09.01.2014 Aufrufe

Kreatives Schreiben und narrative Ansätze in der ... - DGSF

Kreatives Schreiben und narrative Ansätze in der ... - DGSF

Kreatives Schreiben und narrative Ansätze in der ... - DGSF

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Mathias Klasen<br />

nicht abwenden, merke aber, wie ich immer aggressiver werde. Ich erschrecke über mich<br />

selbst, wenn ich laut werde o<strong>der</strong> ich so wütend b<strong>in</strong>, dass ich fast platze. Das schlechte<br />

Gewissen kommt prompt, weil sie ja dann auch nicht müde wird zu sagen, dass es ja ke<strong>in</strong><br />

W<strong>und</strong>er ist, wenn es ihr jetzt noch schlechter geht. Sie hat allerd<strong>in</strong>gs auch schon <strong>in</strong> me<strong>in</strong>en<br />

K<strong>in</strong><strong>der</strong>tagen immer gedroht, wenn etwas nicht so lief, wie sie es wollte. Ich bräuchte<br />

Strategien zur Gesprächsführung mit ihr. Es läuft immer ähnlich ab, ich komme o<strong>der</strong> rufe<br />

an <strong>und</strong> dann gehts los: e<strong>in</strong>e Litanei <strong>der</strong> Beschwerden über ihren Zustand. Irgendwann<br />

b<strong>in</strong> ich so verzweifelt, dass ich doch Vorschläge mache o<strong>der</strong> kluge Ratschläge gebe.<br />

Darauf hat sie bei allem e<strong>in</strong> Gegenargument, warum sie es nicht tut, <strong>und</strong> dann fange ich<br />

wie<strong>der</strong> an, entnervt zu werden, <strong>und</strong> bekomme die Kurve meist nicht mehr […].<br />

Frau M. schil<strong>der</strong>t <strong>in</strong> ihrer Nachricht e<strong>in</strong>e Geschichte über sich <strong>und</strong> ihre Mutter,<br />

e<strong>in</strong>e Geschichte, die sie als e<strong>in</strong>schränkend, belastend <strong>und</strong> frustrierend erlebt. Sie<br />

schreibt von ihren Gefühlen <strong>und</strong> ihren Empf<strong>in</strong>dungen <strong>und</strong> von e<strong>in</strong>em »wütenden<br />

Anteil«, <strong>der</strong> sie selbst sehr erschreckt habe. Beim Lesen <strong>der</strong> Nachricht lese ich das,<br />

was die Klient<strong>in</strong> mir schreibt, aber ich lese auch zwischen den Zeilen, das heißt,<br />

ich trete <strong>in</strong> Beziehung zum Geschriebenen. Die Wut, die Frau M. <strong>in</strong> ihrer<br />

Nachricht schil<strong>der</strong>t, ist beim Lesen für mich deutlich spürbar – neben dieser<br />

wütenden Stimme höre ich aber auch e<strong>in</strong>e sorgenvolle Stimme, die Angst um die<br />

Mutter hat <strong>und</strong> die sich e<strong>in</strong>en »guten« Weg für sie wünscht. Auch die Belastung,<br />

von <strong>der</strong> Frau M. schreibt, ist für mich beim Lesen deutlich spürbar. Konkret<br />

schil<strong>der</strong>t Frau M., wie sie die Beziehung zu ihrer Mutter erlebt <strong>und</strong> dass sie<br />

»Strategien zur Gesprächsführung« mit ihr bräuchte. Da Frau M. die Beziehung<br />

zu ihrer Mutter als sehr ambivalent schil<strong>der</strong>t, lese ich zwischen den Zeilen auch<br />

von dem Thema Abgrenzung <strong>und</strong> könnte mir vorstellen, dass dies auch e<strong>in</strong> Anliegen<br />

von Frau M. se<strong>in</strong> könnte. Auch frage ich mich, was genau Frau M. wohl<br />

unter »Strategien zur Gesprächsführung« verstehen mag? Ich notierte mir me<strong>in</strong>e<br />

Hypothesen <strong>und</strong> weitere offene Fragen stichwortartig <strong>und</strong> beg<strong>in</strong>ne damit, Frau<br />

M. zu antworten. Hierfür nutze ich me<strong>in</strong>en Resonanzboden <strong>und</strong> die Bil<strong>der</strong> <strong>und</strong><br />

E<strong>in</strong>drücke, die ich mir beim Lesen notiert habe. Ich schreibe:<br />

Liebe Frau M.,<br />

me<strong>in</strong> Name ist Mathias Klasen, ich b<strong>in</strong> Psychologe hier bei <strong>der</strong> Onl<strong>in</strong>eberatung von<br />

pflegen-<strong>und</strong>-leben.de <strong>und</strong> habe Ihre Mail gelesen. Ich f<strong>in</strong>de es gut, dass Sie sich an uns<br />

gewendet haben <strong>und</strong> ich antworte Ihnen sehr gerne. Zunächst möchte ich Ihnen schreiben,<br />

dass mich Ihre Zeilen beim Lesen sehr berührt haben <strong>und</strong> ich mir sehr gut vorstellen<br />

kann, wie belastet Sie sich fühlen müssen. Die Pflege e<strong>in</strong>es nahestehenden erkrankten<br />

Menschen stellt für viele Angehörige e<strong>in</strong>e ungeheure Belastung dar <strong>und</strong> ich b<strong>in</strong> sehr<br />

bee<strong>in</strong>druckt davon, welche große Leistung Sie seit über e<strong>in</strong>em Jahr erbr<strong>in</strong>gen <strong>und</strong> welche<br />

Verantwortung Sie dabei übernehmen. Beim Lesen ihrer Nachricht dachte ich mir, »was<br />

für e<strong>in</strong>e starke <strong>und</strong> verantwortungsvolle Frau!« […]. Am Ende Ihrer Nachricht schil<strong>der</strong>n<br />

Sie mir Ihre Gedanken zu Ihren Besuchen o<strong>der</strong> Telefonaten <strong>und</strong> als wie problematisch<br />

Sie diese erleben – konkret fragen Sie nach Hilfe <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gesprächsführung. Aus Ihren<br />

Zeilen lese ich auch den Wunsch, sich besser abgrenzen zu können <strong>und</strong> das Verhalten<br />

154<br />

KONTEXT 44,2, S. 149 – 174, ISSN 0720-1079<br />

Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçtt<strong>in</strong>gen 2013

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!