Gerettete Worte - Verlagsgruppe Droemer Knaur

ihn dort, beginnend in den späten achtziger Jahren, mehrmals
interviewte, erzählte er, wie er die Straßenräuberkultur an der
Seidenstraße erlebt hatte.
Die Banden seien mit Familienclans vergleichbar gewesen, erklärte
er, und jeder Räuber habe den jeweiligen Bandennamen
als Nachnamen getragen. Die meisten waren multiethnischer
Herkunft, niemand kannte seine eigene Abstammung genau,
denn ein normales Familienleben gab es nicht. Jeder Räuber
wusste zwar, wer sein Vater, nicht jedoch, wer seine Mutter
war, weil die Banden nur die Jungen behielten. Die Mädchen
ließ man mit ihren Müttern – Frauen, die entführt worden waren,
um Kinder zu gebären – einfach zurück.
Die anderen Räuber hatten ihn nie als Hu Feibao kennengelernt.
Den Bandenmitgliedern war es verboten, Außenstehenden
– insbesondere der Polizei – ihre Namen zu verraten.
»Wenn ihnen unsere echten Nachnamen bekannt gewesen
wären, hätten sie sie dazu benutzt, unsere Ahnen zu verfluchen.«
Den Namen Hu Feibao (wörtlich: Fliegendes Dynamit
Hu) hatten ihm die Einheimischen gegeben, weil seine Bande
sich so schnell von Ort zu Ort bewegte. Als Kind und Jugendlicher
hatte er nie etwas von dem Namen »Seidenstraße«
gehört; er kannte sie nur als »Geldstraße«. Nach seiner Inhaftierung
1963 verhörte ihn ein eigens aus Beijing angereister
Polizeibeamter über seine »kriminellen Aktivitäten entlang
der Seidenstraße«. Da fragte Hu erst einmal: »Wo, bitte, ist
denn die Seidenstraße?«
Seine Ahnungslosigkeit war durchaus verständlich, denn der
Begriff »Seidenstraße« ist weder einheimischen Ursprungs
noch besonders alt, sondern wurde 1877 von dem deutschen
Geographen Baron Ferdinand von Richthofen als Bezeichnung
der Handelsroute zwischen Europa und Asien erfunden.
139 v. Chr. führte Zhang Qian, ein Bevollmächtigter des Han-
Kaisers Wudi, die erste Gesandtschaft von der chinesischen
15