Programmheft [PDF] - Heilbronner Sinfonie Orchester
Programmheft [PDF] - Heilbronner Sinfonie Orchester
Programmheft [PDF] - Heilbronner Sinfonie Orchester
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
vom Erhaben-Tragischen ins Triviale, auch mit der kreischenden Fröhlichkeit des Finales<br />
auf sich hatte, entschlüsselte sich mir erst spät: Ich hörte den Aufschrei im Gassenhauer,<br />
und in der kreischenden Fröhlichkeit vernahm ich jüdische Gesänge, von denen<br />
Schostakowitsch gesagt haben soll, in ihnen wohnten Lachen und Weinen unmittelbar<br />
beieinander.“ Und Schostakowitsch bemerkte in Bezug auf die russische Tradition<br />
der Burleske einmal, die Doppelbödigkeit des derben und überlauten Lachens helfe,<br />
die ständige Angst zu besiegen.<br />
Der berühmteste Satz des Konzerts ist freilich der dritte Satz. Angeblich hat Schostakowitsch<br />
ihn während einer Konferenz im Zentralkomitee niedergeschrieben: in Form<br />
einer Passacaglia, eines langsamen Tanzes, den Bach und Händel wegen seiner düsteren<br />
Feierlichkeit liebten. Schostakowitsch verwendete diese alte Form, um so etwas<br />
wie eine Tribüne zu schaffen, auf der er selbst eine glutvolle Rede hält – aber an wen?<br />
An Stalin selbst? Es gibt musikalische Hinweise, die darauf hindeuten: Der Satz beginnt<br />
mit einer Variante der Hauptmelodie aus Schostakowitschs 7. <strong>Sinfonie</strong>, von der<br />
er später gesagt hat, sie stehe für Stalin. Die Hörner spielen dazu den rhythmischen<br />
Puls, der das berühmte Schicksalsmotiv aus Beethovens fünfter <strong>Sinfonie</strong> trägt. „So<br />
pocht das Schicksal an die Pforte“, soll Beethoven über dieses Motiv gesagt haben,<br />
und Schostakowitsch verband diese Reminiszenz bewusst und vorsätzlich mit einer<br />
Reminiszenz an Stalin: Ein mehr als vielsagender Hinweis.<br />
Beginn der Passacaglia<br />
mit der Verbindung<br />
von „Stalinthema“ in<br />
Violoncello und Kontrabass<br />
und dem Schicksalsmotiv<br />
in den Hörnern<br />
(„Corni“)<br />
Die Passacaglia und das Finale werden verbunden durch eine riesenhafte Kadenz der<br />
Solovioline, der einzigen Kadenz dieses Konzerts. Für Schostakowitsch war die Geige<br />
ein monologisches Instrument, dessen Gesang er mit kunstvoller Rede verglich. Die<br />
Kadenz macht diesen „rhetorischen“ Anspruch besonders deutlich; Schostakowitschs<br />
Biograf Solomon Wolkow schrieb: „Die Kadenz geht ans Herz; dieser Violinmonolog<br />
erinnert an ein Bild aus Anna Achmatowas „Requiem“: „mein gequälter Mund, mit<br />
dem ein Hundertmillionenvolk schreit.“ Konsequenterweise erscheint auch in der<br />
Kadenz das DSCH-Signum, dieses Mal in der „richtigen“ Intervallstruktur, aber um<br />
einen Halbton erniedrigt als „cis-d-h-b“ – der Symbolgehalt ist unmissverständlich.<br />
23