</strong><br />

thematisieren bzw. bestimmte Ereignisse erst gar n<strong>ich</strong>t wahr<strong>zu</strong>nehmen. D.h.,<br />

schon während <strong>der</strong> zwölf Jahre von 1933-45 etablierte s<strong>ich</strong> ein<br />

Wahrnehmungs- und Verhaltensstil im Sinne <strong>der</strong> „Abwehr", des S<strong>ich</strong>-vom-<br />

Leibe-Haltens des Politischen. Karl Jaspers spr<strong>ich</strong>t in seinen Vorlesungen <strong>zu</strong>r<br />

Schuldfrage im Wintersemester 1945/46 vom Zustand <strong>der</strong> Fremdheit <strong>der</strong> mei-<br />

238


sten Deutschen <strong>zu</strong>m Politischen: „Die Staatsmacht wird n<strong>ich</strong>t als die eigene Sache<br />

gefühlt. Man weiß s<strong>ich</strong> n<strong>ich</strong>t <strong>mit</strong>verantwortl<strong>ich</strong>, son<strong>der</strong>n sieht politisch untätig<br />

<strong>zu</strong>, arbeitet und handelt in blindem Gehorsam" (1987: 20). Diese Fremdheit<br />

gegenüber dem Politischen diente dann auch nach 1945 da<strong>zu</strong>, <strong>der</strong> Frage<br />

nach <strong>der</strong> eigenen Verstrickung auswe<strong>ich</strong>en <strong>zu</strong> können.<br />

Eine weitere Bedingung für die Institutionalisierung <strong>der</strong> Normalisierungsstrategie<br />

<strong>der</strong> Entpolitisierung waren die durch die Anfor<strong>der</strong>ungen des Lebensalltags<br />

nach 1945 notwendigen Reparaturen einer gebrochenen Identität. Viele<br />

<strong>der</strong> n<strong>ich</strong>t verfolgten Zeitzeugen des NS gerieten spätestens 1945 in biographisch<br />

relevante Orientierungskrisen, in denen die Vergangenheit fragwürdig wurde<br />

und sie s<strong>ich</strong> selbst fragen mußten, wie das alles mögl<strong>ich</strong> war und welche Rolle<br />

sie in den zwölf Jahren eingenommen <strong>hatte</strong>n. All diejenigen, die auf den Sieg<br />

Deutschlands gehofft und Lebenspläne entwickelt <strong>hatte</strong>n, die an den Fortbestand<br />

des Dritten Re<strong>ich</strong>es gebunden waren, standen n<strong>ich</strong>t nur vor den Trümmern<br />

ihrer Ideale, son<strong>der</strong>n auch vor einer bedrohten biographischen Gegenwart<br />

und Zukunft — und da<strong>mit</strong> auch vor einer fragwürdigen Vergangenheit. Diese<br />

Krisen implizieren jedoch immer die Gefahr einer Handlungsblockierung, so<br />

daß viele Deutsche recht schnell <strong>zu</strong> einer Normalisierung <strong>der</strong> Vergangenheit<br />

neigten, die vor allem bedeutete, das Vergangene <strong>zu</strong><strong>zu</strong>decken und n<strong>ich</strong>t <strong>mehr</strong><br />

darüber <strong>zu</strong> reden. Völlig konnte dies jedoch n<strong>ich</strong>t gelingen, da eine De-<br />

Thematisierung <strong>der</strong> Vergangenheit bedeutet hätte, daß man s<strong>ich</strong> selbst auch seiner<br />

biographischen Vergangenheit hätte berauben müssen. Genau dies war nach<br />

1945 für viele das Dilemma: auf <strong>der</strong> einen Seite konnte man s<strong>ich</strong> selbst n<strong>ich</strong>t als<br />

vergangenheitsloses Wesen darstellen bzw. Identität ohne Gesch<strong>ich</strong>te bewahren,<br />

doch auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite war diese Vergangenheit belastend. Dieses Dilemma<br />

erfor<strong>der</strong>te eine Deutung, die <strong>zu</strong>mindest oberflächl<strong>ich</strong> das Problem löste.<br />

Hier bot s<strong>ich</strong> die Entpolitisierung als eine geeignete Strategie an: man löste<br />

seine Vergangenheit, seine Verstrickung in das politische System des Nationalsozialismus,<br />

z.B. auch in eine NS-Organisation, aus dem politischen Zusammenhang.<br />

In diesem Herauslösen <strong>der</strong> eigenen Vergangenheit aus <strong>der</strong> kollektiven, aus<br />

<strong>der</strong> politischen Vergangenheit waren s<strong>ich</strong> die Zeitzeugen gle<strong>ich</strong> welchen Geschlechts,<br />

welcher Generation und biographischen Vergangenheit einig — so<br />

daß je<strong>der</strong> jeden <strong>mit</strong> seinen recht inkonsistenten Argumentationen und ebenso<br />

<strong>mit</strong> seiner „braunen" Vergangenheit leben ließ. Die Zeitzeugen spürten zwar<br />

sehr genau die Brüchigkeit ihrer Argumentationen, doch sie konfrontierten<br />

die an<strong>der</strong>en n<strong>ich</strong>t da<strong>mit</strong>, um n<strong>ich</strong>t die Gefahr ein<strong>zu</strong>gehen, auf ihre eigenen Wi<strong>der</strong>sprüche<br />

hingewiesen <strong>zu</strong> werden. Und so stimmen sie in <strong>der</strong> Vorstellung<br />

überein, am besten n<strong>ich</strong>t <strong>mehr</strong> über die NS-Vergangenheit, son<strong>der</strong>n lieber<br />

über die vom NS scheinbar „gereinigten" Ereignisse wie z.B. die <strong>Krieg</strong>svergangenheit<br />

<strong>zu</strong> reden.<br />

Da<strong>mit</strong> werden diese Normalisierungsstrategien auch für diejenigen <strong>zu</strong> einer<br />

zwingenden Realität, die dieser Deutungen n<strong>ich</strong>t bedürfen, die n<strong>ich</strong>t vor dem<br />

239


Problem stehen, daß bei einer Aufdeckung <strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>sprüche ihrer Argumentationen<br />

auch ihr Leben vor 1945 problematisch wird. Nur <strong>zu</strong>m Preis, ins Ausseits<br />

gedrängt <strong>zu</strong> werden, können sie s<strong>ich</strong> gegen diese Deutungen stellen.<br />

Und so wurde und wird diese Vermeidungshaltung von <strong>der</strong> Eltern-<br />

Generation (Wilhelminer-, Weimarer-, HJ-Generation) tradiert an die Kin<strong>der</strong>-<br />

Generationen (HJ-, 68er- und Wirtschaftswun<strong>der</strong>-Generation) und zeigt s<strong>ich</strong><br />

auch noch dort wirksam, wo die Kin<strong>der</strong> die Eitern massiv und direkt <strong>mit</strong> Fragen<br />

konfrontieren 10 . Im Unterschied <strong>zu</strong> den Zeitzeugen haben die Kin<strong>der</strong> und<br />

Enkel keinen un<strong>mit</strong>telbaren Zugriff auf diese Gesch<strong>ich</strong>te <strong>mehr</strong>; sie kennen oft<br />

nur die Tabus, haben gelernt, welche Fragen sie stellen können und welche<br />

n<strong>ich</strong>t und <strong>mit</strong> welchen Fragen sie die Eltern und Großeltern attackieren können,<br />

ohne jedoch tatsächl<strong>ich</strong> etwas über <strong>der</strong>en Vergangenheiten <strong>zu</strong> erfahren.<br />

Während die Zeitzeugen noch Zugang <strong>zu</strong>r Vergangenheit haben o<strong>der</strong> finden<br />

können, hat die Generation <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> oft nur diffuse Vermutungen. Je nach<br />

Tendenz in R<strong>ich</strong>tung Rechtfertigung o<strong>der</strong> Anklage kann sie die Familienvergangenheit<br />

<strong>mit</strong> abenteuerl<strong>ich</strong>en Phantasien anfüllen o<strong>der</strong> durch das Wissen<br />

von <strong>der</strong> kollektiven Gesch<strong>ich</strong>te des „Dritten Re<strong>ich</strong>es" ersetzen.<br />

Anmerkungen<br />

1 Der Psychiater Erwin Straus (1930) diskutiert im Zusammenhang <strong>der</strong> Frage des Allgemeinen<br />

im Individuellen den Fetischismus unter dieser Lesart.<br />

2 Zum .politischen Soldaten* vgl. Hans-Jochen Gamm (1964: 28ff), Gabriele Rosenthal (1987b:<br />

73ff), Fritz Stippel (1957: 178ff).<br />

3 Zur nachlassenden Identifikation <strong>mit</strong> dem NS und <strong>zu</strong>nehmenden <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Institution <strong>der</strong> Wehrmacht<br />

bei den Schülersoldaten, den Flakhelfern, vgl. Schorken (1984).<br />

4 Hier treffen wir ein Soldatentum an, das s<strong>ich</strong> <strong>mit</strong> den Analysen von Lutz Niethammer (1986:<br />

226 ff.) von Arbeiterbiographien etwa <strong>der</strong> gle<strong>ich</strong>en Jahrgange deckt.<br />

5 Vgl. die von Angelika Puhlmann (1986) besprochene Lebensgesch<strong>ich</strong>te von Klaus Tischler<br />

und die von Gabriele Rosenthal (1986a) von Manfred Sommer.<br />

6 Zum Zusammenhang zwischen Orientierungskrisen und Auseinan<strong>der</strong>set<strong>zu</strong>ng <strong>mit</strong> <strong>der</strong> NS-<br />

Vergangenheit vgl. Rosenthal (1987: 108-114) sowie dies. (1989).<br />

7 Vgl. hier<strong>zu</strong> auch die Befragung von ca. 500 deutschen Familien im Winter 1946 / 47 von Hüde<br />

Thurwald (1948). Hier wird insbeson<strong>der</strong>e auch über die Schwierigkeit <strong>der</strong> Männer <strong>mit</strong> <strong>der</strong><br />

von Frauen erre<strong>ich</strong>ten Selbständigkeit ber<strong>ich</strong>tet (197ff.)<br />

8 Zum Zusammenhang zwischen dem Auftreten von Lebenskrisen und bedrohter Zukunft, Gegenwart<br />

und Vergangenheit vgl. Rosenthal (1989).<br />

9 Zur theoretischen Diskussion von Erleidensprozessen vs. Handlungsprozessen vgl. Fritz<br />

Schütze (1981; 1983a).<br />

K) Zur Problematik <strong>der</strong> NS-Vergangenheit in Familien vgl. Bar-On (1988b; 1989); Overbeck<br />

(1987); Salm (1988); Süerlin (1988).<br />

240


6. Methodischer Anhang<br />

Christiane<br />

dl Die<br />

Grote<br />

Datenerhebung<br />

Kontaktaufnahme<br />

Um Gesprächspartnerinnen für unsere Untersuchung <strong>zu</strong> finden, bedienten<br />

wir uns eines ebenso naheliegenden wie einfachen Mittels: Wir inserierten im<br />

Herbst 1986 in zwei lokalen Tageszeitungen <strong>mit</strong> folgendem Anzeigentext:<br />

„Befragung <strong>zu</strong>m <strong>Krieg</strong>serleben. Wir, eine Gruppe von Studentinnen, suchen fur eine Studie<br />

über das Erleben des Zweiten Weltkrieges Gesprächspartnerl nnen. Es interessieren uns sowohl<br />

die personl<strong>ich</strong>en Erlebnisse <strong>der</strong> Zivilbevölkerung als auch die <strong>der</strong> Wehrmachtsangehörigen. Wir<br />

freuen uns, wenn Sie s<strong>ich</strong> <strong>zu</strong> einem Gespräch <strong>mit</strong> uns bereit erklaren. (Telefonangabe)"<br />

In ersten telefonischen Kontaktgesprächen wurden die Interessentinnen<br />

über Inhalt und Zielset<strong>zu</strong>ng <strong>der</strong> Untersuchung informiert. Waren die Anruferinnen<br />

dann <strong>zu</strong> einem Gespräch bereit, baten wir sie um ihre Einwilligung <strong>zu</strong>r<br />

Aufze<strong>ich</strong>nung des Gesprächs auf Tonband.<br />

Das biographisch-narrative<br />

Interview<br />

Gemäß dem schon in <strong>der</strong> Anzeige formulierten Anliegen unserer Projektstudie<br />

<strong>kam</strong> es uns vor allem darauf an, unsere Gesprächspartnerinnen <strong>zu</strong> Erzählungen<br />

über ihre eigenen Erfahrungen <strong>zu</strong> ermuntern und ihnen dabei mögl<strong>ich</strong>st<br />

viel Raum für die Entfaltung ihrer eigenen Relevanzen <strong>zu</strong> lassen.<br />

Die von Fritz Schütze entwickelte Methode des narrativen Interviews<br />

kommt diesem Interesse insofern entgegen, als sie nach einer allgemeinen Erzählauffor<strong>der</strong>ung<br />

<strong>zu</strong>nächst auf den steuernden Eingriff von Fragen verz<strong>ich</strong>tet<br />

und den Gesprächpartnerinnen erlaubt, entlang ihres persönl<strong>ich</strong>en „roten Fadens"<br />

<strong>zu</strong> erzählen.<br />

Grundlegend ist die Annahme, daß die Kommunikation im narrativen Interview<br />

alltägl<strong>ich</strong>er Kommunikation gle<strong>ich</strong>t und daher <strong>mit</strong> gle<strong>ich</strong>en Aufgaben<br />

konfrontiert ist wie diese: <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Verständigungserzeugung und -S<strong>ich</strong>erung<br />

einerseits und <strong>der</strong> Konstitution und Aufrechterhaltung <strong>der</strong> Kommunikation<br />

sowie <strong>der</strong> Organisation des Gesprächsablaufs an<strong>der</strong>erseits. Die Auffor<strong>der</strong>ung,<br />

über eigene Erfahrungen <strong>zu</strong> erzählen, appelliert an einen Handlungstypus, das<br />

Erzählen, <strong>der</strong> jedem sozialisierten Gesellschafts<strong>mit</strong>glied vertraut ist. Das<br />

narrative Interview als Erhebungsinstrument knüpft also an alltagsweltl<strong>ich</strong><br />

verankerte Handlungskompetenzen an, um diese fur die sozialwissenschaftl<strong>ich</strong>e<br />

Analyse fruchtbar <strong>zu</strong> machen.<br />

241


Der Erzählung 1 — als Modus retrospektiver Erfahrungsaufbereitung —<br />

kommt dabei eine privilegierte Stellung <strong>zu</strong>. Im Gegensatz <strong>zu</strong> Beschreibungen<br />

und Argumentationen — so Schütze (1977) — seien Erzählungen eigenerlebter<br />

Erfahrungen „diejenigen vom thematisch interessierenden faktischen Handeln<br />

abgehobenen sprachl<strong>ich</strong>en Texte, die diesem am nächsten stehen." Zwar<br />

sind gegen diese These Einwände erhoben worden (vgl. u.a. Bude 1985), wobei<br />

beson<strong>der</strong>s die Problematik <strong>der</strong> Fiktionalität von Erzählungen und <strong>der</strong><br />

Identifikation von Erfahrungsrekapitulation und Erfahrung angesprochen<br />

worden sind, dennoch geben biographische Großerzählungen unserer Meinung<br />

nach am ehesten Aufschluß über <strong>zu</strong>rückliegende Motivationen und Erfahrungen.<br />

Die Auffor<strong>der</strong>ung, das eigene Leben unter einer bestimmten thematischen<br />

Perspektive <strong>zu</strong> erzählen, stellt beson<strong>der</strong>s hohe Anfor<strong>der</strong>ungen an die „retrospektive<br />

Kompetenz", worunter <strong>mit</strong> Schütze (1976: 18 ff) die Fähigkeit <strong>zu</strong>m Bilden<br />

von Zusammenhängen und <strong>zu</strong> ihrer Gew<strong>ich</strong>tung, <strong>zu</strong>m Darstellen <strong>der</strong> intentionalen<br />

Motivationsstruktur und <strong>zu</strong>r Bewertung und Legitimation verstanden<br />

werden kann. Themenvorgabe <strong>der</strong> Interviewerinnen und begrenzte Ressourcen<br />

wie Zeit und Konzentrationsvermögen nötigen die Erzählerinnen da<strong>zu</strong>, eine<br />

Auswahl aus <strong>der</strong> Vielzahl ihrer Erfahrungen <strong>zu</strong> treffen. Dies impliziert jedoch<br />

keineswegs die Vorstellung, die Erzählerinnen könnten eine beliebige Version<br />

ihrer Lebensgesch<strong>ich</strong>ten liefern. Zwar werden erzählte Lebensgesch<strong>ich</strong>ten in<br />

<strong>der</strong> Interaktion zwischen Erzählerinnen und Zuhörerlnnen konstituiert, doch<br />

sind die Selektionen <strong>der</strong> erzählten Lebensgesch<strong>ich</strong>ten keineswegs willkürl<strong>ich</strong><br />

und in je<strong>der</strong> Situation völlig verschieden. Viel<strong>mehr</strong> findet die Selektion auf <strong>der</strong><br />

Grundlage des in <strong>der</strong> Gegenwart geltenden biographischen Gesamtkonstrukts<br />

statt: „Die Konstitution <strong>der</strong> eigenen Lebensgesch<strong>ich</strong>te erfolgt in ihrer Globalstruktur<br />

retrospektiv von einem bestimmten Bild <strong>der</strong> „Gegenwart" aus." (Fischer<br />

1978: 322) Dabei werden mögl<strong>ich</strong>e, aber n<strong>ich</strong>t realisierte vergangene<br />

Handlungsalternativen in <strong>der</strong> Regel ausgeblendet, gle<strong>ich</strong>zeitig stattfindende Ereignisse<br />

in die serielle Abfolge <strong>der</strong> Erzählung eingepaßt.<br />

Die Notwendigkeit <strong>der</strong> Selektion fuhrt <strong>zu</strong> <strong>der</strong> Frage, was den Erzählerinnen<br />

als erzählenswert gilt bzw. von welcher Qualität die Erfahrungen sein müssen,<br />

um erzählenswert <strong>zu</strong> sein. Quasthoff (1980: 112) sieht ein gewisses Maß an<br />

„Ungewöhnl<strong>ich</strong>keit" als notwendige Bedingung für die Erzählbarkeit — was<br />

aber bedeutet ein gewisses Maß an „Ungewöhnl<strong>ich</strong>keit" auf <strong>der</strong> Ebene <strong>der</strong><br />

Lebenszeit, auf die das biographische Interview referiert? Es bedeutet <strong>zu</strong>nächst,<br />

daß wie<strong>der</strong>kehrende Routinen des Alltags n<strong>ich</strong>t erzählt werden (vgl.<br />

Rosenthal 1987: 136). Erzählt werden viel<strong>mehr</strong> — <strong>mit</strong> Hilfe <strong>der</strong> fur Erzählungen<br />

typischen Mittel <strong>der</strong> szenisch-dramatischen Darstellung wie direkter<br />

Rede, evaluativer und expressiver Sprachformen — Kulminationspunkte von<br />

Ereignisketten o<strong>der</strong> Wendepunkte, durch die s<strong>ich</strong> das in <strong>der</strong> betreffenden Lebensphase<br />

bisher gültige Deutungssystem verän<strong>der</strong>t hat. Die zwischen diesen<br />

Situationshöhepunkten liegenden Ereignisse werden hingegen gerafft.<br />

242


Das biographisch-narrative Interview umfaßt im wesentl<strong>ich</strong>en zwei Phasen:<br />

die autobiographische Großerzählung und die Phase narrativer Nachfragen,<br />

die ihrerseits erzählinterne und erzählexterne Nachfragen einschließt.<br />

Die autobiographische Grqßerzjahlung. Zu Beginn eines Interviews werden<br />

die Gesprächspartnerinnen nach einer Warming-up-Phase <strong>mit</strong> Hilfe einer Erzählauffor<strong>der</strong>ung,<br />

<strong>der</strong> Eingangsfrage, <strong>zu</strong> einer biographischen Großerzählung<br />

ermuntert. Diese Eingangsfrage steckt den thematischen Rahmen ab, sollte<br />

aber den Darstellungsspielraum <strong>der</strong> Informantinnen n<strong>ich</strong>t einschränken. Vor<br />

allem sollte dieses Thema „erzählgenerierend" wirken, d.h. es sollte „relevante<br />

Aspekte <strong>der</strong> Lebensführung" berühren, wie Schütze (1977: 17) es formuliert,<br />

„über die <strong>zu</strong> ber<strong>ich</strong>ten ... <strong>der</strong> Mühe wert erscheint." Die Formulierung<br />

<strong>der</strong> Eingangsfrage sollte <strong>zu</strong>dem einen hinre<strong>ich</strong>end „unproblematischen Charakter"<br />

haben, bei den Erzählerinnen also mögl<strong>ich</strong>st n<strong>ich</strong>t Scham- o<strong>der</strong> Peinl<strong>ich</strong>keitsgefühle<br />

hervorrufen, die <strong>zu</strong> Erzählbarrieren führen könnten.<br />

Ist die biographische Großerzählung in Gang gekommen, bemühen s<strong>ich</strong> die<br />

Interaktionspartnerinnen um die Herstellung und Aufrechterhaltung <strong>der</strong> Interaktionsreziprozität.<br />

Die Erzählerinnen tun dies beispielsweise, indem sie die<br />

Erzählungen auf die unterstellten Hörerinneninteressen und -bedürfhisse <strong>zu</strong>schneiden,<br />

die Hörerinnen, indem sie immer wie<strong>der</strong> ihr Interesse an <strong>der</strong> Erzählung<br />

und ihre Fähigkeit <strong>zu</strong>r Empathie bekunden. Dies geschieht vor allem <strong>mit</strong><br />

Hilfe parasprachl<strong>ich</strong>er Mittel. In den meisten Fällen können die Införmantlnnen<br />

dadurch <strong>zu</strong> ausführl<strong>ich</strong>en biographischen Großerzählungen motiviert werden.<br />

Die Phase <strong>der</strong> narrativen Nachfragen. Während <strong>der</strong> gesamten Eingangserzählung<br />

hören die Interviewerinnen aufmerksam <strong>zu</strong>. Haben die Gesprächspartnerinnen<br />

das Ende <strong>der</strong> autobiographischen Eingangserzählung signalisiert<br />

(z.B. durch eine Endevaluation wie. „ja, das war es"), werden in <strong>der</strong><br />

zweiten Phase des narrativen Interviews Lücken und Unplausibilitäten <strong>der</strong><br />

Eingangserzählung o<strong>der</strong> auch Ereignisse, die den Interviewerinnen zwar relevant<br />

erscheinen, von den Erzählerinnen aber nur angerissen wurden, noch<br />

einmal angesprochen. Diese Fokussierung einzelner Themen durch erzählinterne<br />

Nachfragen soll die Gesprächpartnerinnen erneut in Erzählfluß versetzen<br />

und weitere Erzählungen evozieren. Dieses Ziel verfehlen indessen direkte<br />

Nachfragen nach persönl<strong>ich</strong>en Meinungen und Einstellungen (z.B. sog.<br />

„Warum-Fragen"), da sie Argumentationen und Legitimationen provozieren.<br />

Die Nachfragen sollten daher etwa in folgen<strong>der</strong> Form gestellt werden: „Sie<br />

sprachen vorhin vom ersten Bombenangriff. Können Sie s<strong>ich</strong> noch an diese Situation<br />

erinnern und uns darüber noch etwas genauer erzählen?"<br />

Beim biographischen Interview bietet es s<strong>ich</strong> an, die Nachfragen an <strong>der</strong><br />

Chronologie <strong>der</strong> Eingangserzählung <strong>zu</strong> orientieren. In diesem Vorgehen liegt<br />

die Chance, die Befragten noch einmal <strong>zu</strong> längeren Erzählungen über bestimmte<br />

Lebensphasen <strong>zu</strong> motivieren. Oft werden dann auch Ereignisse, die<br />

in <strong>der</strong> Eingangserzählung nur gestreift wurden, ausführl<strong>ich</strong>er erzählt, so daß<br />

s<strong>ich</strong> manch eine <strong>der</strong> notierten Nachfragen erübrigt.<br />

243


Selbstverständl<strong>ich</strong> können n<strong>ich</strong>t alle Auslassungen und Unplausibilitäten<br />

<strong>der</strong> Eingangserzählung angesprochen werden; die Auswahl <strong>der</strong> Nachfragen ist<br />

geleitet von <strong>der</strong> Fragestellung <strong>der</strong> Untersuchung. Die Interviewerinnen sollten<br />

daher <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Fragestellung genauestens vertraut sein.<br />

Sind im Laufe des Gesprächs Themenbere<strong>ich</strong>e noch n<strong>ich</strong>t berührt worden,<br />

die die Interviewerinnen vorab für relevant hielten o<strong>der</strong> die ihnen während des<br />

Gesprächs als auffallende Auslassungen erschienen (wenn beispielsweise bestimmte<br />

Lebensphasen gar n<strong>ich</strong>t erwähnt wurden), haben sie in <strong>der</strong> letzten<br />

Phase des Interviews Gelegenheit, sie <strong>mit</strong>tels erzählexterner Fragen <strong>zu</strong>r Sprache<br />

<strong>zu</strong> bringen.<br />

Zur Durchfiihrung <strong>der</strong> Interviews<br />

Wir <strong>hatte</strong>n die Erhebung in <strong>mehr</strong>eren Interviewerinnenschulungen <strong>mit</strong><br />

Hilfe von schriftl<strong>ich</strong>en Übungen <strong>zu</strong>r Fragetechnik und in Rollenspielen, in denen<br />

s<strong>ich</strong> die Projektteilnehmerinnen wechselseitig befragten, sorgfältig vorbereitet.<br />

Darüber hinaus wurden wir <strong>mit</strong> Techniken <strong>der</strong> gesprächstherapeutischen<br />

Gesprächsführung vertraut gemacht, um empathisch auf unsere Gesprächspartnerinnen<br />

eingehen <strong>zu</strong> können, wenn diese von emotional<br />

belastenden Erinnerungen ber<strong>ich</strong>teten o<strong>der</strong> von diesen Erinnerungen in <strong>der</strong><br />

Gegenwart wie<strong>der</strong> eingeholt wurden.<br />

Bis auf wenige Ausnahmen fanden die Interviews, die von jeweils zwei Projekt<strong>mit</strong>glie<strong>der</strong>n<br />

— meistens einem Mann und einer Frau — durchgeführt wurden,<br />

in den Wohnungen unserer Gesprächspartnerinnen statt. Nach einem ersten<br />

Kennenlernen baten wir unsere Interviewpartnerinnen, ihr Leben — konzentriert<br />

auf die <strong>Krieg</strong>sjahre — <strong>zu</strong> erzählen. Die Eingangsfrage lautete etwa:<br />

„Wir sind daran interessiert, welche persönl<strong>ich</strong>en Erfahrungen die deutschen Bevölkerung wahrend<br />

des Zweiten Weltkrieges gemacht hat und wie sie die <strong>Krieg</strong>serlebnisse verarbeitet hat. Es<br />

geht uns dabei n<strong>ich</strong>t um die großen gesch<strong>ich</strong>tl<strong>ich</strong>en Ereignisse, son<strong>der</strong>n um das ganz persönl<strong>ich</strong>e<br />

Erleben eines / einer jeden einzelnen. Wir möchten Sie also bitten, uns Ihre eigenen Erlebnisse <strong>zu</strong><br />

erzählen und stellen uns vor, daß sie anfangen, über die Zeit <strong>zu</strong> erzählen, in <strong>der</strong> Sie s<strong>ich</strong> die ersten<br />

Gedanken darüber gemacht haben, daß es <strong>Krieg</strong> geben könnte, und dann erzählen, wie sie den<br />

<strong>Krieg</strong> und das <strong>Krieg</strong>sende erlebt haben. Wir werden Ihnen also <strong>zu</strong>nächst keine Fragen stellen und<br />

Sie n<strong>ich</strong>t unterbrechen. Während sie erzählen, notieren wir uns ein paar St<strong>ich</strong>punkte, auf die wir<br />

dann später noch einmal eingehen wollen."<br />

Diese Formulierung gibt keinen „objektiven" Anfangspunkt vor (z.B. das<br />

Jahr 1939), an dem die Erzählung ein<strong>zu</strong>setzen hat, son<strong>der</strong>n überläßt es den<br />

Erzählerinnen, <strong>mit</strong> welchem Datum sie ihre biographische Großerzählung beginnen<br />

lassen wollen. Auf diese Weise wollten wir herausfinden, von welchem<br />

Zeitpunkt an unsere Gesprächspartnerinnen — aus <strong>der</strong> Gegenwarts- o<strong>der</strong> aus<br />

<strong>der</strong> Vergangenheitsperspektive — ihre Lebensgesch<strong>ich</strong>te in einen Sinn<strong>zu</strong>sammenhang<br />

<strong>zu</strong>m <strong>Krieg</strong> stellen. So ist es z.B. durchaus denkbar, daß sie in <strong>der</strong><br />

Gegenwart die ersten Anze<strong>ich</strong>en für einen drohenden <strong>Krieg</strong> schon im Jahre<br />

244


1933 suchen, damals solche Anze<strong>ich</strong>en aber noch n<strong>ich</strong>t wahrgenommen haben.<br />

Bewußt fokussiert die Eingangsfrage das Thema „<strong>Krieg</strong>" bzw. f,<strong>Krieg</strong>serleben"<br />

— und n<strong>ich</strong>t das Thema „Nationalsozialismus". Dahinter stand die Frage<br />

danach, inwieweit die Befragten diese beiden Themen als in ein thematisches<br />

Feld gehörend betrachten.<br />

Unsere Interviewpartnerinnen erzählten in <strong>der</strong> Regel ein bis zwei, in einem<br />

Fall sogar sieben (!) Stunden, ohne durch Nachfragen unterbrochen <strong>zu</strong> werden.<br />

Im Nachfrageteil gingen wir vor allem auf die Vorkriegszeit — sofern unsere<br />

Interviewpartnerinnen dies n<strong>ich</strong>t schon von s<strong>ich</strong> aus getan <strong>hatte</strong>n — und auf solche<br />

Lebensphasen ein, die bisher nur gestreift worden waren.<br />

Im Anschluß an die erzählinternen Nachfragen stellten wir vorab formulierte,<br />

erzählexterne Nachfragen <strong>zu</strong> fallübergreifenden Themen wie <strong>der</strong> Musterung,<br />

dem ersten Einsatz an <strong>der</strong> Front, <strong>der</strong> ersten Konfrontation <strong>mit</strong> einem Toten, <strong>der</strong><br />

Konfrontation <strong>mit</strong> lebensbedrohl<strong>ich</strong>en Situationen etc., aber auch <strong>zu</strong> historischen<br />

Ereignissen wie dem Attentat auf <strong>Hitler</strong> und den Nürnberger Prozessen.<br />

Die Formulierung dieser Fragen war durch die Überlegung geleitet, daß s<strong>ich</strong><br />

die ersten Erinnerungen an bestimmte Ereignisse o<strong>der</strong> neue Lebensphasen —<br />

als Durchbrechung bisheriger Handlungsroutinen — beson<strong>der</strong>s gut einprägen.<br />

Nach den Interviews wurden von beiden Interviewerinnen jeweils unabhängig<br />

voneinan<strong>der</strong> Gesprächsnotizen angefertigt, in denen <strong>der</strong> „erste Eindruck"<br />

von den Gesprächspartnerinnen, dem Gesprächsverlauf, dem Milieu etc. festgehalten<br />

wurde. Diese Aufze<strong>ich</strong>nungen haben einerseits die Funktion, s<strong>ich</strong> die<br />

eigenen Eindrücke und Emotionen bewußt <strong>zu</strong> machen, an<strong>der</strong>erseits können Beschreibungen<br />

<strong>der</strong> häusl<strong>ich</strong>en Umgebung, des Wohnviertels etc. als weitere Datenquelle<br />

genutzt werden.<br />

Insgesamt haben wir <strong>mit</strong> 21 Personen, 15 Männern und 6 Frauen, Interviews<br />

geführt. Der größte Teil dieser Gruppe — näml<strong>ich</strong> 13 Personen — gehört <strong>der</strong><br />

Weimarer Jugendgeneration an, 7 Personen <strong>der</strong> HJ-Generation.<br />

Da s<strong>ich</strong> in diesem Sample nur ein Angehöriger <strong>der</strong> Wilhelminischen Jugendgeneration<br />

fend, führte Gabriele Rosenthal im Sommer 1987 Interviews <strong>mit</strong> 14<br />

weiteren Männern dieser Generation — Jahrgang 1900 und älter —, die sie auf<br />

Geburtstagsanzeigen in <strong>der</strong> Lokalpresse hin anschrieb.<br />

Anmerkung<br />

1 Stegreiferzählungen, d.h. mündl<strong>ich</strong> konstituierte Diskurseinheiten, die „spontan" in Gesprächen<br />

hervorgebracht wenden, beziehen s<strong>ich</strong> auf <strong>zu</strong>rückliegende Handlungsabläufe und Ereignisfolgen<br />

und ze<strong>ich</strong>nen s<strong>ich</strong> dadurch aus, daß „singulare Ablaufe aus <strong>der</strong> Retrospektive als s<strong>ich</strong><br />

prospektiv entwickelnde dargestellt werden" (Kallmeyer/Schütze 1977: 201). Da<strong>mit</strong> wird <strong>der</strong><br />

prinzipiell <strong>zu</strong>kunftsoffene Horizont aktuellen Handelns aufrechterhalten, obwohl <strong>der</strong> /die Erzählerin<br />

die <strong>zu</strong>künftigen Stadien des Handlungsablauts und das Ergebnis schon kennt. Sind also<br />

Erzählungen durch ihre dynamische Struktur charakterisierbar, so ze<strong>ich</strong>nen s<strong>ich</strong> Beschreibungen<br />

durch statische Strukturen aus. Vereinfacht läßt s<strong>ich</strong> <strong>der</strong> Unterschied zwischen Erzählung<br />

und Beschreibung als <strong>der</strong> zwischen Dynamik und Statik fassen.<br />

245


Gabriele<br />

Rosenthal<br />

ά2 Die Auswertung<br />

Hermeneutische Rekonstruktion erzählter Lebensgesch<strong>ich</strong>ten<br />

Globalanalyse, theoretische St<strong>ich</strong>probe und kontrastiver Vergle<strong>ich</strong><br />

Alle Interviews werden auf <strong>der</strong> Grundlage <strong>der</strong> Gesprächsnotizen, die jeweils<br />

nach den Interviews angefertigt werden, und einem Überblick über die<br />

biographischen Daten einer Globalanalyse unterzogen. Diese erste Analyse<br />

führt <strong>zu</strong> einer vorläufigen Typisierung <strong>der</strong> Biographinnen (z.B. im Hinblick<br />

auf ihre Einstellung <strong>zu</strong>m Soldatsein).<br />

Dem Konzept <strong>der</strong> theoretischen St<strong>ich</strong>probe nach Glaser und Strauss (1967:<br />

45-78) folgend, werden — basierend auf dieser Vorauswertung — Interviews<br />

<strong>zu</strong>r Fallanalyse ausgewählt Da bei hermeneutischen Verfahren <strong>der</strong> Anspruch<br />

auf Repräsentativst n<strong>ich</strong>t erhoben werden kann, ist es <strong>mit</strong>hin n<strong>ich</strong>t<br />

Ziel, die Häufigkeit eines Typus in bestimmten Populationen fest<strong>zu</strong>stellen.<br />

Viel<strong>mehr</strong> soll rekonstruiert werden, welche Mögl<strong>ich</strong>keiten innerhalb einer<br />

Gesellschan, eines Milieus o<strong>der</strong> einer Institution bestehen, auf ein soziales<br />

Geschehen <strong>zu</strong> „antworten". Daher interessieren hier — ganz im Gegensatz <strong>zu</strong><br />

Kriterien <strong>der</strong> Repräsentativität — auch die selten auftretenden Fälle. Diese<br />

können theoretisch beson<strong>der</strong>s interessant sein und geben auch weiteren Aufschluß<br />

über das, was sie n<strong>ich</strong>t sind, näml<strong>ich</strong> das häufig Auftretende, „Normale".<br />

Weiterhin können sie als Hinweise auf einen s<strong>ich</strong> anbahnenden sozialen<br />

Wandel gelten.<br />

Die Auswahl bei <strong>der</strong> theoretischen St<strong>ich</strong>probe orientiert s<strong>ich</strong> also am theoretisch<br />

interessanten Fall <strong>mit</strong> dem Ziel, beim kontrastiven Vergle<strong>ich</strong> distinkte<br />

Typen <strong>zu</strong> er<strong>mit</strong>teln. Der kontrastive Vergle<strong>ich</strong> <strong>der</strong> einzelnen Fallanalysen<br />

stellt zwar einen weiteren Analyseschritt nach Abschluß <strong>der</strong> Einzelfallanalyse<br />

dar, doch er findet immer auch schon parallel <strong>zu</strong> den einzelnen Fallanalysen<br />

statt. Um <strong>zu</strong> bestimmen, was ein Fall ist, muß <strong>ich</strong> gle<strong>ich</strong>zeitig wissen, was er<br />

n<strong>ich</strong>t ist und dabei schweben mir an<strong>der</strong>e — ob imaginierte o<strong>der</strong> real vorhandene<br />

— Mögl<strong>ich</strong>keiten vor. Hat man wie wir den Vorteil, in einer Forscherinnengruppe<br />

<strong>zu</strong> arbeiten, in <strong>der</strong> jede/r Mitarbeiterin Fallanalysen durchfuhrt,<br />

werden in den gemeinsamen Diskussionen ständig die einzelnen Fälle <strong>mit</strong>einan<strong>der</strong><br />

kontrastiert.<br />

Wieviele Interviews sollen nun ausgewertet werden? Dies ist eine häufig gestellte<br />

Frage, <strong>zu</strong> <strong>der</strong> fast ebenso häufig fragwürdige Anworten gegeben werden,<br />

wie: mindestens 6 o<strong>der</strong> 12. Der Angabe einer Menge — womögl<strong>ich</strong> noch<br />

<strong>mit</strong> dem Argument einer geraden Anzahl o<strong>der</strong> dgl. — kann nur die Vorstellung<br />

einer numerischen und n<strong>ich</strong>t theoretischen Verallgemeinerung <strong>zu</strong>grundeliegen:<br />

Nur das, was häufig auftritt, gilt als verallgemeinerbar. Die Anzahl <strong>der</strong><br />

246


<strong>zu</strong> analysierenden Fälle läßt s<strong>ich</strong> bei einer Studie <strong>mit</strong> dem Ziel einer theoretischen<br />

Verallgemeinerung, die prinzipiell bei jedem einzelnen Fall mögl<strong>ich</strong> ist,<br />

erst nach Abschluß <strong>der</strong> Analyse bestimmen, und zwar dann, wenn kein neuer<br />

Typus <strong>mehr</strong> rekonstruiert werden kann und eine theoretische „Sättigung** eintritt,<br />

also keine neuen Phänomene <strong>mehr</strong> auffindbar sind. Die Annahme dieses<br />

Sättigungs<strong>zu</strong>standes ist aber nur idealtypisch; man kann s<strong>ich</strong> ihm nur annähern.<br />

Ganz gestillt kann <strong>der</strong> Hunger nie werden, da s<strong>ich</strong> im Laufe <strong>der</strong> Zeit<br />

n<strong>ich</strong>t nur die Phänomene verän<strong>der</strong>n, son<strong>der</strong>n auch <strong>der</strong> Zugang <strong>zu</strong> ihnen. Außerdem<br />

stehen die meisten von uns unter forschungspragmatischen Zwängen.<br />

Wir haben häufig n<strong>ich</strong>t genug Zeit, Mittel und vielle<strong>ich</strong>t auch Geduld, um immer<br />

weiter an einem Projekt <strong>zu</strong> forschen.<br />

Transkription<br />

Die <strong>zu</strong>r weiteren Fallauswertung ausgewählten Interviews werden entsprechend<br />

ihrer hörbaren Gestalt ohne Rücks<strong>ich</strong>t auf die Regeln <strong>der</strong> Schriftsprache<br />

wortwörtl<strong>ich</strong> und ohne Auslassungen transkribiert (vgl. Transkriptionsregeln<br />

im Anhang). Die Transkription des gesamten Interviews ist zwar eine<br />

zeit- und kostenaufwendige Angelegenheit, doch um vorab definieren <strong>zu</strong> können,<br />

was und was n<strong>ich</strong>t transkribiert wird, bedürfte es bereits einer abgeschlossenen<br />

Falianalyse, <strong>zu</strong> <strong>der</strong> eine Transkription ja gerade benötigt wird.<br />

Vor <strong>der</strong> Analyse ist n<strong>ich</strong>t entscheidbar, was für die Fallinterpretation von Bedeutung<br />

ist und was n<strong>ich</strong>t. Nehmen wir das hermeneutische Grundprinzip<br />

ernst, die Bedeutungen einzelner Dokumente aus dem Sinn<strong>zu</strong>sammenhang<br />

des gesamten Textes <strong>zu</strong> rekonstruieren anstatt Textsegmenten irgendwelche<br />

von außen herangetragene Kategorien über<strong>zu</strong>stülpen, so ermögl<strong>ich</strong>t auch erst<br />

eine vollständige Textanalyse Aussagen über die Zugehörigkeit von Sequenzen<br />

<strong>zu</strong> bestimmten Themen. Was die Themen sind, und welche Sequenzen<br />

s<strong>ich</strong> auf sie beziehen, glaubt <strong>der</strong>/die hermeneutische Interpretin also n<strong>ich</strong>t<br />

vor, son<strong>der</strong>n erst nach <strong>der</strong> Analyse <strong>zu</strong> wissen. Vorab kann er/sie z.B. n<strong>ich</strong>t<br />

darüber entscheiden, ob die Beschreibung eines Gartens fur den /die Erzählerin<br />

<strong>zu</strong>m Thema <strong>Krieg</strong>serleben gehört o<strong>der</strong> n<strong>ich</strong>t.<br />

Doch weshalb wird <strong>der</strong> Aufwand, alle Pausen, Abbruche, „hms** und dgl.<br />

<strong>zu</strong> notieren, betrieben? Die theoretische Begründung, daß die parasprachl<strong>ich</strong>en<br />

Phänomene, die wir — nebenbei bemerkt — auch in unserer Alltagskommunikation<br />

immer unreflektiert als wesentl<strong>ich</strong>e ΙηίεφΓ6αηΐοη5ηί1&η benützen,<br />

für die Rekonstruktion <strong>der</strong> Konnotationen des Gesprochenen notwendig<br />

sind, mag den Zweiflerlnnen vielle<strong>ich</strong>t n<strong>ich</strong>t einleuchten. Wer s<strong>ich</strong> jedoch<br />

einmal auf die Feinanalyse von Textstellen eingelassen hat, weiß, welch<br />

enorme Rolle z.B. die Länge einer Pause fur die Bedeutungsrekonstruktion einer<br />

Aussage haben kann.<br />

247


Auswertung <strong>der</strong> Lebensgesch<strong>ich</strong>ten 2<br />

Zwei Prinzipien sind fur die hermeneutische Rekonstruktion von Texten<br />

von grundlegen<strong>der</strong> Bedeutung: Das Prinzip <strong>der</strong> rekonstruktiven Analyse und<br />

das <strong>der</strong> Selektivität. Die rekonstruktive Analyse vermeidet — im Unterschied<br />

<strong>zu</strong> einer subsumtionslogischen Herangehensweise —, dem Text <strong>mit</strong> vorab festgelegten<br />

Klassifikations- und Variablensystemen <strong>zu</strong> begegnen. Statt dessen<br />

gelangt man <strong>mit</strong> <strong>der</strong> hermeneutischen Rekonstruktion „von <strong>der</strong> Explikation<br />

<strong>der</strong> Strukturiertheit eines konkret gegebenen sozialen Ablaufs rekonstruierend<br />

<strong>zu</strong> dem allgemeinen Strukturtyp" (Oevermann 1983: 246). Theoretisches<br />

Wissen wird dem abduktiven Schlußfolgerungsverfahren im Sinne von<br />

Charles San<strong>der</strong>s Peirce (1980: 7.218) entsprechend als Heuristik eingesetzt:<br />

„Die Abduktion stetzt bei Fakten ein, ohne dabei gle<strong>ich</strong> <strong>zu</strong> Beginn eine bestimmte<br />

Theorie <strong>zu</strong> verfolgen, wenn sie auch von <strong>der</strong> Empfindung motiviert<br />

ist, daß eine Theorie <strong>zu</strong>r Erklärung <strong>der</strong> überraschenden Fakten erfor<strong>der</strong>l<strong>ich</strong><br />

ist".<br />

Mit dem Prinzip <strong>der</strong> Selektivität wird man dem prozessualen Charakter sozialen<br />

Handelns gerecht, d.h. jede Handlung stellt eine Auswahl zwischen Alternativen<br />

dar, die in <strong>der</strong> jeweiligen Situation des Handelns mögl<strong>ich</strong> sind.<br />

Handlungsabläufe, die s<strong>ich</strong> in Texten als Handlungsprotokolle manifestieren,<br />

sind so<strong>mit</strong> Prozesse von Selektionen, aus denen jeweüs — unabhängig von <strong>der</strong><br />

S<strong>ich</strong>t des Subjektes — bestimmte Anschlußhandlungen resultieren und bestimmte<br />

Folgehandlungen ausgeschlossen sind.<br />

Dieses Verständnis for<strong>der</strong>t ein Analyseverfahren, bei dem danach gefragt<br />

wird, welcher Mögl<strong>ich</strong>keitshorizont bei einer bestimmten Sequenz offensteht,<br />

welche Selektion <strong>der</strong> Fall vornimmt, welche er außer acht läßt und was daraus<br />

für die Zukunft folgt. Aus diesen Überlegungen resultiert die sequentielle<br />

Analyse: „Interpretieren ist so<strong>mit</strong> die Rekonstruktion <strong>der</strong> Textbedeutung in<br />

<strong>der</strong> Linie des Geschehens". (Soeffher 1982: Df) Im Sinne des abduktiven<br />

Schlußfolgerungsverfahrens bedeutet Sequenzanalyse die Generierung mögl<strong>ich</strong>er<br />

Hypothesen <strong>zu</strong> einem empirischen Datum, das Folgern auf Hypothesen<br />

über den mögl<strong>ich</strong>en Fortgang (Folgehypothesen) und im dritten Schritt die<br />

Kontrastierung <strong>mit</strong> dem tatsächl<strong>ich</strong>en Fortgang (empirischer Test).<br />

Ziel <strong>der</strong> Analyse ist die Rekonstruktion <strong>der</strong> Struktur des Falles. Es stellt<br />

s<strong>ich</strong> die Frage, ob <strong>der</strong> Fall bzw. <strong>der</strong>/die Biographin ihm offenstehende Interpretations-<br />

und Handlungsmögl<strong>ich</strong>keiten in seiner Wahl systematisch ausschließt,<br />

d.h. ob Regeln auf<strong>zu</strong>spüren sind, die seine Auswahl bestimmen. So<br />

wird bei <strong>der</strong> Fallanalyse <strong>zu</strong>erst gedankenexperimentell entworfen, welche<br />

Mögl<strong>ich</strong>keiten dem Fall in einer gegebenen Situation offenstehen, welche er<br />

auswählt und inwiefern seine Wahl in unterschiedl<strong>ich</strong>en Situationen systematisch<br />

und permanent bestimmte Optionen ausschließt.<br />

Bei <strong>der</strong> biographischen Analyse von erzählten Lebensgesch<strong>ich</strong>ten bedeutet<br />

Sequenzanalyse nun zweierlei: genetische Analyse, d.h. die Analyse <strong>der</strong><br />

248


Reproduktions- und Transformationsprozesse in <strong>der</strong> Gesch<strong>ich</strong>te <strong>der</strong> Biographinnen,<br />

und Textanalyse, d.h. die Analyse des biographischen Gesamtkonstrukts<br />

in <strong>der</strong> Gegenwart des Erzählens.<br />

Die genetische Analyse. Bei diesem Analyseschritt, <strong>der</strong> s<strong>ich</strong> an die Analyse<br />

<strong>der</strong> „objektiven 44<br />

Daten im Verfahren <strong>der</strong> strukturalen Hermeneutik anlehnt<br />

(vgl. Oevermann u.a. 1980), geht es um die Rekonstruktion <strong>der</strong> Aufsch<strong>ich</strong>tung<br />

<strong>der</strong> lebensgesch<strong>ich</strong>tl<strong>ich</strong>en Erfahrungen und Erlebnisse in <strong>der</strong> Abfolge <strong>der</strong><br />

chronologischen Zeit.<br />

Da<strong>zu</strong> werden im Sinne <strong>der</strong> Sequenzanalyse die einzelnen biographischen<br />

Daten in <strong>der</strong> zeitl<strong>ich</strong>en Abfolge <strong>der</strong> Ereignisse im Lebenslauf analysiert. Der<br />

Kontext für ein Ereignis, <strong>mit</strong> dem das Subjekt konfrontiert ist, wird rekonstruiert,<br />

und die Handlungsprobleme, die daraus resultieren, sowie die Alternativen,<br />

die das Subjekt in dieser Situation hat, werden gedankenexperimentell<br />

entworfen. Es wird danach gefragt, welche Ausgangsprobleme <strong>der</strong> Fall<br />

aufweist und welche Mögl<strong>ich</strong>keiten <strong>der</strong> Handlungsentscheidung das Subjekt<br />

in dieser Situation gehabt hätte, was also „vernünftigerweise" — nach Geltung<br />

des unterstellten Regelsystems — das Subjekt „in einem spezifizierten Kontext<br />

bei Konfrontation <strong>mit</strong> einem spezifizierten Handlungsproblem tun könnte<br />

o<strong>der</strong> tun sollte 44<br />

(Oevermann u.a. 1980:23). Das einzelne Datum wird unabhängig<br />

von dem Wissen ausgelegt, das <strong>der</strong>/die Interpretin aus <strong>der</strong> erzählten<br />

Lebensgesch<strong>ich</strong>te hat, also auch unabhängig davon, welchen weiteren Weg<br />

<strong>der</strong>/die Biographin eingeschlagen hat. Viel<strong>mehr</strong> werden Prognosen <strong>zu</strong> mögl<strong>ich</strong>en<br />

anschlußfähigen Verläufen entworfen. W<strong>ich</strong>tig ist hierbei, daß diese<br />

Prognosen s<strong>ich</strong> n<strong>ich</strong>t nur auf mögl<strong>ich</strong>e Reproduktionen <strong>der</strong> Fallstruktur beziehen<br />

sollten, son<strong>der</strong>n auch angeben sollten, unter welchen Ereigniskonstellationen<br />

Transformationen mögl<strong>ich</strong> sind. M.a.W, es werden auch die Mögl<strong>ich</strong>keiten<br />

einer Verän<strong>der</strong>ung entworfen. Da<strong>mit</strong> läßt s<strong>ich</strong> <strong>der</strong> Gefahr einer vorzeitigen<br />

Determination des Subjekts entgehen. Nach Auslegung eines Datums<br />

folgt die Auslegung des nächsten, das den Interpretinnen angibt, welchen Weg<br />

die Person tatsächl<strong>ich</strong> eingeschlagen hat — <strong>zu</strong>nächst einmal unabhängig von<br />

Selbstdeutungen des Subjekts. Wie<strong>der</strong>um wird gedankenexperimentell entworfen,<br />

welche Folgen s<strong>ich</strong> aus diesem 'neuen 4<br />

biographischen Datum ergeben.<br />

Bei jedem einzelnen Datum können <strong>mehr</strong>ere Strukturhypothesen entwickelt<br />

werden, wobei die Sequenzanalyse in ihrem Fortschreiten immer<br />

<strong>mehr</strong> Hypothesen ausschließt, so daß <strong>mit</strong> Abschluß <strong>der</strong> Analyse nur bestimmte<br />

Strukturhypothesen als wahrscheinl<strong>ich</strong> übrigbleiben, die dann für die<br />

weitere Auslegung des Einzelfalls fallspezifische Fragen präsentieren.<br />

Die sequentielle Textanalyse. Hier wird die sequentielle Gestalt des Gesprächs<br />

bzw. des vorliegenden Textes <strong>mit</strong> dem Ziel analysiert, die biographische<br />

Gesamts<strong>ich</strong>t <strong>der</strong> Β iog raphe η Innen, die von ihnen vorgenommenen temporalen<br />

und thematischen Verknüpfungen <strong>der</strong> biographischen Erlebnisse, <strong>zu</strong><br />

rekonstruieren. Diesem Analyseschritt liegt die Prämisse <strong>zu</strong>grunde, daß die<br />

erzählte Lebensgesch<strong>ich</strong>te n<strong>ich</strong>t aus einer <strong>zu</strong>falligen Aneinan<strong>der</strong>reihung von<br />

249


erlebten Ereignissen besteht, son<strong>der</strong>n die Auswahl <strong>der</strong> erzählten Gesch<strong>ich</strong>ten<br />

aus einem Sinn<strong>zu</strong>sammenhang, einer Gesamtdeutung des /<strong>der</strong> Biographenln<br />

erfolgt. Die erzählte Lebensgesch<strong>ich</strong>te repräsentiert also eine Sequenz von<br />

wechselseitig aufeinan<strong>der</strong> bezogenen Themen, die untereinan<strong>der</strong> ein d<strong>ich</strong>tes<br />

Netz von Verweisungs<strong>zu</strong>sammenhängen bilden (vgl. Fischer 1982: 168). Die<br />

einzelnen Themen sind — in <strong>der</strong> Terminologie Aron Gurwitschs (1974) — Elemente<br />

eines „thematischen Feldes 44 . Generelles Ziel ist heraus<strong>zu</strong>finden, wie<br />

<strong>der</strong> /die Biographin sein Leben darstellt, welche Mechanismen die Auswahl<br />

und Verknüpfung <strong>der</strong> Gesch<strong>ich</strong>ten steuern. M.a.W.: In we<strong>ich</strong>en thematischen<br />

Fel<strong>der</strong>n stehen die einzelnen Erfahrungen <strong>der</strong> Biographinnen? Das analytische<br />

Vorgehen bei <strong>der</strong> Interpretation <strong>der</strong> Sequenzierung erfolgt analog <strong>zu</strong> <strong>der</strong><br />

sequentiellen Analyse <strong>der</strong> objektiven Daten: Es wird dem Aufbau des Textes<br />

entsprechend vorgegangen und Sequenz für Sequenz ausgelegt. Jedes einzelne<br />

interpretationsbedürftige „Datum 44<br />

wird ohne Kenntnis über die weitere Textfolge<br />

auf seine unterschiedl<strong>ich</strong>en Bedeutungsmögl<strong>ich</strong>keiten hin befragt. Interpretationsbedürftig<br />

sind bei diesem Analyseschritt die Art und die Funktion<br />

<strong>der</strong> Darstellung im Interview und n<strong>ich</strong>t die biographische Erfahrung an s<strong>ich</strong>.<br />

So stellt s<strong>ich</strong> etwa bei Beginn <strong>der</strong> Analyse die Frage, weshalb eine Informantin<br />

die Erzählung <strong>mit</strong> dem Tod ihres Vaters während ihres ersten Lebensjahrs beginnt,<br />

obwohl sie gebeten wurde, über ihre <strong>Krieg</strong>serlebnisse <strong>zu</strong> erzählen. Zur<br />

Selektion ihres Einstiegs in das Interview werden dann mögl<strong>ich</strong>e Lesarten entworfen.<br />

Im Laufe <strong>der</strong> weiteren Analyse gewinnen bestimmte Lesarten an<br />

Plausibilität, an<strong>der</strong>e lassen s<strong>ich</strong> falsifizieren.<br />

Bei diesem Auswertungsschritt mache <strong>ich</strong> mir die Methodologie und das<br />

methodische Vorgehen Fritz Schützes (1983) wie auch die Anregungen Wolfram<br />

Fischers (1982) <strong>zu</strong> einer thematischen Feldanalyse <strong>zu</strong>nutze, die auf den<br />

theoretischen Arbeiten von Aron Gurwitsch basieren. Es stellt meinen Versuch<br />

dar, eine strukturalistische Variante <strong>der</strong> phänomenologischen Wissenssoziologie<br />

methodisch um<strong>zu</strong>setzen: Es geht zwar um die Rekonstruktion <strong>der</strong><br />

Wissenssysteme <strong>der</strong> Subjekte, <strong>der</strong> Deutung ihres Lebens, ihrer Einordnung<br />

von Erlebnissen und Erfahrungen in thematische Fel<strong>der</strong>, doch n<strong>ich</strong>t im Sinne<br />

<strong>der</strong> Rekonstruktion subjektiv gemeinten Sinns. Rekonstruiert werden soll<br />

viel<strong>mehr</strong> die interaktiv konstituierte Bedeutung <strong>der</strong> Handlungen <strong>der</strong> Subjekte,<br />

die s<strong>ich</strong> <strong>zu</strong>m Teil ihren Intentionen entzieht.<br />

Bei <strong>der</strong> genetischen Analyse wird also — soweit dies mögl<strong>ich</strong> ist — rekonstruiert,<br />

was im Lebenslauf <strong>zu</strong>erst und was danach geschah. Bei <strong>der</strong> Textanalyse<br />

geht es darum, in welchen Sequenzen s<strong>ich</strong> <strong>der</strong> Text aufsch<strong>ich</strong>tet. Wollen<br />

die Sozialforscherinnen interpretative Fehlschlüsse vermeiden, so sind sie genötigt,<br />

beide Ebenen <strong>zu</strong> rekonstruieren, unabhängig davon, ob sie in erster Linie<br />

an <strong>der</strong> Rekonstruktion eines Lebenswegs interessiert sind o<strong>der</strong> an <strong>der</strong> Gegenwartsperspektive<br />

<strong>der</strong> Biographinnen.<br />

Die genetische Analyse, die auf einem Text basiert, <strong>der</strong> s<strong>ich</strong> in <strong>der</strong> Gegenwart<br />

des Sprechens o<strong>der</strong> auch Schreibens konstituiert und <strong>der</strong> auf eine gelebte<br />

250


Vergangenheit verweist, setzt eine Analyse <strong>der</strong> Gestalt und Struktur eben dieser<br />

Datenbasis voraus. Die erste Frage, die an den Text gestellt werden muß,<br />

ist n<strong>ich</strong>t: wie war es damals wirkl<strong>ich</strong>, wie genau erzählen mir die Zeitzeuginnen<br />

das Erlebte, son<strong>der</strong>n <strong>zu</strong>erst muß die Gegenwart rekonstruiert werden, die<br />

heutige Perspektive <strong>der</strong> Biographinnen und da<strong>mit</strong> die Selektionsmechanismen,<br />

die die Auswahl <strong>der</strong> erzählten Gesch<strong>ich</strong>ten steuern. Und umgekehrt:<br />

Will <strong>ich</strong> Aussagen machen über die biographische Gesamts<strong>ich</strong>t, über das Konstrukt<br />

„Biographie* 4 , das Biographinnen s<strong>ich</strong> heute von ihrem Leben machen,<br />

benötige <strong>ich</strong> gewisse Kenntnisse über dieses Leben. So kann <strong>ich</strong> z.B. n<strong>ich</strong>t von<br />

temporalen Verschiebungen sprechen wie: <strong>der</strong>/die Biographin verlagert unangenehme<br />

Erlebnisse aus einer Lebensphase, die er /sie als unangenehm in<br />

Erinnerung hat, in eine davor liegende, ihm/ihr unangenehme, wenn <strong>ich</strong> n<strong>ich</strong>t<br />

den chronologischen Ablauf — in einem eigenen Analyseschritt — rekonstruiert<br />

habe.<br />

Nach <strong>der</strong> sequentiellen Analyse des Textes und <strong>der</strong> Genese <strong>der</strong> Biographie<br />

werden beide Ebenen <strong>mit</strong>einan<strong>der</strong> kontrastiert. Anhand <strong>der</strong> Unterschiede<br />

zwischen <strong>der</strong> chronologischen Aufsch<strong>ich</strong>tung <strong>der</strong> biographischen Erfahrungen<br />

und Erlebnisse und den temporalen und thematischen Verknüpfungen, die<br />

die Biographinnen aus ihrer Gegenwartsperspektive vornehmen, wird die<br />

Struktur des Falles rekonstruiert.<br />

Anmerkungen<br />

1 Zur Description <strong>der</strong> Auswahl <strong>der</strong> hier vorgestellten Lebensgesch<strong>ich</strong>ten vgl. 1.4<br />

2 Da eine sehr detaillierte Darstellung des von mir in Anlehnung an die strukturale Hermeneutik<br />

Ulr<strong>ich</strong> Oevermanns und die Erzähl- und Textanalyse Fritz Schützes konzipierten Auswertungsverfahrens<br />

bereits publiziert vorliegt (Rosenthal 1987: 143-244), verz<strong>ich</strong>te <strong>ich</strong> an dieser<br />

Stelle auf eine genauere Deskription <strong>der</strong> Auswertungsschritte.<br />

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Transkrirrtiofisze<strong>ich</strong>en<br />

//mhm// = Rezeptionssignal <strong>der</strong> Interviewerin<br />

. . . = Auslassungen im Transkript<br />

(sagte er) = uns<strong>ich</strong>ere Transkription<br />

( ) = Inhalt <strong>der</strong> Äußerung ist unverständl<strong>ich</strong><br />

Länge <strong>der</strong> Klammer entspr<strong>ich</strong>t etwa <strong>der</strong> Dauer <strong>der</strong> Äußerung<br />

((lachend)) = Kommentar <strong>der</strong> Transkribierenden<br />

/ - Einsetzen des kommentierten Phänomens<br />

, = kurzes Absetzen<br />

(4) = Dauer <strong>der</strong> Pause in Sekunden<br />

ja=ja = schneller Anschluß<br />

viell- = Abbruch<br />

ja: = Dehnung<br />

nein = betont<br />

NEIN » laut<br />

.nein' = leise<br />

ja so war das gle<strong>ich</strong>zeitiges Sprechen ab „war"<br />

nein <strong>ich</strong><br />

256


Zwölf Jahre <strong>Hitler</strong>, fünf Jahre <strong>Krieg</strong> und bald ein halbes Jahrhun<strong>der</strong>t<br />

Schuldbekenntnisse — jetzt müßten wir dieses Kapitel deutscher Gesch<strong>ich</strong>te<br />

doch endl<strong>ich</strong> abschließen können, meinen heut<strong>zu</strong>tage manche<br />

Deutsche und bemühen s<strong>ich</strong> <strong>mit</strong> viel Energie, diese Vergangenheit<br />

endgültig ruhen <strong>zu</strong> lassen.<br />

Lebensgesch<strong>ich</strong>tl<strong>ich</strong>e Interviews <strong>mit</strong> Zeitzeugen, die im „Dritten<br />

Re<strong>ich</strong>" n<strong>ich</strong>t verfolgt wurden, zeigen, daß dieses Bemühen, die Vergangenheit<br />

<strong>zu</strong> begraben, gerade Ausdruck für <strong>der</strong>en Gegenwärtigkeit<br />

ist. Das Leiden <strong>der</strong> Zeitzeugen an <strong>Krieg</strong>, Gefangenschaft und Vertreibung<br />

ist noch n<strong>ich</strong>t abgeschlossen; Schuldgefühle wegen nationalsozialistischer<br />

Verbrechen sind noch lange n<strong>ich</strong>t versiegt.<br />

Im Mittelpunkt dieser empirischen Studie steht die Frage, <strong>mit</strong> welchen<br />

unterschiedl<strong>ich</strong>en Strategien die Zeugen heute versuchen, <strong>mit</strong> ihrer<br />

Vergangenheit <strong>zu</strong> leben, und inwieweit diese Unterschiedl<strong>ich</strong>keit<br />

von <strong>der</strong> Generations<strong>zu</strong>gehörigkeit und dem Erleben des <strong>Krieg</strong>es in <strong>der</strong><br />

Heimat, an <strong>der</strong> Front und <strong>der</strong> Etappe abhängig sind. Sieben Fallgesch<strong>ich</strong>ten<br />

von Männern und Frauen <strong>der</strong> Geburtsjahrgänge 1899-1927<br />

repräsentieren unterschiedl<strong>ich</strong>e Mögl<strong>ich</strong>keiten des Umgangs <strong>mit</strong> <strong>der</strong><br />

NS-Vergangenheit.<br />

ISBN: 3-8100-0812-5

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