Gerettete Worte - Verlagsgruppe Droemer Knaur
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Mensch so nicht in Erinnerung bleiben wollte. Ich strich seinen<br />
Namen von der Liste meiner Interviewpartner.<br />
In den ersten Interviews, die ich im Mai und Juni 2006 per<br />
Telefon führte, zeigte sich eine weitere, von mir bereits vorausgesehene<br />
Schwierigkeit. Immer wenn ich meinen Gesprächspartnern<br />
sagte, dass ich mich am liebsten persönlich<br />
mit ihnen unterhalten wolle, bekamen sie kalte Füße, und einige<br />
machten sogar einen kompletten Rückzieher. Immer mehr<br />
Themen wurden gestrichen; manche baten darum, dass das<br />
Gespräch nicht gefilmt beziehungsweise nicht mitgeschnitten<br />
würde, und einige fragten, ob ich wisse, was nach der Veröffentlichung<br />
der Interviews passieren werde. Ich spürte, dass<br />
sie hin- und hergerissen waren zwischen der Sehnsucht danach,<br />
diese – in ihrem Leben wahrscheinlich letzte – Gelegenheit<br />
einer freien Meinungsäußerung zu ergreifen, und der<br />
Angst vor den möglichen Konsequenzen. Ich könne ja vielleicht<br />
an eine behördliche Genehmigung für das Interview<br />
her ankommen, schlugen einige vor, oder an eine offizielle »Interviewpartner-Schutzgarantie«.<br />
Als müssten nicht sie selbst,<br />
sondern die Kommunistische Partei die Entscheidung treffen,<br />
ob sie aus ihrem Leben erzählen sollten oder nicht.<br />
Es bestätigte nur, was ich während meiner zwanzigjährigen<br />
journalistischen Arbeit in China gelernt hatte. Obwohl Maos<br />
»Befreiung« des Landes inzwischen über fünfzig Jahre zurückliegt,<br />
ist es den Chinesen bis heute nicht gelungen, aus<br />
dem Schatten des dreitausendjährigen kaiserlichen Totalitarismus<br />
und des zwanzigsten Jahrhunderts mit seiner willkürlichen<br />
Gewalt und Unterdrückung herauszutreten und freimütig<br />
zu sprechen, ohne Angst, vom herrschenden Regime dafür<br />
bestraft zu werden.<br />
Ich saß zu Hause in London und konnte einfach nicht abschätzen,<br />
ob diese Menschen sich mir gegenüber öffnen würden,<br />
wenn ich sie in China aufsuchte. Würden sie sich womöglich,<br />
wenn wir einander vor laufender Videokamera gegenüber-<br />
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