Vom Redner. De Oratore
Vom Redner. De Oratore
Vom Redner. De Oratore
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
http://www.mediaculture-online.de<br />
V. 16. <strong>De</strong>nn bei der großen Menge der Lernenden, bei der ungewöhnlichen Anzahl der<br />
Lehrmeister, bei den vorzüglichen Geistesanlagen unserer Landsleute, bei der<br />
unendlichen Mannigfaltigkeit der Rechtshändel, bei den ansehnlichen Belohnungen, die<br />
der Beredsamkeit ausgesetzt sind, wie könnte man da wohl einen anderen Grund für<br />
diese Erscheinung annehmen als die unglaubliche Größe und Schwierigkeit der Sache?<br />
17. Es ist nämlich nötig, daß man sich eine umfassende Sachkenntnis aneigne, ohne<br />
welche die Geläufigkeit der Worte nichtig und lächerlich ist, daß man den Vortrag selbst<br />
nicht allein durch die Wahl, sondern auch durch die Anordnung der Worte passend<br />
gestalte, daß man alle Gemütsbewegungen, welche die Natur dem Menschengeschlecht<br />
erteilt hat, gründlich erforsche, weil die ganze Kraft und Kunst der Rede sich in der<br />
Beruhigung oder Aufregung der Gemüter unserer Zuhörer zeigen muß. Hinzutreten muß<br />
gleichfalls eine Art des Witzes und der Laune, eine des freien Mannes würdige<br />
Gelehrsamkeit, Schlagfertigkeit und Kürze im Antworten und Herausfordern, verbunden<br />
mit feiner Anmut und feinem Geschmack. 18. Außerdem muß man die ganze Geschichte<br />
kennen und mit einem Vorrat von Beispielen versehen sein; auch darf man nicht die<br />
Kenntnis der Gesetze und des bürgerlichen Rechtes vernachlässigen. Und was soll ich<br />
über den äußeren Vortrag selbst weitläufig reden, der nach der Bewegung des Körpers,<br />
nach den Gebärden, nach den Mienen, nach der Bildung und Abwechselung der Stimme<br />
abgemessen sein muß? Wie schwierig dieser für sich allein ist, zeigt die leichtfertige<br />
Kunst der Schauspieler und die Bühne. <strong>De</strong>nn so eifrig sich hier auch alle bemühen, der<br />
Gestaltung des Mundes, der Stimme und der Bewegung den angemessenen Ausdruck zu<br />
verleihen, so weiß doch jeder, wie gering die Zahl derer ist und war, deren Spiel wir<br />
geduldig zusehen können. Was soll ich von der Schatzkammer aller Dinge, dem<br />
Gedächtnis, sagen, welches zur Aufbewahrung der erfundenen und durchdachten Sachen<br />
und Worte angewendet werden muß, wenn wir nicht sehen wollen, daß alles, mag es sich<br />
auch noch so schön in dem <strong>Redner</strong> finden, verlorengehe? 19. Darum wollen wir uns nicht<br />
mehr wundern, warum die Anzahl guter <strong>Redner</strong> so gering ist, da die Beredsamkeit aus der<br />
Gesamtheit der Dinge besteht, die selbst einzeln für sich mit Glück zu bearbeiten eine<br />
sehr schwierige Aufgabe ist, und lieber wollen wir unsere Kinder und alle, deren Ruhm<br />
und Würde uns am Herzen liegt, auffordern, die Größe der Sache im Geist zu beherzigen<br />
und die Überzeugung zu hegen, daß sie andere Vorschriften, andere Lehrmeister, andere<br />
44