Sächsische Kulinaria und regionale Identität - Landwirtschaft in ...
Sächsische Kulinaria und regionale Identität - Landwirtschaft in ...
Sächsische Kulinaria und regionale Identität - Landwirtschaft in ...
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Re<strong>in</strong>hard Lämmel<br />
Fachvortrag-Messe Gäste Leipzig 16.9.2013<br />
<strong>Sächsische</strong> <strong>Kul<strong>in</strong>aria</strong> <strong>und</strong> <strong>regionale</strong> <strong>Identität</strong><br />
Es schmeckt nirgends so gut wie bei Mutter, kl<strong>in</strong>gt wie sentimentaler<br />
Volksm<strong>und</strong>, sche<strong>in</strong>t aber kul<strong>in</strong>arische Wahrheit zu se<strong>in</strong> <strong>und</strong> stammt aus e<strong>in</strong>er<br />
Epoche, als die Garzeiten <strong>in</strong> deutschen Küchen noch wesentlich länger waren.<br />
Des deutschen Mannes Leibgericht, heißt es <strong>in</strong> Kochbüchern aus den 1970iger<br />
Jahren, wird immer e<strong>in</strong>faches handfestes Essen se<strong>in</strong>, das er als Junge von se<strong>in</strong>er<br />
Mutter bekommen hat, das ihm se<strong>in</strong>e Frau kocht oder was er heute noch bei<br />
Schwiegermuttern isst.<br />
Offenbar ist die Esskultur e<strong>in</strong> besonders erprobtes <strong>und</strong> bewährtes Medium, um<br />
der Regionalität Ausdruck zu verleihen.<br />
Trotz e<strong>in</strong>em Heer studierter Kalorienzähler, Ernährungsexperten, zahllosen<br />
Antifett-Kampagnen, Sushi, Tagliatelle, Carpaccio oder Capresesalat, es bleibt<br />
<strong>in</strong> deutschen Haushalten vorwiegend bei Eisbe<strong>in</strong>, Schwe<strong>in</strong>e- <strong>und</strong> Sauerbraten,<br />
R<strong>in</strong>der- <strong>und</strong> Kohlrouladen, Kohl <strong>und</strong> P<strong>in</strong>kel, Himmel <strong>und</strong> Erde, Klößen <strong>und</strong><br />
Spätzle, Her<strong>in</strong>gshäckerle <strong>und</strong> Quarkkäulchen.<br />
Damit sche<strong>in</strong>t sich e<strong>in</strong> längst abgegriffenes Sprichwort zu bestätigen, dass<br />
nämlich der Magen von allen Organen das Konservativste ist, oder anders<br />
ausgedrückt, ich esse alles, es muss nur immer dasselbe se<strong>in</strong>.<br />
Es ist wohl unbestritten, dass sich der Mensch über se<strong>in</strong> Essen mit der Heimat<br />
identifizieren kann, aber was als heimatlich <strong>und</strong> vertraut gilt, muss nicht<br />
zwangsläufig <strong>in</strong> der Heimat entstanden se<strong>in</strong>.<br />
In der Ernährungsgeschichte zeigt es sich oft, dass gerade die häufig <strong>und</strong> gern<br />
verwendeten Produkte gar nicht <strong>regionale</strong>n Ursprungs s<strong>in</strong>d.<br />
Auch frühere kul<strong>in</strong>arische Landkarten konnten die meisten heimattypischen<br />
Gerichte nie exakt zuordnen, weil sich Grenzen <strong>in</strong> der Vergangenheit öfter<br />
veränderten, die Essgewohnheiten aber bestehen blieben.<br />
Beispielsweise verbirgt sich h<strong>in</strong>ter dem heutigen Sachsen Anhalt die ehemalige<br />
Prov<strong>in</strong>z Sachsen.<br />
Im 15. Jahrh<strong>und</strong>ert bezog sich der Begriff Sachsen auf den gesamten<br />
wett<strong>in</strong>ischen Gr<strong>und</strong>besitz zwischen Thür<strong>in</strong>ger Wald, Böhmen, Wittenberg <strong>und</strong><br />
dem Erzgebirge. Dagegen gehörten das Vogtland erst ab 1560 <strong>und</strong> seit dem<br />
30jährigen Krieg die Ober- <strong>und</strong> Niederlausitz zu Sachsen.<br />
Inzwischen wohnt jeder zweite Deutsche nicht mehr dort, wo er geboren wurde.<br />
In der Fremde er<strong>in</strong>nert man sich besonders gern <strong>und</strong> <strong>in</strong>tensiv an Zuhause.<br />
1
Das geme<strong>in</strong>same Mahl mit Speisen aus Omas Küchenkalender im trauten<br />
Familienkreis, als wichtige Institution der Zusammengehörigkeit, wird immer<br />
mehr auf wenige Momente am Wochenende verdrängt oder entfällt ganz.<br />
Dazu kommt die Tatsache, dass sich <strong>in</strong> den letzten 200 Jahren <strong>in</strong> Deutschland<br />
Speisenzubereitung <strong>und</strong> Geschmacksverständnis so gr<strong>und</strong>legend wie noch nie<br />
zuvor geändert haben.<br />
Die e<strong>in</strong>stigen Tugenden der deutschen Hausfrau, nämlich die gute alte<br />
traditionelle Küche, die Liebe <strong>und</strong> H<strong>in</strong>gabe, die Groß- <strong>und</strong> Urgroßmutter bei der<br />
Speisenzubereitung aufbrachten, sche<strong>in</strong>en <strong>in</strong> Gefahr zu se<strong>in</strong>.<br />
Vielleicht stimmt der Verdacht sogar, dass die Frau von heute zu wenig Zeit fürs<br />
Kochen hat, oder schlimmer noch, sie hat von der Küche ihrer Großmutter gar<br />
ke<strong>in</strong>e Ahnung mehr.<br />
An diesem kul<strong>in</strong>arischen <strong>Identität</strong>sverlust sollen schon Ehen gescheitert se<strong>in</strong>,<br />
nur <strong>in</strong>offiziell natürlich, denn für derartige Partnerversagen haben bodenständige<br />
Richter strafrechtlich bisher ke<strong>in</strong>e gesetzliche Handhabe.<br />
Es gibt aber auch kritische Stimmen mit gegenteiliger Me<strong>in</strong>ung, die zynisch<br />
behaupten, mit der Zubereitung von Gerichten aus der Hausmannskost nach<br />
Großmutters Art könne jede Hausfrau ihren Mann am Sonnabend bequem aus<br />
dem Haus treiben.<br />
Noch unfre<strong>und</strong>licher drückt es Baron Eugen von Vaerst 1851 <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Werk<br />
Gastrosophie aus, <strong>in</strong> dem er me<strong>in</strong>t:<br />
Die sogenannte Hausmannskost ist <strong>in</strong> der Regel e<strong>in</strong> plumpes ungeschicktes<br />
Essen, ohne Geist <strong>und</strong> Verstand, ohne System <strong>und</strong> Ordnung.<br />
Heute, wo auf kul<strong>in</strong>arischem Gebiet offenbar alles möglich geworden zu se<strong>in</strong><br />
sche<strong>in</strong>t, zählen Regionalküche <strong>und</strong> kul<strong>in</strong>arische <strong>Identität</strong> wieder zu den<br />
Begriffen, die Hochkonjunktur haben.<br />
„Wieder“ deshalb, weil es <strong>in</strong> der Geschichte von Essen <strong>und</strong> Tr<strong>in</strong>ken <strong>in</strong><br />
Deutschland schon mehrmals den Ruf nach Rückbes<strong>in</strong>nung auf unsere<br />
sogenannten kul<strong>in</strong>arischen Wurzeln gab.<br />
Die Küchenhistoriker unter ihnen werden sich noch daran er<strong>in</strong>nern, das war zu<br />
Beg<strong>in</strong>n des Kaiserreiches so, wiederholte sich zwischen 1933 <strong>und</strong> 1940 sogar<br />
mit bizarren Zügen, nachdem <strong>in</strong> den Goldenen 20iger Jahren zum<strong>in</strong>dest <strong>in</strong> den<br />
größeren Städten <strong>in</strong>ternationale Restaurants wie Pilze aus der Erde schossen,<br />
<strong>und</strong> kam schließlich <strong>in</strong> den 1970iger Jahren nach der gerade beendeten<br />
sogenannten Fresswelle als neue deutsche Regionalküche <strong>in</strong>s Gespräch, mit<br />
großer medialer Aufmerksamkeit bedacht.<br />
Seit Neugründung des Freistaates Sachsen hat das Thema Regionalküche <strong>in</strong><br />
Verb<strong>in</strong>dung mit sächsischer <strong>Identität</strong> für Lebensmittelproduzenten,<br />
Gastronomen <strong>und</strong> Ernährungsphilosophen absolute Dauerpriorität.<br />
2
Zufall, E<strong>in</strong>bildung, Tatsache oder doch nur die Bestätigung der B<strong>in</strong>senweisheit,<br />
dass man sich immer dann wie aufgerüttelt an herkömmliche Koch- <strong>und</strong><br />
Esssitten er<strong>in</strong>nert, wenn Fremdländisches den gewohnten Trott zu unterbrechen<br />
droht.<br />
In unserer schnelllebigen Gegenwart verlieren kul<strong>in</strong>arische Tradition immer<br />
mehr ihre Selbstverständlichkeit, zum<strong>in</strong>dest behaupten das die Pessimisten.<br />
Aber Pessimisten gab es schon immer, <strong>und</strong> auch die Argumente waren immer<br />
die Gleichen.<br />
Spätestens jetzt sei ganz nebenbei daran er<strong>in</strong>nert, mit Küchen, die üblicherweise<br />
als regional betrachtet werden, können Interessen verb<strong>und</strong>en se<strong>in</strong>, die<br />
Geme<strong>in</strong>schaft stabilisieren <strong>und</strong> Zusammengehörigkeitgefühle erzeugen.<br />
Dieselben Küchen können aber auch dazu <strong>in</strong>strumentalisiert werden, Speisen als<br />
klischeehafte Symbole zu betrachten, um damit entsprechende Distanzen nach<br />
außen aufzubauen.<br />
Im Gegensatz zu den früheren Traditionsgesellschaften bef<strong>in</strong>den wir uns<br />
gegenwärtig unbestritten <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er kul<strong>in</strong>arischen Multikulti Gesellschaft mit e<strong>in</strong>er<br />
Vielfalt fremdländischer E<strong>in</strong>flüsse auf Großmutters Küchenerbe.<br />
Während Chili con Carne, Pizza, Paella <strong>und</strong> Tofu für viele Zeitgenossen<br />
<strong>in</strong>zwischen kul<strong>in</strong>arischer Alltag s<strong>in</strong>d, bezeichnen das manche Gastrohistoriker<br />
<strong>und</strong> e<strong>in</strong>gefleischte Skeptiker als Angriff auf die vertrauten heimischen<br />
Essgewohnheiten, nennen das e<strong>in</strong>e fe<strong>in</strong>dliche Küchenübernahme <strong>und</strong> erwähnen<br />
<strong>in</strong> diesem Zusammenhang die äußerst unappetitlich kl<strong>in</strong>gende Vokabel Ethno-<br />
Küche.<br />
Ethno Küche ist der Überbegriff für die ganz andere als die uns angeblich <strong>in</strong>nig<br />
ans Herz gewachsene Küche.<br />
Geme<strong>in</strong>t s<strong>in</strong>d exotische Würz- <strong>und</strong> Zubereitungsvarianten sowie die<br />
Lebensmittel aus den Küchen ethnischer M<strong>in</strong>derheiten <strong>und</strong> fremder Länder.<br />
Mit der Ethno Küche als erklärtem Fe<strong>in</strong>dbild übersieht man schon mal, dass<br />
National- oder Regionalküchen seit jeher aus e<strong>in</strong>em Sammelsurium vieler<br />
kul<strong>in</strong>arischer Traditionen bestehen, beispielsweise der herrschaftlichen, der<br />
bürgerlichen, der bäuerlichen, der Brauchtums- <strong>und</strong> eben der Migrationsküchen.<br />
Gastronomische Trendforscher haben herausgef<strong>und</strong>en, dass uns am Anfang des<br />
3. Jahrtausends im wesentlichen zwei sche<strong>in</strong>bar gegensätzliche kul<strong>in</strong>arische<br />
Motive beherrschen, erstens die Befreiung vom bekannten Alltäglichen <strong>und</strong><br />
zweitens die Sehnsucht nach <strong>Identität</strong>, also die Suche nach dem Ursprünglichen.<br />
Das heißt e<strong>in</strong>erseits weg von der Hausmannskost, andererseits aber wieder h<strong>in</strong><br />
zu Mutters Küche.<br />
Die Frage ist nun, hat das Fremdländische <strong>in</strong> unserem Speiseplan das Regionale<br />
<strong>und</strong> Altbekannte schon verdrängt, <strong>und</strong> was wird uns die Zukunft kul<strong>in</strong>arisch<br />
bescheren.<br />
3
Hält die Traditionsküche den E<strong>in</strong>fluss fremder Zutaten ohne <strong>Identität</strong>sverlust<br />
aus? Wahrsche<strong>in</strong>lich ja, denn historisch gesehen hat es die Ethno Küche schon<br />
immer gegeben.<br />
Im Alltag zeigt sich, obwohl japanische, spanische, griechische, türkische,<br />
italienische oder thailändische Lokale bemerkenswerten Zulauf haben, trotz<br />
Gänseleberpastete, Kaviar, T<strong>in</strong>tenfisch <strong>und</strong> Wachteleiern im Delikatessenladen,<br />
53% der Deutschen wollen nicht auf die ihnen vertraute Hausmannskost<br />
verzichten.<br />
Andererseits kennen zwar 75% der Befragten verschiedene traditionellen<br />
Gerichte, aber 30% davon bestätigen gleichzeitig, dass sie solche selbst nur noch<br />
ganz selten essen.<br />
E<strong>in</strong> re<strong>in</strong> sächsisches <strong>Identität</strong>sproblem ist das allerd<strong>in</strong>gs nicht.<br />
Auch außerhalb Deutschlands wird unter traditionellen Köchen <strong>und</strong><br />
Gastrosophen ganz offen <strong>und</strong> leidenschaftlich darüber diskutiert, ob die<br />
klassische oder ursprüngliche Küche, also Urgroßmutters heilige<br />
Liebl<strong>in</strong>gsspeisen, durch Beimischungen fremdländischer Gewürze oder Lebens<strong>und</strong><br />
Genussmittel sozusagen entweiht <strong>und</strong> damit die <strong>Identität</strong> verdrängt wird.<br />
Schlimmstenfalls wäre das Resultat e<strong>in</strong> über<strong>regionale</strong>r kul<strong>in</strong>arischer E<strong>in</strong>heitsbrei<br />
ohne erkennbare Geschmacksunterschiede <strong>und</strong> <strong>Identität</strong> zur Heimat.<br />
Konservative Essphilosophen verweisen auf den Supergau <strong>in</strong> der <strong>regionale</strong>n<br />
<strong>Kul<strong>in</strong>aria</strong>, herbeigeführt durch die sogenannten jungen Wilden, oder besonders<br />
ehrgeizige Köche, die noch e<strong>in</strong>mal auf sich aufmerksam machen wollen <strong>und</strong><br />
deshalb traditionelle Rezepte wahllos mit maritimen, asiatischen oder<br />
orientalischen Zutaten zu e<strong>in</strong>er angeblich neuen Regionalküche komb<strong>in</strong>ieren.<br />
Ganz schlimme Kritiker nicken zustimmend <strong>und</strong> behaupten, die <strong>Identität</strong> mit<br />
den heimatlichen Speisen sei <strong>in</strong> Gefahr, weil es heute an der kul<strong>in</strong>arischen<br />
Kompetenz, dem Respekt vor der Tradition <strong>und</strong> dem <strong>in</strong>neren Gefühl für<br />
Geschmacksharmonie beim Kochen fehlen würde.<br />
Alles Uns<strong>in</strong>n, meldet sich das von so viel Ignoranz gedemütigte Kulturressort <strong>in</strong><br />
unserem Denkzentrum, fremde Zutaten hat es notwendigerweise immer<br />
gegeben, Essen ist schließlich Kultur, <strong>und</strong> die Kultur anderer Völker lernt man<br />
ganz gut über deren Speisen kennen.<br />
Lokalpatrioten laufen <strong>in</strong> der Fremde spontan zur Hochform auf, wenn sie auf<br />
e<strong>in</strong>er Speisekarte Namen von Gerichten aus ihrer Heimat lesen.<br />
Plötzlich riecht man das Essen, sieht die Wohnstube vor sich, <strong>in</strong> der gespeist<br />
wurde, er<strong>in</strong>nert sich an die teilnehmenden Personen, die E<strong>in</strong>zelheiten der<br />
heimatlichen gedeckten Familientafel <strong>und</strong> die vertraute Landschaft, <strong>in</strong> der man<br />
erwachsen wurde.<br />
Ethnologen, Anthropologen, Soziologen <strong>und</strong> Psychologen haben geme<strong>in</strong>sam<br />
versucht, die Zusammenhänge von vertrauten Speisen <strong>und</strong> persönlicher <strong>Identität</strong><br />
auf subjektive erbliche Veranlagungen zu reduzieren.<br />
4
Aber kul<strong>in</strong>arische <strong>Identität</strong> ist e<strong>in</strong> Phantasiebegriff, hat e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>dividuelle<br />
symbolische Funktion <strong>und</strong> ist ke<strong>in</strong>e angeborene Eigenschaft.<br />
Regionalküche <strong>und</strong> kul<strong>in</strong>arische <strong>Identität</strong> resultieren hauptsächlich aus e<strong>in</strong>em<br />
Konvolut ganz persönlich gemachter Erfahrungen <strong>und</strong> signalisieren nicht nur die<br />
Zugehörigkeit zu bestimmten Landschaften <strong>und</strong> Familien, sondern manchmal<br />
auch zu Berufen oder Altersgruppen.<br />
Erst <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung mit konkreten familiären Verhaltensschemen r<strong>und</strong> um den<br />
Esstisch, die erlernt <strong>und</strong> gespeichert werden müssen, lösen Mutters Kochkünste<br />
eigene Emotionen <strong>und</strong> Er<strong>in</strong>nerungen aus.<br />
Solche prägende Erfahrungen s<strong>in</strong>d beispielsweise Regeln der Tischhygiene, oder<br />
wann das Essen beg<strong>in</strong>nt, wann, wie oft, wie schnell oder wie langsam gegessen<br />
wird, mit wem, was <strong>und</strong> was nicht gegessen wird, oder wie was schmecken<br />
muss.<br />
Aber nicht nur, dass e<strong>in</strong>e Speise schmeckt weckt <strong>Identität</strong>, sondern auch das<br />
Erlebnis mit den Tischgenossen hat erheblichen Anteil daran, genau wie e<strong>in</strong>e<br />
haus<strong>in</strong>terne Tafelchoreographie, also das ganze Programm der offiziellen<br />
Benimmregeln plus familiärer Tafelrituale, die seit über 2000 Jahren <strong>in</strong><br />
sogenannten Tischzuchten festgehalten <strong>und</strong> immer wieder zeitgemäß angepasst<br />
worden s<strong>in</strong>d, teilweise aber auch noch unverändert ihre Gültigkeit haben.<br />
Man lernt, wie man am Tisch sitzt, wie man das Besteck hält <strong>und</strong> benutzt, wie<br />
gekaut <strong>und</strong> die Serviette gehalten wird, <strong>und</strong> wie man bei Tisch kommuniziert.<br />
Manche Erwachsene empf<strong>in</strong>den diese nervende Prozedur als abschreckenden<br />
Dressurakt <strong>in</strong> ihrer K<strong>in</strong>dheit, der zu den grausamen Er<strong>in</strong>nerungen an das<br />
Elternhaus gehört. Andere s<strong>in</strong>d Vati <strong>und</strong> Mutti lebenslang für Ausbildung <strong>in</strong><br />
Sachen Tafelkultur dankbar.<br />
Vielleicht gehen bestimmte Bevölkerungsschichten nicht nur aus kul<strong>in</strong>arischer<br />
Neugier lieber zum Essen <strong>in</strong> asiatische Restaurants, sondern weil beim echten<br />
Ch<strong>in</strong>esen um die Ecke Benimmregeln ganz anders aussehen, weil die<br />
hierzulande geradezu als unanständig verrufenen Tischmanieren wie kleckern,<br />
schmatzen <strong>und</strong> rülpsen dort naturgemäß zum guten Ton gehören können.<br />
Angesichts der Entwicklung, dass heute Lebensmittel aus aller Herren Länder<br />
praktisch jederzeit <strong>und</strong> überall verfügbar s<strong>in</strong>d, <strong>und</strong> auch verwendet werden,<br />
mahnt der französische Kulturwissenschaftler Leo Moul<strong>in</strong> <strong>in</strong> den 1980iger<br />
Jahren h<strong>in</strong>sichtlich der Bewahrung von <strong>regionale</strong>r <strong>Identität</strong> mit der<br />
e<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>glichen Schlussfolgerung:<br />
Die Vere<strong>in</strong>heitlichung der Weltbevölkerung ist unaufhaltsam, irgendwann<br />
werden wir alle gleich aussehen, <strong>und</strong> auch die gleichen Speisen essen.<br />
Neu s<strong>in</strong>d weder die Tendenz noch solche Befürchtungen.<br />
5
Schon Krünitz beschwört Ende des 18. Jahrh<strong>und</strong>erts <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er vielbändigen<br />
ökonomischen Enzyklopädie die Vorzüge der heimischen Nahrungsmittel, die<br />
für den Menschen als die gesündesten anzusehen s<strong>in</strong>d.<br />
Die E<strong>in</strong>wohner, empfiehlt Krünitz, würden sich bei E<strong>in</strong>haltung von Mäßigkeit<br />
<strong>und</strong> Genügsamkeit sehr glücklich <strong>und</strong> ges<strong>und</strong> fühlen, wenn sie sich mit den<br />
Nahrungsmitteln begnügen, die ihnen ihr eigener Gr<strong>und</strong> <strong>und</strong> Boden liefere.<br />
H<strong>in</strong>- <strong>und</strong> hergerissen zwischen fremdländischen <strong>und</strong> herkömmlichen Essen, <strong>und</strong><br />
dessen E<strong>in</strong>fluss auf <strong>regionale</strong> <strong>Identität</strong>, war auch der <strong>in</strong> Sachsen e<strong>in</strong>gebürgerte<br />
Gastrosoph Karl Friedrich von Rumohr .<br />
1822 bemängelt er <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Werk Geist der Kochkunst, die deutsche Küche<br />
würde immer mehr von französischen Speisen durchdrungen, was zum<br />
Niedergang der bürgerlichen deutschen Esskultur führen würde.<br />
National soll die Küche se<strong>in</strong>, reich an heimischen Produkten, frei von der<br />
Nachäffung fremder Schlemmerdiktatur wie halbrohem britischen R<strong>in</strong>derbraten<br />
<strong>und</strong> gallischen Hühnergerichten.<br />
Gleichzeitig feiert Rumohr aber die Erf<strong>in</strong>dung der Bouillon als sensationelles<br />
Weltereignis <strong>in</strong> der Kochkunst.<br />
Dabei hat er genau gewusst, dass deren Herstellung e<strong>in</strong>e Idee französischer<br />
Köche war.<br />
Diese Orakelsprüche hat es zu jeder Zeit gegeben, vor Krünitz, Rumohr oder<br />
Moul<strong>in</strong>, <strong>und</strong> auch danach.<br />
Bei genauer Betrachtung s<strong>in</strong>d solche Mahnungen eher unangebracht, vielleicht<br />
auch Panikmache, <strong>in</strong> jedem Fall aber unzutreffend.<br />
Es gibt ke<strong>in</strong>e H<strong>in</strong>weise darauf, dass die Vermischung <strong>in</strong>ternationaler Zutaten bei<br />
der <strong>regionale</strong>n Speisenherstellung irgendwo bei irgendwem zu<br />
<strong>Identität</strong>sverlusten geführt hätte.<br />
Ganz ohne Bedenken über <strong>Identität</strong>sverluste, vielmehr anerkennend, analysiert<br />
dagegen 1825 der französische Gastrosoph Brillat Savar<strong>in</strong>, dass die <strong>in</strong> den<br />
Pariser Restaurants derzeit verwendeten Lebensmittel <strong>in</strong>zwischen immerh<strong>in</strong> aus<br />
5 Erdteilen <strong>und</strong> 7 europäischen Ländern stammen.<br />
In der französischen Regionalküche wurden seit jeher ganz selbstverständlich<br />
fremde Zutaten verwendet, sie hätte sich gar nicht zu dem entwickeln können,<br />
was sie heute ist.<br />
Auch hierzulande wussten es die kul<strong>in</strong>arischen Realisten schon immer, e<strong>in</strong>e<br />
re<strong>in</strong>rassige deutsche Küche, nur aus wirklich ursprünglich heimischen<br />
Produkten, ist so aufregend wie ungewürzter Kartoffelbrei, wobei selbst die<br />
simple Kartoffel bekanntlich gar nicht zu den urdeutschen Ackergewächsen<br />
gehört.<br />
Nicht erst Kolumbus, schon vor Jahrtausenden brachten Handel, Tourismus,<br />
Kulturaustausch <strong>und</strong> kul<strong>in</strong>arische Neugier fremde Produkte <strong>in</strong> europäische<br />
National- <strong>und</strong> Regionalküchen, ganz abgesehen von religiösen E<strong>in</strong>flüssen, die<br />
6
seit jeher bei der Zusammenstellung der Heimatgerichte mehr oder weniger<br />
E<strong>in</strong>fluss hatten.<br />
Die sogenannte Globalisierung der Küche ist so alt wie die Menschheit selbst.<br />
Sie fand schon statt, als noch gar ke<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>deutigen Ländergrenzen bestanden<br />
<strong>und</strong> begann spätestens, als die ersten Pflaumen- <strong>und</strong> Kirschbäume aus<br />
Kle<strong>in</strong>asien nach Griechenland, Italien <strong>und</strong> später von den Römern <strong>in</strong>s Kelten<strong>und</strong><br />
Germanenland verpflanzt wurden.<br />
Essphilosophen halten die Beziehung zwischen kul<strong>in</strong>arischer <strong>Identität</strong> <strong>und</strong><br />
<strong>regionale</strong>n Gerichten aber für e<strong>in</strong> Phänomen, das sich frühestens ab dem 18.<br />
Jahrh<strong>und</strong>ert langsam herausbildete.<br />
Bis dah<strong>in</strong> verstand man unter <strong>regionale</strong>n Speisegewohnheiten <strong>in</strong> der Regel die<br />
überall gleiche ländliche Bauernkost, die ausschließlich von den natürlichen<br />
örtlichen E<strong>in</strong>schränkungen <strong>und</strong> Umweltbed<strong>in</strong>gungen abhängig war.<br />
Sie wurde über Jahrh<strong>und</strong>erte nur mündlich weitergegeben, von der Mutter zur<br />
Tochter, oder von Nachbar zu Nachbar.<br />
Geschmackliche Unterschiede hat es zwar immer gegeben, aber weniger<br />
zwischen Sachsen, Bayern, Thür<strong>in</strong>gen <strong>und</strong> Pommern, sondern eher zwischen<br />
dem nördlichen <strong>und</strong> südlichen Deutschland.<br />
Das regional Typische für den Norden ist die geschmackliche Verb<strong>in</strong>dung von<br />
salzig, süß <strong>und</strong> sauer.<br />
Bekannt dafür ist das Schwarzsauer mit Backpflaumen als spezifisches<br />
norddeutsches Gericht oder der Sauerbraten quer durch die Mitte Deutschlands,<br />
mal mit <strong>und</strong> mal ohne Ros<strong>in</strong>en.<br />
Dagegen trennt die süddeutsche Küche <strong>in</strong> der Regel salzig von süß, <strong>und</strong> hält sich<br />
an die konsequente geschmackliche Unterscheidung von herzhaften salzig<br />
säuerlichen Gerichten <strong>und</strong> den e<strong>in</strong>fach nur süßlichen Speisen.<br />
Da Sachsen mittendr<strong>in</strong> liegt, s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> der traditionellen Küchenpraxis sowohl<br />
nördliche als auch südliche Geschmacksnuancen nicht unüblich.<br />
Letztlich war aber für die mitteleuropäische Küche bis <strong>in</strong> die Neuzeit weniger<br />
kul<strong>in</strong>arische <strong>Identität</strong> von Bedeutung, sondern vielmehr Essen als e<strong>in</strong> Teilgebiet<br />
der Mediz<strong>in</strong>, nämlich der Diätetik.<br />
Bei den meisten Zeitgenossen ließ der Traum vom Sattwerden die Gefühle an<br />
heimatliche Essgewohnheiten gar nicht erst aufkommen.<br />
Insofern g<strong>in</strong>g es bei der Auswahl der verwendeten Produkte nicht vorrangig um<br />
die Verb<strong>und</strong>enheit oder <strong>Identität</strong> mit der heimatlichen Scholle, sondern darum,<br />
welche Zutaten erstens satt machen, zweitens der Ges<strong>und</strong>heit prophylaktisch<br />
förderlich s<strong>in</strong>d <strong>und</strong> drittens heilende Wirkung haben.<br />
Zweitens <strong>und</strong> drittens verdanken wir übrigens noch immer e<strong>in</strong>en Großteil des<br />
Regelwerkes beim Würzen unserer Speisen.<br />
Gewürze <strong>und</strong> Kräuter wurden <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie für die Förderung der<br />
Verdaulichkeit <strong>und</strong> körperlichen Fitness verwendet.<br />
7
Das Geschmacksempf<strong>in</strong>den hat sich erst über Generationen h<strong>in</strong>weg angepasst,<br />
frei nach dem Motto, man muss das Nützliche irgendwann mit dem<br />
Angenehmen verb<strong>in</strong>den.<br />
Die Speisen der Bevölkerungsmehrheit bestanden hauptsächlich aus<br />
ortstypischen <strong>und</strong> unspektakulären hausgemachten Produkten <strong>und</strong> war<br />
weitestgehend ziemlich vegetarisch, von Sonn-, Feiertagen abgesehen.<br />
Die These, Hunger sei der beste Koch, war schon immer falsch, er macht<br />
höchstens wahllos.<br />
Beispielsweise standen für die erzgebirgische Küche 1850 hauptsächlich<br />
Kartoffeln, Haferbrot, Sauermilch, Obst, Pilze, Beeren, Kohl <strong>und</strong> Sonntags<br />
etwas Fleisch zur Verfügung.<br />
Das trifft genauso auf die meisten anderen Regionen Deutschlands zu.<br />
Wenn me<strong>in</strong>e Mutter früher Fleisch gekocht hätte, wäre ich zuhause<br />
geblieben, gestand der 15 jährige Johann Sebastian Bach, als er 1700 nach<br />
Lüneburg zum Studium g<strong>in</strong>g.<br />
Man war froh, überhaupt genügend Brot, Käse, Mehl, Eier, Butter, Kohl,<br />
Zwiebeln <strong>und</strong> Milch vorrätig zu haben.<br />
Zur Zeit August des Starken, schreibt Professor Czok <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Charakteristik<br />
Sachsens, aß das Volk, was ihm der Augenblick zum Überleben bot.<br />
Das typisch sächsische oder schlesische Her<strong>in</strong>gshäckerle wurde nicht etwa als<br />
Gaumengenuss erf<strong>und</strong>en, sondern mit Gurke, gehacktem Ei <strong>und</strong> Zwiebeln<br />
gestreckt, um den ohneh<strong>in</strong> schon billigen Her<strong>in</strong>gsanteil möglichst ger<strong>in</strong>g <strong>und</strong><br />
damit die Kosten niedrig zu halten.<br />
Selbst die Zugehörigkeit zu e<strong>in</strong>er wohlhabenderen Bevölkerungsschicht<br />
garantierte über Jahrh<strong>und</strong>erte h<strong>in</strong>weg noch ke<strong>in</strong> besseres Essen.<br />
E<strong>in</strong>ige Kulturhistoriker s<strong>in</strong>d überzeugt davon, Regionalgerichte enthalten nicht<br />
nur fremde Lebensmittel, sie s<strong>in</strong>d überhaupt erst mit dem Import<br />
fremdländischer Nahrungs- <strong>und</strong> Genussmittel <strong>und</strong> deren regional<br />
unterschiedliche Verarbeitung entstanden.<br />
Die Annahme, Speisen der Heimatküche seien nur aus Produkten hergestellt<br />
worden, die ums Haus herum wuchsen oder im Stall um die Ecke standen, ist<br />
noch immer e<strong>in</strong> weit verbreiteter Irrtum.<br />
Die Geschichte der Esskultur zeigt, dass es kaum echte nationale oder <strong>regionale</strong><br />
Küchen ohne fremde E<strong>in</strong>flüsse gegeben hat.<br />
Was als lokale Tradition von den Volksk<strong>und</strong>lern als Inbegriff von Heimatspeise<br />
<strong>und</strong> <strong>regionale</strong>r <strong>Identität</strong> verklärt wurde, ist erst nach <strong>und</strong> nach unter Verwendung<br />
ausländische Rohprodukte <strong>und</strong> Kochtechniken <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung mit örtlichen<br />
Gegebenheiten entstanden.<br />
Auch e<strong>in</strong>e <strong>regionale</strong> Urküche hat es nie gegeben. Die meisten<br />
Großmuttergerichte s<strong>in</strong>d kaum älter als 150 Jahre <strong>und</strong> wurden vor 100 Jahren<br />
noch ganz anders zubereitet als heute.<br />
8
Bestimmte Nahrungsmittel <strong>und</strong> Speisen wurden mit der Zeit als regional sogar<br />
so ver<strong>in</strong>nerlicht, dass man sie heute gar nicht mehr als fremd ansieht.<br />
Ohne Kartoffeln, Mais, Paprikafrüchten, Reis, Kaffee, Tee, Kakao <strong>und</strong> die<br />
Mehrheit der Gewürze wären die Regionalküchen ziemlich e<strong>in</strong>tönig <strong>und</strong> weit<br />
weniger unterscheidbar.<br />
Die altdeutsche L<strong>in</strong>sensuppe stammt eigentlich aus Ägypten, Erbsen, Möhren<br />
<strong>und</strong> Porree aus Vorderasien, Rettiche aus der Gegend ums Schwarze Meer,<br />
Sellerie aus Italien, Quitten aus Persien, der legendäre DDR-Goldbroiler aus<br />
dem Industal, der weihnachtliche Putenbraten aus Mittelamerika, der Karpfen<br />
aus Ostasien <strong>und</strong> die Schalotten aus Paläst<strong>in</strong>a.<br />
Das Rezept für portionierte, mit Senf bestrichene <strong>und</strong> mit Speck <strong>und</strong> Zwiebeln<br />
gefüllte R<strong>in</strong>derrouladen kam ursprünglich von England über Frankreich nach<br />
Sachsen.<br />
Das urdeutsche Sauerkraut basiert auf e<strong>in</strong>em Rezept der ch<strong>in</strong>esischen<br />
Mauerbauer, die vor 2200 Jahren Kohlblätter <strong>in</strong> Reiswe<strong>in</strong> e<strong>in</strong>legten <strong>und</strong> sauer<br />
werden ließen.<br />
Selbst die ursächsische Butterbemme ist e<strong>in</strong>e holländische Erf<strong>in</strong>dung <strong>und</strong> wurde<br />
hier erst heimisch, als die Biersuppe zum Frühstück von der Mode des<br />
Kaffeetr<strong>in</strong>kens ablöst wurde.<br />
Quarkkäulchen, zum Inbegriff der sächsischen Küche geadelt, s<strong>in</strong>d <strong>in</strong><br />
Wirklichkeit auch nur e<strong>in</strong>e Koproduktion zwischen Amerika (Kartoffeln), Asien<br />
(Zimt) <strong>und</strong> der genial e<strong>in</strong>fachen Idee e<strong>in</strong>er möglicherweise sächsischen<br />
Landfrau, die den Quark beisteuerte.<br />
Auch das Leipziger Allerlei als Gericht mit knackig gegarten<br />
Frühl<strong>in</strong>gsgewächsen würde es nicht geben, hätten nicht Ende des 18.<br />
Jahrh<strong>und</strong>erts aus Ch<strong>in</strong>a heimkehrende französische Dom<strong>in</strong>ikanerpadres die<br />
Methode des schonenden Gemüsegarens nach Europa gebracht.<br />
Zuvor kannte man Gemüse nur so zubereitet wie es der Wortstamm verrät,<br />
nämlich zu Mus gekocht.<br />
Ähnlichkeiten oder Übere<strong>in</strong>stimmungen zwischen e<strong>in</strong>igen Speisen <strong>und</strong><br />
Essgewohnheiten <strong>in</strong> unterschiedlichen Regionen treten vor allem dann auf, wenn<br />
vergleichbare Umwelt-, Agrar-, Wald- <strong>und</strong> Wiesenbed<strong>in</strong>gungen herrschen.<br />
Zum Beispiel gibt es die sächsischen Kartoffelpuffer <strong>in</strong> Süddeutschland als<br />
Reiberdatschi, <strong>in</strong> Westfalen als Lappenpickert, im Rhe<strong>in</strong>land heißen sie<br />
Reibekuchen <strong>und</strong> <strong>in</strong> Norddeutschland Puffer.<br />
Den heiligen Dresdner Sauerbraten wird mit ger<strong>in</strong>gfügigen Unterschieden <strong>in</strong><br />
noch 15 anderen Deutschen Regionen zubereitet, ganz abgesehen von der<br />
italienischen Variante, dem Manzo alla pitocchetta.<br />
Besonders beim Backwerk werden über<strong>regionale</strong> Ähnlichkeiten deutlich, mit<br />
e<strong>in</strong>em be<strong>in</strong>ahe verwirrenden Wortschatz für letztlich die gleichen, oder<br />
zum<strong>in</strong>dest sehr verwandten Erzeugnisse, was natürlich die kul<strong>in</strong>arische <strong>Identität</strong><br />
zur Heimat für den E<strong>in</strong>zelnen nicht leichter macht.<br />
9
H<strong>in</strong>ter dem sächsischen Kleckselkuchen verbirgt sich der böhmisch-mährische<br />
Batzelkuchen.<br />
Baumkuchen heißt <strong>in</strong> Süddeutschland Spießkuchen <strong>und</strong> Waffeln <strong>in</strong><br />
Norddeutschland Eisenkuchen.<br />
Völlig unübersichtlich wird es bei e<strong>in</strong>em typisch sächsischen<br />
Weihnachtsgebäck, dem Weihnachtsstollen, der früher bereits als Mailänder,<br />
Rhe<strong>in</strong>ischer, Fränkischen, Leipziger, Görlitzer, Chemnitzer, Hannoverscher,<br />
Schlesischer, Hallescher, Naumburger, Meißner, Siebenlehner, Erzgebirgischer,<br />
<strong>in</strong> Thür<strong>in</strong>gen als Schüttchen, <strong>in</strong> altslawischen Gebieten als Strucla <strong>und</strong> <strong>in</strong><br />
Böhmen als Struca, bekannt war, ehe ihn die Dresdner Bäcker erst im 19.<br />
Jahrh<strong>und</strong>ert sehr verfe<strong>in</strong>ert guten Gewissens <strong>und</strong> mit Recht als ihre Spezialität<br />
vermarkteten.<br />
In e<strong>in</strong>igen Teilen Deutschlands verbergen sich übrigens h<strong>in</strong>ter traditionellen<br />
Gebäcken wie Klaben, Klöben, Kletzenbrot, Rhe<strong>in</strong>ischen Stuten oder Platz dem<br />
Dresdner Stollen zum<strong>in</strong>dest optisch nahezu identische Backwaren.<br />
E<strong>in</strong> Land wie Sachsen mit ausgeprägter <strong>Landwirtschaft</strong>, Viehzucht,<br />
Wildbestand, We<strong>in</strong>bau, Brauwirtschaft, Imkerei <strong>und</strong> anerkannten<br />
Backtraditionen muss aber auch e<strong>in</strong>e gute Küche haben.<br />
1716 heißt es <strong>in</strong> Marpergers Küch- <strong>und</strong> Kellerdiktionarium:<br />
Sachsens Speisen s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> diesem wohl e<strong>in</strong>gerichteten Land überaus gut.<br />
Ausländische Gewürze <strong>und</strong> Delikatessen gibt es mittels der Messen <strong>in</strong><br />
Leipzig <strong>und</strong> Naumburg zur Genüge, aber auch wegen der<br />
Geschäftstüchtigkeit der eigenen Kaufleute.<br />
An Feld- <strong>und</strong> Gartenfrüchten ist das Sortiment reichhaltiger als <strong>in</strong> anderen<br />
Ländern.<br />
Das Fleisch von R<strong>in</strong>dern, Schwe<strong>in</strong>en <strong>und</strong> Ziegen ist von solch<br />
herausragender Qualität, dass andere Prov<strong>in</strong>zen es sich aus Sachsen holen.<br />
Gut 100 Jahre später schreibt Francois le Goullon, Hofküchenmeister der<br />
Herzog<strong>in</strong> Amalie von Sachsen-Weimar-Eisenach, <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em neuen Apicius von<br />
1829:<br />
Es ist e<strong>in</strong>zig die Jahreszeit, die den <strong>regionale</strong>n Unterschied noch ausmacht.<br />
So gibt es <strong>in</strong> Sachsen noch lange ke<strong>in</strong>en Spargel, grüne Erbsen <strong>und</strong> junges<br />
Geflügel, wenn diese <strong>in</strong> Schwaben, Franken <strong>und</strong> anderen südlichen<br />
Prov<strong>in</strong>zen bereits erhältlich s<strong>in</strong>d.<br />
Sonst ist <strong>in</strong> den großen sächsischen Städten wie Leipzig <strong>und</strong> Dresden für<br />
Geld sowieso alles zu haben, vom Senf aus Dijon über die fette geräucherte<br />
pommersche Gänsebrust bis zu den Makkaroni aus Napoli.<br />
Und <strong>in</strong> den Gewächshäusern vergisst man angesichts der<br />
unterschiedlichsten Obst- <strong>und</strong> Gemüsepflanzen, dass draußen Schnee liegt.<br />
10
So gut kocht Deutschland, könnte man diese Zeit kul<strong>in</strong>arisch <strong>in</strong>terpretieren,<br />
obwohl damit hauptsächlich die bürgerlichen Gerichte des Mittelstandes <strong>in</strong> den<br />
Städten geme<strong>in</strong>t s<strong>in</strong>d, die etwas fe<strong>in</strong>ere Küche, die sich schon immer an den<br />
Speisen der herrschaftlichen Tafel orientierte.<br />
Die damalige Großmutterküche stammte aus den ländlichen Gebieten <strong>und</strong> war<br />
eigentlich un<strong>in</strong>teressant für Kochbuchschreiber.<br />
Wer heute wissen möchte, wie das schlichte, bäuerliche Mahl damals beschaffen<br />
war, sollte das Kochbuch für die arbeitende Klasse lesen, nicht aus der Feder<br />
von Karl Marx, sondern der von Charles Francatelli, dem Leibkoch der<br />
englischen König<strong>in</strong> Viktoria.<br />
Fast e<strong>in</strong> Jahrtausend lang war Deutschland e<strong>in</strong> bunter Teppich aus kle<strong>in</strong>en <strong>und</strong><br />
kle<strong>in</strong>sten Territorien, die nichts außer der deutschen Sprache vere<strong>in</strong>te.<br />
Mit der Entwicklung Deutschlands aus e<strong>in</strong>er Vielzahl wirtschaftlich<br />
stagnierender Agrar- Kle<strong>in</strong>staaten zur Industrienation, der zunehmenden<br />
Mobilität, der verbesserten Verkehrs- <strong>und</strong> Transportverhältnisse, wurden auch<br />
die bekanntesten <strong>und</strong> beliebtesten Speisen aus den verschiedenen Regionen im<br />
ganzen Land bekannt.<br />
Überall bot man nun jeden Dienstag die gleichen Schlachtfestessen an, im<br />
Herbst das große Hasen- <strong>und</strong> Gänseessen, im Frühjahr war Spargelzeit, später<br />
kamen die Pilzgerichte, von Garmisch bis Kiel stand die urdeutsche<br />
Schlachtplatte auf dem Plan, Berl<strong>in</strong>er Eisbe<strong>in</strong> gab es <strong>in</strong> Bayern als Surhaxl <strong>und</strong><br />
im Rhe<strong>in</strong>land als Hämchen.<br />
E<strong>in</strong>st ausschließlich regionaltypische Gerichte wie Spreewälder (Brandenburger)<br />
Pflückhecht oder Karpfen wurden kopiert <strong>und</strong> als Meißner oder Moritzburger<br />
Spezialität oder umgekehrt vere<strong>in</strong>nahmt, Pichelste<strong>in</strong>er Topf hieß jetzt<br />
Bismarckragout oder schlicht nur Saftfleisch, das berühmte Wiener Schnitzel<br />
machte mit Schwe<strong>in</strong>efleisch Bekanntschaft <strong>und</strong> galt von nun an als deutscher<br />
Küchenrenner.<br />
Auf die wachsende Bevölkerungszahl <strong>in</strong> den Städten, hauptsächlich aus den<br />
ländlichen Gegenden stammend, wirkte die Vermischung städtischer <strong>und</strong><br />
ländlicher Speisen wie e<strong>in</strong> <strong>Identität</strong>sverlust.<br />
Omas Küche war noch vorbildlich, heißt es <strong>in</strong> den Kochlehrbüchern etwas<br />
wehmütig, sie schrieb den Küchenzettel für e<strong>in</strong>e Woche im voraus, hatte meist<br />
e<strong>in</strong> schmales Budget <strong>und</strong> verstand etwas von rationeller Vorratswirtschaft.<br />
Was das bedeutete, verdeutlicht e<strong>in</strong>e Passage aus der 1885 <strong>in</strong> Leipzig<br />
erschienen bürgerlichen Koch- <strong>und</strong> Haushaltungslehre von Ottilie Palfy:<br />
Im W<strong>in</strong>ter, wo sich das Fleisch hält, kann man der Abwechslung wegen den<br />
übriggebliebenen Sonntagsbraten für Dienstag aufwärmen, im Sommer<br />
aber, besonders an heißen Tagen, ist der Montag besser hierzu.<br />
11
Schließlich befürchteten Pessimisten sogar, mit der deutschen E<strong>in</strong>heit von<br />
1870/71 würde man die <strong>regionale</strong>n kul<strong>in</strong>arischen Traditionen ganz zerstören.<br />
Es sche<strong>in</strong>t nicht alle<strong>in</strong> die Sehnsucht nach <strong>Identität</strong> mit e<strong>in</strong>er bestimmten Region<br />
gewesen zu se<strong>in</strong>, sondern vielmehr nach verlorener Bodenständigkeit überhaupt.<br />
Das führte letztendlich zu e<strong>in</strong>er <strong>in</strong> sich widersprüchlichen kul<strong>in</strong>arischen<br />
Kettenreaktion.<br />
Die Suche nach Regionalküche, Tradition <strong>und</strong> <strong>Identität</strong>, löste ab den 1870iger<br />
Jahren e<strong>in</strong>e regelrechte Nostalgiewelle aus, unterstützt durch e<strong>in</strong>e Vielzahl von<br />
Kochbüchern.<br />
Zwar existierten schon vorher Kochbücher mit <strong>regionale</strong>m Anspruch wie das<br />
Nürnberger, das Bamberger, das Salzburger oder das Brandenburgische<br />
Kochbuch, aber die enthielten trotz ihres geografischen Titels nur e<strong>in</strong>ige wenige<br />
Gerichte mit <strong>regionale</strong>m Bezug.<br />
E<strong>in</strong>erseits entstanden die sogenannten Heimatkochbücher mit Rezepten der<br />
guten alten Küche <strong>und</strong> der Rückbes<strong>in</strong>nung auf Großmutters traditionelle<br />
Speisen, nämlich die heimatliche Bauernkost, deftig, kräftig, ursprünglich,<br />
natürlich <strong>und</strong> vor allem ges<strong>und</strong>.<br />
Andererseits solche Kochbücher, die sich weniger mit der Vergangenheit<br />
beschäftigten als vielmehr um e<strong>in</strong>e erneuerte Großmutterküche bemüht waren.<br />
Aus der topografischen Zuordnung der Rezepte <strong>in</strong> den Kochbüchern folgt nun<br />
aber noch nicht, dass man daraus gesicherte Aussagen zu speziellen<br />
Speisegewohnheiten e<strong>in</strong>er bestimmten Region ableiten kann.<br />
H<strong>in</strong>ter Buchtiteln wie Die kle<strong>in</strong>e sächsische Köch<strong>in</strong>, Neues sächsisches<br />
Kochbuch oder Das schmeckt <strong>in</strong> Sachsen fanden meist diejenigen <strong>regionale</strong>n<br />
Speisen E<strong>in</strong>gang, die ohneh<strong>in</strong> schon e<strong>in</strong>en gewissen Bekanntheitsgrad besaßen.<br />
Dazu aktiviert man fast <strong>in</strong> Vergessenheit geratene Rohprodukte wie Grünkern,<br />
Buchweizen, Puffbohnen, Top<strong>in</strong>ambur, Past<strong>in</strong>aken, Graupen oder manches<br />
Küchenkraut aus Omas Hausgarten, das <strong>in</strong>zwischen meist nur noch <strong>in</strong><br />
Apotheken erhältlich war.<br />
In der Regel wurden die Rezepte <strong>und</strong> deren Zubereitung <strong>in</strong>haltlich der<br />
jeweiligen Zielgruppe angepasst, nämlich denen, die sie auch kaufen sollten, der<br />
bürgerlichen Hausfrau.<br />
Die überwiegende Mehrzahl der Speisen <strong>in</strong> den damaligen Heimatkochbücher<br />
s<strong>in</strong>d auch nicht für den täglichen familiären Mittags- <strong>und</strong> Abendtisch gedacht,<br />
sondern für den von <strong>regionale</strong>r <strong>Identität</strong> unbee<strong>in</strong>druckten bürgerlichen Haushalt<br />
oder das gehobenere Essen am Wochenende.<br />
E<strong>in</strong>ige bekannte Regionalkochbücher kamen auf kuriose Weise zustande,<br />
beispielsweise das <strong>in</strong> hoher Auflage erschienene Neue bürgerliche KB der<br />
Berta Schneider von 1895, das <strong>in</strong> kurzen Abständen mit identischem Inhalt als<br />
Bonner, Düsseldorfer, Chemnitzer, Dresdner, Leipziger, Flensburger,<br />
12
Liegnitzer, Lübecker, Hessisches, Weimarer <strong>und</strong> Oberrhe<strong>in</strong>isches<br />
Regionalkochbuch verlegt wurde.<br />
Oder zwischen 1854 <strong>und</strong> 1880 Das echte Hamburgische Kochbuch<br />
(Herausgeber<strong>in</strong> Therese Pr<strong>in</strong>z), das unverändert auch als Neues Berl<strong>in</strong>er,<br />
rhe<strong>in</strong>isches, sächsisches <strong>und</strong> als Goldenes Buch für jede Haushaltung<br />
erschien.<br />
Nicht als Gegensatz, aber als Gegenstück zu der sich <strong>in</strong> Europa durchsetzenden<br />
klassischen Küche, mit <strong>in</strong>ternational e<strong>in</strong>heitlichen Standartgarnituren,<br />
Speisenbezeichnungen <strong>und</strong> Zubereitungsregeln, damals moderner Prägung,<br />
entstand <strong>in</strong> Deutschland der Begriff Regionalküche, mit Orts- oder deutschen<br />
Ländernamen versehen.<br />
Statt deutscher Küche hieß es nun schwäbische, bayerische, schlesische,<br />
pommersche, Hamburger, hessische, pfälzische oder eben sächsische<br />
Regionalküche, e<strong>in</strong>e Mischung aus aufgepeppter bäuerlicher, bürgerlicher <strong>und</strong><br />
herrschaftlicher Küche.<br />
Manche Küchenarchäologen br<strong>in</strong>gen diesen Trend auch mit der zunehmenden<br />
Entwicklung des Tourismus <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung, der ab 1862 mit der Gründung der<br />
ersten deutschen Reisebüros <strong>in</strong> Breslau <strong>und</strong> Berl<strong>in</strong> immer beliebter wurde.<br />
Als gastronomisches Kontrastprogramm zu den modernen eleganten<br />
Grandhotels <strong>und</strong> Speiserestaurants mit weltstädtischem Flair <strong>in</strong> den Großstädten<br />
entstanden vor allem <strong>in</strong> der Prov<strong>in</strong>z gastronomische Erlebniswelten <strong>in</strong> Form<br />
von Bauernstuben, Jägerhütten oder We<strong>in</strong>keller nach historischem Vorbild, oder<br />
man beließ ganz e<strong>in</strong>fach die alten Gaststuben im traditionellen Ambiente.<br />
Zu dem auf alt getrimmten Lokalkolorit gehörte natürlich e<strong>in</strong>e dem Anlass oder<br />
der Region entsprechende Speisekultur, zur Identifikation <strong>und</strong> vor allem um<br />
Reisenden die besuchte Gegend im wahrsten S<strong>in</strong>n des Wortes schmackhaft zu<br />
machen.<br />
Es hat sich seitdem kaum etwas verändert, Touristen suchen <strong>in</strong> Freizeit <strong>und</strong><br />
Urlaub e<strong>in</strong>e Gegenwelt, die sich spürbar vom Alltag unterscheidet, am Besten<br />
e<strong>in</strong>e anheimelnde Atmosphäre im Operettenmilieu.<br />
In e<strong>in</strong>er Zeit, da sich die meisten Gastronomiebetriebe an den technischen <strong>und</strong><br />
wirtschaftlichen Standart der beg<strong>in</strong>nenden Neuzeit anzupassen versuchten, schuf<br />
man ganz bewusst e<strong>in</strong>e optische verträumte urwüchsige Gegenwelt mit allen<br />
Merkmalen e<strong>in</strong>er sche<strong>in</strong>bar gerade untergegangen Ursprünglichkeit.<br />
Die vor e<strong>in</strong>igen Jahren als Event <strong>in</strong>szenierten <strong>und</strong> rasch beliebt gewordenen<br />
Ritter- oder Mittelalteressen haben ihren Ursprung schon <strong>in</strong> der zweiten Hälfte<br />
des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts.<br />
Beteiligt an der Popularisierung der Regionalküche als kul<strong>in</strong>arisches Ereignis<br />
waren damals neben Reiseveranstaltern <strong>und</strong> städtischen Behörden auch die<br />
13
Gastwirts- , Hotelbesitzer-, Köche- <strong>und</strong> Kellnerverbände, hauptsächlich aber die<br />
rasant aufstrebende Lebensmittel<strong>in</strong>dustrie, allen voran die Konservenhersteller.<br />
Nachdem <strong>in</strong> Braunschweig 1840 als erstes Gemüse guter deutscher Spargel <strong>in</strong><br />
die erste deutsche Konservendose gefüllt worden war, folgten bald andere<br />
Gemüsesorten wie Erbsen, Möhren <strong>und</strong> Gartenbohnen, die extra zu diesem<br />
Zweck fadenlos gezüchtet wurden.<br />
Ende des Jahrh<strong>und</strong>erts waren die letzten technischen Schwierigkeiten bei der<br />
Konservenherstellung gelöst, jetzt konnte praktisch jedes denkbare<br />
Lebensmittel, oder sogar Fleisch zusammen mit Sauce <strong>und</strong> Gemüse, <strong>in</strong><br />
Blechdosen <strong>und</strong> Glasbehältern e<strong>in</strong>gelegt werden.<br />
1900 hatte e<strong>in</strong>e Epoche begonnen, <strong>in</strong> der sich Kochen <strong>und</strong> Backen gr<strong>und</strong>legend<br />
veränderten.<br />
Als eiserne Reserve für Notzeiten oder Feldzüge erf<strong>und</strong>en, waren Konserven e<strong>in</strong><br />
ideales Produkt.<br />
Industriell hergestellte Lebensmittel s<strong>in</strong>d für Haushalte <strong>und</strong> Profigastronomie<br />
zwar Zeit sparender, bestimmt auch kostengünstiger <strong>und</strong> lassen sich besser <strong>und</strong><br />
länger lagern, können aber nie das Fluidum der Heimatküche ersetzen <strong>und</strong> s<strong>in</strong>d<br />
für die Regionalküche aus mehreren Gründen denkbar ungeeignet.<br />
Alles Individuelle, Eigene <strong>und</strong> der Jahreszeitenrhythmus e<strong>in</strong>es Naturproduktes<br />
gehen verloren <strong>und</strong> der Geschmack, e<strong>in</strong>es der Unterscheidungsmerkmale<br />
zwischen den Regionen, ist von immer gleichbleibendem Durchschnitt.<br />
Mit frischen Produkten geht Heimatküche natürlich besser, aber es gibt auch<br />
tausend Möglichkeiten, Konserven mite<strong>in</strong>ander <strong>und</strong> mit verschiedensten<br />
Gewürzen, Aromen <strong>und</strong> Kräutern so zu mischen, dass sie nach Heimat<br />
schmecken.<br />
Die Hersteller hatten frühzeitig erkannt, dass sie zum<strong>in</strong>dest optisch e<strong>in</strong>en<br />
persönlichen Bezug des Verbrauchers mit der unvergesslichen Küche im<br />
Elternhaus vermitteln müssen, wenn sie <strong>Identität</strong> <strong>und</strong> das Interesse der Hausfrau<br />
wecken wollten.<br />
Die Verpackungen, geschickt mit Bildern aus der deutschen Heimatidylle<br />
versehen, erhielten nun Vertrauen erweckende Aufschriften wie echt<br />
Königsberger Klopse, Kartoffelsuppe nach Großmutter Art, auf Bauernart,<br />
orig<strong>in</strong>al Hamburger Aalsuppe, oder futtern wie bei Muttern.<br />
Sie suggerierten den E<strong>in</strong>druck von <strong>regionale</strong>r <strong>Identität</strong>, Orig<strong>in</strong>alität <strong>und</strong> Qualität<br />
<strong>und</strong> vor allem konnte man jetzt be<strong>in</strong>ahe alles überall <strong>und</strong> unabhängig von der<br />
Jahreszeit kaufen.<br />
Seit den 1880iger Jahren mischten die Lebensmittel- <strong>und</strong> Aromahersteller<br />
deshalb <strong>in</strong> den Regionalkochbüchern kräftig mit, oder gaben selbst<br />
Rezeptbücher unter hauptsächlicher Verwendung ihrer Produkte heraus.<br />
14
Firmen wie Oetker, Hengstenberg, Kühne <strong>und</strong> Aromahersteller wie Liebig,<br />
Knorr oder Maggi prägten sogar über Generationen h<strong>in</strong>weg bis heute mit ihren<br />
Produkten den Geschmack der Hausmannskost.<br />
Der Ruhm der deutschen Hausfrau, nämlich e<strong>in</strong>e gute Küche vorzusetzen, hat<br />
seitdem, außer e<strong>in</strong>igen Festtagsspeisen, leider e<strong>in</strong>en faden Beigeschmack.<br />
Nämlich den e<strong>in</strong>er meist billigen Kochkunst mit dicken Mehlsaucen <strong>und</strong><br />
Mehlsuppen, fetten Speisen, lange gekochtem Fleisch, pappigen Gemüsen <strong>und</strong><br />
der Entartung der Mehlspeisen zum Briefbeschwerer.<br />
So hat es zum<strong>in</strong>dest Friedrich Nietzsche 1888 beschrieben.<br />
In e<strong>in</strong>er anonymen Beichte vom Anfang des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts heißt es:<br />
In me<strong>in</strong>er K<strong>in</strong>dheit war Weißkrautsuppe wirklich die Hölle, noch heute<br />
habe ich den Kohlmief <strong>in</strong> der Nase.<br />
Die Heimatküche hatte wieder den gleichen Ruf wie h<strong>und</strong>ert Jahre zuvor, als <strong>in</strong><br />
Zedlers Lexikon zu lesen war:<br />
Hausmannskost heißt eigentlich nur dasjenige Essen, so e<strong>in</strong> geme<strong>in</strong>er<br />
Bürger oder Bauer, die an e<strong>in</strong>igen Orten auch Haus-Leute genennet<br />
werden, täglich zu genießen pfleget, <strong>und</strong> meisten Theils nur <strong>in</strong> solchen Art<br />
Speisen bestehet, die mit den wenigsten Kosten angeschafft werden können.<br />
In zahllosen Publikationen hat man hat sich immer wieder mit der Frage<br />
beschäftigt, gibt es überhaupt Regionalküchen, oder handelt es sich dabei<br />
lediglich um e<strong>in</strong>e gewisse Anzahl von lokal unterschiedlich zubereiteter<br />
Speisen.<br />
Neben der Bedeutung als Raum, <strong>in</strong> dem die kul<strong>in</strong>arischen W<strong>und</strong>er geschehen,<br />
def<strong>in</strong>iert sich der Begriff Regionalküche als e<strong>in</strong> festes Regelwerk, <strong>in</strong> dem für e<strong>in</strong><br />
bestimmtes Gebiet <strong>in</strong> Rezepten e<strong>in</strong>deutig festgelegt ist, wie gekocht <strong>und</strong> gewürzt<br />
wird, welche Zutaten <strong>in</strong> welcher Komb<strong>in</strong>ation Verwendung f<strong>in</strong>den, welche<br />
Garmachungsart <strong>in</strong> Frage kommt <strong>und</strong> wie angerichtet wird, damit e<strong>in</strong><br />
wiedererkennbarer Geschmackseffekt <strong>und</strong> damit <strong>Identität</strong> entsteht.<br />
Aber für die meisten <strong>regionale</strong>n Spezialitäten wie die berühmten Thür<strong>in</strong>ger oder<br />
Vogtländischen Klöße gibt es nicht nur e<strong>in</strong> Rezept, im Erzgebirge wird das<br />
traditionelle Neunerlei <strong>in</strong> jeder Familie unterschiedlich zubereitet, für<br />
Quarkkäulchen, Kräbbelchen, Schwe<strong>in</strong>ebraten, Mohnkuchen oder Eierschecke<br />
hat jede Hausfrau ihren speziellen Trick, der den Unterschied gegenüber der<br />
Küche der Nachbarsfrau ausmacht.<br />
Die Kulturgeschichte zeigt, dass Regionalküche <strong>und</strong> Essgewohnheiten bis h<strong>in</strong><br />
zum <strong>in</strong>dividuellen Haushalt noch nie e<strong>in</strong> starres Regelwerk waren.<br />
Es hat <strong>in</strong> der Volksküche immer allgeme<strong>in</strong> festgelegte Gerichte gegeben, aber <strong>in</strong><br />
jeder Familie wurde <strong>in</strong>dividuell daran experimentiert, erneuert, neue Zutaten<br />
15
ergänzt, ausprobiert <strong>und</strong> versucht, die Vorzüge heimischer mit fremden<br />
Produkte, den Jahreszeiten <strong>und</strong> den alten Traditionen zu verb<strong>in</strong>den.<br />
Genau deshalb er<strong>in</strong>nert man sich e<strong>in</strong> Leben lang an die Gerichte, die Mutter<br />
gekocht hat.<br />
Noch vor e<strong>in</strong>igen Jahren galt es als exzentrisch, e<strong>in</strong>e knusprige Entenbrust mit<br />
Pfirsichen oder Sauerkirschen anzurichten.<br />
Man hatte e<strong>in</strong>fach vergessen, dass solche Komb<strong>in</strong>ationen bereits <strong>in</strong> der<br />
Barockküche Zuhause waren <strong>und</strong> zum Alltag gehörten.<br />
Noch <strong>in</strong> den 1930iger Jahren gehörte zu jedem Sonntagsbraten e<strong>in</strong><br />
selbstgemachtes Kompott, wenn die Mahlzeit vollständig se<strong>in</strong> sollte.<br />
E<strong>in</strong>e Küche, die ihre Bodenständigkeit verliert <strong>und</strong> die kul<strong>in</strong>arische Entwicklung<br />
verpasst, kann eben ke<strong>in</strong>e echten Leckerbissen hervorbr<strong>in</strong>gen.<br />
Anders gesagt, man muss sich auch mit der Historie der Kochkunst befassen,<br />
wenn etwas Neues entstehen soll.<br />
In der Vergangenheit haben kul<strong>in</strong>arische Pioniere oft den Fehler gemacht,<br />
traditionelle heimatliche Speisen unnötig zu komplizieren, zu überladen oder<br />
unbewusst sogar zu entfremden, aber der Versuch war e<strong>in</strong> Schritt <strong>in</strong> die richtige<br />
Richtung.<br />
Die französische Küche mit ihren berühmten, <strong>in</strong>zwischen zum Weltkulturerbe<br />
zählenden Landesküchen, hat das e<strong>in</strong>drucksvoll vorgemacht.<br />
Während des letzten Jahrh<strong>und</strong>erts haben sich für uns nicht nur Arbeitswelt <strong>und</strong><br />
Wohnstruktur verändert, auch die alten vertrauten Familienstrukturen s<strong>in</strong>d nicht<br />
mehr vergleichbar.<br />
Regionaltypisches Essen ist heute eher Erlebnis- oder Urlaubsküche, <strong>und</strong> damit<br />
ist auch die <strong>Identität</strong> mit der Heimat e<strong>in</strong>e ganz andere geworden.<br />
Im Gegensatz zum Essen an der Imbissbude geht es <strong>in</strong> der Heimatküche heute<br />
nicht vorrangig ums satt werden, sondern ums genießen.<br />
Kritiker behaupten, Regionalküche sei derzeit weniger Realität als vielmehr<br />
Mythos, Klischee, Wunschbild oder e<strong>in</strong>fach nur Market<strong>in</strong>g.<br />
Ich kann mir ke<strong>in</strong> Urteil über Leipzig <strong>und</strong> Umgebung erlauben, aber ganz falsch<br />
ist diese Ansicht nicht, wenn man beispielsweise den Großraum Dresden,<br />
Chemnitz <strong>und</strong> weite Teile des Erzgebirges dah<strong>in</strong>gehend unter die kul<strong>in</strong>arische<br />
Lupe nimmt.<br />
Mit wenigen Ausnahmen werden bei den sogenannten sächsischen<br />
Spezialitätentagen, die eigentlich als Chance zu verstehen s<strong>in</strong>d, immer <strong>und</strong><br />
überall die gleichen 10-15 Standartgerichte angeboten, mehr oder weniger gut<br />
zubereitet, manchmal mit e<strong>in</strong>em unübersehbaren Hauch von Langeweile <strong>und</strong><br />
E<strong>in</strong>fallslosigkeit versehen.<br />
16
Bei vielen Speisen, die als sächsisch annonciert werden, erkennt man schon von<br />
weitem unsere altbekannten Küchenhelfer wieder, heute seltener aus der<br />
Konserven<strong>in</strong>dustrie als vielmehr aus der Tiefkühlbranche.<br />
Damit soll ke<strong>in</strong>esfalls der E<strong>in</strong>druck entstehen, es würde sich bei<br />
Industrieprodukten generell um schlechte Qualität handeln, aber e<strong>in</strong>e frische<br />
Möhre ist eben e<strong>in</strong>e frische Möhre.<br />
Mit den, wenn auch <strong>in</strong>dividuell sehr differenzierten, Erwartungen von Omas<br />
Hausmannskost hat das alles nichts zu tun.<br />
Vielleicht konfrontieren heute manche Vorlieben deshalb mit der praktizierten<br />
Regionalküche, weil die 100 jährige Großmutter Küche vorrangig noch im alten<br />
Gewand angeboten wird.<br />
Jedenfalls kann die Begründung nicht gelten, Currywurst <strong>und</strong> Pommes frites,<br />
Coca Cola <strong>und</strong> Big Mac würden den Untergang jeder Regionalküche bewirken.<br />
Gut gemachte Fast Food Gerichte gibt es m<strong>in</strong>destens seit Römerzeiten.<br />
Millionen Menschen weltweit ernähren sich tagtäglich von Schnellgerichten am<br />
Stehimbiss, ohne ihre <strong>Identität</strong> aufzugeben.<br />
Es ist auch nicht hilfreich, beispielsweise <strong>in</strong> McDonalds oder Burger K<strong>in</strong>g<br />
Unternehmen die simplen Nachfolger der ehemaligen Imbissbuden anzusehen,<br />
übrigens früher mit dem schönen deutschen Wort Kle<strong>in</strong>gerichteverkauf<br />
bezeichnet, oder Fast Food e<strong>in</strong>fach mit Schnellimbiss zu übersetzen.<br />
Die meisten dieser E<strong>in</strong>richtungen vermitteln <strong>in</strong>zwischen selbst kulturelle<br />
<strong>Identität</strong> <strong>und</strong> haben vom Interieur <strong>und</strong> Service bis zum Speisen- <strong>und</strong><br />
Getränkeangebot e<strong>in</strong> respektables Niveau erreicht.<br />
Hier kehren nicht nur ganz bestimmte Leute e<strong>in</strong>, hier trifft sich Publikum aus<br />
allen Schichten der Bevölkerung <strong>und</strong> die Frequentierung solcher Lokale ist<br />
längst nicht mehr auf den Alltag beschränkt.<br />
In der Regel aßen <strong>und</strong> essen Menschen, was sie ernten, züchten oder kaufen<br />
können.<br />
Wohlwissend, dass sich nicht jeder nur Delikatessen leisten kann, e<strong>in</strong>fach<br />
formuliert bleibt die Tatsache, wenn wir heute nur noch imstande s<strong>in</strong>d,<br />
<strong>in</strong>dustriegefütterte Hühner, Fischstäbchen <strong>und</strong> Analogkäse zu erobern, dann<br />
müssen wir eben so etwas essen.<br />
Ess- <strong>und</strong> Tr<strong>in</strong>kkultur hat durchaus sehr verschiedene Gesichter, die sich nicht<br />
gegenseitig ausschließen müssen, <strong>und</strong> das eröffnet der Regionalküche ganz neue<br />
Chancen <strong>und</strong> Möglichkeiten.<br />
Kl<strong>in</strong>gt e<strong>in</strong>fach, ist aber schwer zu machen.<br />
Kaum jemand kann oder will sich künftig bei streng verplanter Arbeits- <strong>und</strong><br />
Freizeit noch leisten, täglich selbst zu kochen.<br />
Gastronomen <strong>und</strong> Lebensmittel<strong>in</strong>dustrie werden <strong>in</strong> Zukunft noch stärker<br />
E<strong>in</strong>fluss darauf nehmen, was <strong>und</strong> wie wir essen <strong>und</strong> ob wir uns dabei mit der<br />
17
Region identifizieren können, ob Essen <strong>und</strong> tr<strong>in</strong>ken tatsächlich Leib <strong>und</strong> Seele<br />
zusammenhalten.<br />
Soll die <strong>Identität</strong> mit der Region durch Heimatküche bewahrt <strong>und</strong> gestärkt<br />
werden, darf man Fritten mit Mayo oder Döner nicht e<strong>in</strong>fach verteufeln, sondern<br />
muss dem Trend qualitativ Hochwertiges, Repräsentatives <strong>und</strong> Zeitgemäßes<br />
entgegenzusetzen.<br />
Trotz oder genau wegen Fast Food, Convenience Produkten, Gourmetküche<br />
Grillabenden im Schrebergarten, Ballermann- oder Beachpartys, besteht<br />
ke<strong>in</strong>esfalls die Gefahr e<strong>in</strong>er Vere<strong>in</strong>heitlichung des Geschmacks mit<br />
e<strong>in</strong>hergehendem Verlust <strong>regionale</strong>r <strong>Identität</strong>.<br />
Salopp ausgedrückt, wenn es der Regionalküche gel<strong>in</strong>gt, durch Natürlichkeit,<br />
moderne Vielfalt, die E<strong>in</strong>beziehung frischer Produkte durch bäuerliche<br />
Direktvermarktung, zeitgemäße Dosierung <strong>regionale</strong>r Traditionen <strong>und</strong><br />
Zubereitungen <strong>und</strong> persönliche Innovation neu zu <strong>in</strong>terpretieren, damit ihre<br />
Bedeutung attraktiver zu machen ohne e<strong>in</strong>e Fassade aufzubauen, wird sie auch<br />
<strong>in</strong> der Zukunft weder Mythos noch Klischee se<strong>in</strong>, sondern gelebte kul<strong>in</strong>arische<br />
Realität mit <strong>Identität</strong> zur Region bleiben.<br />
Copyright by Re<strong>in</strong>hard Lämmel<br />
Verwendete Quellen s<strong>in</strong>d beim Autor zu erfragen.<br />
18