Meine Bühne - Regionales, Veranstaltungen und Verlosungen für Reutlingen & Tübingen
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Ausgabe 41 | November | Dezember 2013<br />
<strong>Meine</strong><br />
<strong>Bühne</strong><br />
AKTUELLES AUS REUTLINGEN<br />
13<br />
AM BODEN<br />
Vom Gasthofbetreiber zum Bettelmönch<br />
Viele kennen ihn als Bettelmönch von <strong>Reutlingen</strong>. Sein richtiger Name<br />
ist Günther. Der gebürtige Oldenburger kam 1989 nach <strong>Reutlingen</strong>.<br />
Inzwischen sitzt er seit drei Jahren regelmäßig vor dem Tübinger Tor<br />
<strong>und</strong> bittet Passanten um kleine Almosen. Wie es dazu kam, erzählte er jetzt<br />
der <strong>Bühne</strong>.<br />
<strong>Bühne</strong>: Wie groß waren Überwindung <strong>und</strong><br />
Schamgefühl, als Du Dich das erste Mal vor<br />
das Tübinger Tor gesetzt hast?<br />
Günther: Ich war damals in einer Situation, in<br />
der ich finanziell mehr als abgesackt war. Ich<br />
war wirklich in Not. Als Erstes vielen mir einige<br />
Fre<strong>und</strong>e ein, an die ich früher einmal Geld verliehen<br />
hatte. Nach etlichen gescheiterten Versuchen<br />
wieder an das Verliehene zu kommen,<br />
überlegte ich mir, was ich machen kann, um<br />
zu überleben. An einem Abend war ich dann<br />
so verzweifelt, dass ich <strong>für</strong> den nächsten Tag,<br />
<strong>und</strong> das weiß ich noch wie heute, es war ein<br />
Samstag, mich mit größter Selbstüberwindung<br />
<strong>und</strong> jede menge Scham im Kopf <strong>und</strong> in der<br />
Seele beschloss, mich mit Decke <strong>und</strong> Mütze vor das Tübinger Tor zu setzten. Mittlerweile<br />
war das Jahr auch soweit fortgeschritten, dass die Temperaturen bereits<br />
unangenehm waren. Nach dem sich doch mehr nette Menschen auf der Welt<br />
befinden, als ich vermutet hatte, sank meine Scham ein wenig <strong>und</strong> der Hut füllte<br />
sich unerwartet mit ein paar Euros. Ab diesem Zeitpunkt habe ich meine Überwindung<br />
<strong>für</strong> das „Betteln“ gegen das Gute im Menschen getauscht.<br />
<strong>Bühne</strong>: Sind die Passanten am Reutlinger Tor gerne bereit zu geben?<br />
Günther: Es ist wirklich nicht die Welt, aber es reicht <strong>für</strong> mich aus, um ein bis<br />
drei Tage Nahrung <strong>und</strong> Alltägliches zu kaufen. Es gibt sogar so etwas wie<br />
Stammk<strong>und</strong>en, die mir immer wieder gerne helfen.<br />
<strong>Bühne</strong>: Drei Jahre am Tübinger Tor: Wie fühlst Du<br />
Dich heute dabei?<br />
Günther: Natürlich schäme ich mich immer noch.<br />
Aber was soll ich anderes tun?<br />
<strong>Bühne</strong>: Musst Du Deine Einnahmen versteuern?<br />
Günther: Nein. Da kann ich von Glück sagen,<br />
dass ich in Baden-Württemberg lebe. Hier machen<br />
mir die Stadt <strong>und</strong> das Finanzamt keine zusätzlichen<br />
Probleme.<br />
<strong>Bühne</strong>: Wie sah Dein Leben früher aus?<br />
Günther: Früher gab es natürlich auch bei mir gute Zeiten. Ich habe eine Ausbildung<br />
als Industrieschlosser gemacht, musste mir aber selbst eingestehen, dass<br />
das nicht mein Ding war. Ab 1969 habe ich dann Spaß an der Gastronomie<br />
gef<strong>und</strong>en. Nach einer weiteren Ausbildung, die ich im Schwarzwald gemacht<br />
habe, bin ich wieder zurück nach Norddeutschland, wo ich mich in einem Landgasthof<br />
bis zum Chef de Rang, also zum Serviceleiter, hochgearbeitet habe.<br />
Durch einen glücklichen Zufall konnte ich dann einige Zeit später diesen Gasthof<br />
mein Eigen nennen. Mir ging es zu dieser Zeit hervorragend, der Laden<br />
brummte, es kamen täglich mehrere Busse, die auf Tagesausfahrten bei mir einkehrten,<br />
bis ich eines Tages durch einen Anwaltsbrief von meiner Frau mit der<br />
Scheidung konfrontiert wurde. Ab dann waren die Besten Tage gezählt. Ich<br />
wurde arbeitslos <strong>und</strong> der Kampf ums Überleben begann.<br />
<strong>Bühne</strong>: Von Armut betroffene Menschen sammeln immer öfter auch Pfandflaschen,<br />
weil das anonymer ist, als andere auf der Straße um Geld zu bitten.<br />
Warum ist das keine Alternative <strong>für</strong> Dich?<br />
Günther: Der Hauptgr<strong>und</strong> ist, dass ich an Krücken gehe <strong>und</strong> deshalb nicht viel<br />
laufen kann.<br />
<strong>Bühne</strong>: Giltst Du in den Augen der Behörden <strong>und</strong> Ordnungshüter als öffentliches<br />
Ärgernis?<br />
Günther: Es gab ein einziges Mal, wo ich meinen Ausweis zeigen musste. Als<br />
festgestellt wurde, dass ich deutscher Staatsbürger <strong>und</strong> kein „Illegaler“ bin, wurde<br />
ich in Ruhe gelassen <strong>und</strong> seitdem sogar fre<strong>und</strong>licher behandelt. Nein, ein öffentliches<br />
Ärgernis bin ich nicht.<br />
<strong>Bühne</strong>: Wann hast Du zuletzt Deinen erlernten Beruf als Servicekraft ausgeübt?<br />
Günther: Das letzte Mal 1992. Das war im alten Ratskeller in <strong>Reutlingen</strong>.<br />
<strong>Bühne</strong>: Warum war danach Schluss?<br />
Günther: Ich hab 30 Jahre in der Gastronomie gearbeitet. Darunter hat meine<br />
Hüfte so sehr gelitten, dass ich mich operieren lassen musste. Aber es wurde<br />
nicht mehr besser <strong>und</strong> ich konnte nicht mehr weiterarbeiten. Seitdem beziehe ich<br />
eine kleine Berufsunfähigkeitsrente.<br />
<strong>Bühne</strong>: Gibt es irgendeine Leidenschaft, der Du in Deiner Freizeit nachgehst?<br />
Günther: Nach meiner Erwerbslosigkeit hab ich mit dem Malen angefangen.<br />
Dieses Talent schlummerte schon immer in mir, aber ich hatte früher keine Zeit,<br />
um mich auch mal in der Praxis auszuprobieren. Ein Highlight <strong>für</strong> mich war 1995<br />
eine Ausstellung mit 18 Bildern in der Kreissparkasse in Betzingen. Damals hingen<br />
echte „Sieverding“ (Günther grinst) Ölgemälde <strong>und</strong> Aquarelle in den Räumlichkeiten.<br />
Das waren Zeiten.<br />
<strong>Bühne</strong>: Vielen Dank <strong>für</strong> Deine Geschichten <strong>und</strong> Deine Zeit. Alles Gute <strong>und</strong> weiterhin<br />
viele Spenden von herzlichen Mitbürgern.<br />
(Foto: mB)