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Journal - Fondation Franz Weber

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36<br />

JFW | Gesellschaft<br />

Nr 101 Juli | August | September 2012<br />

Minou Drouet zuhause, Rue des Moines Nr. 15, Paris<br />

zu und drückte sogar sein<br />

Köpfchen an ihre Wange. Der<br />

Prinz traute seinen Augen<br />

nicht: ‹Ich habe schon viele<br />

Falken dressiert›, sagte er,<br />

‹aber keiner, nicht einmal der<br />

sanftmütigste, hat sich jemals<br />

so verhalten. Und dieser Falke<br />

ist obendrein noch ein bösartiger!›<br />

Eine Frau, die mit<br />

uns speiste, protestierte: ‹Dieses<br />

Tier ist gewiss nicht bösartig!›<br />

Sie streckte die Hand<br />

aus, um den Falken zu streicheln.<br />

Sie bedauert ihre Geste<br />

heute noch: der Falke durchschnitt<br />

ihr nämlich mit seinem<br />

scharfen Schnabel den<br />

Daumen!»<br />

Ein Stern, der vom<br />

Himmel fiel<br />

Minou hat ihre wirklichen Eltern<br />

nie gekannt. Sie wurde<br />

am 24. Juli 1947 in der Bretagne<br />

als blindes Kind geboren<br />

und gleich nach der Geburt<br />

der Armenpflege von Rennes<br />

anvertraut. Die Bretonen behaupten<br />

heute, sie sei ein<br />

Stern, der vom Himmel gefallen<br />

ist. Während Monaten bemühte<br />

sich die Armenpflege<br />

vergeblich: niemand wollte<br />

sie adoptieren. Das Kind war<br />

vierzehn Monate alt und immer<br />

noch blind, als sich eine<br />

alleinstehende Frau aus Pouliguen<br />

(Bretagne) seiner erbarmte.<br />

«Es sah in seinem<br />

Bettchen aus wie ein Engel»,<br />

erzählt mir Mme. Drouet.<br />

«Ich war überzeugt, dass es<br />

nicht lange leben werde. Ich<br />

schwor mir, es während der<br />

kurzen Zeit, die es auf unserer<br />

Erde verbringen sollte,<br />

glücklich zu machen».<br />

Dank einer Augenoperation<br />

konnte das Kind mit vier Jahren<br />

zum ersten Mal sehen.<br />

Frau Drouet hoffte, es werde<br />

nun auch aus ihrem halbblöden<br />

Zustand, in dem es bis dahin<br />

lebte, erwachen. Ihre<br />

Hoffnung wurde enttäuscht.<br />

Sechsjährig konnte Minou<br />

immer noch nicht den Esslöffel<br />

halten. Frau Drouet musste<br />

ihr das Essen wie einem<br />

Säugling eingeben und ihr<br />

vor jedem Schlucken zudem<br />

noch den Unterkiefer hochdrücken.<br />

Minou konnte sich<br />

auch nicht verständlich machen,<br />

immer blickte sie<br />

stumm vor sich hin. Sie konnte<br />

kaum einen Schritt vor den<br />

andern tun. Die Ärzte rieten<br />

Frau Drouet, Minou in ein<br />

Asyl für unheilbare Kinder<br />

abzuschieben. «Denn», sagten<br />

sie, «sie wird aus ihrem blöden<br />

Zustand nie erwachen».<br />

Doch Frau Drouet behielt das<br />

Kind bei sich und pflegte und<br />

hegte es mit doppelter Liebe.<br />

Einmal kam zu ihr eine russische<br />

Freundin, die sich sehr<br />

auf Astrologie verstand.<br />

«Könnten Sie von Minou<br />

nicht mal das Horoskop machen?»<br />

fragte Mme. Drouet.<br />

«Ich möchte gerne wissen, ob<br />

es einmal‚ ‹Mama› sagen<br />

kann». Die Russin kam einen<br />

Monat später triumphierend<br />

zurück: «Die Kleine, von der<br />

alle glauben, sie sei idiotisch,<br />

wird eines der ausserordentlichsten<br />

Schicksale ihrer Zeit<br />

haben und der Poesie einen<br />

neuen Impuls geben. Während<br />

ihres ganzen Lebens<br />

wird sie mit Leidenschaft umgeben<br />

sein: die einen werden<br />

sie vergöttern, die andern<br />

hassen…»<br />

«Es war etwas Wunderbares, jede<br />

Note dieser himmlischen Musik<br />

war wie eine Schere, welche die<br />

Fesseln, die meine Beine,<br />

Arme und mein Gehirn gefangen<br />

hielten, zerschnitt!“<br />

Sechs Monate später befand<br />

sich Minou immer noch im<br />

gleichen unseligen Zustand.<br />

Wenn ihre Mutter sie am<br />

Strand von Le Pouliguen vor<br />

dem rauschenden Meer in<br />

den Sand setzte, fand sie Minou<br />

eine Stunde später regungslos<br />

am genau gleichen<br />

Platz. Die Kinder, die sich zu<br />

ihr hinsetzten, beachtete sie<br />

gar nicht; ihre traurigen Augen<br />

verloren sich in den reitenden<br />

Wellen des Meeres.<br />

Doch endlich, an einem Frühlingsabend,<br />

verwandelte sich<br />

Minou plötzlich. «Die Dämmerung<br />

war eingebrochen»,<br />

erzählt Frau Drouet. «Ich hatte<br />

das Radio eingestellt: Musik<br />

von J.S. Bach erfüllte die Stube.<br />

Da schaute mich Minou,<br />

die einen Augenblick zuvor<br />

noch stumpf vor sich hinbrütete,<br />

auf einmal wie gebannt<br />

an, ihr Gesicht belebte sich,<br />

bekam einen hellen Ausdruck.<br />

Sie lauschte beglückt.<br />

Als die Musik verklang,<br />

sprang sie von ihrem Stuhl<br />

und rannte – sie, die doch einen<br />

Augenblick zuvor kaum<br />

zwei Schritte allein tun konnte<br />

– aus der Stube, die Treppe<br />

hinunter. Ehe ich mich vor<br />

sprachlosem Erstaunen fassen<br />

konnte, lief sie schon den<br />

Strand entlang. Eine halbe<br />

Stunde später kam sie mit fliegendem<br />

Atem ins Haus zurück,<br />

eilte in die Küche, wo<br />

das Nachtessen für die Waschfrau<br />

bereitstand, stürzte sich<br />

auf die Suppe und verschlang<br />

lachenden Gesichts auch<br />

noch Brot und Käse. Heute<br />

sagt Minou mit Recht: «Der<br />

einzige Arzt, der mich heilen<br />

konnte, war Bach!»<br />

«Es war etwas Wunderbares»,<br />

meint Minou zu mir, «jede<br />

Note dieser himmlischen Musik<br />

war wie eine Schere, welche<br />

die Fesseln, die meine<br />

Beine, Arme und mein Gehirn<br />

gefangen hielten, zerschnitt.<br />

Ich fühlte mich plötzlich<br />

erlöst. Ein unfassbares,<br />

ungestümes Glücksgefühl<br />

durchdrang mich…»<br />

«Das kleine Mädchen, das<br />

in meinem Kopf tanzt»<br />

Von da an spielte Minou mit<br />

den Kindern am Strand, doch<br />

sie war immer verträumt und<br />

anders als die andern... Sie<br />

sprach über Dinge, die ihre

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