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Gerettete Worte - Verlagsgruppe Droemer Knaur

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glücklich gewesen wäre. Hätte sie die von ihr getroffenen Entscheidungen<br />

bereut? Genau diese Fragen wollte ich meinen<br />

Interviewpartnern stellen, aber auch die Fragen, die westliche<br />

Journalisten häufig an mich richteten: Bedauern Sie irgendetwas<br />

in den vierzig Jahren, die Sie in China verbrachten, bevor<br />

Sie in den Westen gingen? Haben sich diese Jahre gelohnt?<br />

Ich wusste nicht, warum, aber ich sagte jedes Mal intuitiv ja –<br />

ja, sie hatten sich gelohnt. In Chinas mehrtausendjähriger Vergangenheit<br />

hatten so viele Frauen ihr ganzes Leben hindurch<br />

nur geschuftet, hatten Kinder geboren und großgezogen und<br />

nicht das Geringste für sich selbst gehabt. Ob sie wohl gesagt<br />

hätten, ihr Leben habe sich gelohnt? Ich weiß nicht einmal, ob<br />

sie sich diese Frage selbst je gestellt hätten. Doch ich bin sicher,<br />

dass viele Chinesen, Männer wie Frauen, am Ende ihres Lebens<br />

über ihre Vergangenheit nachgedacht und in Erinnerungsalben<br />

geblättert haben, die sie ihren Kindern und Enkeln<br />

niemals gezeigt hätten. Ich fragte mich, was diese Alben<br />

enthielten. Vielleicht Bedauern? Selbstverleugnung? Oder die<br />

freudige Bejahung des fast zu Ende gelebten Lebens? In der<br />

Vorstellung ihrer Kinder und Enkelkinder enthielten sie vielleicht<br />

nur Blindheit und Dummheit.<br />

An jenem Tag rief ich Jin Zhi (Name geändert) an. Sie ist wissenschaftliche<br />

Expertin für die ehemalige Sowjetunion, insbesondere<br />

für die Beziehungen zwischen Mao und Stalin. Diese<br />

polyglotte Frau spricht fließend Englisch, Russisch und<br />

Deutsch. Obwohl sie bis zum achtzehnten Lebensjahr eine<br />

Schulbildung im westlichen Stil erhalten hatte, war sie ihr ganzes<br />

Leben lang leidenschaftliche Anhängerin der Kommunisten<br />

und glaubte unerschütterlich daran, »dass die Partei die<br />

Würde, die das Land nach den Opiumkriegen verloren hat, für<br />

die Chinesen zurückerobern wird«. Sie war eine alte Freundin<br />

der Familie, wir standen in engem Kontakt miteinander.<br />

»Ich will unbedingt in deinem Buch vorkommen«, hatte sie<br />

mir einige Monate zuvor in ihrer unverblümten Art gesagt.<br />

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