COCO CHANEL - SUR Kultur
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Blaue Notizen<br />
Hans-Ulrich Wagner über »Forest Flower – Charles Lloyd at Monterey«<br />
»Wenn ein Cronopium* singt, eilen die Esperanzen und Famen<br />
herbei und hören ihm zu, obgleich sie für seinen Überschwang<br />
nicht viel Verständnis haben und sich im Allgemeinen leicht schockiert<br />
zeigen.« So ein typisches struppiges kleines Cronopium war<br />
Charles Lloyd, und alle eilten herbei, als er 1966 seine neue Band<br />
bei gleich sechs bedeutenden Jazzfestivals vorstellte. Allerdings<br />
war das Publikum nicht schockiert sondern begeistert, bald so<br />
sehr, dass Lloyd sogar im Fillmore West in San Francisco auftreten<br />
konnte, wo sich sonst Cream, Jimi Hendrix und Santana die Klinke<br />
in die Hand gaben.<br />
Zu einer Zeit, als viele Jazz-Hörer sich entweder sagten »Das gab‘s<br />
doch alles schon mal irgendwo anders« oder »Ich will es nie wieder<br />
hören« kam das Quartett, dem neben Jack DeJohnette (dr) und<br />
Cecil McBee (b) auch der erst einundzwanzigjährige Keith Jarrett<br />
angehörte, mit schönen Melodien und Hippie-Appeal, ohne in die<br />
Kommerz- und Easy-Listening-Ecke abzudriften.<br />
Das Titelstück – geteilt in »Sunrise« und »Sunset« – dauert eine<br />
ganze Plattenseite (17:36) lang. Der Ohrwurm frohlockt, das Herz<br />
hüpft und es geht alles runter wie Öl: Charles Lloyd spielt Tenor<br />
wie einer der Waldblumen mag, sich aber auch darin gefällt, hin und<br />
wieder den Sound einer Elefantenherde zu reproduzieren. Jarrett<br />
antwortet ihm mit munterem Geklimper, fasst auch mal rein ins<br />
Klavier, um es perkussiv und experimentell klingen zu lassen.<br />
»Sorcery«, ein ostinates Bassthema mit einer überbordenden und<br />
ekstatischen Kollektivimprovisation – Charles Lloyd spielt hier<br />
Querflöte –, demonstriert die ausgeprägte Fähigkeit der Band zusammen<br />
zu spielen. Alles aus einem Guss, als wäre es nur ein Instrument,<br />
dass all die Töne verströmt.<br />
Dann, wie eine überirdische Besänftigung, McBees Ballade »Song of<br />
her«. Sparsam wie Duke Ellington, tonlich schön wie John Coltrane,<br />
ein paar Anklänge an Jarretts späteren Stil. Obelix würde fragen:<br />
»Ist er verliebt?«<br />
Am Ende ein schnittiger Standard, »East of the Sun«. Nach einer<br />
äußerst eleganten Einleitung werden nochmals alle Register gezogen.<br />
Eine Tour de Force durch alle Saxophonstile von Parker bis<br />
Shorter, ein wunderschönes Solo von Keith Jarrett und auch der<br />
Bass darf noch ein wenig solistisch rumbrummen. Soweit die eigentliche<br />
»Forest Flower«-Aufnahme; auf der CD-Reedition ist<br />
sogar noch ein zweites Album, nämlich »Soundtrack« von 1969,<br />
umsonst mit drauf.<br />
*Julio Cortazar »Geschichten der Cronopien und Famen«<br />
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