BQN Arbeitspapier 12
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<strong>Arbeitspapier</strong> des <strong>BQN</strong> Emscher-Lippe Nr. <strong>12</strong><br />
Josef Somogyi<br />
Aspekte der ökonomischen<br />
und sozialen Entwicklung in der<br />
Emscher-Lippe-Region<br />
Konform, uniform, chloroform<br />
Juli 2006
Aspekte der ökonomischen und sozialen Entwicklung in der Emscher-Lippe-Region<br />
In dem folgenden <strong>Arbeitspapier</strong> legt Josef Somogyi, Geschäftsführer beim Förderverein<br />
Ausbildungs- und Fortbildungsverbund Emscher-Lippe e.V seine Sicht auf die ökonomische<br />
und soziale Entwicklung in der Emscher-Lippe Region dar. Der Autor arbeitet dabei mit einer<br />
Collage-Technik, bei der eigene Gedanken mit längeren Zitatfolgen kombiniert werden.<br />
Zitatabschnitte sind jeweils am Abschnittsende mit dem jeweiligen Autorennamen versehen.<br />
Das Quellenverzeichnis am Ende hat dabei nicht den Anspruch einer vollständigen<br />
Literaturliste der zitierten Literatur. (Die Redaktion)<br />
Aufgrund des beispiellosen regionalwirtschaftlichen Umbruchs in der Emscher-Lippe-Region in der<br />
Vergangenheit und mit dem damit einhergehenden Verlust von zahlreichen Arbeits- und<br />
Ausbildungsplätzen gibt es einen wichtigen gesellschaftspolitischen Bereich, der dem Autor dieses<br />
Textes zunehmend Sorgen bereitet: Die fortschreitende Fragmentierung unserer Gesellschaft, also<br />
das weitere Auseinanderfallen der verschiedenen Gesellschaftsklassen in Richtung nivellierter<br />
Mittelstandsgesellschaft mit teils unkompatiblen Interessen verschiedener sozialer Schichten,<br />
Milieus und (Sub-)Kulturen könnten sich zu einem integrativen Bedrohungspotenzial für den<br />
Zusammenhalt unser Region entwickeln. Das gemeinsame Ziel aller unserer Aktivitäten muss also<br />
dringlichst darin bestehen, ein Mindestmaß an Kohäsion, also an Zusammenhalt, zu erreichen.<br />
Dieses Ziel ist wahrscheinlich am ehesten zu erreichen, wenn wir die vorhandenen und anstehenden<br />
Probleme einer möglichst sachlichen Analyse unterziehen und auch benennen, die Zusammenhänge,<br />
soweit überhaupt überschaubar, kausativ aus der Vogelperspektive zu betrachten<br />
versuchen und relevante Akteure in die konstruktive Erarbeitung von Lösungsansätzen einbinden.<br />
Für praktische Fragen und Lösungsansätze ist es jedoch nicht immer notwendig, ein bestimmtes<br />
Problem oder einen aktuellen Konflikt bis in die letzte Kausalität hinein zu analysieren (zu versuchen).<br />
In solchen Fällen ist es weder theoretisch noch praktisch anstößig, an der Entwicklung von<br />
symptomorientierten statt an kausalorientierten Veränderungsstrategien zu arbeiten. Im<br />
Gegenteil: Fortschritte z.B. in der Bearbeitung ethnisch-kultureller Auseinandersetzungen in problematischen<br />
Stadtteilen können auch durch ein effektiveres Konfliktmanagement erreicht werden.<br />
(W. Heitmeyer)<br />
Dynamische gesellschaftliche Prozesse können im Zeitablauf zu ungewünschten Fern- und Nebenwirkungen<br />
führen, die so in ihrer Konsequenz von den Verantwortlichen weder gewünscht noch<br />
unbedingt vorhersehbar waren. Verdeutlichen lässt sich dieses Phänomen durch den so genannten<br />
„Mobile-Effekt“. Der Anstoß eines Teilelements führt nicht nur zu einer Abänderung beim<br />
Teilelement und zu einer neuen Konstellation im Verhältnis zu anderen Teilelementen, sondern das<br />
gesamte Beziehungsgefüge verändert sich. Die Art und Weise, wie wir also selbst versuchen,<br />
gesellschaftliche Probleme zu lösen, führt immer über einer Rückkopplung zum Ergebnis. So im<br />
Guten, wie im Schlechten. Wir müssen also aufpassen, dass wir über unser nicht kontrollierte<br />
Engagement nicht selber zur Ursache dessen werden, dessen Wirkung wir beklagen und beseitigen<br />
wollen.<br />
Um ein so komplexes Themengebiet inhaltlich haltbar darstellen zu können, hat der Autor auf zahlreiche<br />
Quellen mit den dazugehörigen Inhalten zurückgegriffen, die überwiegend aus der wissenschaftlichen<br />
Literatur entstammen. Bei diesem Werk handelt es sich in urheberrechtlicher Hinsicht<br />
um eine Art von anthologischer Sammlung von geeigneten Texten von renommierten<br />
Wissenschaftlern, aus deren Werken die jeweils zur Erhellung der Probleme dienenden Passagen<br />
zitiert werden. In den meisten Fällen wird die Auffassung dieser klugen Köpfe wortwörtlich, seltener<br />
sinngemäß, wiedergegeben. In solchen Fällen sind die jeweiligen Namen der Wissenschaftler<br />
in Klammern angegeben.<br />
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Aspekte der ökonomischen und sozialen Entwicklung in der Emscher-Lippe-Region<br />
Allgemeine gesamtgesellschaftliche und spezielle volkswirtschaftliche Aspekte<br />
der Emscher-Lippe-Region<br />
Eine Nachricht vorweg: Deutschland ist offensichtlich noch zur Selbstkritik fähig, wie es der<br />
Süddeutschen Zeitung vom 04.03.2005 vom Redakteur Marc Beise zu entnehmen ist:<br />
Deutschland hat viele Probleme, in diesen Tagen wird es wieder offensichtlich. Das größte<br />
Problem ist grundsätzlicher Natur: Den Deutschen fehlt weitgehend offensichtlich die<br />
Fähigkeit, verhängnisvolle Trends rechtzeitig wahrzunehmen und dann beherzt gegenzusteuern.<br />
Etwa in der Beschäftigungspolitik: Jahrelang sind die monatlichen Arbeitslosenzahlen aus<br />
Nürnberg von den nicht persönlich Betroffenen mit einem Achselzucken zur Kenntnis genommen<br />
und gewissermaßen geistig abgeheftet worden. Heute ist der Schock über mehr als 5,2<br />
Millionen offiziell ausgewiesene Arbeitslose so groß, dass er womöglich SPD-geführte<br />
Regierungen in Land und Bund aus dem Amt tragen wird. Auch die Armuts- und<br />
Reichtumsberichte der Bundesregierung werden von der Öffentlichkeit eher beiläufig zur<br />
Kenntnis genommen worden. Die Zahl der Armen in Deutschland steigt, das Armutsrisiko wird<br />
größer: Kurze Betroffenheit, abhaken, vergessen? So einfach darf man sich das nicht machen!<br />
Nach einer Untersuchung des Kinderhilfswerks Unicef wächst die Kinderarmut in Deutschland<br />
schneller als in den meisten anderen Industrieländern. Jedes zehnte Kind lebt nach den<br />
Unicef-Kriterien in relativer Armut, das sind mehr als 1,5 Millionen Kinder und Jugendliche.<br />
Dabei haben Mädchen und Jungen aus Familien mit geringem Einkommen im Bildungssystem<br />
schlechtere Startchancen als ihre Altersgenossen, sind häufiger krank und finden später meist<br />
nur einen niedrig dotierten Job - wenn überhaupt. Diese Situation verstößt gegen unser<br />
Gerechtigkeitsempfinden, und sie ist ökonomisch gefährlich.<br />
Ein Land wie Deutschland, dessen maßgeblicher Rohstoff Wissen („Humankapital“) ist,<br />
braucht jeden jungen (klugen) Kopf. Mit Kindern und Jugendlichen, die zu einem nennenswerten<br />
Teil arm, ungebildet, ungefördert, womöglich sogar schlecht ernährt und insgesamt kaum<br />
leistungsfähig sind, ist Wohlstand nicht zu bewahren. Erst recht nicht, wenn sich gleichzeitig<br />
die Altersstruktur weiter verschiebt. 2,08 Kinder pro Frau wären nötig, um auch nur den<br />
Status quo zu halten; derzeit liegt Deutschland bei 1,35. Die Gesellschaft insgesamt erstarrt.<br />
Mit Mitte 30, sagen die Experten, ist die Innovationsfähigkeit und der Antrieb, ein<br />
Unternehmen zu gründen, am größten. Eine Gesellschaft, in der die Älteren dominieren, die<br />
risikoscheuer sind und auch erschöpfter, verliert Dynamik und Innovationskraft. Wenn der<br />
Staat nicht massiv in Kinder und Jugendliche investiert, wenn er nicht Betreuungsangebote<br />
und Teilzeitstellen in großem Stil anbietet und fördert und die Bildungeinrichtungen mit deutlich<br />
mehr Geld und Aufmerksamkeit ausstattet, wird sich an der Krise daran nichts ändern.<br />
Charakteristisch für den Arbeitsmarkt ist der Prozess der so genannten Tertiarisierung:<br />
Arbeitsplätze in der gewerblichen Fertigung gehen verstärkt verloren, Arbeitsplätze im Dienstleistungssektor<br />
nehmen im geringem Maße zu. Entscheidend (für die soziale Zusammensetzung der<br />
Emscher-Lippe-Region) wird die Struktur der Beschäftigung sein, die sich im Dienstleistungssektor<br />
herausbildet. Die Entwicklung zur Dienstleistungsgesellschaft wurde lange Zeit ausschließlich positiv<br />
bewertet, weil dadurch die Arbeitsplatzverluste, die sich aus den Produktivitätssteigerungen der<br />
Güterproduktion ergeben, kompensiert werden würden. Inzwischen ist bekannt, dass in der<br />
Dienstleistungsökonomie die höher- und höchstqualifizierten Tätigkeiten mit guter Entlohnung<br />
zumindestens wohl auf dem bisherigen Niveau werden bleiben können. Die gering qualifizierten,<br />
schlecht bezahlten Dienstleistungstätigkeiten vermehren sich nur unter bestimmten Bedingungen,<br />
Tertiarisierung kann auch in steigende Arbeitslosigkeit münden. (H. Häußermann)<br />
3
Aspekte der ökonomischen und sozialen Entwicklung in der Emscher-Lippe-Region<br />
Die nach- bzw. postindustrielle Gesellschaft wird geprägt sein von einer Dualisierung bzw.<br />
Polarisierung der Lebenslagen, die sich mit der Durchsetzung der Dienstleistungsökonomie ergibt.<br />
Offen ist bisher noch, welche Form diese Polarisierung annehmen wird. Dafür gibt es im Grundsatz<br />
zwei Alternativen: einerseits die Möglichkeit, dass sich die Tätigkeiten nach Qualifikation und<br />
Verdienst innerhalb der Beschäftigten polarisieren (Amerikanisches Modell). Andererseits die<br />
Möglichkeit, dass die Spaltung zwischen Arbeitsplatzbesitzern und Arbeitslosen zunimmt, sich also<br />
die Polarisierung zwischen dem Segmenten der Beschäftigten und dem Segment der dauerhaft<br />
Arbeitslosen herausbildet. Gegenwärtig dominiert in Deutschland die Tendenz zu einer Spaltung<br />
zwischen „drinnen“ und „draußen“. Der Sockel von Dauerarbeitslosigkeit wird mit jedem<br />
Konjunkturzyklus größer. Wirtschaftliches Wachstum zieht nicht mehr automatisch ein Wachstum<br />
von Arbeitsplätzen nach sich. Gering qualifizierte Arbeitskräfte und Ausländer verlieren ihre<br />
Beschäftigungsverhältnisse. Es wächst nicht nur die Arbeitslosigkeit, auch nehmen unsichere/temporäre/schlecht<br />
bezahlte/ungeschützte Anstellungen in der Dienstleistungökonomie zu. Jede neue<br />
Rezession schafft mehr Probleme, als der folgende Aufschwung lösen kann. (ebd.)<br />
Bei der Erwerbstätigkeit ist also entweder mit einer wachsenden Spaltung innerhalb des<br />
Arbeitsmarktes zu rechnen. Oder mit einer tiefen Spaltung zwischen denen, die einen Arbeitsplatz<br />
besitzen, und denen, die ganz ausgegrenzt sind oder nur ab und zu einen befristeten Job für<br />
Aushilfstätigkeiten finden. Kombiniert man diese Perspektiven mit der absehbaren demographischen<br />
Entwicklung, dann kann vorhergesagt werden, dass sich das Segment aus Un- und<br />
Unterbeschäftigten v.a. aus Migranten rekrutieren wird. Denn die meisten Zuwanderer, selbst wenn<br />
sie nach den Kriterien ihres Heimatlandes hoch qualifiziert sind, gelten auf dem Arbeitsmarkt in<br />
Deutschland im Regelfall als unqualifizierte Arbeitskräfte. Sie kommen also überwiegend für jenen<br />
Teil des Arbeitsmarktes in Betracht, der gegenwärtig schrumpft, wenn nicht durch eine straffe<br />
Deregulierung die Voraussetzungen für eine Expansion des „Dienstboten-Segments“ geschaffen<br />
werden. Analog dem „Beschäftigungswunder“ in den USA, wo ethnische Minderheiten überwiegend<br />
in dem am schlechtesten bezahlten persönlichen Dienstleistungen eine Erwerbsmöglichkeit finden.<br />
Mit dem demographischen und ökonomischen Wandel kommen zentrale soziale Parameter der bisherigen<br />
Stadtentwicklung ins Rutschen. (ebd.)<br />
Das ist eine Situation, in der sozialräumliche Stabilität wichtig wäre, um diesen Wandel irgendwie<br />
zu verarbeiten. Aber die Entwicklungen im Bereich der Wohnraumversorgung tragen zu einer weiteren<br />
„Verflüssigung“ der Stadtstruktur bei. (ebd.)<br />
Die sozialen Orte, die überwiegend von Migranten bewohnt werden, lassen sich prinzipiell nach drei<br />
Dimensionen benennen:<br />
• sozialräumlich: Ballungsräume mit hohem Migrantenanteil, genauer formuliert in spezifischen<br />
Wohnquartieren, die als weniger attraktiv gelten. Beispielsweise innenstadtnahe<br />
ehemalige Arbeiterquartiere, Schlichtwohnungen der fünfziger Jahre und Großsiedlungen der<br />
siebziger und achtziger Jahre;<br />
• soziostrukturell: untere soziale Schichten, beruflich dem gewerblich-produzierenden Sektor<br />
zugehörig, Un- und Angelernte, Arbeitslose;<br />
• generationsspezifisch: Jugendliche und junge Erwachsene in ihrer Konkurrenz auf dem<br />
engen Ausbildungs-, Arbeits- und Wohnungsmarkt (J.S. Dangschat)<br />
Exemplarisch passt dazu die veröffentlichte Pressemeldung (WAZ am 11.05.2004) der sieben großen<br />
Wohnungsunternehmen, die sich darauf verständigt haben, ihren Wohnungsbestand im<br />
Ruhrgebiet umfassend zu modernisieren. Ziel: die Wohnviertel sollen wieder aufgewertet werden.<br />
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Aspekte der ökonomischen und sozialen Entwicklung in der Emscher-Lippe-Region<br />
Mit dem Kooperationsprojekt reagieren die Unternehmen auf zunehmende Leerstände, absehbare<br />
Überalterung der Mieter und die Abwanderung junger Leute. Die Unternehmen wollen in den<br />
Vierteln Wohnungen neu bauen, sanieren, modernisieren und auch abreißen. Dabei erwarten sie<br />
Hilfe von Land und Städten. An der Umgestaltung sollen auch "lokale Akteure" wie Sozial- und<br />
Jugendverbände beteiligt werden. Mit dem Programm soll verhindert werden, dass der<br />
Wohnungsbestand an Wert verliert und die Viertel sozial "umkippen". Die Aufwertung soll auf die<br />
Nachbar-Gegend ausstrahlen.<br />
Beteiligt sind die Firmen Allbau, GAGFAH, LEG, RAG Immobilien, TreuHandStelle, VBW Bauen und<br />
Wohnen und Viterra. Sie vereinbarten, "in einem ersten Schritt" vier Quartiere mit 6.700<br />
Wohnungen und 400.000 Quadratmetern Fläche umzugestalten. LEG und GAGFAH wollen in<br />
Dortmund-Scharnhorst 3.432 Wohnungen umbauen, VBW in Bochum-Hustadt 651, THS, Allbau und<br />
RAG Immobilien in Essen-Vogelheim 1.681 und LEG und GAGFAH in Duisburg-Hagenshof 1.000<br />
Einheiten. Weitere Viertel in Essen und Bottrop sollen folgen. Von der nordrhein-westfälischen<br />
Landesregierung erwarten die Unternehmen nachhaltige Hilfe. Förderprogramme und Förderpraxis<br />
müssten an das Programm angepasst und die Förderansätze der Wohnungsbau-, Städtebau- und<br />
Stadtteilförderung "integriert und aus einer Hand" angeboten werden.<br />
Dass in städtebaulicher Hinsicht in unserer Region etwas geschehen muss, kann der sicherlich<br />
überzogenen Bemerkung vom Kritiker Hans Hoff (SZ-Online vom 20.03.05) anläßlich der Grimme-<br />
Preis-Verleihung in Marl entnommen werden, als nach seiner Auffassung „Stefan Raab ins<br />
Grimme-Resozialisierungsprogramm aufgenommen wurde“. Die Bilanz von Kritiker Hans Hoff: „Die<br />
Umstände der Preisverleihung würden den Geist der Teilnehmer betäuben. Das beginnt schon bei<br />
der Anreise, wenn man in die Grimme-Stadt Marl kommt und sich angesichts der dort aufgestapelten<br />
Architekturverbrechen tatsächlich immer wieder aufs Neue fragt, ob es noch hässlichere Städte<br />
in Deutschland gibt. Man wird bescheiden in dieser Umgebung, die eine Trostlosigkeit transpiriert,<br />
vor der man flüchten möchte“.<br />
Eine weitere problematische Entwicklung auf dem Gebiet der ökonomischen Theorie z.B. ist das<br />
immer weitere Auseinanderdriften der Wirtschaftswissenschaften, von Volkswirtschaftslehre und<br />
Politökonomie. Diese wird darüber hinaus noch durch verschiedene Schulen repräsentiert, siehe die<br />
verschiedenen Strömungen der Betriebswirtschaftslehre und - eine neuere Entwicklung -<br />
Mesoökonomie, die sich hauptsächlich mit der Regionalökonomie beschäftigt. (H.Bömer)<br />
Diese wird ihrerseits weitestgehend von der Raumentwicklungstheorie und von Planungskonzeptionen<br />
für die Regionen und Städte abgetrennt, von Imagebildung, Attraktivitäts- und<br />
Repräsentativitätssteigerung usw. diskutiert und analysiert. Als negative Folge sind die<br />
Spezialisten aus diesen unterschiedlichen Bereichen dann nicht mehr gewillt oder nicht in der Lage,<br />
miteinander zu kommunizieren. Es muss innerhalb der verschiedenen unverbunden nebeneinander<br />
stehenden „Großdisziplinen“ (Ökonomie/ Gesellschaftswissenschaften, Naturwissen-schaften,<br />
Ingenieur-, Planungs- und Kulturwissenschaften) auch „Spezialisten für Allgemeines“ geben, und<br />
zwar nicht nur Wissenschaftstheoretiker, sondern auch für solche, die über das Integrationsmedium<br />
„Raum“ bzw. „Raumplanung“ den ökonomischen Gesamtzusammenhang analysieren, die<br />
räumliche Entwicklung und ihre Widersprüche zu prognostizieren versuchen. (ebd.)<br />
Merkmale und Elemente von regionalen Strukturkrisen in einer Marktwirtschaft zeichnen sich nun<br />
mal dadurch aus, dass sie in ihrer räumlichen Entwicklung i.d.R. ungleichmäßig und ungleichzeitig<br />
auftreten. Konjunkturzyklen und Regionalkrisen sind innerhalb einer Volkswirtschaft systemimmanent<br />
und somit unvermeidlich.<br />
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Aspekte der ökonomischen und sozialen Entwicklung in der Emscher-Lippe-Region<br />
Die (Regional-)Politik mit ihrer für sich in Anspruch genommenen Richtlinienkompetenz ist lediglich<br />
nur in der Lage, Problemniveaus zu beeinflussen. Diskussionsgegenstände der regionalen politischen<br />
Auseinandersetzungen können hauptsächlich also das „tolerierbare“ Niveau von<br />
Arbeitslosigkeit und den damit verbundenen Einkommensunterschieden, die regionalen<br />
Ungleichheiten (Disparitäten) und die Frage nach den wirksamsten Instrumenten sein. (ebd.)<br />
Bezüglich der heftigen Diskussionen im Zusammenhang mit der Bedeutung des Sozialstaatsgebots<br />
(Art. 20 GG) gilt es in Erinnerung zu rufen, dass durch die Grundgesetzänderung (1994 - Art. 72<br />
(2) GG) die Abänderung der Maxime der Herstellung gleichwertiger Lebensbedingungen in allen<br />
Teilräumen der Politik hin zu der Maxime „Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse“ abgeändert<br />
wurde. Dies entsprach praktisch der Aufhebung des Verbots der „passiven“ Sanierung durch<br />
gezielte Abwanderung der „überflüssigen“ Arbeitskräfte (Modell: USA). Diese neue Maxime steht<br />
im Gegensatz der Regionalpolitik der EU, die eher eine „aktive“ Sanierung bevorzugt! (ebd.)<br />
Um dieses komplizierte bzw. komplexe Thema angemessen regionalspezifisch zu vertiefen, soll<br />
dazu die Meldung von Joachim Schmidt dienen, der als Redakteur für den Bauer-Verlag auf dem<br />
Mantelbogen der Marler Zeitung am 02.03.2005 folgende Schlagzeile nebst Artikel veröffentlichte:<br />
Zahl der freien Stellen macht Mut. Emscher-Lippe: „Hoffnungsschimmer“ trotz Hartz-IV-<br />
Effekts<br />
Als „Hoffnungsschimmer“ bezeichnete Reinhard Langer, Geschäftsführer der Agentur<br />
Recklinghausen, die wachsende Zahl von Unternehmen, die den Arbeitsagenturen freie<br />
Stellen meldeten: Gab es Ende Januar nur 2.000 offene Stellen in den zwölf Städten der<br />
Emscher-Lippe-Region, so kletterte diese Zahl nun auf 2.700 freie Jobs. Angesichts von<br />
84.000 Arbeitslosen in der Region sei dies natürlich noch kein Durchbruch: „Die Zahl der<br />
Arbeitslosen bleibt erschreckend hoch“. (...) Besonders in Gelsenkirchen schlägt der Hartz-IV-<br />
Effekt durch: Tausende arbeitsfähige Sozialhilfeempfänger gelten dort mit einem Schlag als<br />
arbeitslos. Dass in der ehemaligen „Stadt der tausend Feuer“ die meisten Zechen stillgelegt<br />
und die Öfen längst aus sind, zeigt die neue, laut Wirtschaftsminister Wolfgang Clement „ehrlichere“<br />
Arbeitslosenstatistik: 26,4 Prozent, also mehr als jeder Vierte, sind dort nun arbeitslos<br />
gemeldet. Hier die Quoten aus der Region: Gelsenkirchen 26,4 %, Herten 15,4 %, Marl<br />
14,9 %, Recklinghausen/Oer-Erkenschwick/Haltern 13,1 %, Datteln/Waltrop <strong>12</strong>,1 %.<br />
In diesem Problemkontext muss daher in Erinnerung gebracht werden, dass innerhalb von 40<br />
Jahren mehr als 500.000 Arbeitsplätze im Montansektor verloren gegangen sind und an dessen<br />
Ende sich die Mehrzahl der Ruhrgebietsstädte heute als mehr oder weniger austauschbare<br />
Dienstleistungszentren präsentieren. Von dieser Entwicklung wurde unsere Emscher-Lippe-Region<br />
mit am stärksten negativ getroffen. Vor dem Hintergrund einer engen sachlichen und politischen<br />
Verflechtung über alle Ebenen der großen und kleinen Politik ist es daher manchmal durchaus<br />
erstaunlich, wie provinziell die Debatten um die Lösung der Strukturkrise des Ruhrgebiets, vor<br />
allem in der Emscher-Lippe-Region (teils von ökonomischen Kenntnissen unbelastet), geführt werden.<br />
(H.Bömer)<br />
Bei fast allen politischen und wissenschaftlichen Debatten um die „richtige moderne“<br />
Strukturpolitik ist erstaunlicherweise eine massive Abstinenz bezüglich des Sachverhalts festzustellen,<br />
welche makro-ökonomischen Rahmenbedingungen in Verbindung mit einer vertikalen<br />
Politikverflechtung (Mehrebenendimension) erforderlich wären, um der wünschenswerten<br />
Strukturpolitik eine realitätsnahe Wirksamkeit zu ermöglichen. Exemplarisches Beispiel hierfür ist<br />
die schon als naiv anzusehende Intensivierung von Gründungsoffensiven als Schlüssel zur Lösung<br />
6
Aspekte der ökonomischen und sozialen Entwicklung in der Emscher-Lippe-Region<br />
der Probleme im Konkurrenzkampf mit anderen Regionen, ohne die dafür notwendigen volkswirtschaftlichen<br />
Veränderungen auch nur zu thematisieren bzw. in Erwägung zu ziehen. (ebd.)<br />
Dabei können ökonomische Zusammenhänge manchmal furchtbar einfach dargestellt werden:<br />
Wenn (nun wie in der Emscher-Lippe-Region nachweisbar) das Bruttoinlandsprodukt und damit<br />
einhergehend die Massenkaufkraft sinkt, dann verschlechtert sich damit a priori im Durchschnitt<br />
die Wettbewerbssituation der im Markt befindlichen Unternehmen. Die Betonung liegt dabei auf „im<br />
Durchschnitt"; wohl wissend, dass Ausreißer nach oben und unten möglich sind und einzelne<br />
Unternehmen nicht von dieser Entwicklung berührt werden. (ebd.)<br />
Durch den zusätzlichen Markteintritt von neu gegründeten Unternehmen und den damit zusammenhängenden<br />
veränderten Wertschöpfungsprozessen intensiviert sich jedoch der Wettbewerbsdruck<br />
und die durchschnittlichen Renditen sinken. Ganz zu schweigen von der Frage, ob die neuen<br />
Marktteilnehmer über die notwendigen unternehmerischen Kernkompetenzen verfügen, den<br />
besonderen marketingtheoretischen Anforderungen eines angespannten Marktes zu entsprechen.<br />
(ebd.)<br />
Erstaunlich ist daher, dass die zurzeit mehrheitlich vertretenen Meinungen in der Wirtschaftstheorie<br />
von der Regional- und Kommunalpolitik weitestgehend unhinterfragt akzeptiert werden. Die Bandbreite<br />
der Positionen reicht dabei von der Unterstützung einer unnachgiebigen makroökonomischen<br />
Angebots- und Haushaltskonsolidierungspolitik (Rheinisch-Westfälisches Institut für Wirtschaftsforschung<br />
- RWI Essen), der Nichtthematisierung bis zur Leugnung der Probleme bis hin zu der<br />
These, dass auf Regionalebene eine Vollbeschäftigungspolitik selbst mit Hilfe einer stark ausgedehnten<br />
Investitionsoffensive unmöglich geworden ist und dass daher die Emscher-Lippe-Region<br />
durch die Herstellung so genannter „systemischer Wettbewerbsfähigkeit“ im heutigen Europa nun<br />
ihr eigen Glückes Schmied sein müsste. (ebd.)<br />
Die von Hermann Bömer (und vom Autor) vertretene Auffassung lässt sich jedoch von der<br />
Hypothese leiten, dass in unserer Krisenregion selbst durch eine supermoderne regionalökonomische<br />
Strukturpolitik, die von den Kommunen, der Emscher-Lippe-Region und auch vom Land NRW<br />
in Kooperation mit der EU getragen würde, die erzeugten und vorhandenen ökonomischen Trends<br />
nicht durchbrochen werden können. Der weitere Rückgang des Bruttoinlandsprodukts ist zu unterstellen!<br />
Die „Politik des Machbaren“ kann den verhängnisvollen Krisenprozess nicht umkehren.<br />
Somit ist in Teilen der Kommunalpolitik ein weit verbreiteter Voluntarismus (Wunschdenken) vorhanden,<br />
bestenfalls eine massive Überschätzung der Möglichkeiten von regionalen Strategien in<br />
Verbindung mit Stückwerkpolitik, die sich durch eine intensitätsgesteigerte Projektorientierung<br />
auszeichnet. Dies führt in einer dynamischen Umwelt auch teils zu wirklichkeitsfernen „modellplatonistischen<br />
Diskussionen“ nach ceteris-paribus, in der willkürlich einzelne Elemente aus einem<br />
Themenbereich herausgerissen werden, um sie als allein selig machende Lösung anzupreisen.<br />
(ebd.) Exemplarisch soll hier an die geforderte Ausbildungsabgabe von Seiten der politischen<br />
Linken oder an die Gewerbesteuersatz-Senkungs-Diskussion der FDP erinnert werden.<br />
Als weiteres Problem in der Region kann der Extremismus des Sich-nicht-zuständig-Erklärens in<br />
gesellschaftspolitischen Bereichen einzelner relevanter Akteure angesehen werden, die sich nur<br />
über ihr Spezialistentum identifizieren. Einige dieser Spezialisten postulieren, dass bei den gegenwärtigen<br />
Diskussionen in Zeiten von zahlreichen (teils umstrittenen) Strömungen und Positionen<br />
es gegenwärtig nicht mehr möglich ist, die Wirkzusammenhänge der gesellschaftlichen Realität(en)<br />
zu erkennen. Deshalb wäre es kaum noch möglich, politisch wünschbare bzw. notwendige<br />
Entwicklungen zu formulieren, zu denken und konzeptionell zu verändern. (ebd.)<br />
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Aspekte der ökonomischen und sozialen Entwicklung in der Emscher-Lippe-Region<br />
Daher wird von den Protagonisten dieses Gedankengutes immer häufiger empfohlen, sich politisch<br />
und wissenschaftlich arbeitsteilig so zu spezialisieren, dass man auf jedem Gebiet an der „Spitze<br />
der Bewegung“ mitdiskutieren und kreative bzw. innovative Beiträge einbringen kann. Es gibt allerdings<br />
auch intelligentere Meinungen in der Debatte, die sich ausdrücklich gegen eine radikale<br />
Zurückhaltung in wichtigen gesellschaftspolitischen Bereichen wenden. (ebd.)<br />
Die Probleme (der Emscher-Lippe-Region) ergaben sich somit durch eine komplexe Kombination<br />
von mehreren Auswirkungen: Die historisch bedingte Grundstoff- und Investitionsgüterindustrie<br />
führte zu einer allgemeinen Überproduktionskrise, die den sektoralen Strukturwandel beschleunigte.<br />
In den Verliererbranchen ergab sich damit ein schneller Arbeitsplatzabbau. (ebd.) Aufgrund der<br />
allgemeinen Wachstumsschwäche ergibt sich nur ein langfristig veränderbarer Branchenmix mit<br />
dem Trend, etwas despektierlich ausgedrückt, zur Discounter- und Dönerisierung der Region.<br />
In den so genannten Zukunftsbranchen werden insgesamt unzureichend neue Arbeitsplätze<br />
geschaffen. Dies liegt zum Teil daran, dass große Teile der wissenschaftsbasierten Industriezweige<br />
und produktionsorientierten Dienstleistungen sich in anderen Teilen Deutschlands angesiedelt und<br />
entwickelt haben. Exemplarisch sind die Branchen wie z.B. Luft- und Raumfahrt, Rüstungsindustrie,<br />
Schlüsselbereiche des Fahrzeugbaus und der Elektrotechnik nebst Finanzdienstleistungen<br />
zu benennen. Das schlechte Image des Ruhrgebietes in der bundesdeutschen Wirtschaft<br />
resultiert aus der Tatsache, dass tendenziell überall gleiche Strukturen (ubiquitäre Infrastrukturen)<br />
wahrgenommen werden. (ebd.)<br />
Ökologische Altlasten und teils vom (sozialen) Zusammenbruch bedrohte Stadt(teil)zentren kommen<br />
erschwerend hinzu. Managementfehler und Innovationsschwäche in den Montankonzernen<br />
führten z.B. durch die „externen Wachstumsstrategien“ quasi automatisch dazu, dass durch den<br />
Zukauf von Unternehmen in fremden Regionen die eigene Region vernachlässigt wurde. Als Hauptgründe<br />
für diese Fehlentwicklungen in den Montankonzernen können folgende Faktoren identifiziert<br />
werden: Aufgrund fehlender Finanzkraft und unzureichender F&E-Potenziale ergab sich eine zu<br />
geringe Marktmacht in neuen Wachstumsfeldern, die einen Überlebenskampf auslösten. (ebd.)<br />
Ziel war letztlich die Verhinderung von Überkapazitäten, Überakkumulation und Überproduktion<br />
von (Fremd-)Kapitalanhäufung. Das Management-Dilemmata in den Konzernen bestand vornehmlich<br />
darin, Prozess- und Organisationsrationalisierung nebst Restrukturierungsgeschäft vor der<br />
notwendigen Marktbearbeitung, Markterschließung und Leistungsergänzung betreiben zu müssen.<br />
Hinzu kam die defizitäre gesellschaftliche Steuerung der Regionalentwicklung aufgrund politischer<br />
Durchdringung mit einhergehender kaum vorhandener Investitionslenkung über die Tochtergesellschaften<br />
der Montankonzerne. Auch die geringe Innovationsintensität der Unternehmen hat ihre<br />
Gründe: Die unterschiedlichen Forschungsintensitäten der Industriezweige waren mit ihren<br />
Höchstwerten nicht in dieser Region vertreten. (ebd.)<br />
Zu den offensiven Elementen der regionalen Strukturpolitik gehörte die Förderung leistungsfähiger<br />
Unternehmensstrukturen in der Montanindustrie mit der Billigung und Unterstützung von Fusionen,<br />
Firmenübernahmen und Standortrationalisierung nebst Belegschaftsabbau zwecks Produktivitätssteigerung.<br />
Dazu gehörte auch das Aufbrechen der monopolistischen Bodensperre, um Neuansiedlungen<br />
von Firmen zu ermöglichen. (ebd.)<br />
Ergänzt wurden diese Aktivitäten durch eine umfassende Bildungspolitik, die z.B. in der Gründung<br />
von 5 Universitäten/Gesamthochschulen mündete. Zusätzlich wurde der Ausbau der allgemein<br />
bildenden und beruflichen Schulen sowie Fachhochschulen plus der Erwachsenenbildung vorangetrieben.<br />
Dazu kam der umfassende Ausbau und die Modernisierung der Infrastruktur (Verkehrs-<br />
8
Aspekte der ökonomischen und sozialen Entwicklung in der Emscher-Lippe-Region<br />
systeme, S- u. Stadtbahn). (ebd.)<br />
Um die Verbesserung der Umweltsituation herbeizuführen, wurde zunächst die „Politik der hohen<br />
Schornsteine“ (End-of-Pipe-Technologien wie Rauchgasentschwefelung und -entstickung) betrieben,<br />
um später doch auf Vermeidungs- und Einsparungskonzepte umzusteigen. Hier ist tatsächlich<br />
viel Geld durch den sprichwörtlichen Schornstein gegangen. (ebd.)<br />
Bezugnehmend auf die weiter oben genannten Diskussionsgegenstände für mögliche Lösungen für<br />
unsere Region stehen sich dabei zwei politisch-ökonisch Denkansätze (unversöhnlich) gegenüber,<br />
die hier stark vereinfacht als „Neoliberal“ und „Keynes-Massenkaufkraft-Ansatz“ dargestellt werden.<br />
Der Autor wird kurz beide Positionen gröblichst vereinfacht erläutern und aus seiner Sicht auf<br />
ihre jeweiligen theoretischen politisch-ökonomischen Denkfehler von Rechts und Links aufmerksam<br />
machen:<br />
Wenden wir uns zunächst dem etwas komplexeren neoklassisch bis neoliberalen Denkansatz à la<br />
Milton Friedman (Nobelpreis der Ökonomie 1976) zu. Von den Thesen von Friedman abgeleitet wird<br />
heute überwiegend von konservativ-liberaler Seite die Auffassung vertreten, dass der<br />
Staatsinterventionismus nebst der damit verbundenen Subventionsmentalität die Regionalkrise<br />
verursacht bzw. zumindest mit verursacht hat. Ohne Kohlesubventionen und gut ausgestatteter<br />
Sozialpläne wäre die Entwicklung in der Region günstiger verlaufen, da die Marktkräfte stärker ihre<br />
immanenten Ausgleichstendenzen hätten entfalten können. Des Weiteren wären die Löhne gesunken,<br />
daher wäre mehr Kapital von außen angelockt worden. Insgesamt hätte es so mehr<br />
Arbeitsplätze gegeben. Der theoretische Defekt dieser These besteht darin, dass ohne defensive<br />
Maßnahmen die Gefahr einer „kumulativen“ Krisenverschärfung bestanden hätte. (ebd.)<br />
Begründung: Wegen der noch stärkeren ökonomischen Schwächung der Region und der damit verbundenen<br />
höheren Arbeitslosigkeit wäre die Binnennachfrage noch geringer, als es heutzutage der<br />
Fall ist. Eine enorme zusätzliche Beeinträchtigung der Entwicklung eines starken Sektors haushaltsorientierter<br />
Dienstleistungen, des Handwerks und der Bauwirtschaft wäre die Folge gewesen.<br />
L'éclat, c'est moi: Regionalpolitiker und -ökonomen sind sich meist dieses kumulativen handlungsdefizitären<br />
Kriseneffekts nicht bewusst. Ergo: Eine Sanierung nur des metropolitanen Kerns unserer<br />
Innenstädte reicht nicht aus! (ebd.)<br />
Vielleicht sollten sie; wie es der Redakteur Wolfgang Uchatius in einem Artikel ausführt (DIE ZEIT<br />
vom 05.01.06), auf einen ihrer amerikanischen Kollegen hören: den Nobelpreisträger Robert<br />
Solow. Der forderte schon vor fünfzehn Jahren, die Wirtschaftswissenschaftler müssten endlich<br />
ihren Horizont erweitern. Er drückte es so aus: »Arbeiter sind keine Artischocken.« Also: Die deutschen<br />
Ökonomen haben sich verrannt. Der Lohn ist alles andere als ein normaler Preis.<br />
Weiter führt W. Uchatius etwas provokant aus: Arbeiter sind nicht anders als Artischocken. Oder<br />
Autos. Oder Brötchen. Sie sind eine Ware. Auch sie unterliegen den Marktkräften. Auch für sie gilt<br />
das Gesetz von Angebot und Nachfrage. Jeder Politiker, jeder Gewerkschafter, der sich dieser unangenehmen<br />
Wahrheit verschließt, ist mit schuld am größten Problem der Bundesrepublik<br />
Deutschland: der Arbeitslosigkeit. So oder so ähnlich argumentiert die Mehrzahl der deutschen<br />
Wirtschaftswissenschaftler. Klingt ja auch logisch: Wenn es auf dem Gemüsemarkt zu viele<br />
Artischocken gibt, muss der Preis sinken, dann verschwindet das Überangebot. Wenn auf dem<br />
Arbeitsmarkt ein Überangebot besteht, muss der Lohn sinken. Dann verschwindet die<br />
Arbeitslosigkeit. (ebd.)<br />
9
Aspekte der ökonomischen und sozialen Entwicklung in der Emscher-Lippe-Region<br />
Ganz einfach - und doch nur vorübergehend überzeugend. Jahrelang folgten Politiker aller großen<br />
Parteien diesem Gedankengang. Sie riefen die Gewerkschaften zur Mäßigung auf. Dafür erhielten<br />
sie Beifall von den meisten Fachleuten. Der ökonomische Sachverstand schien gesiegt zu haben.<br />
Doch auf einmal ist alles anders. In der Metallindustrie stehen wieder Lohnverhandlungen an. Und<br />
plötzlich verkündet der neue Wirtschaftsminister Michael Glos (CSU), wer gute Arbeit leiste, müsse<br />
auch gut bezahlt werden. Führende Unions-Politiker schließen sich ihm an. Der Bundespräsident<br />
Horst Köhler (CDU) schlägt vor, die Arbeitnehmer stärker an den üppigen Gewinnen der Unternehmen<br />
zu beteiligen. Zahlreiche Kommentatoren pflichten ihm bei. Arbeit soll in Deutschland wieder<br />
teurer werden. Warum fällt es der Öffentlichkeit so schwer, dem Kurs der Lohnkürzungen dauerhaft<br />
zu folgen? Warum sehen die Leute nicht ein, dass Arbeit ein Produkt ist wie jedes andere<br />
auch? Weil das nicht stimmt! (ebd.)<br />
Die Gleichsetzung von Arbeitskraft mit jedem beliebigen anderen Produkt entspringt dem Wunsch<br />
der Wirtschaftswissenschaftler, so exakt zu arbeiten wie Naturwissenschaftler. Sie wollen eindeutige<br />
Aussagen und Prognosen liefern. Also haben sie mit Hilfe mathematischer Gleichungen eine<br />
Modellwelt von beeindruckender Klarheit geschaffen. In ihr existiert nichts außer Mengen und<br />
Preisen. Es gilt: Wenn der Preis eines bestimmten Produkts höher liegt, als es den Marktkräften<br />
entspräche, wird es zwar von vielen Leuten angeboten, aber nur von wenigen nachgefragt. Die<br />
Bäcker und Gemüsehändler bleiben dann auf ihrer Ware sitzen. Erst wenn der Preis des Produktes<br />
sinkt, nimmt die Zahl der Anbieter ab, die Zahl der Käufer steigt, der Markt gelangt wieder ins<br />
Gleichgewicht. Diese Theorie entspricht durchaus der Realität. Allerdings nur, wenn es um<br />
Artischocken oder Brötchen geht. (ebd.)<br />
Denn Gemüse hat keinen Stolz. Es will sich nicht selbst verwirklichen. Es muss auch keine Familie<br />
ernähren. Auf dem Arbeitsmarkt aber spielen solche Dinge eine wichtige Rolle. Vor allem, wenn es<br />
um die Frage geht, wie viele Leute eine Arbeit suchen. (ebd.)<br />
Noch 1970 strebten in Deutschland lediglich 48 von 100 Frauen im Alter zwischen 25 und 55 Jahren<br />
auf den Arbeitsmarkt. Heute sind es 80. Gemäß der ökonomischen Theorie kann dies nur einen<br />
Grund haben: Die Löhne sind so stark gestiegen, dass es sich nun auch für Frauen lohnt, eine<br />
Arbeit aufzunehmen. In Wahrheit stagnieren die Löhne inflationsbereinigt seit mehr als zehn<br />
Jahren. Trotzdem drängen mehr und mehr Frauen auf den Arbeitsmarkt. Den meisten geht es nicht<br />
so sehr ums Geld. Anders als früher haben sie keine Lust auf ein Leben als Hausfrau. Sie wollen,<br />
was ihre Männer auch wollen: einen Beruf. Die Folge: Das Arbeitsangebot nimmt nicht ab, sondern<br />
zu, die Konkurrenz um die offenen Stellen sinkt nicht, sondern steigt. Trotz Lohnzurückhaltung.<br />
(ebd.)<br />
Oder auch gerade deswegen. Ein Facharbeiter, der plötzlich kein Weihnachtsgeld mehr bekommt,<br />
müsste gemäß der ökonomischen Theorie weniger arbeiten, nach dem Motto: »Es lohnt sich ja<br />
nicht mehr so wie früher.« In der Realität aber hat dieser Arbeiter eine Frau und vielleicht zwei<br />
oder drei Kinder. Er wird deshalb nicht weniger, sondern sogar noch mehr arbeiten als früher, um<br />
den Verdienstausfall auszugleichen. Er wird sich zum Beispiel bei einer Wachfirma für einen<br />
Nebenjob bewerben und dort so manchen Ungelernten verdrängen, der dann auf der Straße steht.<br />
Lohnzurückhaltung kann also das Arbeitsangebot und damit die Arbeitslosigkeit noch erhöhen,<br />
statt sie zu senken. (ebd.)<br />
Ähnlich verzwickt verhält es sich mit der Arbeitsnachfrage. Einerseits möchte jedes Unternehmen<br />
seinen Mitarbeitern möglichst wenig bezahlen. Andererseits ist den meisten Unternehmern<br />
bewusst, dass sie Menschen beschäftigen und kein Gemüse.<br />
10
Aspekte der ökonomischen und sozialen Entwicklung in der Emscher-Lippe-Region<br />
Sie wissen: Während es der Artischocke egal ist, wie viel sie kostet, hat der Mensch ein Gespür für<br />
Gerechtigkeit und Fairness. Hält ein Mitarbeiter sein Gehalt für unverschämt niedrig, bringt er<br />
weniger Leistung. Er wird unproduktiv, das Unternehmen verliert Einnahmen. Also zahlt es lieber<br />
etwas höhere Löhne. Dieses Phänomen lässt sich derzeit in Ostdeutschland beobachten. Dort ist<br />
nur noch ein kleiner Teil der Industriebetriebe an einen Tarifvertrag gebunden. Trotzdem verschwindet<br />
die Arbeitslosigkeit nicht. Die Löhne steigen zwar kaum, sie sind niedriger als im<br />
Westen. Aber sie sinken nicht, sie pendeln sich nicht auf dem niedrigen Niveau ein, dass nach der<br />
ökonomischen Theorie nötig wäre, um Angebot und Nachfrage in Einklang zu bringen. (ebd.)<br />
Die meisten Industrieunternehmen lassen im Zweifel lieber weniger und dafür motivierte Leute für<br />
sich arbeiten, denen sie einen einigermaßen fairen Lohn zahlen, als möglichst viele Mitarbeiter zu<br />
möglichst niedrigen Tarifen zu beschäftigen. Auch daran liegt es, dass die Unternehmen zwar gute<br />
Gewinne schreiben, dass aber trotzdem nicht alle Leute einen Job finden. Trotz Lohnzurückhaltung.<br />
Arbeit ist eben anders als alle anderen Waren, und das simple Drehen an der Lohnschraube hilft<br />
nicht weiter, auch wenn viele hiesige Ökonomen das nicht wahrhaben wollen. (ebd.)<br />
Dazu passt eine Presseerklärung der Creditreform Bochum, in der erklärt wird, dass im Ruhrgebiet<br />
15,3 % mehr Privatpersonen als im Vorjahr Ende 2004 überschuldet waren. Es wurde ein klarer<br />
Zusammenhang zwischen Jobverlust und Überschuldung festgestellt. So sind die Bürger in Städte<br />
mit hoher Arbeitslosenqoute häufiger von Finanzproblemen betroffen. Dies ist eine Tatsache, die<br />
vor allem den Kreis Recklinghausen zum „Armenhaus“ im Revier macht: Von insgesamt 186.053<br />
privaten Überschuldungen, die Creditreform im Revier registriert hat, stammen allein 26.176 aus<br />
den zehn Kreisstädten. Ein ähnliches düsteres Bild ergibt sich in Gelsenkirchen: Der traurige<br />
Spitzenreiter bei der NRW-Arbeitslosigkeit mischt auch bei den überschuldeten Privatpersonen<br />
(14.893) ganz oben mit. Bezogen auf die Einwohnerzahl (271.767) ist damit mehr als jeder fünfte<br />
(erwachsene) Gelsenkirchener ein Fall für die Schuldnerberatung. (MZ vom 08.03.05. von Oliver<br />
Prause)<br />
Bezüglich der hohen Überschuldungsrate bei Privatpersonen ist der Experte Dieter Korczak vom<br />
Münchner Instituts für Grundlagen- und Programmforschung der Auffassung, dass viele Konsumenten<br />
auf Grund schlechter finanzieller Allgemeinbildung auf Lockangebote reinfielen. Außerdem<br />
könnten zahlreiche Kreditnehmer ihre finanzielle Leistungsfähigkeit nicht einschätzen. Den Banken<br />
wirft der Gutachter vor, die erheblichen Kosten von Restschuldversicherungen zu verschleiern, da<br />
diese in Berechnungen für den effektiven Jahreszins zumeist nicht auftauchten. Restschuldversicherungen<br />
decken etwa bei Tod, Krankheit, Unfall oder Arbeitslosigkeit ausstehende<br />
Zahlungsverpflichtungen ab. Außerdem sei die Risikoeinstufung für Bankkunden "intransparent",<br />
Kontroll- und Einspruchsmöglichkeiten fehlten ebenso wie Haftungsansprüche bei falschen<br />
Einschätzungen. Das Institut schlägt auf Grund von Experten-Befragungen ein Raster vor, mit dem<br />
die Belastung von Haushalten verglichen werden könnte: Demnach gelte eine Kreditaufnahme bis<br />
zu 15 Prozent des Haushaltseinkommens als risikoarm, die Spanne zwischen 15 und 30 Prozent als<br />
risikoreich und eine höhere Verschuldung als hochriskant. Dazu die ehemalige Verbraucherschutzministerin<br />
Renate Künast: „Mit massiver Kreditwerbung hätten sie ihren Teil dazu beigetragen,<br />
dass in Deutschland rund drei Millionen Haushalte als überschuldet gelten“.<br />
Nicht weniger praxisfern können die Massenkaufkraft-Theorien der so genannten Linken bezeichnet<br />
werden, die sich auf die Denkansätze von John Maynard Keynes stützen und vor allem von der<br />
Arbeitnehmerfraktion von RVR u. DGB NRW und dem Arbeitsnehmerflügel der CDU kultiviert werden.<br />
Hier kann die simple Wahrheit noch einfacher dargestellt werden: Von dieser Seite wird die<br />
populäre Forderung formuliert, dass der Kreis Recklinghausen und die Kommunen der Emscher-<br />
11
Aspekte der ökonomischen und sozialen Entwicklung in der Emscher-Lippe-Region<br />
Lippe-Region zusätzliche Investitionen als Ausgaben tätigen sollen, um so mehr Impulse in die<br />
Wirtschaft zu tragen, um so zusätzliche Arbeitsplätze zu schaffen.<br />
Aufgrund nicht genehmigungsfähiger Haushalte bei fast allen Kommunen ist eine „antizyklische<br />
Belebung der Regionalwirtschaft“ nicht möglich; die Massenkaufkraft kann nicht gesteigert werden.<br />
Die öffentlichen Haushalte stehen als makroökonomische Steuerungsinstrumente für lange Zeit<br />
schlichtweg nicht zur Verfügung. Der kumulative regionale Niedergang ist nur durch hohe<br />
Transferleistungen verhinderbar; dies ist jedoch wegen der makroökonomischen Krise (Bund:<br />
Nullwachstum) nicht möglich.<br />
Das berühmte Krugman-Paradoxon hat somit nach wie vor Gültigkeit: Die Produktivität steigt - die<br />
Beschäftigung sinkt - die Abhängigkeit der Region bleibt. (H. Bömer)<br />
Bei dieser Gelegenheit vielleicht noch ein Wort zu den Möglichkeiten und Grenzen der (überregionalen<br />
wie auch der regionalen) Politik und der kommunalen Wirtschaftsförderer: Die genannten<br />
Akteure können nur die gesetzlichen, strukturellen und psychologischen Rahmenbedingungen für<br />
die Funktionsweise unserer Marktwirtschaft regeln und beeinflussen.<br />
Die von Seiten der Wirtschaft an Politik und Verwaltung adressierten Schuldzuweisungen sind (zurzeit)<br />
zwar populär, jedoch kaum legitim. Wer ökonomische Kompetenz für sich in Anspruch nimmt,<br />
muss auch beweisen, dass er über diese verfügt und darf daher nicht andere für das eigene<br />
Scheitern verantwortlich machen. Für die Qualität der Funktionsweise innerhalb der Wirtschaft sind<br />
die ökonomisch Agierenden, also die Unternehmen, selbst verantwortlich! Wer sonst? In der<br />
Emscher-Lippe-Region ist in der Wirtschaft daher immer Aschermittwoch. Da herrscht in der regionalen<br />
Kommunalpolitikt durchgängig der rhetorische Ausnahmezustand. Das gehört offensichtlich<br />
zur Brauchtumspflege.<br />
Zu den theoretischen Fundamenten der entscheidenden Exportbasissektoren und -faktoren gehören<br />
Autonomie (die Sektoren hängen von der Exportnachfrage und/oder von durch Externe subventionierten/finanzierten<br />
Branchen ab), Motorik (die Branche muss in die Regionalwirtschaft über<br />
Zulieferbeziehungen und Wertschöpfungsketten integriert sein), Größe (Erfolge der Leitindustrien<br />
korreliert mit Größe der Zulieferer) und Diversifikation (bei Ende der Produktzykluskette kann kriselnden<br />
Großunternehmen von der regionalen Wirtschaftsförderung kaum geholfen werden). (H.<br />
Bömer)<br />
Erschwerend kommt bei diesem suboptimalen Gemengenlage hinzu, dass das Ruhrgebiet, (stärker<br />
noch die Emscher-Lippe-Region), der externen Kontrolle von anderen Ausführungsregionen<br />
über Konzerne, Banken und Landespolitik unterliegt. Die (unsere) Region ist überwiegend<br />
Ausführungsregion, nicht Entscheidungsregion und ist einem enormen externen Shareholder-<br />
Value-Management ausgeliefert. Diese Shareholder-Rendite-Gesichtspunkte „verdoppeln“ die<br />
externe Kontrolle, die Identifikation mit der Region fehlt bei den verantwortlichen Entscheidungsträgern<br />
nahezu gänzlich und die generierten Rationalisierungspotenziale erhöhen weiterhin die<br />
Arbeitslosigkeit (siehe Krugman-Paradoxon). (ebd.)<br />
Bedauerlicherweise hat sich in den vergangenen 20 Jahren die Einstellung der Konzerne zu ihren<br />
Heimat- und Standortregionen grundsätzlich geändert. Eine spezifische regionale oder gar lokale<br />
Anbindung und Verantwortung wird heutzutage grundsätzlich bestritten. Niemand brachte diesen<br />
Sachverhalt mit größerer Überzeugung und Härte zum Ausdruck als einer der ehemaligen<br />
Vorstandsvorsitzenden der Thyssen Krupp AG: Dr. Gerhard Cromme. Soziale Einrichtungen der<br />
Unternehmen wie Erholungsheime, Kantinen, Krankenhäuser, Wohnungsgesellschaften usw. wurden<br />
schon in den 80er Jahren in großem Stil verkauft, an die Kommunen abgetreten, geschlossen<br />
oder abgestoßen. Ebenso wurde die Zahl der Ausbildungsplätze drastisch reduziert. (ebd.)<br />
<strong>12</strong>
Aspekte der ökonomischen und sozialen Entwicklung in der Emscher-Lippe-Region<br />
Diese Ausrichtung der Konzerne auf die Konzentration auf die Kerngeschäftsfelder sowie die damit<br />
verbundene Konsequenz, zahlreiche Geschäftsfelder und Zweige zu verkaufen oder zu schließen,<br />
brachte und bringt die Standortkommunen und -regionen in immer größere wirtschaftliche<br />
Schwierigkeiten. Bei jeder Krise bzw. Umstrukturierung dieser Konzerne wird die Abhängigkeit der<br />
Städte von „ihren“ Großunternehmen immer wieder schlagartig deutlich. (ebd.)<br />
Dabei führt die Konzentration auf das Kerngeschäft bei den Konzernen teilweise schon zu oligopolistischen<br />
Preiskontrollen des Marktes. Hier lohnt sich sicherlich ein genauerer Blick auf die<br />
Geschäftsgebaren der Energie-/Strom- und Stahlkonzerne. Folgende Verhaltensweisen lassen bei<br />
einigen Konzernen zwecks Steigerung der Shareholder-Renditen beobachten:<br />
Im ersten Schritt bildet der Konzern eine Holding, um anschließend einzelne selbstständige<br />
Geschäftsbereiche zu errichten. Im zweiten Schritt erfolgt die Aufspaltung der Kernkompetenzen<br />
in einzelne Aktiengesellschaften, um einen Gründergewinn zu realisieren. Anschließend wird das<br />
„Fusionskarussel“ beschleunigt. Im dritten Schritt erfolgt dann die Aufspaltung bzw. Zerschlagung<br />
von (defizitären) Unternehmen, um „feindliche Übernahmen“ zu verhindern. Übrig bleibt ein<br />
schlanker Konzern, welcher trotz Umsatzsteigerung und überdurchschnittlicher Gewinne „mit<br />
großem Bedauern mitteilen muss, dass leider bundesweit noch einige tausend Arbeitsplätze sozialverträglich<br />
abgebaut werden müssen“! Die sklerotischen Milieus der Konzernfürsten als gut<br />
organisierte Verhinderungsallianzen praktizieren ungehindert durch die regionale Kommunalpolitik<br />
marktradikale Lösungen und verlagern ohne erkennbaren politischen Widerstand damit Ausgaben<br />
in Richtung Sozialversicherung und kommunale Sozialausgaben. (ebd.)<br />
Die politischen Parteien betreiben gleichzeitig eine Inzuchtdiskussion, wie auch die Wirtschaftswissenschaften<br />
und die Kirchen. Sie diskutieren alle Möglichkeiten innerhalb des derzeitigen ökonomischen<br />
Systems, das aber als solches falsch ist. Deswegen kommt man zu keinem positiven<br />
Ergebnis. In der Praxis sind Hiobsbotschaften vom Arbeitsmarkt Siegesmeldungen an der Börse:<br />
ein ziemlich perverses System, das von den Neoliberalen auch noch beklatscht wird. Die soziale<br />
Marktwirtschaft kannte aber den geordneten Wettbewerb. Wir haben in der Weltwirtschaft keine<br />
Ordnung mehr, sie ist vielmehr eine Welt der Anarchie. Es gibt keine Gesetze, keine Regeln, keine<br />
sozialen Übereinkünfte. (...)Man muss erkennen, dass der pure Kapitalismus genauso falsch ist wie<br />
der Kommunismus. (H. Geißler)<br />
Wo bleiben aber die Wettbewerbsregeln und sozialen und ökologischen Standards - zumindest in<br />
der EU? Lohndumping ist doch nicht die Lösung der Probleme. Große Konzerne wie E.on oder<br />
Telekom machen Milliarden Gewinne, treiben die Kapitalrendite nach oben. Und anstatt in<br />
Forschung, Innovation und neue Technologien zu investieren, werden Zehntausende Menschen entlassen<br />
und dem so verachteten Sozialstaat buchstäblich vor die Tür gekippt. Ist das in Ordnung?<br />
Genauso indiskutabel ist, dass Hedgefonds, wie etwa die Texas Pacific Company, eine kerngesunde<br />
Firma wie Grohe hoch spekulativ mit Krediten aufkaufen, mehr als tausend Mitarbeiter feuert<br />
und die Firma im Ganzen oder in Teilen mit Gewinn wiederverkaufen kann. Das ist nicht zu akzeptieren.<br />
(ebd.)<br />
Wirtschaft und Kapital sind ein Teil der Res publica und haben den Menschen zu dienen und nicht<br />
sie zu beherrschen. Warum sollen etwa Spekulanten, Fondsvertreter, die nur in Quartalsabschnitten<br />
denken und innerhalb von drei Monaten nur Rendite erzielen wollen und am<br />
Unternehmen selber überhaupt kein Interesse haben, auf der Aktionärsversammlung ein<br />
Stimmrecht haben? Es geht um das langfristige Interesse, dass der Betrieb auch in fünf Jahren<br />
noch etwas wert ist. Das hat der Spekulant nicht. Die politischen Parteien befinden sich im<br />
Schlepptau eines von den wirtschaftswissenschaftlichen Instituten angeführten Meinungskartells.<br />
13
Aspekte der ökonomischen und sozialen Entwicklung in der Emscher-Lippe-Region<br />
Wir brauchen eine neue Aufklärung. Es kann doch nicht richtig sein, dass Unternehmen aus<br />
Geldgier wie früher die Sklavenschiffe mit Mann, Frau und Kind verkauft werden. Gott sei Dank gibt<br />
es noch einen Bundesgerichtshof, der das erkennt. Es gibt keinen Fortschritt ohne den Wettbewerb<br />
der Ideen und Argumente. Wo alle dasselbe denken, wird nicht viel gedacht, und die Eskalation<br />
nach unten beginnt: konform, uniform, chloroform. (ebd.)<br />
Auf der Systemebene überfordert (damit die) ökonomische Globalisierung die auf den Nationalstaat<br />
zugeschnittenen Regulierungssysteme. Sozialstrukturell wirkt sich dieses Regulationsdefizit, die<br />
Konkurrenz der Standortstaaten, auf die Beschäftigten weltmarktorientierter Unternehmen und<br />
Branchen aus. In dem Maße, wie es transnationalen Unternehmen gelingt, sich von „nationalen“<br />
Volkswirtschaften abzukoppeln, droht eine Spaltung der Beschäftigten in eine Schicht von primär<br />
mit Problemlösungs-, -identifizierungs- und strategischen Vermittlungstätigkeiten befassten „Globalisierunggewinner“<br />
auf der einen und der Masse von im transnationalen Wettbewerb „abgehängten<br />
Routinearbeitern“ und „kundenbezogenen Dienstleistern“ auf der anderen Seite. (K. Dörre)<br />
Dass aus ökonomischer Modernisierung (zusätzlich) erwachsende Spannungen (vielleicht) in eine<br />
Ethnisierung des Sozialen umschlagen können, hat einen zusätzlichen Grund: Ebenfalls als Folge<br />
ökonomischer Globalisierung entstehen neue Wanderungsbewegungen, deren Spitze nun die industriellen<br />
Zentren erreicht. Bleibt die bewusste Transformation der betroffenen Staaten in<br />
Einwanderungsgesellschaften mit entsprechenden Regularien aus, wächst die Gefahr einer<br />
Ethnisierung sozialer Konflikte. Formell integrierte soziale Gruppen übersetzen eigenen<br />
Leidensdruck dann in Ab- und Ausgrenzung von Fremdem; kulturelle und ethnische Differenzen<br />
werden zu absoluten Unterschieden überhöht und für Ressourcenkämpfe instrumentalisiert. (ebd.)<br />
In Arbeitsplätze umgerechnet bedeutet das: Von heute 39.000 Bergleuten der Deutschen<br />
Steinkohle AG (DSK) müssen in diesem Jahr noch mehr als 2 000 das Unternehmen verlassen. Und<br />
20<strong>12</strong> wird die DSK nur noch 26.000 Bergleute beschäftigen können. Also ein Verlust von 13.000<br />
Arbeitsplätzen in 7 Jahren. Wer immer noch nicht den Ernst der Lage und die Fremdbestimmtheit<br />
des Ruhrgebiets verstanden hat, sollte sich folgenden Artikel von Wolfgang Reuter verinnerlichen,<br />
welcher sich am 07.03.2005 im Spiegel mit dem Thema „Industriepolitik“ beschäftigt hat. In<br />
Auszügen wiedergegeben wird berichtet:<br />
Das geplante Geschäft läuft auf eine komplette Neuordnung der deutschen Kohlepolitik hinaus,<br />
die in den Schlagzeilen bislang vor allem dann auftaucht, wenn es um leidige<br />
Subventionierungen und noch qualvolleren Arbeitsplatzabbau geht. Die Kernpunkte des kühnen<br />
Plans, an dem Müller seit einem Jahr tüftelt: Der RAG-Chef will die Aktienpakete seines<br />
Konzerns von den derzeitigen Anteilseignern für je einen symbolischen Euro zurückkaufen und<br />
das Unternehmen im Mai 2006 an die Börse bringen.<br />
Der Erlös - gerechnet wird mit fünf bis sechs Milliarden Euro - soll komplett dem Bund übertragen<br />
werden. Im Gegenzug aber müsste die öffentliche Hand die Pensionsansprüche und<br />
Haftungsverpflichtungen aus dem Steinkohlebergbau übernehmen. Es geht um insgesamt sieben<br />
Milliarden, die nach und nach über viele Jahrzehnte fällig werden und heute einem<br />
Barwert von vier Milliarden Euro entsprechen.<br />
Kohle zu Cash? Das Geheimprojekt unter dem Codenamen „Alpha“ scheint für eine Menge<br />
Gewinner zu sorgen: Eichel bekäme auf einen Schlag viel Geld in die Kasse – wenn auch<br />
schwer abwägbare künftige Risiken. Die Großaktionäre hätten das missliebige Kohlegeschäft<br />
endlich aus den eigenen Bilanzen gekehrt. Und die RAG wäre von der Last der Vergangenheit<br />
befreit. Der Deal würde der Börse in Frankfurt zudem einen neuen Koloss im Deutschen<br />
Aktienindex Dax bescheren.<br />
14
Aspekte der ökonomischen und sozialen Entwicklung in der Emscher-Lippe-Region<br />
Und die bisherigen Anteilseigner der RAG, allen voran ThyssenKrupp, E.on und RWE, bekämen<br />
die Chance, endlich einen Schlussstrich unter ihre teils über 100-jährige Bergbaugeschichte<br />
zu ziehen. Die Abtretung aller Lasten aus der Vergangenheit käme für die gesamte<br />
Industrie im Ruhrgebiet einem Befreiungsschlag gleich und würde ihr womöglich helfen,<br />
endlich unbeschwert in die Zukunft durchstarten zu können. Vor allem für die betrieblichen<br />
Pensionsansprüche der Kohlekumpel müssen die Konzerne aufkommen. Zudem haften sie für<br />
alle eventuellen Schäden aus dem Bergbau.<br />
Dazu gehören die enormen Kosten der Stilllegung von Zechen, aber auch die Entschädigungen<br />
von Eigentümern, deren Häuser durch Absenkungen des Bodens unter den Schächten Risse<br />
bekommen.<br />
Für Altlasten, die vor 1968 im Bergbau entstanden waren, haften die damaligen Besitzer der<br />
Zechen selbst – heute also, nach vielen Fusionen und Übernahmen, vor allem die Ruhrpott-<br />
Riesen RWE, ThyssenKrupp und E.on. Die Risiken aus Kohleaktivitäten nach 1968 aber trägt<br />
die Ruhrkohle AG. Seit 1997 heißt sie RAG, die wiederum zu über 90 Prozent eben jenen drei<br />
Unternehmen gehört.<br />
Mit dem deutschen Bergbau freilich ging es auch nach der Gründung der Ruhrkohle AG weiter<br />
bergab. Zeche für Zeche wurde die immer stärker staatlich subventionierte Förderung heruntergefahren,<br />
von über 110 Millionen Tonnen im Jahr 1968 auf 26 Millionen Tonnen heute.<br />
Die Zahl der Beschäftigten sank von damals 270.000 auf inzwischen 41.000. Über die Jahre<br />
wuchsen die Probleme, vor allem die Pensionsverpflichtungen. Allein 550 Millionen Euro muss<br />
die RAG jedes Jahr für insgesamt 370.000 Bergbaupensionäre zahlen. Nicht nur der sogenannte<br />
schwarze Bereich des Unternehmens, also die Deutsche Steinkohle AG (DSK), sondern<br />
auch der Zug um Zug dazu gekaufte „weiße Bereich“ sei „in seiner Substanz gefährdet“, erläuterte<br />
der Industrieboss. Zum weißen Bereich gehören der Spezialchemieproduzent Degussa,<br />
der Energiekonzern Steag, die RAG Immobilien, immerhin Nummer vier am deutschen Markt,<br />
sowie der Spezialanlagenbauer RAG Coal International. Insgesamt beschäftigt der Konzern bei<br />
einem Umsatz von rund 20 Milliarden Euro über 100.000 Mitarbeiter. Dennoch ist das<br />
Unternehmen gelähmt. Denn die Banken kennen die Risiken, die auf dem Konzern lasten.<br />
Deshalb verlangen sie bei Krediten bis zu ein Prozent mehr Zinsen – ein enormer<br />
Wettbewerbsnachteil. Der Kapitalmarkt ist der RAG komplett versperrt. Sollte die<br />
Bundesregierung die milliardenschweren Kohlesubventionen einstellen, wäre das de facto das<br />
sofortige Ende des deutschen Kohlebergbaus. Die RAG müsste Beteiligungen verkaufen, um<br />
die Verpflichtungen – dann ohne Subventionen und Einnahmen aus der Kohlesparte – bezahlen<br />
zu können. Bei solchen Notgeschäften wären längst nicht so gute Preise zu erzielen wie<br />
bei dem von Müller angepeilten Börsengang. Der finanzielle Druck würde unweigerlich auch<br />
Jobs vernichten, was die öffentliche Hand weiter belastete. Und wäre das Vermögen durch<br />
Forderungen aus den Altlasten erst einmal aufgezehrt, müsste ohnehin das Land Nordrhein-<br />
Westfalen in die Bresche springen.<br />
Laut dem Dossier würden die Anteilseigner ihre RAG-Aktienpakete an ein als Treuhänder fungierendes<br />
Bankenkonsortium übertragen. Alle Risiken aus dem Engagement wären sie damit<br />
auf einen Schlag los. Die heutige RAG würde zudem umgebaut, wobei eine neue Gesellschaft<br />
mit fünf Töchtern entstünde: Steag, Degussa, RAG Immobilien, RAG Coal International und<br />
Deutsche Steinkohle AG. Letztere wäre dann ein reines Bergbauunternehmen, das weiterhin<br />
staatliche Subventionen erhielte und entsprechend staatlicher Vorgaben Kohle fördert. Die<br />
neue Muttergesellschaft – einen Namen gibt es noch nicht – bräuchte die DSK jedoch nicht<br />
mehr wie bisher mit jährlich 150 Millionen Euro zu alimentieren. Dafür würde sie mit bis zu<br />
100 Millionen Euro im Jahr für die verlustfreie Geschäftsführung der DSK haften.<br />
So könnte sichergestellt werden, dass die DSK als Subventionsempfänger ordentlich wirtschaftet<br />
und dem Steuerzahler so wenig wie möglich auf der Tasche liegt. Der Bund übernäh-<br />
15
Aspekte der ökonomischen und sozialen Entwicklung in der Emscher-Lippe-Region<br />
me also nicht nur die Altlasten, sondern auch jene 150 Millionen Verlustausgleich, die bisher<br />
die RAG bezahlt hat. Dafür aber, so haben Investmentbanker errechnet, würde die neue<br />
Muttergesellschaft an der Börse rund eine Milliarde mehr erlösen, die dann dem Bund zufließt.<br />
Da mutet der Versuch ja schon fast rührend an, mittels Produktionscluster-Ansatz die Forderungen<br />
der Netzwerktheorie nach neuen Verflechtungsbeziehungen aufleben zu lassen, um die als wichtig<br />
identifizierte Regionalakteure zu strategischen Kooperationen zu vernetzen. Dass, was die großen<br />
Konzerne insgesamt an Arbeitsplätzen abgebaut haben, ist durch keine einzige Vernetzungsinitiative<br />
zu kompensieren. Das viel gepriesene Benchmarking - welches die Emscher-Lippe-Region<br />
zwecks Entschärfung der Abkoppelungstendenzen in der Region im internationalen Wettbewerb<br />
betreibt - kann somit bestenfalls nur die Wirkung eines Karaoke-Marketing erreichen. Mehr sitzt<br />
nicht drin!<br />
Dass die Emscher-Lippe-Region auch noch im Bereich der Bildungsanstrengungen als Problemregion<br />
gilt, ist der ernüchternden Pressemitteilung vom Institut Arbeit und Technik (IAT/<br />
Gelsenkirchen) vom 29.03.2004 zu entnehmen:<br />
Das Bildungsniveau im Ruhrgebiet ist nicht niedriger als in anderen Regionen Nordrhein-<br />
Westfalens, liegt mit Blick auf die Schulabschlüsse sogar über dem Bundesdurchschnitt.<br />
Probleme gibt es aber innerhalb der Region: neben den "Bildungshochburgen" im Süden lassen<br />
die Analysen besondere Defizite im nördlichen Ruhrgebiet erkennen. Zwar hat sich die<br />
Situation seit den frühen 80er Jahren bereits deutlich verbessert, doch verzeichnen Teile der<br />
Emscher-Lippe-Region einen stagnativen und unter-durchschnittlichen Trend bei den<br />
Bildungsabschlüssen für die 90er Jahre. Die Schüler beschließen ihre allgemein bildende<br />
Schulkarriere häufiger ohne bzw. nur mit dem Hauptschulabschluss und zu selten mit dem<br />
Abitur. Das zeigen Untersuchungen, die das Institut Arbeit und Technik (IAT/ Gelsenkirchen)<br />
im Auftrag der Projekt Ruhr GmbH durchgeführt hat. Die Ergebnisse wurden im neuen IAT-<br />
Report (2004-02) veröffentlicht.<br />
"Besonders in den ohnehin vom Strukturwandel stark benachteiligten Regionen ist es fatal,<br />
wenn Jugendliche ohne bzw. mit eher niedrigschwelligen Abschlüssen die Schule verlassen",<br />
so die IAT-Wissenschaftler Karin Esch und Dirk Langer. Der Übergang von der Schule in die<br />
berufliche Bildung wird dadurch hochgradig gefährdet oder führt bereits an der ersten<br />
Schwelle des Arbeitsmarktes unmittelbar in die Arbeitslosigkeit. Auffällig ist der besonders<br />
hohe Anteil von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund in der Region. Im statistischen<br />
Mittel einiger Städte betragen die Anteile von Kindern nichtdeutscher Herkunft mehr<br />
als 30 %, was an einigen Schulen zu Migrantenanteilen von 50 % und mehr führt. Diese<br />
Nationalitäten- und Kulturvielfalt trägt dazu bei, dass elementare Lernvoraussetzungen, wie<br />
z.B. Sprache oder Konzentrationsfähigkeit, für den Schulunterricht nur noch eingeschränkt<br />
mitgebracht werden. "Um besonders hier das überdurchschnittliche Scheitern in der<br />
Schulausbildung zu begrenzen, ist es unausweichlich, die Sprachförderung als eine<br />
Schlüsselaufgabe für die nächste Zukunft zu begreifen", raten die IAT-Experten. Dabei versprechen<br />
die Investitionen in die Sprachförderung einen besonders nachhaltigen Erfolg, wenn<br />
Migrantenkinder möglichst frühzeitig - noch im Elementarbereich - die deutsche Sprache<br />
erlernen, um damit bessere Ausgangsbedingungen für das Schulsystem mitzubringen.<br />
Das Migrantenproblem ist allerdings nur ein Aspekt der nicht ausreichenden<br />
Bildungsbeteiligung im Schulsystem. Insgesamt - so lassen insbesondere die Gelsenkirchener<br />
Zahlen vermuten - bieten Stadtteile mit hoher Arbeitslosigkeit, unterschiedlichen kulturellen<br />
Milieus, sozialem Konfliktpotenzial oder bildungsfernen Elternhäusern extrem ungünstige<br />
Lernbedingungen für Jugendliche. Gerade in der vom Strukturwandel derzeit besonders<br />
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Aspekte der ökonomischen und sozialen Entwicklung in der Emscher-Lippe-Region<br />
betroffenen nördlichen Ruhrgebietsregion muss die Bildung wieder einen deutlich stärkeren<br />
Stellenwert im Bewusstsein der Menschen erhalten und es sind gezielte "Bildungsanstrengungen"<br />
über die Stadtgrenzen hinweg notwendig, damit der zur Zeit ausgeprägt<br />
negative Zusammenhang zwischen sozialer Benachteiligung und Bildungserfolg aufgebrochen<br />
wird. Insofern ist es gerade hier notwendig, Familien und Schulen stärker zu unterstützen,<br />
damit ein erfolgreicher Übergang der Schülerinnen und Schüler von der Schule in die beruflichen<br />
Bildungsgänge gelingen kann.<br />
Eigentlich kann es sich eine Gesellschaft auf Dauer nicht leisten, so viel an „Humankapital“ zu verschwenden.<br />
Da taucht bei den von Arbeitslosigkeit betroffenen Resignation auf und es wird etwas<br />
ausgehöhlt, was für unsere Leistungsgesellschaft zentral ist: die Vorstellung, durch persönliche<br />
Leistung etwas erreichen zu können. Wenn man sich immer mehr anstrengt und man trotzdem keinen<br />
Arbeitsplatz findet bzw. keinen beruflichen Erfolg hat, dann wird das Leistungsprinzip untergraben.<br />
Diese Vorstellung wird allerdings auch von der anderen Seite her ausgehöhlt: Wenn man<br />
sieht, dass jemand Abfindungen in Millionenhöhe dafür kassiert, dass er einen Konzern fertig zur<br />
Übernahme macht, dann kann man sich schon fragen, was das noch mit „Leistung“ zu tun hat!<br />
Es besteht somit die Gefahr einer aufrecht gehaltenen Abwärtsspirale. Wenn immer Menschen aus<br />
dem normalen Erwerbsprozess herausgedrängt werden, geraten wir in eine wirtschaftliche Stagnation,<br />
weil wir einen Kaufkraftverlust haben, der durch staatliche Programme nicht aufgefangen<br />
werden kann.<br />
Quellenangabe / Literaturverzeichnis:<br />
Beise, Marc - Süddeutsche Zeitung vom 04.03.05<br />
Bömer, Herrmann - Ruhrgebietspolitik in der Krise<br />
Creditreform Bochum<br />
Dangschat, Jens S. - Die Krise der Städte<br />
Dörre, Klaus - Was treibt die Gesellschaft auseinander?<br />
Geißler, Heiner - DIE ZEIT vom 29.<strong>12</strong>.05<br />
Häußermann, Hartmut - Die Krise der Städte<br />
Heitmeyer, Wilhelm - Die Krise der Städte<br />
Hoff, Hans - SZ-Online vom 20.03.05<br />
IAT - Institut Arbeit und Technik<br />
Korczak, Dieter - Münchner Institut für Grundlagen- und Programmforschung<br />
Prause, Oliver - Marler Zeitung vom 08.03.05<br />
Reuter, Wolfgang - Spiegel vom 07.03.05<br />
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Aspekte der ökonomischen und sozialen Entwicklung in der Emscher-Lippe-Region<br />
Schmidt, Joachim - Marler Zeitung vom 02.03.05<br />
Uchatius, Wolfgang - DIE ZEIT vom 05.01.06<br />
Josef Somogyi, Jahrgang 1962, geboren und aufgewachsen in Marl. Er verfügt<br />
über einen ungarischen Migrationshintergrund und besitzt eine berufliche Mehrfachqualifikation<br />
als Informationselektroniker, Kaufmann und als Kommunikationswirt.<br />
Während seiner beruflichen Karriere war er in der freien Wirtschaft in<br />
verschiedenen leitenden Funktionen tätig.<br />
Zurzeit ist er Geschäftsführer beim Förderverein Ausbildungs- und Fortbildungsverbund<br />
Emscher-Lippe e.V. Dort betreut und berät er Unternehmen im Bereich<br />
der Strategischen Personalplanung und initiiert zusätzliche Ausbildungsplätze. Die<br />
Identifizierung und Überwindung von ökonomischen und außerökonomischen Ausbildungshemmnissen<br />
gehört zu seinen besonderen Schwerpunkten.<br />
Email: j.somogyi@ausbildungsverbund1.de<br />
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