Das Kurzwort zwischen 'Langue' - Universität Koblenz · Landau
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Hilke Elsen / Sascha Michel (Hrsg.)<br />
WORTBILDUNG IM DEUTSCHEN<br />
ZWISCHEN SPRACHSYSTEM UND SPRACHGEBRAUCH<br />
Perspektiven – Analysen – Anwendungen<br />
ibidem-Verlag<br />
Stuttgart
Inhaltsverzeichnis<br />
Vorwort ............................................................................................................... v<br />
HILKE ELSEN / SASCHA MICHEL<br />
Wortbildung im Spannungsfeld <strong>zwischen</strong> Sprachsystem und<br />
Sprachgebrauch. Zur Einführung in diesen Band ............................................... 1<br />
I. THEORETISCHE GRUNDLAGEN: PERSPEKTIVEN DER WORTBILDUNG<br />
HANS WELLMANN / JANA VALDROVÁ<br />
Wortbildung im Perspektivwechsel .................................................................. 17<br />
WOLFGANG MOTSCH<br />
Grammatische und sprachpsychologische Aspekte der Wortbildung .............. 43<br />
II. PRAKTISCHE ANALYSEN VON WORTBILDUNGSARTEN<br />
UND -PRODUKTEN<br />
PETER O. MÜLLER / CORNELIA FRIEDRICH<br />
Kontamination ................................................................................................... 73<br />
HANS JÜRGEN HERINGER<br />
Neue Bildungen, der Gemeinschaft vorgeschlagen ........................................ 109<br />
SASCHA MICHEL<br />
<strong>Das</strong> <strong>Kurzwort</strong> <strong>zwischen</strong> ‚Langue’ und ‚Parole’ – Analysen zum<br />
Postulat der Synonymie <strong>zwischen</strong> <strong>Kurzwort</strong> und Vollform ........................... 135<br />
LUDWIG M. EICHINGER<br />
Wortbildungssprachenadäquate Informationsverdichtungsstrategien<br />
Wortbildung und Syntax in der Nominalphrase ............................................. 165
LAURA E. LETTNER / KATHARINA KORECKY-KRÖLL /<br />
WOLFGANG U. DRESSLER<br />
Charakteristika von deutschen Nominalkomposita in der<br />
protomorphologischen Phase des Erstspracherwerbs ..................................... 191<br />
III. ANWENDUNGSFELDER DER WORTBILDUNG<br />
HILKE ELSEN<br />
<strong>Das</strong> besondere Funktionsspektrum der Wort(neu)bildung in der<br />
phantastischen Kinderliteratur ......................................................................... 211<br />
ALBRECHT GREULE / SANDRA REIMANN<br />
Von Doppel- und Normaltuben und dem Anti-Enzym BX<br />
Wortbildung in der Hörfunkwerbung .............................................................. 225<br />
JOHANNES ERBEN<br />
Nachwort und Ausblick ................................................................................... 265<br />
Sachregister ..................................................................................................... 271<br />
Autorenverzeichnis .......................................................................................... 275
SASCHA MICHEL<br />
<strong>Das</strong> <strong>Kurzwort</strong> <strong>zwischen</strong> ‚Langue’ und ‚Parole’ – Analysen zum<br />
Postulat der Synonymie <strong>zwischen</strong> <strong>Kurzwort</strong> und Vollform<br />
Abstract<br />
Zwischen Kurzwörtern und ihren Vollformen wird vielfach ein Synonymieverhältnis angenommen,<br />
das lediglich für die Ebene des Sprachsystems gültig ist. Im Sprachgebrauch zeichnet<br />
sich ein höchst komplexes Beziehungsgeflecht ab, das <strong>zwischen</strong> unterschiedlichen <strong>Kurzwort</strong>klassen<br />
und kommunikativen Parametern differenziert. Die oftmals postulierte totale Synonymie<br />
ist demnach für die Parole nicht zutreffend, stattdessen liegt ein Kontinuumsverhältnis<br />
<strong>zwischen</strong> totaler Synonymie einerseits und Homoionymie (partielle Synonymie) andererseits<br />
vor. Der Beitrag wird anhand einer Sprecherbefragung dieses komplexe Zusammenspiel<br />
<strong>zwischen</strong> <strong>Kurzwort</strong>typ, Semantik und Sprachgebrauch untersuchen.<br />
1. Einleitung<br />
Der Semantik von Kurzwörtern wurde forschungsgeschichtlich vergleichsweise<br />
wenig Aufmerksamkeit gewidmet. Dies ist auf die tradierte Annahme zurückzuführen,<br />
dass es auf semantischer Ebene wenig Auffälligkeiten bei Kurzwörtern<br />
gebe, da diese die gleiche Bedeutung wie ihre zugrunde liegenden Vollformen<br />
aufwiesen. GEZ beispielsweise stehe eindeutig für Gebühreneinzugszentrale und<br />
könne in allen Kontexten durch diese Vollform 1 ersetzt werden. Bis heute hält<br />
sich in der <strong>Kurzwort</strong>forschung hartnäckig die Auffassung, dass ein unproblematisches<br />
Synonymieverhältnis <strong>zwischen</strong> <strong>Kurzwort</strong> und Vollform bestünde, beide<br />
Formen demnach in allen Kontexten gegeneinander austauschbar seien.<br />
Ein solches Verhältnis der Bedeutungsgleichheit kann jedoch plausibel nur<br />
für die Ebene des Sprachsystems, der Langue 2 , postuliert werden. Im Lexikon<br />
wird jedes <strong>Kurzwort</strong> demnach mit seiner (oder seinen) Vollform(en) wiedergegeben<br />
(vgl. Duden. <strong>Das</strong> Wörterbuch der Abkürzungen 2005). Im Sprachge-<br />
1 Als Vollform wird im Folgenden die eines Kürzungsvorgangs und somit <strong>Kurzwort</strong>es zugrunde<br />
liegende Ausgangsform verstanden. Vgl. zu einer Diskussion alternativer Terminologien<br />
wie z. B. Basislexem etc. Kobler-Trill (1994: 15 ff.).<br />
2 Die Begriffe Langue und Parole werden hier im Sinne de Saussures (1967) verstanden.<br />
Zu einer Erweiterung dieser Dichotomie vgl. die Einleitung zu diesem Band.
136 Sascha Michel<br />
brauch, der Parole 3 , jedoch unterliegen Kurzwörter gewissen Bedeutungsveränderungen.<br />
Bei zunehmender Verselbstständigung lösen sich manche Kurzwörter<br />
semantisch allmählich von ihren Vollformen und es kann zu metonymischen Bedeutungs-<br />
oder Referenzverschiebungen kommen: Bafög beispielsweise bezeichnet<br />
heute meist nicht mehr das Gesetz (Bundesausbildungsförderungsgesetz),<br />
sondern die Geldsumme. Pleonastische Belege wie HIV-Virus (Human Immunedeficiency<br />
Virus) oder ABM-Maßnahme (Arbeitsbeschaffungsmaßnahme)<br />
verdeutlichen wiederum, dass die Vollform soweit in den Hintergrund gerückt<br />
ist, dass der Sprachbenutzer den einzelnen Buchstaben keine, oder nur teilweise,<br />
Wörter der Vollform zuordnen kann. 4 Gerade längere, fremdsprachliche und ältere<br />
Belege lassen sich vielfach nur schwerlich von den meisten Sprachteilhabern<br />
in ihre Vollformen auflösen. Oftmals werden lediglich sehr allgemeine Kategorisierungen<br />
vorgenommen: ARD > Fernsehsender (vgl. Kobler-Trill 1994:<br />
14).<br />
Da diese Bedeutungsverschiebungen und -generalisierungen normale, allen<br />
Wörtern zugrundeliegende semantische Veränderungen bzw. Vorgänge sind<br />
(und keine Spezifik von Kurzwörtern darstellen), tragen sie wenig zur<br />
Explizierung des Synonymieverhältnisses <strong>zwischen</strong> <strong>Kurzwort</strong> und Vollform im<br />
Sprachgebrauch bei. Um zu überprüfen, ob Synonymie im Sinne von Bedeutungsgleichheit<br />
in allen Kontexten (vgl. Bußmann 2008: 708) bei mutueller Substituierbarkeit<br />
von <strong>Kurzwort</strong> und Vollform tatsächlich geben ist, muss der Einfluss<br />
kontextueller Faktoren auf den <strong>Kurzwort</strong>gebrauch untersucht werden.<br />
Schriftliche Korpora bieten sich hierzu nur eingeschränkt an, da die mediale Varietät<br />
5 , die einen nicht unerheblichen Einfluss ausüben dürfte, konstant ist.<br />
Sprechsprachliche Korpora liegen dagegen für die vorliegende Fragestellung nur<br />
in einem sehr geringen Umfang vor. Zudem sind die jeweiligen Kontexte zu unterschiedlich,<br />
um einen direkten Vergleich zu ermöglichen. Demnach bietet es<br />
3<br />
Zur Wortbildung in der Parole vgl. Elsen/Michel (2007 und 2009).<br />
4<br />
Diese Kurzwörter sind weitgehend demotiviert. Es liegt der Schluss nahe, dass es unterschiedliche<br />
Grade der Motiviertheit/Demotiviertheit und Transparenz gibt und Kurzwörter –<br />
insbesondere die multisegmentalen – keineswegs durchweg demotiviert und intransparent<br />
sind (vgl. jedoch Ronneberger-Sibold 1992: 6).<br />
5<br />
Die Standardsprache besteht aus zwei Varietäten: Die geschriebene und die gesprochene.<br />
Graphie und Phonie bilden dabei zwei mediale Varietäten.
<strong>Das</strong> <strong>Kurzwort</strong> <strong>zwischen</strong> ‚Langue’ und ‚Parole’ 137<br />
sich an, an der Sprachkompetenz der Sprecher-Hörer 6 anzusetzen und bei der<br />
gezielten Veränderung einzelner Kontextvariablen bzw. „Kommunikationsbedingungen“<br />
(vgl. Koch/Oesterreicher 1985: 19) (schriftlich vs. mündlich, formell<br />
vs. informell und vertraut vs. unvertraut 7 ) die Substituierbarkeit von Vollformen<br />
durch Kurzwörter evaluieren zu lassen. Dies ermöglicht eine nach<br />
<strong>Kurzwort</strong>typen differenzierte Überprüfung des Postulats der Bedeutungsgleichheit<br />
<strong>zwischen</strong> Vollform und <strong>Kurzwort</strong>.<br />
Der Beitrag gliedert sich wie folgt: Zunächst werden die hier zugrunde liegende<br />
Definition und Typologie vorgestellt, bevor anschließend eine Zusammenstellung<br />
der Betrachtungen zur Semantik von Kurzwörtern in der Forschungsliteratur<br />
folgt. Der dritte Teil umfasst die Fragebogenerhebung zum Einfluss<br />
des Kontextes auf die Ersetzbarkeit von Vollformen durch Kurzwörter.<br />
Abschließend führt eine Auswertung der Ergebnisse zu einer Reflexion des<br />
Synonymieverhältnisses im Sprachgebrauch.<br />
2. <strong>Kurzwort</strong>: Definition und Typologie<br />
Gängige <strong>Kurzwort</strong>definitionen und -typologien beziehen sich auf das Sprachsystem.<br />
Sie berücksichtigen primär sprachstrukturelle Eigenschaften, um Kurzwörter<br />
als ein Phänomen der Langue zu charakterisieren (vgl. z. B. Bellmann 1980,<br />
Kobler-Trill 1994, Greule 1996, Steinhauer 2000 und Ronneberger-Sibold<br />
1992).<br />
Aus dem Blickfeld gerückt ist dadurch, dass Kurzwörter – wie alle sprachlichen<br />
Einheiten – im Sprachgebrauch nicht isoliert auftreten, sondern in einen<br />
Ko- bzw. Kontext eingebunden sind. Da dieser einen nicht zu unterschätzenden<br />
Einfluss auf strukturelle Ausprägungen – insbesondere von Kurzwörtern, die als<br />
Dublette erst langsam ein sprachliches „Eigenleben“ beginnen – hat, müssen<br />
Definitionen und Typologien dieser Dynamik des Wortschatzes gerecht werden.<br />
Dies heißt in erster Linie, dass sowohl inter- als auch intrakategorial von Konti-<br />
6 Selbstverständlich umfasst dies auch Sprecherinnen und Hörerinnen sowie Leser/-innen und<br />
Schreiber/-innen.<br />
7 Bei Koch/Oesterreicher (1985: 23) handelt es sich in erster Linie um die Distinktion graphisch/phonisch<br />
des Mediums und die kommunikativen Bedingungen „Öffentlichkeit/keine<br />
Öffentlichkeit“ und „Vertraut/Fremdheit der Partner“ der Konzeption.
138 Sascha Michel<br />
nua der Prototypizität mit fließenden Übergängen auszugehen ist. Eine vom Produkt<br />
ausgehende Kategorisierung als unisegmentales (z. B. Uni < Universität),<br />
multisegmentales (z. B. LKW < Lastkraftwagen) oder partielles (z. B. U-Bahn <<br />
Untergrundbahn) <strong>Kurzwort</strong> 8 erweist sich umso schwieriger, je weiter man vom<br />
Zentrum zur Peripherie gelangt. Ein ursprünglich multisegmental gekürztes Gema<br />
(< Gesellschaft zur Verwertung musikalischer Aufführungsrechte) lässt sich<br />
als Kompositum (z. B. Gemarechte) dann kaum noch von dem unisegmentalen<br />
<strong>Kurzwort</strong> Bus (< Omnibus) (z. B. Bushaltestelle) oder dem partiellen <strong>Kurzwort</strong><br />
Schukostecker (< Schutzkontaktstecker) unterscheiden 9 . Alle Belege weisen ähnliche<br />
Eigenschaften (Schreibung mit Majuskel am Wortanfang und Aussprache<br />
mit dem Lautwert der Buchstaben) auf, die mit einigen Eigenschaften „normaler“<br />
Wörter (Vollwörter) korrelieren.<br />
Um sowohl den Kürzungsprozess als auch die erwähnte ko- und kontextuelle<br />
Determiniertheit der Kurzwörter – und somit die Dynamik des Sprachgebrauchs<br />
– zu berücksichtigen, wurde bereits eine Erweiterung bestehender Klassifikationen<br />
durch eine prototypenorientierte Anordnung vorgeschlagen (vgl. Michel<br />
2006b und 2009). Diese Prototypologie ermöglicht nun Rückschlüsse auf die sozio-pragmatischen<br />
und kognitiven Funktionen u. a. von (typo-)graphischen, phonetisch-phonologischen<br />
(und morphologischen) Realisierungen 10 . <strong>Das</strong> heißt,<br />
dass charakteristische Eigenschaften des Prototyps etwa als eine Art des Sprachhandelns<br />
in dem Sinne betrachtet werden, dass die (ortho-)graphische und phonetisch-phonologische<br />
Realisierung eine sprecher- und/oder hörerseitige kom-<br />
8 Vgl. zu diesem Kategorisierungsvorschlag Bellmann (1980) und Kobler-Trill (1994).<br />
9 Demnach erscheint es wenig sinnvoll, die Kürzungsprodukte nach der Qualität der Segmente<br />
zu klassifizieren, also Buchstabenkurzwörter, Silbenkurzwörter, Morphemkurzwörter etc.<br />
(vgl. Greule 1996 und Steinhauer 2000), da auch Morpheme notwendigerweise aus Buchstaben<br />
und Silben bestehen.<br />
10 Morphologische Realisierungen sind in der Regel nur beim Kürzungsprozess relevant, weniger<br />
bei der Charakterisierung der Produkte, da Morphemkurzwörter selten belegt sind.<br />
Es soll von der These ausgegangen werden, dass die Groß- bzw. Kleinschreibung der <strong>Kurzwort</strong>segmente<br />
in der Graphie bzw. die Aussprache mit dem Lautwert bzw. Buchstabennamen<br />
der Buchstaben in der Phonie Rückschlüsse auf die Motiviertheit und Transparenz der einzelnen<br />
Segmente zulässt. Dabei wäre zu überprüfen, ob ein <strong>Kurzwort</strong> mit Großbuchstaben und<br />
Aussprache mit dem Buchstabennamen motivierter ist, da die Segmente eindeutig als Repräsentanten<br />
der Morpheme der Vollform ausgewiesen sind.
<strong>Das</strong> <strong>Kurzwort</strong> <strong>zwischen</strong> ‚Langue’ und ‚Parole’ 139<br />
munikative Funktion erfüllt. 11 Deshalb geht es hier um eine sozio-pragmatische<br />
Analyse der (Ortho-)Graphie und Phonetik/Phonologie.<br />
Für die Definition des <strong>Kurzwort</strong>es hat diese Annahme weitreichende Folgen.<br />
Wie in Michel (2006b: 79) dargelegt, soll unter einem <strong>Kurzwort</strong> folgendes verstanden<br />
werden:<br />
Ein <strong>Kurzwort</strong> repräsentiert den graphisch und phonisch realisierten Output eines<br />
durch einen bestimmten Prozess gekürzten wortförmigen 12 Input 13 . Die (ortho-)<br />
graphischen, phonetisch-phonologischen (und somit morphologischen), semantischen<br />
und syntaktischen Realisierungen der einzelnen Segmente (auf Mikroebene,<br />
d. h. Buchstabe und Makroebene, d. h. Wort) sind kontext- bzw. situationsabhängig<br />
und erfüllen bestimmte sender- und/oder empfängerorientierte<br />
Funktionen, die sich empirisch im Vergleich zu anderen Belegen oder Korpora<br />
bestimmen lassen. Intra- bzw. interkategorial besetzt der jeweilige Output eine<br />
Position auf dem Kontinuum <strong>zwischen</strong> prototypischem und unprototypischem<br />
<strong>Kurzwort</strong>, die zugleich Rückschlüsse auf seine kognitive Funktion ermöglicht.<br />
Für diesen Beitrag besonders relevant ist die Annahme, dass auch die semantische<br />
Realisierung von Kurzwörtern kontext- und situationsabhängig ist, weshalb<br />
zunächst einige generelle Aussagen zur Semantik von Wörtern notwendig<br />
sind.<br />
3. Zur Semantik von Wörtern<br />
Die Geschichte der unterschiedlichen Wortbedeutungstheorien ist komplex und<br />
soll an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden (vgl. Löbner 2003: 188 ff.).<br />
Es besteht heute weitgehend Konsens darüber, dass sich die Semantik von Wör-<br />
11 Damit sind keine stilistische Variationen gemeint, die sich z. B. aus Kommunikationsbedingungen<br />
ergeben, wie etwa die Kleinschreibung in der E-Mail- und Chatkommunikation.<br />
Diese werden in der Regel nicht funktional eingesetzt.<br />
12 Hierzu gehören Komposita sowie Wortgruppen, die als Einheit auf aussersprachliche Gegenstände<br />
referieren.<br />
13 Kurzwörter unterscheiden sich dadurch eindeutig von Abkürzungen wie etwa d. h. (< das<br />
heißt), Dr. (< Doktor) oder usw. (und so weiter), die graphisch gekürzt, phonetisch-phonologisch<br />
aber in ihrer Vollform erscheinen. <strong>Das</strong>s es jedoch auch hier Übergänge zu den Kurzwörtern<br />
gibt, zeigen Belege wie Prof(.) (< Professor), Diss(.) (< Dissertation) oder Habil(.)<br />
(< Habilitation), die in bestimmten Kontexten auch phonisch realisiert werden.
140 Sascha Michel<br />
tern nicht auf die Auflistung von Semen reduzieren lässt und Wörter nicht lediglich<br />
durch binäre Merkmalsstrukturen voneinander abgrenzbar sind. Eine Theorie<br />
von Bedeutung sollte die Tatsache berücksichtigen, dass Wörter eine wie<br />
auch immer geartete Kernbedeutung aufweisen, ohne die Kommunikation und<br />
Verständigung nicht möglich ist, die vollständige Bedeutung aber erst durch die<br />
Äußerungssituation, den Kontext, entfaltet, angereichert und präzisiert wird. 14<br />
Die Kernbedeutung eines Wortes soll als deskriptive Bedeutung bezeichnet<br />
werden, die „ein Konzept für seine potenziellen Referenten“ (Löbner 2003: 29)<br />
darstellt. 15 Zu der deskriptiven, primären Bedeutung treten „kulturelle Assoziationen“,<br />
Konnotationen, die bisweilen auch sekundäre Bedeutungsaspekte genannt<br />
werden (vgl. Löbner 2003: 48). 16 Deskriptive Bedeutung und Konnotationen<br />
17 sind sowohl hinsichtlich der Ausdrucksbedeutung als auch der Äußerungs-<br />
14 Die Prototypentheorie, die von auf Prototypen basierenden kognitiven Repräsentationen<br />
von Kategorien und unscharfen Grenzen <strong>zwischen</strong> benachbarten Kategorien ausgeht, stellt eine<br />
adäquate semantische Theorie dar. Die Bedeutung von Wörtern ergibt sich aus der Gradierung<br />
und Gewichtung der Eigenschaften (bzw. Eigenschaften und Vorgänge bei Adjektiven<br />
und Verben) der prototypischen Repräsentanten der entsprechenden Kategorie, vgl.<br />
Mangasser-Wahl (2000).<br />
15 Gelegentlich wird auch der Terminus denotative Bedeutung verwendet. Hinzu tritt die Referenzbedeutung,<br />
d. h. die Extension eines Begriffes. Diese wird an dieser Stelle nicht weiter<br />
verfolgt (vgl. Fußnote 8).<br />
16 Nach Hermanns (1995) können Wörter (1) kognitive, (2) emotive und (3) präskriptive Bedeutungselemente<br />
enthalten, also (1) Sachverhalte darstellen und Gegenstände bezeichnen,<br />
(2) Gefühlswerte zum Ausdruck bringen oder (3) imperativisch gebraucht werden. Manche<br />
Wörter sind in dieser Hinsicht multifunktional, indem sie alle drei Komponenten vereinen.<br />
Diese Bedeutungspotenziale auf unterschiedlichen Ebenen sind bei der Ausdrucksbedeutung<br />
Teil der lexikalisierten Wortbedeutung.<br />
17 In Anlehnung an Coseriu spricht Weber (2002: 457) von Bezeichnung (= Referenz), Bedeutung<br />
(= deskriptive Bedeutung) und Evokation (= Konnotation). Eine nähere Charakterisierung<br />
der triadischen Beziehung <strong>zwischen</strong> Ausdruck, Inhalt und Referenz bei Kurzwörtern soll<br />
hier unterbleiben. Es ist sicher auch hier, wie bereits zuvor erwähnt, von Graden der Motiviertheit/Demotiviertheit<br />
und Transparenz auszugehen, d. h. in der Anfangsphase lässt sich das<br />
<strong>Kurzwort</strong> unter Bezug auf die Bedeutung der Vollform auf den Referenten beziehen, wobei<br />
bei zunehmender Verdrängung der Vollform ein allgemeines, kategoriales Wissen die Verbindung<br />
<strong>zwischen</strong> <strong>Kurzwort</strong> und Vollform herstellt. So dürfte zu Beginn der Bildung des<br />
<strong>Kurzwort</strong>es ARD der Referenzbezug durch die Bedeutung der Vollform Anstalt des öffentlichen<br />
Rechts erfolgt sein, während heute in den meisten Fällen eine kategoriale Einordnung<br />
wie Fernsehsender bzw. Fernsehanstalt bzw. das mit diesem Frame verbundene Wissen die<br />
Verknüpfung herstellt. Im Übrigen ist die häufig angeführte These, fremdsprachige Kurzwörter<br />
wie SARS, HIV o. ä. seien Entlehnungen und keine Kurzwörter im eigentlichen Sinne, ge-
<strong>Das</strong> <strong>Kurzwort</strong> <strong>zwischen</strong> ‚Langue’ und ‚Parole’ 141<br />
bedeutung relevant (vgl. Löbner 2003: 13). Die Ausdrucksbedeutung von Wörtern<br />
und Sätzen bezieht sich auf die Ebene des Sprachsystems und kann mit der<br />
Bedeutungsparaphrase von Wörtern im Lexikon gleichgesetzt werden. Die Ausdrucksbedeutung<br />
des Satzes Ich spiele mit dem Ball ergibt sich aus der isolierten<br />
deskriptiven Bedeutung und den Konnotationen der einzelnen Funktions- und<br />
Inhaltswörter sowie den grammatischen Regeln ihrer Verknüpfung im Satz.<br />
Die Äußerungsbedeutung wiederum betrachtet den Sprachgebrauch und widmet<br />
sich der Bedeutung von Wörtern und Sätzen in einem gegebenen Äußerungskontext<br />
18 . Dieser ordnet den Nomen und Pronomen bestimmte Referenten<br />
zu und präzisiert die mit dem Verb ausgedrückte Handlung bzw. das Tempus. In<br />
dem Beispiel werden Ich und Ball dadurch mit konkreten Referenten identifiziert<br />
und der Gebrauch des Präsens situiert die Handlung im Hier und Jetzt. 19<br />
Wichtig ist nun, dass Konnotationen, also alle Informationen, die „kommunikative<br />
Rahmenbedingungen der Wortverwendung“ (Schippan 1992: 156) signalisieren,<br />
sowohl die Ausdrucksbedeutung als auch die Äußerungsbedeutung betreffen.<br />
Einerseits stehen Konnotationen eines Wortes zusammen mit der deskriptiven<br />
Bedeutung im Lexikon, andererseits ist es meistens vom Äußerungskontext<br />
abhängig, ob und welche Konnotationen aktiviert werden 20 . <strong>Das</strong> Verb<br />
prangen beispielsweise enthält im Duden Bedeutungswörterbuch (1985: 496)<br />
den folgenden Eintrag: „(gehoben): als Zierde, Schmuck, Dekoration einen besonderen<br />
Platz einnehmen […]“. <strong>Das</strong>s prangen die Konnotation „gehoben“ 21<br />
zukommt, geht nicht direkt aus der deskriptiven Bedeutung hervor, sondern ist<br />
nau aufgrund dieser Annahme zu widerlegen. Auch hier erfolgt die Referenz unter Bezugnahme<br />
auf das Kategorienwissen (Krankheit, Immunschwächekrankheit), ohne den Zwischenschritt<br />
über die Vollform nehmen zu müssen. Sie unterscheiden sich demnach nicht von etablierten<br />
nativen Kurzwörtern. Vgl. zu nicht-nativen Kurzwörtern im Deutschen Girnth/Michel<br />
(2008).<br />
18 Zu den Gegebenheiten des Äußerungskontextes gehören etwa Sprecher, Adressat, Zeitpunkt,<br />
Ort etc. (vgl. Löbner 2003: 10).<br />
19 Von den potenziellen und in der Ausdrucksbedeutung lexikalisierten kognitiven, emotiven<br />
und präskriptiven Bedeutungselementen werden nun einige selektiv aufgrund ko- und kontextueller<br />
Relevanz aktiviert bzw. realisiert.<br />
20 Abgesehen davon, dass der Äußerungskontext auch erst zur Herausbildung von Konnotationen<br />
führt.<br />
21 <strong>Das</strong> Duden Bedeutungswörterbuch (1985: 12) geht von folgenden Konnotationen aus: gehoben,<br />
umgangssprachlich, derb, abwertend, emotional und Jargon.
142 Sascha Michel<br />
ein Aspekt der Gebrauchsweise des Wortes, indiziert also den kontextuellen<br />
Rahmen der Äußerungsbedeutung. Konnotationen können demnach als partiell<br />
lexikalisierte Kontextfaktoren der Äußerungsbedeutungen eines Wortes bezeichnet<br />
werden. Je nach Kontext werden bestimmte Konnotationen aktiviert bzw.<br />
modifiziert und sind ebenso wie die deskriptive Bedeutung einem Wandel unterworfen.<br />
Konnotationen geben auf der Sprachsystemseite mithin einen Hinweis auf den<br />
Sprachgebrauch: „Im Sprachgebrauch können durch Konnotationen zusätzliche<br />
Informationen über Sprecher/Schreiber, über die Beziehung <strong>zwischen</strong> den Kommunikationspartnern<br />
und damit über die soziale Situation übermittelt werden“<br />
(Schippan 1992: 157).<br />
<strong>Das</strong> heißt, Konnotationen verbalisieren Besonderheiten hinsichtlich des diasystematischen<br />
Gebrauchs von Wörtern, also ob Wörter diatopischen, diastratischen<br />
oder diaphasischen 22 Restriktionen ausgesetzt sind. Insbesondere diaphasische<br />
Merkmale werden vielfach als Konnotationen angegeben, etwa wenn der<br />
Gebrauch von Wörtern als Jargon, abwertend oder stilistisch gehoben bezeichnet<br />
wird.<br />
Was bedeutet die Annahme von Konnotationen nun für das Bedeutungsverhältnis<br />
<strong>zwischen</strong> synonymen Wörtern? Meist wird <strong>zwischen</strong> totaler und partieller<br />
Synonymie (Homoionymie) unterschieden. Totale Synonymie „setzt […] uneingeschränkte<br />
Austauschbarkeit der betreffenden Ausdrücke in allen Kontexten<br />
voraus und bezieht sich sowohl auf denotative […] als auch konnotative […]<br />
Bedeutungselemente“ (Bußmann 2008: 708). Aus sprachökonomischen Gründen<br />
ist totale Synonymie freilich selten. In der Regel werden hierzu Kurzwörter<br />
gezählt: „Relativ viele, triviale Fälle finden sich in Form von Abkürzungen 23 :<br />
LKW – Lastkraftwagen, LP – Langspielplatte, BH – Büstenhalter. Ähnlich verhält<br />
es sich mit Paaren aus Kurzwörtern und ihren Langformen: Bus – Omnibus,<br />
Lok – Lokomotive […]“ (Löbner 2003: 117).<br />
Partielle Synonymie bezieht sich dagegen auf Lexeme, „die auf Grund ihrer<br />
denotativen und konnotativen Bedeutung in einigen, aber nicht in allen Kontex-<br />
22 Vgl. zum Diasystem des Deutschen z. B. Girnth (2007: 189).<br />
23 Gelegentlich werden Abkürzungen und Kurzwörter außerhalb der <strong>Kurzwort</strong>forschung terminologisch<br />
nicht voneinander getrennt, obwohl sich diese Unterscheidung etabliert und als<br />
praktikabel erwiesen hat.
<strong>Das</strong> <strong>Kurzwort</strong> <strong>zwischen</strong> ‚Langue’ und ‚Parole’ 143<br />
ten austauschbar sind […] oder auf Lexeme mit derselben denotativen Bedeutung<br />
bei unterschiedlichen konnotativen Bewertungen auf Grund von regionalen<br />
[…], soziodialektalen […], politischen [...], stilistischen […] oder fachsprachlichen<br />
[…] Besonderheiten“ (Bußmann 2008: 708).<br />
Konnotationen bestimmt demnach, ob synonyme Wörter total oder partiell<br />
synonym sind bzw., im Falle partieller Synonymie, wie sich die konnotativen<br />
Bewertungen jeweils äußern. Die in der Literatur verbreitete und nicht verifizierte<br />
These der totalen Synonymie von Kurzwörtern soll im nächsten Abschnitt<br />
kritisch überprüft werden.<br />
4. Zur Semantik von Kurzwörtern<br />
4.1 <strong>Das</strong> Postulat der Synonymie auf der Ebene der Langue<br />
Wie im letzten Abschnitt angedeutet wurde, werden Kurzwörter in Einführungen<br />
und Lexika außerhalb der Wortbildungsforschung vielfach als Beispiele<br />
für totale Synonymie angeführt. Die Annahme eines eindeutigen Synonymieverhältnisses<br />
liegt auch manchen Publikationen zugrunde, die sich explizit mit<br />
Kurzwörtern beschäftigen: „Die Ausgangsform ist nicht etwa zu verwechseln<br />
mit der Bedeutung bzw. dem Inhalt einer Wortkürzung. Vielmehr sind Ausgangsform<br />
und Kürzung Synonyme“ (Ronneberger-Sibold 1992: 5; vgl. auch<br />
Vieregge 1978, Kobler-Trill 1993, Fleischer/Barz 1995, Starke 1997 und Erben<br />
2000).<br />
Andere Untersuchungen gehen wiederum zwar von Synonymie <strong>zwischen</strong><br />
<strong>Kurzwort</strong> und Vollform aus, äußern sich jedoch vage bzw. zurückhaltend bei der<br />
Frage, wie stark dieses Verhältnis ausgeprägt ist: „Kurzwörter fungieren hauptsächlich<br />
als ökonomische Varianten ihrer Vollformen, von denen sie sich semantisch<br />
normalerweise nicht unterscheiden“ (Barz 2005: 747; vgl. auch<br />
Donalies 2007). Ungeklärt bleibt bei dieser Definition, was Barz mit „hauptsächlich“<br />
und „normalerweise“ meint.<br />
Nübling schließlich bringt die Uneindeutigkeit des semantischen Verhältnisses<br />
auf den Punkt: „Umstritten ist, wie streng das Synonymiegebot zu interpretieren<br />
ist“ (2001: 169).
144 Sascha Michel<br />
Gelegentlich wird Synonymie zwar postuliert, gleichzeitig aber auch die<br />
Möglichkeit der Verselbstständigung des <strong>Kurzwort</strong>es thematisiert:<br />
Abkürzung und Vollform besitzen im Prinzip die gleiche begriffliche Bedeutung. Die<br />
Kurzformen können ihre semantische Funktion im Stadium ihrer Genese nur über die<br />
entsprechenden Vollformen realisieren; unter bestimmten Voraussetzungen können die<br />
Abkürzungen einen Verselbständigungsprozess durchlaufen und im Ausnahmefall sogar<br />
ihre Vollformen verdrängen. Hofrichter (1977: 154).<br />
Auch Kreidler (2000: 962), der eine übereinzelsprachliche Perspektive einnimmt,<br />
äußert sich in dieser Hinsicht:<br />
On the one hand, the reflex may become totally separated from its source. The separation<br />
may be due to the fact that the source is forgotten, as in the case of taxi(meter),<br />
which referred originally to the device that computes the distance travelled hence the<br />
fare. Or it may be that the reflex comes to have a meaning distinct from that of the<br />
source.<br />
Die von Kreidler skizzierte Verselbstständigung bezieht den bereits erwähnten<br />
Aspekt mit ein, dass Kurzwörter im Gebrauch eine metonymische Verschiebung<br />
und somit eine Erweiterung der Extension aufweisen können.<br />
Eine explizite Berücksichtigung konnotativer Aspekte und des Sprachgebrauchs<br />
bei der Beschreibung der <strong>Kurzwort</strong>semantik lässt sich nur vereinzelt<br />
finden. Bellmann (1977: 149) beispielsweise geht ausführlich auf die Möglichkeit<br />
der Entstehung von Konnotationen und die sprachgebrauchsbezogene Differenzierung<br />
ein:<br />
So darf angenommen werden, dass durch <strong>Kurzwort</strong>bildung unkonnotierte oder schwächer<br />
oder anders konnotierte lexikalische Varianten geschaffen werden. […] Aufhebung<br />
von Konnotationen findet sich nur bei einem Teil der Kurzwörter. In anderen Fällen<br />
sind es umgekehrt die Kurzwörter, die die konnotierten Varianten liefern. […] Im übrigen<br />
bestehen konnotierende Merkmale von <strong>Kurzwort</strong> und Original in der Zuweisung zu<br />
jeweils bestimmten Textsorten, Redekonstellationen, Gruppensprachen, Stilen.<br />
Fleischer (1982: 233) legt ebenso bereits die diasystematische Abhängigkeit des<br />
<strong>Kurzwort</strong>gebrauches dar, ohne jedoch die zugrunde liegenden Faktoren näher zu<br />
bestimmen:<br />
Aus dem Gesagten erhellt, daß Kürzungen nicht in jeder Situation und in jedem Textzusammenhang<br />
beliebig verwendbar sind. So sollten etwa in feierlichen Ansprachen Initialwörter<br />
wie DDR, DSF […], FDJ u. a. ebenso vermieden werden wie in einer sachlichen<br />
Darstellung die Kürzungen Bock für Bockbier, Stip für Stipendium.
<strong>Das</strong> <strong>Kurzwort</strong> <strong>zwischen</strong> ‚Langue’ und ‚Parole’ 145<br />
Neben Vieregge (1983) und Greule (1996), die – wie Bellmann und Fleischer<br />
– den einzelsprachlichen Gebrauch von Kurzwörtern im Blick haben, ist es wiederum<br />
Kreidler (2000: 961–962), der insbesondere die übereinzelsprachliche<br />
Konnotation von unisegmentalen Kurzwörtern beschreibt:<br />
Regarding the semantic aspecs of the shortening process, there’s considerable variety.<br />
In some cases the clipped form is essentially identical with the source in its reference,<br />
e.g. gym(nasium), ref(eree), but differs from the source in the more subtle matter of<br />
connotation or “flavour”. We may say that the clipping has the semantic element of “familiarity”<br />
which the source does not have.<br />
Es zeigt sich, dass bezüglich des Synonymieverhältnisses <strong>zwischen</strong> <strong>Kurzwort</strong><br />
und der dazugehörigen Vollform kein Konsens besteht. Die Auffassungen reichen<br />
von der Annahme der totalen Synonymie bis hin zu generalisierten Aussagen<br />
bezüglich konnotativer Merkmale und kontextueller Restringiertheit entweder<br />
von Kurzwörtern allgemein oder bestimmten Klassen. Eine Unterscheidung<br />
nach unterschiedlichen Kontextfaktoren unterbleibt ebenso wie die systematische<br />
empirische Untersuchung aller <strong>Kurzwort</strong>klassen.<br />
4.2 <strong>Das</strong> Postulat der Homoionymie auf der Ebene der Parole – Eine<br />
Untersuchung mittels Sprecherbefragungen<br />
4.2.1 Zur Methodik der Erhebung<br />
Möchte man die Bedeutung und Gebrauchsrestriktionen von Wörtern ermitteln,<br />
bieten sich einerseits Textkorpora an, um etwa zu eruieren, ob (veränderte)<br />
Wortkonstellationen einen Hinweis auf die Bedeutungsausprägung oder auf Bedeutungswandel<br />
geben. Da Konnotationen – insbesondere bei vermeintlich synonymen<br />
Wortpaaren – wie aber bereits unter 4.1 erläutert größtenteils von der<br />
Äußerungsbedeutung determiniert werden, sind Textkorpora hierzu nur eingeschränkt<br />
tauglich. Die Voraussetzung wäre, dass synonyme Wörter in identischen<br />
Satzkonstruktionen bei unterschiedlichen kontextuellen Gegebenheiten<br />
(Ort, Sprecherkonstellation etc.) vorkommen, was nahezu auszuschließen ist.<br />
Eine verlässlichere Methode scheinen daher introspektive Erhebungsmöglichkeiten<br />
darzustellen, die an der intuitiven Sprachkompetenz der SprecherInnen<br />
ansetzen. 24 Um nun Aussagen über den Status der Synonymie, d. h. Austausch-<br />
24 Zu Vor- und Nachteilen dieser Erhebungsmethode vgl. Albert (2007).
146 Sascha Michel<br />
barkeit in allen Kontexten, von unterschiedlichen Kurzwörtern und <strong>Kurzwort</strong>klassen<br />
treffen zu können, wurde eine Fragebogen-Befragung an Studierenden<br />
im Grundstudium Germanistik an der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz<br />
durchgeführt 25 . 47 Studierende unterschiedlichen Geschlechts, Alters und unterschiedlicher<br />
Herkunft nahmen an der Befragung teil.<br />
Der Fragebogen bestand aus insgesamt drei Aufgaben: 1. Identifizierung von<br />
Kurzwörtern im Text, 2. Klassifizierung von Kurzwörtern und 3. Substituierbarkeit<br />
von Kurzwörtern. Vor Aufgabe eins wurde folgende Information geliefert:<br />
„Kurzwörter sind Wörter, die durch Kürzung einer längeren, ungekürzten Ausgangsform/Vollform<br />
entstehen“. Weitere Eigenschaften von Kurzwörtern wurden<br />
nicht aufgelistet, um die Befragten nicht zu beeinflussen. Für den Bedeutungsaspekt<br />
hinsichtlich der Konnotation von Kurzwörtern ist nun Aufgabe drei,<br />
die Substituierbarkeit von Kurzwörtern, relevant. Die Aufgabe lautet: „Bitte beurteilen<br />
Sie intuitiv (!) auf einer Skala von 1–6, inwiefern die jeweiligen Vollformen<br />
durch die Kurzformen in den angegebenen Situationen ersetzt werden<br />
können (dabei gilt: 1 = völlig; 6 = gar nicht).“<br />
Es folgen fünf Blöcke mit unterschiedlichen Kurzwörtern, wobei jeder Block<br />
jeweils ein <strong>Kurzwort</strong> oder mehrere Kurzwörter der gleichen Klasse in identischem<br />
syntaktischem Kontext, aber unterschiedlichen kommunikativen Rahmenbedingungen<br />
umfasst. Generell differieren die Rahmenbedingungen hinsichtlich<br />
der medialen Varietät (mündlich vs. schriftlich), des Formalitäts- (informell<br />
vs. formell) und des Vertrautheitsgrades (vertraut vs. nicht vertraut) 26 .<br />
Alle sechs untersuchten Kurzwörter gehören den drei <strong>Kurzwort</strong>klassen unisegmental,<br />
multisegmental und partiell an. Folgende Leitfragen stellen sich demnach<br />
der Untersuchung:<br />
1. Welches semantische Verhältnis ergibt sich <strong>zwischen</strong> Kurzwörtern und<br />
ihren zugrunde liegenden Vollformen?<br />
25 Es handelt sich hierbei um ein Einführungsseminar, damit die Teilnehmer nicht zu sehr linguistisch<br />
„vorbelastet“ sind und dadurch bei ihren Antworten beeinflusst werden. Ich danke<br />
Heiko Girnth, der mir diese Befragung ermöglichte.<br />
26 Der Vertrautheitsgrad ist am schwierigsten zu beurteilen, da oftmals nicht eindeutig bestimmt<br />
werden kann, ob Gesprächspartner miteinander vertraut sind oder nicht. Angaben hierzu<br />
können also nur tendenziell sein.
<strong>Das</strong> <strong>Kurzwort</strong> <strong>zwischen</strong> ‚Langue’ und ‚Parole’ 147<br />
2. Welcher Einfluss hat die Äußerungssituation auf die Variation <strong>zwischen</strong><br />
<strong>Kurzwort</strong> und Vollform?<br />
3. Gibt es Unterschiede hinsichtlich der verschiedenen <strong>Kurzwort</strong>klassen?<br />
4.2.2 Ergebnisse der introspektiven Untersuchung<br />
4.2.2.1 Multisegmentale Kurzwörter<br />
Bei den untersuchten multisegmentalen Kurzwörtern handelt es sich um DBZ (<<br />
Deutsche Bauernzeitung), FAZ (< Frankfurter Allgemeine Zeitung) und <strong>Das</strong>ta<br />
(< Datenstation).<br />
Der syntaktische Kontext bei DBZ lautet wie folgt: Die Deutsche Bauernzeitung/DBZ<br />
wird mangels Nachfrage eingestellt. Der Äußerungskontext ist einmal<br />
mit „Schreiben an den Deutschen Bauernverband“ (schriftlich, + formell, +/–<br />
vertraut), ein anderes Mal mit „Gespräch <strong>zwischen</strong> zwei Landwirten“ (mündlich,<br />
+/– formell, +/– vertraut 27 ) angegeben.<br />
Die Ergebnisse sind in der nachstehenden Grafik 28 dargestellt:<br />
18<br />
16<br />
14<br />
12<br />
10<br />
8<br />
6<br />
4<br />
2<br />
0<br />
1 2 3 4 5 6<br />
DBZ (schrftl., +<br />
form., +/-<br />
vertr.)<br />
DBZ (mdl., +/-<br />
form., +/-<br />
vertr.)<br />
Grafik 1: DBZ in unterschiedlichen Äußerungskontexten<br />
27 Da nicht generell davon auszugehen ist, dass Personen mit vergleichbaren soziokulturellen<br />
Hintergründen (Beruf etc.) auch miteinander vertraut sind und informell kommunizieren,<br />
muss hier ein Kontinuum angenommen werden. Sicher sind aber allgemein der Vertrautheitsgrad<br />
höher und der Formalitätsgrad geringer als in dem kontrastierenden schriftlichen Kontext.<br />
28 Die folgenden Grafiken repräsentieren auf der y-Achse die Rohzahlen der Antworten aller<br />
47 Befragten und auf der x-Achse die einzelnen Bewertungseinheiten. Seltene numerische<br />
Abweichungen kommen dadurch zustande, dass die jeweiligen Aufgaben entweder nicht oder<br />
ungültig beantwortet wurden.
148 Sascha Michel<br />
Bei DBZ handelt es sich (ortho-)grafisch (drei Großbuchstaben) und phonetischphonologisch<br />
(Aussprache mit dem Buchstabennamen der Buchstaben) um ein<br />
prototypisches 29 multisegmentales <strong>Kurzwort</strong>. Es fällt auf, dass die Befragten<br />
mehrheitlich der Auffassung sind, dass DBZ in beiden Kontexten durch die<br />
Vollform Deutsche Bauernzeitung ersetzt werden kann. Im schriftlichen Kontext<br />
sehen 47,82 % der SprecherInnen (Additionen der Ergebnisse für die Skalenwerte<br />
1 und 2) überhaupt keine Probleme, während es im mündlichen Kontext<br />
sogar 75,55 % sind. Betrachtet man nun die restlichen Ergebnisse, wird eine<br />
deutliche Diskrepanz <strong>zwischen</strong> den Äußerungskontexten ersichtlich: Während in<br />
mündlichen, +/– formellen und +/– vertrauten Kontexten offenbar nur eine geringe<br />
Zahl (6,67 %) glaubt, dass die Vollform nicht oder nur schlecht (Addition<br />
der Ergebnisse für die Skalenwerte 5 und 6) durch das <strong>Kurzwort</strong> ersetzt werden<br />
kann, sind es im schriftlichen, formellen und mehr oder weniger vertrauten Kontext<br />
immerhin 32,61 %. Es kann bereits jetzt festgestellt werden, dass der Äußerungskontext<br />
– hier die mediale Varietät und der Formalitätsgrad – einen Einfluss<br />
auf den Gebrauch von Kurzwörtern hat, wobei in mündlichen, +/– formellen<br />
und +/– vertrauten Gesprächen die Akzeptanz von (prototypischen) multisegmentalen<br />
Kurzwörtern anstelle der Vollform stärker ausgeprägt zu sein<br />
scheint als in schriftlichen, formellen und +/– vertrauten Kontexten.<br />
Die nächste Aufgabe zielt darauf ab zu beurteilen, welchen Einfluss die phonetisch-phonologische<br />
Realisierung auf die Verwendung eines <strong>Kurzwort</strong>es hat.<br />
Es soll entschieden werden, ob in dem Satz: Da vorne können Sie die Frankfurter<br />
Allgemeine Zeitung kaufen, Frankfurter Allgemeine Zeitung einmal durch<br />
FAZ 1 [fa:tst] und ein anderes Mal durch FAZ 2 [fats] ausgetauscht werden<br />
kann. Der Äußerungskontext ist hier in beiden Fällen konstant – es handelt sich<br />
um ein Gespräch <strong>zwischen</strong> zwei Unbekannten. Es liegen somit folgende Eigenschaften<br />
vor: mündlich, +/– formell, – vertraut.<br />
29 Wenn hier und im Folgenden von prototypisch oder Prototyp gesprochen wird, so handelt<br />
es sich um keinen empirisch nachgewiesenen Prototyp, sondern um intuitive Beobachtungen<br />
und Erfahrungswerte. Gleichwohl sollte eine empirische Überprüfung ergänzend hinzutreten.
<strong>Das</strong> <strong>Kurzwort</strong> <strong>zwischen</strong> ‚Langue’ und ‚Parole’ 149<br />
14<br />
12<br />
10<br />
8<br />
6<br />
4<br />
2<br />
0<br />
1 2 3 4 5 6<br />
FAZ (BN)<br />
FAZ (LW)<br />
Grafik 2: FAZ in unterschiedlicher phonetisch-phonologischer Realisierung<br />
Grafik 2 zeigt eindeutig, wie sehr bestimmte charakteristische Eigenschaften<br />
von Kurzwörtern und kontextuelle Gegebenheiten interagieren. Die Aussprache<br />
mit dem Lautwert der Buchstaben scheint mit dem eher formellen und unvertrauten<br />
Äußerungskontext zu konfligieren.<br />
Ähnlich wie DBZ ist FAZ in der mündlichen Realisierung weitgehend in der<br />
Lage, die Vollform auszutauschen, wenn die für multisegmentale Kurzwörter<br />
charakteristische Aussprache mit dem Buchstabennamen erfolgt. Wie die Ergebnisse<br />
belegen, ist dies nicht mehr uneingeschränkt der Fall, wenn eine Aussprache<br />
mit dem Lautwert der Buchstaben erfolgt. 46,81 % der Befragten (Addition<br />
der Ergebnisse für die Skalenwerte 4 und 5) erachten eine derartige phonetisch-phonologische<br />
Realisierung als dem mehr oder weniger formellen und<br />
nicht vertrauten Charakter des Gespräches inadäquat bzw. äußern erhebliche<br />
Zweifel.<br />
<strong>Das</strong> letzte multisegmentale <strong>Kurzwort</strong> im Fragebogen lautet <strong>Das</strong>ta. Es wird in<br />
folgende syntaktische Konstruktion eingebettet: Die Datenstation der Polizei<br />
Frankfurt wurde letzte Nacht mutwillig beschädigt. Insgesamt werden drei Äußerungskontexte<br />
konstruiert: 1. Artikel FAZ (schriftlich, +/– formell, – vertraut),<br />
2. Gespräch <strong>zwischen</strong> zwei Polizisten in Mainz (mündlich, +/– formell, +/– vertraut)<br />
und 3. Artikel Fachzeitschrift „Deutsche Polizei“ (schriftlich, +/– formell,<br />
+/– vertraut). Die Ergebnisse stellen sich wie folgt dar:
150 Sascha Michel<br />
25<br />
20<br />
15<br />
10<br />
5<br />
0<br />
1 2 3 4 5 6<br />
<strong>Das</strong>ta (schrftl.,<br />
+/- form, -<br />
vertr.)<br />
<strong>Das</strong>ta (mdl., +/-<br />
form., +/-<br />
vertr.)<br />
<strong>Das</strong>ta (schrftl.,<br />
+/- form., +/-<br />
vertr.)<br />
Grafik 3: <strong>Das</strong>ta in unterschiedlichen Äußerungskontexten<br />
Im Vergleich zu DBZ handelt es sich bei <strong>Das</strong>ta um ein multisegmentales <strong>Kurzwort</strong>,<br />
das in wesentlichen Eigenschaften von dem vermeintlichen Prototyp dieser<br />
<strong>Kurzwort</strong>klasse abweicht. Es liegt hier normale Substantivschreibung und Wortaussprache<br />
vor, d. h. die Buchstaben werden mit dem Lautwert ausgesprochen.<br />
Die Grafik verdeutlicht, dass dieses <strong>Kurzwort</strong> am ehesten im mündlichen, +/–<br />
formellen und +/– vertrauten Kontext die Vollform ersetzen kann. 83,33 % der<br />
Befragten erachten dies als unproblematisch (Addition der Ergebnisse für die<br />
Skalenwerte 1 und 2). Dagegen glauben 92,86 % der SprecherInnen (Addition<br />
der Ergebnisse für die Skalenwerte 5 und 6), dass <strong>Das</strong>ta im schriftlichen, +/–<br />
formellen und – vertrauten Kontext nicht angebracht ist. Ändert sich nun der<br />
Vertrautheitsgrad des schriftlichen Äußerungskontextes in Richtung größere<br />
Vertrautheit, denken 41,46 % (Addition der Ergebnisse für die Skalenwerte 1<br />
und 2) der Befragten, dass <strong>Kurzwort</strong> und Vollform gegeneinander austauschbar<br />
sind. Annähernd so viele Personen, nämlich 39,02 % (Addition der Ergebnisse<br />
für die Skalenwerte 3 und 4), sind der Ansicht, dass eine Substitution der<br />
Vollform durch das <strong>Kurzwort</strong> mehr oder weniger akzeptabel ist.<br />
<strong>Das</strong>ta ist offenbar ein <strong>Kurzwort</strong>, das sowohl der medialen als auch der konzeptionellen<br />
Nähe/Mündlichkeit zuzuordnen ist. Je unvertrauter der (schriftliche)<br />
Äußerungskontext, desto weniger lässt sich die Vollform durch das <strong>Kurzwort</strong><br />
austauschen. Im Vergleich zu DBZ fällt auf, das <strong>Das</strong>ta bei ähnlichem Äußerungskontext,<br />
in dem sich nur der Formalitätsgrad unterscheidet (schriftlich,<br />
+/– vertraut), weitaus schlechter zur Ersetzung der Vollform geeignet ist.
<strong>Das</strong> <strong>Kurzwort</strong> <strong>zwischen</strong> ‚Langue’ und ‚Parole’ 151<br />
4.2.2.2 Unisegmentale Kurzwörter<br />
Der Status unisegmentaler Kurzwörter ist in der Forschung keineswegs unumstritten.<br />
Dies hat vielfach damit zu tun, dass einige bereits als polyseme Wörter<br />
im Deutschen vorhanden sind und deshalb „Grenzfälle <strong>zwischen</strong> <strong>Kurzwort</strong> und<br />
Nicht-<strong>Kurzwort</strong>“ (Barz 2005: 744) darstellen.<br />
Bei den hier untersuchten Kurzwörtern handelt es sich um Mathe (< Mathematik)<br />
Prof (< Professor) und Uni (< Universität). Der syntaktische Kontext ist<br />
folgender: Der Mathematik-Professor der Universität Mainz hält eine Vorlesung.<br />
Der Äußerungskontext ist im ersten Fall ein Gespräch <strong>zwischen</strong> Studenten<br />
(mündlich, +/– formell, +/– vertraut) und im anderen Fall ein Schreiben an das<br />
Kultusministerium (schriftlich, + formell, +/– vertraut). <strong>Das</strong> Ergebnis sieht wie<br />
folgt aus:<br />
50<br />
40<br />
30<br />
20<br />
10<br />
0<br />
1 2 3 4 5 6<br />
Mathe, Prof,<br />
Uni (mdl., +/-<br />
form., +/-<br />
vertr.)<br />
Mathe, Prof,<br />
Uni (schrftl, +<br />
form., +/-<br />
vertr.)<br />
Grafik 4: Mathe, Prof, Uni in unterschiedlichen Äußerungskontexten<br />
Grafik 4 vermittelt ein eindeutiges Bild hinsichtlich der Ersetzbarkeit der Vollformen<br />
durch unisegmentale Kurzwörter in unterschiedlichen Äußerungskontexten.<br />
100 % (Addition der Ergebnisse für die Skalenwerte 1 und 2) der Befragten<br />
halten es für unproblematisch, Mathe, Prof und Uni in mündlichen, +/– formellen<br />
und +/– vertrauten Kontexten anstelle der Vollformen zu verwenden. 82,98<br />
% (Addition der Ergebnisse für die Skalenwerte 5 und 6) der SprecherInnen jedoch<br />
denken, dass eine Ersetzung im schriftlichen, + formellen und +/– vertrauten<br />
Kontext nicht möglich ist. Somit sind auch unisegmentale Kurzwörter eindeutig<br />
auf die mediale und konzeptionelle Nähe/Mündlichkeit 30 beschränkt.<br />
30 Vgl. hierzu Koch/Oesterreicher (1985 und 1996).
152 Sascha Michel<br />
4.2.2.3 Partielle Kurzwörter<br />
Als partielle Kurzwörter enthält der Fragebogen K-Frage (< Kanzler-Frage) und<br />
Schuko-Stecker (< Schutzkontakt-Stecker). Bei K-Frage soll beurteilt werden, inwiefern<br />
sich der Satz Die Kanzler-Frage ist noch nicht geklärt durch den Satz<br />
Die K-Frage ist noch nicht geklärt ersetzen lässt. Bei dem Äußerungskontext<br />
handelt es sich einerseits um einen Artikel in der FAZ (schriftlich, +/– formell, –<br />
vertraut) sowie andererseits um ein Gespräch <strong>zwischen</strong> Wählern (mündlich, +/–<br />
formell, +/– vertraut).<br />
Die Ergebnisse sehen wie folgt aus:<br />
14<br />
12<br />
10<br />
8<br />
6<br />
4<br />
2<br />
0<br />
1 2 3 4 5 6<br />
K-Frage<br />
(schrftl., +/-<br />
form., - vertr.)<br />
K-Frage (mdl.,<br />
+/- form., +/-<br />
vertr.)<br />
Grafik 5: K-Frage in unterschiedlichen Äußerungskontexten<br />
K-Frage kann im schriftlichen, +/– formellen und – vertrauten Kontext offenbar<br />
nur eingeschränkt die Vollform austauschen: Annähernd gleiche Prozentwerte<br />
ergeben sich für die Addition der Ergebnisse für die Skalenwerte 1 und 2 (30,44<br />
%) und 5 und 6 (28,26 %). Die höchsten Prozentsätze weist die Addition der Ergebnisse<br />
für die Skalenwerte drei und vier auf (41,30 %).<br />
Vergleicht man diese Ergebnisse mit dem zweiten Äußerungskontext, zeigt<br />
sich, dass K-Frage weitaus problemloser im mündlichen, +/– formellen und +/–<br />
vertrauten Kontext die Vollform ersetzen kann. Hier dominiert eindeutig das Ergebnis<br />
der Addition der Skalenwerte 1 und 2 (55,81 %), gefolgt von 3 und 4<br />
(37,21 %) und abgeschlagen von 5 und 6 (6,98 %).<br />
Als Letztes soll beurteilt werden, inwieweit Schutzkontaktstecker durch das<br />
partielle <strong>Kurzwort</strong> Schuko-Stecker in dem syntaktischen Kontext Der Schutzkontaktstecker<br />
verknüpft die beiden Kabel miteinander ersetzt werden kann. Der
<strong>Das</strong> <strong>Kurzwort</strong> <strong>zwischen</strong> ‚Langue’ und ‚Parole’ 153<br />
Äußerungskontext ist einmal ein Gespräch <strong>zwischen</strong> Technikern (mündlich, +/–<br />
formell, +/– vertraut) und zum anderen eine Gebrauchsanweisung (schriftlich, +<br />
formell, – vertraut).<br />
Die Ergebnisse sind in Grafik 6 dargestellt:<br />
35<br />
30<br />
25<br />
20<br />
15<br />
10<br />
5<br />
0<br />
1 2 3 4 5 6<br />
Schuko-<br />
Stecker (mdl.,<br />
+/- form., +/-<br />
vertr.)<br />
Schuko-<br />
Stecker<br />
(schrftl., +<br />
form., - vertr.)<br />
Grafik 6: Schuko-Stecker in unterschiedlichen Äußerungskontexten<br />
Die Grafik zeigt ein relativ eindeutiges Resultat: 97,73 % der Befragten (Addition<br />
der Ergebnisse für die Skalenwerte 1 und 2) sind der Auffassung, dass<br />
Schutzkontaktstecker im mündlichen, +/– formellen und +/– vertrauten Äußerungskontext<br />
problemlos durch Schuko-Stecker ersetzt werden kann. Dagegen<br />
äußern annähernd ebenso viele Befragte, nämlich 88,63 % (Addition der Ergebnisse<br />
für die Skalenwerte 5 und 6), erhebliche Zweifel an der Austauschbarkeit<br />
der Vollform durch das <strong>Kurzwort</strong> im schriftlichen, + formellen und – vertrauten<br />
Kontext. <strong>Das</strong> <strong>Kurzwort</strong> Schuko-Stecker ist demnach eindeutig auf den medial<br />
und konzeptionell nähesprachlichen/mündlichen Bereich beschränkt.<br />
4.2.3 Analyse der Ergebnisse<br />
Um festzustellen, inwieweit die unterschiedlichen <strong>Kurzwort</strong>klassen Gemeinsamkeiten<br />
bzw. Unterschiede aufweisen und welchen Einfluss die verschiedenen<br />
kommunikativen Parameter ausüben, erscheint es zunächst sinnvoll, die Ergebnisse<br />
von Kurzwörtern mit ähnlichen kontextuellen Faktoren grafisch darzustellen.<br />
Im ersten Schritt geht es um solche Kurzwörter, deren Äußerungskontext<br />
durch die Eigenschaften schriftlich, + formell, +/– vertraut geprägt ist:
154 Sascha Michel<br />
35<br />
30<br />
25<br />
20<br />
15<br />
10<br />
5<br />
0<br />
1 2 3 4 5 6<br />
DBZ<br />
Mathe, Prof.,<br />
Uni<br />
Schuko-<br />
Stecker<br />
Grafik 6: Kurzwörter des Äußerungskontextes schriftlich, + formell, +/– vertraut<br />
Es sticht zunächst hervor, dass das multisegmentale <strong>Kurzwort</strong> DBZ erheblich<br />
von den anderen Kurzwörtern abweicht und zwar dahingehend, dass etwa die<br />
Hälfte der Befragten für eine problemlose Ersetzung der Vollform votiert. Betrachtet<br />
man dagegen die unisegmentalen Kurzwörter Mathe, Prof und Uni sowie<br />
das partielle <strong>Kurzwort</strong> Schuko-Stecker, fällt auf, dass die Befragten eindeutig<br />
gegen eine Ersetzung in diesem Äußerungskontext gestimmt haben. Sehr<br />
markant sind hier die Parallelen bei den Ergebnissen dieser beiden <strong>Kurzwort</strong>klassen:<br />
Für die Skalenwerte 5 und 6 pendeln sich die Ergebnisse bei den unisegmentalen<br />
Kurzwörtern bei 82,98 % und bei dem partiellen <strong>Kurzwort</strong> bei<br />
88,63 % ein.<br />
Obwohl alle drei <strong>Kurzwort</strong>klassen somit den gleichen Äußerungskontext aufweisen,<br />
scheinen ausgeprägte Differenzen hinsichtlich der Gebrauchsmöglichkeiten<br />
vorzuliegen.<br />
Die deutliche Nähe, die sich hier <strong>zwischen</strong> unisegmentalem und partiellem<br />
<strong>Kurzwort</strong> zeigt, ist nun nicht auf eine genetische Verwandtschaft dieser Klassen<br />
zurückzuführen, wie die Ergebnisse für das multisegmentale Kurwort <strong>Das</strong>ta, das<br />
lediglich in dem Kriterium der Vertrautheit leicht von den anderen Belegen abweicht,<br />
beweisen: Sehr deutlich, nämlich mit 92,86 % (Ergebnisse der Addition<br />
für die Skalenwerte 5 und 6), lehnen die Befragten eine Ersetzung der Vollform<br />
durch das <strong>Kurzwort</strong> in dem gegebenen Äußerungskontext ab. Obgleich also bei<br />
<strong>Das</strong>ta die gleiche <strong>Kurzwort</strong>klasse wie bei DBZ vorliegt, differieren die Ergebnisse<br />
erheblich, während vergleichbare Ergebnisse mit den unisegmentalen<br />
Kurzwörtern und dem partiellen <strong>Kurzwort</strong> vorliegen.<br />
Welche Eigenschaften teilen diese Kurzwörter nun und was genau führt dazu,<br />
dass ihr Gebrauch in schriftlichen, + formellen und +/– vertrauten Kontexten
<strong>Das</strong> <strong>Kurzwort</strong> <strong>zwischen</strong> ‚Langue’ und ‚Parole’ 155<br />
schwierig bis ausgeschlossen scheint? Zunächst einmal ist hervorzuheben, dass<br />
diese Kurzwörter mit dem Lautwert der Buchstaben ausgesprochen werden und<br />
eine „normale“ Substantivschreibung aufweisen. DBZ wird im Gegensatz dazu<br />
mit dem Buchstabennamen der Buchstaben artikuliert, zudem werden alle Buchstaben<br />
groß geschrieben. Während also das multisegmentale <strong>Kurzwort</strong> <strong>Das</strong>ta,<br />
die unisegmentalen Kurzwörter Mathe, Prof und Uni sowie das partielle <strong>Kurzwort</strong><br />
Schuko-Stecker ausdrucksseitig wie gewöhnliche Substantive (Vollformen)<br />
verwendet werden, weist das multisegmentale <strong>Kurzwort</strong> DBZ völlig konträre Eigenschaften<br />
auf.<br />
Für multisegmentale Kurzwörter, die sowohl mit dem Buchstabennamen als<br />
auch mit dem Lautwert der Buchstaben ausgesprochen werden können, wie z. B.<br />
Raf oder Faz, wird vielfach postuliert, dass letztere Aussprache „mehr Nähe und<br />
Sympathie“ (Nübling 2001: 171) ausdrücke, also legerer sei und Gruppenzugehörigkeit<br />
bzw. Insiderwissen vermittele.<br />
In der Tat zeigt die Befragung, dass eine Akzeptanz von Kurzwörtern mit der<br />
Lautwert-Aussprache der Buchstaben schwierig erscheint, wenn die Kommunikationspartner<br />
nicht oder wenig miteinander vertraut sind. <strong>Das</strong> alleine erklärt jedoch<br />
nicht Fälle wie <strong>Das</strong>ta oder Schuko-Stecker, die offenbar keine alternative<br />
Aussprache mit dem Buchstabennamen der Buchstaben vorsehen und damit keine<br />
stilistische Option ermöglichen.<br />
Problematisiert wird dies dadurch, dass eine gewöhnliche Substantivschreibung<br />
und -aussprache von Kurzwörtern nicht ohne weiteres und vor allem nicht<br />
ohne Begründung als „nähesprachlich“ oder „sympathisch“ zu bewerten ist.<br />
Vielmehr bietet es sich hier an, von Markiertheit oder Prototypizität in Bezug<br />
auf Kriterien einer bestimmten Kategorie, nämlich der Kurzwörter, zu sprechen.<br />
Dies wiederum impliziert, dass einige Charakteristika besser geeignet sind, um<br />
die <strong>Kurzwort</strong>kategorie zu repräsentieren als andere, was eine Typologie der<br />
Kurzwörter nach Prototypen nahe legt (vgl. Michel 2006a). Es liegt ein vielschichtiges<br />
Phänomen vor, das mit Kategorienbildung, kognitiv verankerten<br />
Prototypen, Dekodierhilfe für Rezipienten etc. zusammenhängt. 31<br />
31 Auf Details soll an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden (vgl. hierzu Mangasser/<br />
Michel i.Vb.).
156 Sascha Michel<br />
Ändern sich nun die mediale Varietät und Formalitätsgrad des Äußerungskontextes<br />
(mündlich, +/– formell, +/– vertraut), ändern sich auch die Ergebnisse der<br />
Befragung fundamental, wie die nachstehende Tabelle zeigt:<br />
50<br />
40<br />
30<br />
20<br />
10<br />
0<br />
1 2 3 4 5 6<br />
DBZ<br />
<strong>Das</strong>ta<br />
Mathe, Prof,<br />
Uni<br />
K-Frage<br />
Schuko-<br />
Stecker<br />
Grafik 7: Kurzwörter des Äußerungskontextes mündlich, +/– formell, +/– vertraut<br />
Ausnahmslos alle <strong>Kurzwort</strong>klassen lassen in diesem Äußerungskontext eine Ersetzung<br />
der Vollform durch das <strong>Kurzwort</strong> zu.<br />
Die Ergebnisse stehen den zuvor beschriebenen Ergebnissen des schriftlichen, +<br />
formellen, +/– vertrauten Kontextes diametral entgegen. Jetzt sind es die unisegmentalen<br />
Kurzwörter Mathe, Prof und Uni, das partielle <strong>Kurzwort</strong> Schuko-<br />
Stecker und das multisegmentale <strong>Das</strong>ta, die entsprechend der Mehrheit der Befragten<br />
die Vollform ersetzen können. <strong>Das</strong> partielle <strong>Kurzwort</strong> K-Frage repräsentiert<br />
die Form, die am schlechtesten dazu geeignet ist, in dem gegebenen Kontext<br />
den Platz der Vollform einzunehmen.<br />
Es zeigt sich, dass die Faktoren mediale Varietät und Formalität des Äußerungskontextes<br />
einen Einfluss auf die Akzeptanz und somit den Gebrauch von<br />
Kurzwörtern ausüben. Dabei bestimmen strukturelle Ausprägungen des <strong>Kurzwort</strong>es<br />
(d. h. Schreibung und Aussprache) maßgeblich, wie stark die Akzeptabilitätsurteile<br />
ausfallen. Kurzwörter aller Klassen, die formal (graphisch und phonisch)<br />
eine starke Ähnlichkeit mit „normalen“ Substantiven haben, werden eher<br />
als inakzeptabel eingestuft hinsichtlich der Substituierbarkeit der Vollform im<br />
schriftlichen und + formellen Kontext. Dagegen können sie im mündlichen und<br />
+/– formellen Kontext problemlos die Vollform ersetzen. 32<br />
32 Auch Elsen (2004: 166) zeigt, dass Kopf- und Schwanzwörter (unisegmentale Kurzwörter)<br />
in der Jugendsprache am frequentesten und somit ein Phänomen der medialen und konzeptionellen<br />
Nähe/Mündlichkeit sind. Buchstabenwörter (multisegmentale Kurzwörter) treten dagegen<br />
sehr häufig in Fachsprachen (Chemie, Technik) auf. Vgl. hierzu auch Steinhauer (2000).
<strong>Das</strong> <strong>Kurzwort</strong> <strong>zwischen</strong> ‚Langue’ und ‚Parole’ 157<br />
Die folgenden Schlussfolgerungen lassen sich aus den Befunden ableiten:<br />
1. Äußerungskontext<br />
Der Äußerungskontext übt einen beträchtlichen Einfluss auf die Möglichkeit eines<br />
<strong>Kurzwort</strong>es, die entsprechende Vollform zu ersetzen, aus.<br />
Insbesondere die mediale Varietät entscheidet darüber, ob ein <strong>Kurzwort</strong> akzeptabel<br />
ist, wobei sich gezeigt hat, dass Kurzwörter generell eher im mündlichen<br />
als im schriftlichen Kontext akzeptiert werden. Obgleich Kurzwörter schon immer<br />
durch ihre „Verwendung in der mündlichen Kommunikation definiert sind“<br />
(Steinhauer 2000: 45), macht die hier durchgeführte Kontextanalyse deutlich,<br />
dass es graduelle Abstufungen hinsichtlich der Verwendung in medialen Varietäten<br />
basierend auf einzelnen strukturellen Ausprägungen von Kurzwörtern gibt.<br />
Wie das multisegmentale Beispiel <strong>Das</strong>ta beweist, bestimmt auch der Formalitäts-<br />
und Vertrautheitsgrad des Kontextes, ob ein <strong>Kurzwort</strong> anstelle der<br />
Vollform akzeptabel ist. Nach ersten Beobachtungen ist der Einfluss dieser Variablen<br />
jedoch geringer einzuschätzen als der Einfluss der medialen Varietät: Bei<br />
gleichbleibender Schriftlichkeit und geänderten Vertrautheitsbedingungen in<br />
Richtung größerer Vertrautheit (+/– vertraut) verschieben sich die Werte vom<br />
unteren in den mittleren bis oberen Bereich, während bei einer Veränderung zur<br />
Mündlichkeit die Akzeptanz der Ersetzung der Vollform durch das <strong>Kurzwort</strong><br />
eindeutig durch Werte im oberen Bereich indiziert wird.<br />
2. <strong>Kurzwort</strong>klassen<br />
Der Gebrauch von Kurzwörtern sämtlicher <strong>Kurzwort</strong>klassen ist von dem jeweiligen<br />
Äußerungskontext abhängig. Die gelegentlich postulierte These, insbesondere<br />
unisegmentale Kurzwörter seien ein Phänomen der Mündlichkeit, wird dadurch<br />
relativiert. Bei näherer Betrachtung sind es gerade solche Subklassen von<br />
Kurzwörtern, die strukturell „normalen“ Wörtern (Vollwörtern), also Substantiven,<br />
gleichen. Hierzu gehört etwa, dass diese Kurzwörter eine gewisse Länge, d.<br />
h. Anzahl an Buchstaben aufweisen und wie Substantive geschrieben (Majuskel<br />
nur am Wortanfang) und ausgesprochen (mit dem Lautwert der Buchstaben)<br />
werden. Demnach ergibt sich eine Staffellung hinsichtlich der Möglichkeit von<br />
<strong>Kurzwort</strong>(sub-)klassen zur Ersetzung der Vollform: Multisegmentale Kurzwörter,<br />
die aus Großbuchstaben bestehen und mit dem Buchstabennamen der Buch-
158 Sascha Michel<br />
staben artikuliert werden, sind am ehesten medial und situationell übergreifend<br />
verwendbar, gefolgt von partiellen Kurzwörtern mit vergleichbaren Eigenschaften.<br />
Je weiter sich Bildungen dieser Klassen jedoch von den genannten Eigenschaften<br />
wegbewegen, umso weniger wahrscheinlich ist es, dass sie in schriftlichen,<br />
formellen und unvertrauten Kontexten als geeignet zur Ersetzung der<br />
Vollform erachtet werden. Sie ähneln formal sehr stark den unisegmentalen<br />
Kurzwörtern, die auf den medial und konzeptionell (bedingt durch den informellen<br />
und vertrauten Kontext) mündlichen Bereich beschränkt sind.<br />
Die Tatsache, dass solche Eigenschaften mit den Konnotationen ‚umgangssprachlich,<br />
‚leger, ‚vertraut und ‚nähesprachlich versehen werden, gibt zwar<br />
einen Hinweis auf den Gebrauch der entsprechenden Kurzwörter, erklärt jedoch<br />
nicht die Entstehungshintergründe der konnotativen Merkmale. Diese sind offenbar<br />
darin zu suchen, dass in der strukturellen Angleichung von Kurzwörtern<br />
an „normale“ Substantive die Kategoriengrenzen verwischen und somit die Kategorie<br />
<strong>Kurzwort</strong> nicht mehr genügend profiliert wird. Belege, die sich zunehmend<br />
von dem Prototyp entfernen, ermöglichen – wenn überhaupt – nur noch<br />
eine schwache Rückführung auf die Vollform und gelten als schlechte Repräsentanten<br />
dieser Kategorie: Während ein <strong>Kurzwort</strong> mit Großbuchstaben und Buchstabenname-Aussprache<br />
(z. B. DBZ) sowohl medial schriftlich als auch mündlich<br />
eindeutig als solches ausgewiesen ist und dieses Wissen potenziell die Erschließung<br />
der Vollform erleichtert, ermöglichen Kurzwörter mit Majuskel nur<br />
am Wortanfang und Lautwertaussprache (z. B. <strong>Das</strong>ta) dies augenscheinlich<br />
nicht in dem erforderlichen Maße in allen Kontexten.<br />
Dadurch ergibt sich eine zweifache Markiertheit in Bezug auf solche Kurzwörter:<br />
Anders als bei gewöhnlichen Substantiven wird hier die Bedeutung nicht<br />
qua Konvention der Form zugeordnet, da die meisten dieser Kurzwörter nicht<br />
derart im Sprachgebrauch etabliert sind, dass ihnen eine feste, interindividuelle<br />
Bedeutung automatisch zukommt. 33 Sie sind also hinsichtlich der Kategorie<br />
Wort markiert.<br />
33 Dies trifft auf viele unisegmentale Kurzwörter nicht zu, die längst etabliert sind und deren<br />
Bedeutung konventionell mit der Form verbunden ist. Hierzu gehören etwa Uni, Bus, Auto<br />
etc.
<strong>Das</strong> <strong>Kurzwort</strong> <strong>zwischen</strong> ‚Langue’ und ‚Parole’ 159<br />
Da sie aber auch die Funktion von Kurzwörtern – die strukturelle Repräsentation<br />
der Vollform – nicht erfüllen, sind sie ebenfalls hinsichtlich der Kategorie<br />
<strong>Kurzwort</strong> markiert.<br />
Die Gebrauchsrestriktionen, d. h. Konnotationen, sind ein Reflex dieser<br />
Markiertheit von Kurzwörtern hinsichtlich unterschiedlicher Kategorien.<br />
4.3 Synonymie oder Homoionymie?<br />
Die Ergebnisse der Untersuchung zeigen, dass im Sprachgebrauch die vielfach<br />
postulierte totale Synonymie <strong>zwischen</strong> <strong>Kurzwort</strong> und Vollform nicht zutrifft.<br />
Trotz weitgehender Referenzidentität und Identität hinsichtlich deskriptiver<br />
Merkmale (sieht man von den beschriebenen metonymischen und metaphorischen<br />
Verschiebungen ab) kommt es zu Divergenzen auf konnotativer Ebene im<br />
Hinblick auf die mediale Varietät und Formalität bzw. den Vertrautheitsgrad des<br />
Kontextes. Die totale Synonymie implizierende Austauschbarkeit <strong>zwischen</strong><br />
<strong>Kurzwort</strong> und Vollform in allen Kontexten ist mithin nicht oder nur in ganz wenigen<br />
Fällen gegeben. Vielmehr liegt mehrheitlich partielle Synonymie, d. h.<br />
Homoionymie vor, die unterschiedliche Ausprägungen bei den unterschiedlichen<br />
(Sub-)Klassen von Kurzwörtern aufweisen kann.<br />
Um der Gradualität hinsichtlich der Korrelation von Kontextfaktoren und<br />
<strong>Kurzwort</strong>klassen gerecht zu werden, sollte deshalb <strong>zwischen</strong> totaler Synonymie<br />
einerseits und partieller Synonymie andererseits ein Kontinuumsverhältnis postuliert<br />
werden, auf dem sich die Belege der jeweiligen (Sub-)Klassen anordnen<br />
lassen. Unisegmentale Kurzwörter befinden sich demnach näher an dem Pol für<br />
partielle Synonymie als multisegmentale Kurzwörter mit Großbuchstaben und<br />
Aussprache mit dem Buchstabennamen der Buchstaben.<br />
Lexikographisch ergibt sich daraus die Forderung, stärker als bisher solche<br />
differenzierten gebrauchsorientierten Ergebnisse mit in die Lemmatisierung von<br />
Kurzwörtern aufzunehmen (vgl. Schröder 2000: 97–98). Dies könnte etwa so<br />
aussehen, dass konnotative und gebrauchsbezogene Merkmale in ihrer unterschiedlichen<br />
Gradierung bei den einzelnen Belegen explizit angegeben werden:<br />
Uni könnte z. B. mit den Merkmalen mündlich, informell und vertraut versehen<br />
werden, K-Frage dagegen mit den Merkmalen eher mündlich und eher unvertraut.
160 Sascha Michel<br />
Insbesondere für DaF-Lernende liefern solche Angaben wichtige Sprachgebrauchshinweise.<br />
Die vielfach vorgenommene Charakterisierung von Uni als<br />
„Jargon“ erweist sich dagegen als zu allgemein, um nutzerbezogene Orientierung<br />
zu bieten.<br />
5. Zusammenfassung und Ausblick<br />
Ausgehend von der vielfach postulierten totalen Synonymie <strong>zwischen</strong> Kurzwörtern<br />
und ihren Vollformen wurde eine auf Introspektion basierende Untersuchung<br />
durchgeführt, die eine eindeutige Kontextabhängigkeit von Kurzwörtern<br />
zum Vorschein brachte. Unterschiedliche Kontextfaktoren wie mediale Varietät,<br />
Formalität und Vertrautheit üben dabei einen Einfluss auf die Verwendung von<br />
Kurzwörtern aus, wobei sich hier je nach <strong>Kurzwort</strong>(sub-)klassen unterschiedliche<br />
Akzeptanzurteile ergeben: Während unisegmentale Kurzwörter offensichtlich<br />
ein Phänomen der Mündlichkeit und des vertrauten, informellen Kontextes<br />
sind, liegen bei den anderen <strong>Kurzwort</strong>klassen differenzierte Verhältnisse vor.<br />
Solche multisegmentale und partielle Kurzwörter, die strukturell (Schreibung<br />
und Aussprache) den unisegmentalen Kurzwörtern und mithin „normalen“ Substantiven<br />
gleichen, scheinen ähnlichen Restriktionen (Mündlichkeit, eher vertrauter<br />
und informeller Kontext) ausgesetzt zu sein und stehen damit in Opposition<br />
zu Kurzwörtern der gleichen Klasse, die diametral entgegengesetzte Merkmale<br />
zeigen (Großschreibung der Buchstaben und Aussprache mit Buchstabennamen).<br />
Diese zuletzt genannten Kurzwörter sind es, die am ehesten auch in<br />
schriftlichen, formellen und unvertrauten Kontexten die Vollform ersetzen können.<br />
Zwei Konsequenzen lassen sich daraus ableiten:<br />
1. Die These der (totalen) Synonymie <strong>zwischen</strong> <strong>Kurzwort</strong> und Vollform ist<br />
nicht länger aufrecht zu halten, wenn der Fokus sich nicht auf Referenzidentität<br />
und deskriptive Bedeutung beschränkt, sondern auch Konnotationen<br />
berücksichtigt. Vielmehr ist im konkreten Gebrauch eher von partieller<br />
Synonymie (Homoionymie) auszugehen, wobei <strong>zwischen</strong> totaler<br />
und partieller Synonymie ein Kontinuum besteht, auf dem sich die einzelnen<br />
Belege anordnen lassen. Für die Lexikographie ergibt sich die Forde-
<strong>Das</strong> <strong>Kurzwort</strong> <strong>zwischen</strong> ‚Langue’ und ‚Parole’ 161<br />
rung, diese konnotativen Merkmale differenzierter in die Lemmatisierung<br />
mit aufzunehmen, um stärker als bisher nutzerorientierte Gebrauchshinweise<br />
zu liefern.<br />
2. Die Ergebnisse legen die Vermutung nahe, dass Sprachteilhaber Kurzwörter<br />
nach prototypischen Gesichtspunkten kategorisieren. Weshalb formale<br />
Ähnlichkeit mit „normalen“ Substantiven dabei offenbar mit medialer und<br />
konzeptioneller „Distanz“ gleichgesetzt wird, lässt sich nur unter Bezugnahme<br />
auf das Konzept der Kategorienprofilierung erklären: Je größer die<br />
formale Distinktion zur benachbarten Kategorie (Substantiv/Vollwort),<br />
umso stärker kann die eigene Kategorie (<strong>Kurzwort</strong>) profiliert und umso<br />
wahrscheinlicher können die damit verbundenen Funktionen realisiert<br />
werden.<br />
Um diese ersten Beobachtungen zu festigen, sind weitere Analysen zum Synonymieverhältnis<br />
<strong>zwischen</strong> <strong>Kurzwort</strong> und Vollform notwendig, die die hier<br />
durchgeführte Introspektion mit objektsprachlichen Untersuchungen ergänzen.<br />
Dabei sollte der Einfluss unterschiedlicher Kontextfaktoren – insbesondere solche<br />
Parameter, die konzeptionelle Nähe und Distanz evozieren – auf den Gebrauch<br />
von Kurzwörtern im Fokus stehen.<br />
Dies ermöglicht in einem weiteren Schritt differenzierte empirische Aussagen<br />
zur Ursache und Funktion der strukturellen Unterschiede wie etwa die Kategoriendistinktion<br />
basierend auf prototypischem Kategorienwissen.<br />
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