Kreatives Schreiben und narrative Ansätze in der ... - DGSF
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Mathias Klasen<br />
Wünschen, aber auch von den vielen Enttäuschungen <strong>und</strong> Beziehungsabbrüchen.<br />
Das Thema »Abgrenzung«, das ich <strong>in</strong> me<strong>in</strong>er ersten Nachricht an Frau M. angesprochen<br />
habe, wird von ihr direkt aufgegriffen. Frau M. hat begonnen, e<strong>in</strong>en<br />
genauen Blick auf ihre »<strong>in</strong>neren Landkarten« (White, 2010, S. 76) zu werfen, <strong>und</strong><br />
fragt sich nun, ob sie ihr Ziel überhaupt erreichen kann? Sie veröffentlicht ihren<br />
<strong>in</strong>neren Dialog <strong>und</strong> lässt mich an diesem teilhaben, wechselt aber auch im Verlauf<br />
<strong>der</strong> Nachricht zum äußeren Dialog <strong>und</strong> spricht mich direkt an, fragt mich nach<br />
me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung.<br />
Herr Klasen, ich <strong>und</strong> me<strong>in</strong>e Mutter s<strong>in</strong>d so unterschiedlich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Haltung, im Denken<br />
<strong>und</strong> Handeln <strong>und</strong> trotzdem möchte ich sie gern so gut es geht <strong>in</strong> <strong>der</strong> letzten Lebensphase<br />
begleiten. Sie haben das ganz richtig erkannt, es geht nur mit e<strong>in</strong>er gewissen Distanz <strong>und</strong><br />
wenn ich Grenzen setze. Aber die hätte ich doch eigentlich viel früher setzen müssen,<br />
o<strong>der</strong>? Geht das jetzt überhaupt noch? Das ist <strong>der</strong> größte Ste<strong>in</strong>, nachdem sie fragen. Wenn<br />
ich e<strong>in</strong>e Haltung entwickeln könnte, dass ich auch mal ganz klar sagen kann, es ist ihr<br />
Leben <strong>und</strong> ich muss mich nicht immer dafür verantwortlich fühlen.<br />
Lieber Herr Klasen, Sie fragten auch, ob ich schon e<strong>in</strong>e Entlastung spüre mit dem<br />
<strong>Schreiben</strong> <strong>der</strong> ersten Mail. Ja, durchaus! Wobei bei mir es nicht nur das <strong>Schreiben</strong> ist (ich<br />
schreibe schon lange Tagebuch), son<strong>der</strong>n eher das Wissen, dass ich e<strong>in</strong>e Antwort bekomme,<br />
dass mir jemand hilft, me<strong>in</strong>e Emotionen zu sortieren, <strong>und</strong> dass mir auch jemand<br />
sagt, das ist noch okay, aber vielleicht auch warnend den F<strong>in</strong>ger erhebt, wenn es nicht<br />
mehr okay ist. Ich danke Ihnen sehr, dass Sie sich mit me<strong>in</strong>en Problemen befassen. Jetzt<br />
weiß ich nicht, ob ich alle Fragen beantwortet habe, beende aber trotzdem für heute.<br />
Als Berater ist es me<strong>in</strong> Anliegen, Frau M. <strong>in</strong> ihrem Wunsch zu bestärken, <strong>und</strong> ihr<br />
anzubieten, sie auf ihrer »Reise« zu begleiten. Da Frau M. schreibt, dass sie<br />
bereits Erfahrungen mit dem <strong>Schreiben</strong> gesammelt habe <strong>und</strong> sie dies als sehr<br />
hilfreich erlebe, schil<strong>der</strong>e ich Frau M. me<strong>in</strong>e Gedanken zu diesem Thema <strong>und</strong><br />
mache ihr e<strong>in</strong> konkretes Beratungsangebot:<br />
Wie schön, wie<strong>der</strong> von Ihnen zu hören! Erst e<strong>in</strong>mal möchte ich mich für Ihre Antwort bei<br />
Ihnen bedanken – beim Lesen konnte ich deutlich spüren, wie <strong>in</strong>tensiv Sie sich mit den<br />
Fragen beschäftigt haben, <strong>und</strong> es hat mich sehr berührt, die Beschreibung Ihres Alltags zu<br />
lesen. Ich kann mir gut sehr vorstellen, dass dies nicht ganz e<strong>in</strong>fach für Sie war, <strong>und</strong> auch<br />
wenn ich Gefahr laufe, mich zu wie<strong>der</strong>holen: Es ist wirklich bew<strong>und</strong>ernswert, welche<br />
Leistung Sie Tag für Tag erbr<strong>in</strong>gen <strong>und</strong> welche Verantwortung Sie dabei übernehmen!<br />
Ich habe mir Ihre beiden Nachrichten ehrlich gesagt mehrere Male durchgelesen <strong>und</strong><br />
möchte Ihnen sagen, dass ich sehr bee<strong>in</strong>druckt b<strong>in</strong>, wie offen, sorgsam <strong>und</strong> sehr sensibel<br />
Sie Ihre Situation <strong>und</strong> Ihre Gefühle beschrieben haben. […] Sie schreiben, dass Sie sich<br />
»eigentlich schon immer« von Ihrer Mutter »e<strong>in</strong>geengt <strong>und</strong> auch benutzt« fühlen <strong>und</strong><br />
dass dies e<strong>in</strong>e große Wut <strong>in</strong> Ihnen auslöse. Als Ihr größtes Problem geben Sie die fehlende<br />
Distanz zu Ihrer Mutter an – Sie wünschen sich, Grenzen setzten zu können, <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e<br />
Haltung zu entwickeln, die es Ihnen ermöglicht, gelassener im Umgang mit Ihrer Mutter<br />
<strong>und</strong> <strong>der</strong> Situation zu werden <strong>und</strong> sich nicht immer verantwortlich zu fühlen. […]<br />
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KONTEXT 44,2, S. 149 – 174, ISSN 0720-1079<br />
Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçtt<strong>in</strong>gen 2013