Kreatives Schreiben und narrative Ansätze in der ... - DGSF
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<strong>Kreatives</strong> <strong>Schreiben</strong> <strong>und</strong> <strong>narrative</strong> <strong>Ansätze</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> systemischen Onl<strong>in</strong>eberatung<br />
Zeit geben, die Sie brauchen, um e<strong>in</strong> »Gespräch« nicht abbrechen müssen. Wenn Sie<br />
möchten, können Sie diesen Brief dann auch Ihrer Mutter zum Lesen geben – ich könnte<br />
mir gut vorstellen, dass <strong>der</strong> Brief Ihrer Mutter helfen könnte, sich auch auf »emotionale<br />
Gespräche« e<strong>in</strong>zulassen. Um <strong>in</strong> dem Bild mit dem Eis zu bleiben: Der Brief könnte e<strong>in</strong>e<br />
»Hand« darstellen, die Sie Ihrer Mutter entgegenstrecken, um ihr zu helfen, »e<strong>in</strong>en<br />
Schritt weiterzugehen, e<strong>in</strong> Schritt auf dem Weg runter vom Eis«.<br />
Frau M.: »Re: Fünfte Schreibsitzung«<br />
Ich habe me<strong>in</strong>e »Hausaufgaben« von <strong>der</strong> letzten Woche noch nicht gemacht, <strong>und</strong> ich<br />
möchte Sie hiermit um Nachsicht <strong>und</strong> Aufschub bitten. Die letzten zwei Arbeitswochen<br />
waren sehr anstrengend, es s<strong>in</strong>d sehr viele Patienten gestorben, was auch immer an<br />
unsere Substanz geht <strong>und</strong> oft viele Überst<strong>und</strong>en erfor<strong>der</strong>t. […] Der Brief an me<strong>in</strong>e<br />
Mutter ist e<strong>in</strong>e gute Idee, die Gedanken dazu s<strong>in</strong>d schon im Kopf. Für heute belasse ich es<br />
mal bei dieser kurzen Zwischenstandsmeldung. Ich wünsche Ihnen e<strong>in</strong>en sturmfreien,<br />
ruhigen Start <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e gute Woche.<br />
Beratermail: »Sechste Schreibsitzung«<br />
Sie schreiben, die Gedanken für e<strong>in</strong>en Brief seien »schon im Kopf«, <strong>und</strong> ich könnte mir<br />
vorstellen, dass diese Gedanken auch ohne e<strong>in</strong> Nie<strong>der</strong>schreiben schon <strong>in</strong> Ihren Worten<br />
<strong>und</strong> Taten Ausdruck f<strong>in</strong>den. Solch Briefe zu schreiben, kann manchmal auch sehr anstrengend<br />
se<strong>in</strong> – achten Sie daher weiter so gut auf sich <strong>und</strong> überlegen Sie, ob Sie den<br />
Brief an Ihre Mutter noch schreiben möchten o<strong>der</strong> nicht. O<strong>der</strong> auch, wann e<strong>in</strong> passen<strong>der</strong><br />
Zeitpunkt dafür wäre? Ganz gleich, wie Sie sich entscheiden, beim Lesen Ihrer Zeilen<br />
kann ich deutlich spüren, dass etwas <strong>in</strong> Bewegung gekommen ist. Ich f<strong>in</strong>de es e<strong>in</strong>fach toll,<br />
was Sie <strong>in</strong> den letzten Wochen <strong>in</strong> Ihrem Leben alles bewegt haben! […]<br />
Liebe Frau M., ich habe mir eben noch mal Ihre letzten Nachrichten an mich<br />
durchgelesen <strong>und</strong> b<strong>in</strong> sehr bee<strong>in</strong>druckt davon, was Sie <strong>in</strong> den letzten Wochen alles geschafft<br />
haben. Ich gratuliere Ihnen dazu, dass Sie diesen Weg bis hierher gegangen s<strong>in</strong>d,<br />
wenn er auch manchmal ziemlich ste<strong>in</strong>ig war. In Ihrer letzten Nachricht haben Sie mir<br />
geschrieben, dass Ihnen klar sei, dass immer mal wie<strong>der</strong> Rückschläge kommen können,<br />
Ihnen dann aber Ihr Gr<strong>und</strong>satz »es wird alles gut« helfen würde – nun, man sagt, wirkliche<br />
Fortschritte vollziehen sich immer nach <strong>der</strong> Methode »drei Schritte vorwärts <strong>und</strong><br />
e<strong>in</strong>en zurück«. Sie haben recht, <strong>in</strong> Zukunft wird es bestimmt auch Momente geben, <strong>in</strong><br />
denen Sie das Gefühl haben, es geht Schritte zurück <strong>und</strong> nicht nach vorne, zum Beispiel<br />
Tage, an denen Sie wie<strong>der</strong> e<strong>in</strong> Gefühl von großer Wut auf Ihre Mutter empf<strong>in</strong>den. Ich<br />
f<strong>in</strong>de, Ihr persönlicher Gr<strong>und</strong>satz ist e<strong>in</strong>e sehr gute erste Hilfe für diese schweren Zeiten<br />
<strong>und</strong> möchte Ihnen <strong>in</strong> me<strong>in</strong>er heutigen Nachricht gern e<strong>in</strong>e weitere Hilfe vorstellen – e<strong>in</strong>e<br />
abschließende Übung, den »Regentagebrief«.<br />
Dafürmöchte ich Sie e<strong>in</strong>laden, sich selber e<strong>in</strong>en Brief zu schreiben. Dieser Brief stellt<br />
etwas ganz Beson<strong>der</strong>es dar – für den Fall, dass es regnet, haben Sie e<strong>in</strong>en Regenschirm<br />
o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>e Regenjacke. Und für schlechte Gemütslagen <strong>und</strong> schlechtere Zeiten, Zeiten<br />
von großer Wut, haben Sie ab jetzt den »Regentagebrief«. Der Regentagebrief ist e<strong>in</strong><br />
ganz persönlicher Brief, den Sie sich selbst schreiben, an e<strong>in</strong>em Tag, an dem es Ihnen gut<br />
geht <strong>und</strong> Sie Zugang zu Ihren Kräften <strong>und</strong> Fähigkeiten haben. E<strong>in</strong>e Rückschau über Ihre<br />
persönliche Entwicklung <strong>in</strong> den letzten Wochen. Wie wäre es, Sie würden diesen Brief <strong>in</strong><br />
Ihrem Urlaub schreiben? An e<strong>in</strong>em schönen Tag am Meer?<br />
KONTEXT 44,2, S. 149 – 174, ISSN 0720-1079<br />
Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçtt<strong>in</strong>gen 2013 169