31.12.2013 Aufrufe

Gerettete Worte - Verlagsgruppe Droemer Knaur

Gerettete Worte - Verlagsgruppe Droemer Knaur

Gerettete Worte - Verlagsgruppe Droemer Knaur

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

erscheinung. Ich saß schweigend neben ihm und lauschte seinen<br />

Unschuldsbeteuerungen.<br />

Seine Erzählungen beeindruckten mich tief. Ich hatte es nicht<br />

für möglich gehalten, dass ein Mensch, der von meinem Staat<br />

jahrzehntelang als Räuber, als Gefahr für die Allgemeinheit,<br />

eingesperrt worden war, noch immer so viel Mut und Lebhaftigkeit<br />

aufbrachte und dass dieser verhutzelte alte Mann<br />

einmal ein so aufregendes Leben geführt hatte. Ebenso unvorstellbar<br />

erschien mir, dass es zwischen den Dörfern an der<br />

Seidenstraße und dieser seltsamen, allem Anschein nach kriminellen<br />

Vereinigung eine derart harmonische Koexistenz gegeben<br />

hatte. Im Chinesischen hat der Begriff »Bandit« eine<br />

ausschließlich negative Bedeutung. Doch die Banditen der Seidenstraße<br />

besaßen ihre eigene Kultur und ihre eigenen moralischen<br />

Richtlinien.<br />

Hu Feibao machte mir schlagartig klar, dass ich nicht nur meine<br />

Fähigkeit, Recht von Unrecht zu unterscheiden, sondern<br />

auch meine Sicht auf die chinesische Gesellschaft überprüfen<br />

musste. Wir neigen dazu, andere Gesellschaften nach unseren<br />

Maßgaben zu beurteilen, was dazu führen kann, dass Unschuldige<br />

bestraft werden.<br />

Als ich mich 2006 dazu entschlossen hatte, die Interviews für<br />

dieses Buch zu führen, erlitt Hu Feibao einen Schlaganfall. Ich<br />

rief in seinem Arbeitslager an und erfuhr von einem Wärter,<br />

dass Hu Feibao nicht mehr sprechen könne. Da ich den Verdacht<br />

hatte, dies sei ein Versuch der Behörden, ihn von einem<br />

Gespräch mit mir abzuhalten, probierte ich es einige Zeit<br />

später erneut. Diesmal konnte ich mit ihm selbst reden. Er nuschelte<br />

und war schwer zu verstehen; seine Stimme hatte den<br />

selbstbewussten, würdevollen Klang verloren, den ihr nicht<br />

einmal der jahrzehntelange Gefängnisaufenthalt hatte nehmen<br />

können. Ich stellte mir vor, dass er den Telefonhörer mit zittrigen<br />

Fingern hielt und auf die Sprechmuschel sabberte, und<br />

mir wurde klar, dass dieser früher derart beeindruckende<br />

20

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!