ZESO 01/14
SKOS CSIAS COSAS
Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe
Conférence suisse des institutions d’action sociale
Conferenza svizzera delle istituzioni dell’azione sociale
Conferenza svizra da l’agid sozial
ZeSo
Zeitschrift für Sozialhilfe
01/14
Gesundheit Die Gesundheitschancen sind auch in der Schweiz ungleich
verteilt 15 Jahre skos-präsident abschiedsgespräch mit walter schmid
wohnungssuche die stiftung apollo hilft Menschen in schwierigen Situationen
SCHWERPUNKT16–27
gESUNDHEIT
Armut macht krank, und soziale Einschränkungen
führen zu gesundheitlichen Belastungen. Ein geringer
Sozialstatus wird so zum Gesundheitsrisiko.
Das Problem wird akzentuiert, wenn Ärzte wenig
Kenntnis über die Zusammenhänge der Armutsproblematik
haben, und Sozialversicherungen der
psychischen Verfassung ihrer Klientinnen und
Klienten zu wenig Aufmerksamkeit schenken.
Durch besser abgestimmte Hilfen könnten mehr
Personen mit psychischen Problemen im Arbeitsmarkt
gehalten werden.
ZESO zeitschrift für sozialhilfe
Herausgeberin Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe SKOS,
www.skos.ch Redaktionsadresse Redaktion ZESO, SKOS,
Monbijoustrasse 22, Postfach, CH-3000 Bern 14, zeso@skos.ch,
Tel. 031 326 19 19 Redaktion Michael Fritschi Redaktionelle
begleitung Dorothee Guggisberg Autorinnen und Autoren
in dieser Ausgabe Niklas Baer, Franziska Ehrler, Rachèle Féret,
Bettina Fredrich, Regine Gerber, Paula Lanfranconi, Lucrezia Meier-
Schatz, Markus Morger, Daniela Moro, Rahel Müller de Menezes,
Christian Rupp, Emine Sariaslan, Margrit Schmid, Simon Steger,
Martin Wild-Näf, Hans Wolff Titelbild Rudolf Steiner layout
mbdesign Zürich, Marco Bernet Korrektorat Peter Brand
Druck und Aboverwaltung Rub Media AG, Postfach, 3001 Bern,
zeso@rubmedia.ch, Tel. 031 740 97 86 preise Jahresabonnement
Inland CHF 82.– (für SKOS-Mitglieder CHF 69.–),
Abonnement ausland CHF 120.–, Einzelnummer CHF 25.–.
© SKOS. Nachdruck nur mit genehmigung der Herausgeberin.
Die ZESO erscheint viermal jährlich.
ISSN 1422-0636 / 111. Jahrgang
Bild: Keystone
Erscheinungsdatum: 10. März 2014
Die nächste Ausgabe erscheint im Juni 2014.
2 ZeSo 1/14 inhalt
INHALT
5 Nach wie vor hoher Handlungsbedarf
in der Familienpolitik. Kommentar
von Lucrezia Meier-Schatz
6 13 Fragen an Margrit Schmid
8 Die Besteuerung von Sozialhilfeleistungen
schafft neue Probleme
10 Praxis: Unregelmässige Einkommen
– wann ist die Soziahilfeablösung
möglich?
11 Frühe Förderung zahlt sich aus
12 «Das Eröffnen von Perspektiven
ist das A und O jeder Hilfe»: Interview
zum Rücktritt von Walter Schmid
16 SCHWERPUNKT: gesundheit
18 Armut und Unterversorgung schaden
der Gesundheit
21 Migrantenvereine als Plattform für die
Anliegen der Gesundheitsförderung
22 Psychische Krankheit und Armut
sind eng miteinander verbunden
24 Informationslücken an der Schnittstelle
von medizinischer und sozialer
Tätigkeit
26 Freiwillige leisten Unterstützung bei
der Bewältigung des Alltags
Die verlegerin
Der sozialhilfepromotor
die milizsozialberater
Margrit Schmid ist Verlagsleiterin des
Schweizerischen Jugendschriftenwerks
(SJW), das Kindern und Jugendlichen
Literatur in allen vier Landessprachen
bietet. Sie ist auch als Dokumentarfilmerin
und Ausstellungsmacherin tätig.
6
Im Mai tritt SKOS-Präsident Walter Schmid
nach 15 Jahren engagiertem Einsatz von
seinem Amt zurück. Die SKOS nehme
in einem sehr schwierigen Politikfeld
eine Brückenbauerfunktion ein, sagt er
im Interview, und blickt auf kommende
Herausforderungen für den Verband und die
Sozialhilfe.
12
Die Büros des Armeesozialdienstes
lassen einen militärischen Kontext kaum
erahnen. Hier werden die Einsätze der
26 Milizsozialberater koordiniert, die im
Rahmen ihres Militärdienstes Beratungen in
den Rekrutenschulen durchführen.
28 Professionelle Sozialarbeit bedingt
flexible Vorgehensweisen
30 Reportage: Wenn in der Rekrutenschule
das Geld ausgeht
32 Plattform: Die Stiftung Apollo hilft
Benachteiligten bei der Wohnungssuche
34 Lesetipps und Veranstaltungen
36 Porträt: Schwester Agnes Schneider,
Lehrerin in Tansania
Die Missionarin
30
Schwester Agnes Schneider unterrichtet
auch mit 74 Jahren noch an der St. Martins
Girls Secondary School in Tansania. Sie hat
eine Mission: Junge Frauen durch Bildung
vor Aids und Drogen bewahren.
36
inhalt 1/14 ZeSo
3
Die Besteuerung von Sozialhilfeleistungen
schafft neue Probleme
Bei einem guten Steueraufkommen kann der Staat mehr Leistungen anbieten, was insbesondere
einkommensschwachen Haushalten zugute kommt. Doch Steuern sind nicht gleich Steuern. Sie
können auch Armut begünstigen. Und die Besteuerung von Sozialhilfeleistungen würde mehr
Probleme schaffen, als sie löst.
Steuern lassen sich grob in zwei Kategorien
einteilen: in Steuern auf Einkommen und
Vermögen sowie in Verbrauchssteuern. Bei
den Verbrauchssteuern fällt die Mehrwertsteuer
für einkommensschwache Haushalte
am stärksten ins Gewicht. Einkommensschwache
Haushalte geben insgesamt zwar
einen kleineren Betrag, anteilmässig aber
einen grösseren Teil ihres Einkommens für
den unmittelbaren Konsum aus als Haushalte
mit hohen Einkommen. Einkommensschwache
Haushalte sind deshalb von
Erhöhungen der Mehrwertsteuer stärker
betroffen. Sie können ihren bereits bescheidenen
Konsum nicht weiter reduzieren. In
der anderen Kategorie sind für einkommensschwache
Haushalte vor allem die
Einkommenssteuern von Bedeutung. Für
einkommensschwache Haushalte ist es wesentlich,
wie Einkommen besteuert und
welche Abzüge getätigt werden können
und wie das Steuer- und das Sozialtransfersystem
aufeinander abgestimmt sind.
Zwischen Sozial- und Fiskalpolitik
Das Einkommen eines Haushalts umfasst
nicht nur den Lohn, sondern alle finanziellen
Einkünfte des Haushalts. Dazu gehören
auch Sozialversicherungs- und Bedarfsleistungen.
Diese werden unterschiedlich
besteuert. Die Renten der AHV und der IV
sowie Leistungen der Arbeitslosenversicherung
werden beispielsweise vollständig
besteuert, und auch bevorschusste Alimente
und Kinderzulagen werden wie Lohneinkommen
besteuert. Andere Renten und
Pensionen hingegen werden mit einem tieferen
Steuersatz besteuert, beispielsweise
Renten aus der beruflichen Vorsorge und
Leibrenten. Von den Steuern ausgenommen
sind Stipendien, Ergänzungsleistungen
zur AHV oder IV und Leistungen der
Sozialhilfe. Wie viele Steuern ein Haushalt
bezahlen muss, hängt also nicht unwesentlich
davon ab, wie sich sein Einkommen
zusammensetzt.
Neben dem Einkommen spielen bei der
Berechnung der Steuern auch die Abzüge
eine Rolle. Mit diesen werden teilweise explizit
sozialpolitische Ziele verfolgt. So wird
beispielsweise der verminderten finanziellen
Leistungsfähigkeit eines Haushalts
mit Kindern gegenüber einem Haushalt
ohne Kinder Rechnung getragen, indem
ein Kinderabzug getätigt werden kann
und Kosten für die familienergänzende
Kinderbetreuung in Abzug gebracht wer-
Ohne sorgfältige Abstimmung zwischen dem Steuer- und dem Sozialsystem können Ineffizienz und Ungerechtigkeit entstehen.
Bild: Keystone
8 ZeSo 1/14 position skos
den können. Solche Abzüge können Haushalte
steuerlich entlasten und damit im
besten Fall Armut verhindern. Allerdings
schmälert eine allgemeine Erhöhung der
Abzüge das Steueraufkommen, und aufgrund
der progressiven Ausgestaltung des
Steuersystems fällt die Steuereinsparung
für tiefe Einkommen geringer aus als für
hohe Einkommen. Ein weiterer Faktor ist
der Steuersatz, mit dem tiefe Einkommen
besteuert werden. Die Zusammenhänge
zwischen dem Steuer- und dem Sozialsystem
sind also vielfältig, und es braucht eine
sorgfältige Abstimmung zwischen den beiden
Systemen, damit beide effizient und
gerecht funktionieren können.
Working-Poor-Haushalte sind
besonders betroffen
Dies ist vor allem in Bezug auf Working-
Poor-Haushalte eine Herausforderung. Für
sie kann die Steuerbelastung der Tropfen
sein, der das Fass zum Überlaufen bringt
und die Armutsproblematik akzentuiert.
Zudem kann eine mangelhafte Abstimmung
der Systeme dazu führen, dass sich
Working-Poor-Haushalte in einer Situation
wiederfinden, in der sich Erwerbsarbeit
finanziell nicht mehr lohnt, weil Erwerbseinkommen
besteuert werden und Sozialleistungen
nicht. Um solches zu verhindern,
können Massnahmen sowohl auf
Seiten der Sozial- als auch der Steuerpolitik
ergriffen werden. Bei den Sozialleistungen
etwa können Freibeträge auf Erwerbseinkommen,
wie sie die Sozialhilfe kennt, die
Steuerlast von Working-Poor-Haushalten
kompensieren und dafür sorgen, dass sich
Erwerbsarbeit in jedem Fall finanziell
lohnt. Auf Seite der Steuerpolitik kann die
Steuerbefreiung des Existenzminimums,
wie sie bei den Bundessteuern und in einigen
Kantonen bereits umgesetzt ist, dafür
sorgen, dass die Steuerbelastung niemanden
in die Armut treibt.
Ein radikalerer Ansatz zur Lösung dieser
Problematik sieht die Besteuerung von
Sozialhilfeleistungen bei gleichzeitiger
Steuerbefreiung des Existenzminimums
vor. Der Bundesrat wird im Frühling einen
Bericht zu einer entsprechenden parlamentarischen
Vorlage veröffentlichen.
Aktuelle
Steuervorlagen aus
armutspolitischer
Perspektive
«Millionen-Erbschaften besteuern
für unsere AHV» (SP)
Die Initiative sieht die Schaffung einer
Erbschafts- und Schenkungssteuer vor. Die
Einnahmen kämen zu zwei Dritteln der AHV
und zu einem Drittel den Kantonen zugute.
Eine solide, langfristig finanzierte AHV ist für
die Bekämpfung von Armut zentral. Ob diese
mit der Erbschaftssteuer erreicht werden
kann, bleibt allerdings fraglich.
«Für Ehe und Familie –
gegen die Heiratsstrafe» (CVP)
Die Initiative möchte die Nachteile verheirateter
Paare gegenüber Konkubinatspaaren
bei den Steuern und Sozialversicherungen
ausmerzen. Die Auswirkungen sind schwierig
einzuschätzen. Es ist nicht klar, ob es bei
einzelnen Sozialleistungen zu Veränderungen
bei der Behandlung von Ehe- respektive Konkubinatspaaren
kommen wird.
«Familien stärken! Steuerfreie Kinderund
Ausbildungszulagen» (CVP)
Angestrebt wird eine steuerliche Entlastung
aller Familien. Faktisch ist die steuerliche Entlastung
umso höher, je höher das Einkommen
ist. Die Wirkung auf Armutsbetroffene und
Haushalte im Niedriglohnbereich ist sehr
gering bis nichtig, gleichzeitig kommt es zu
erheblichen Steuerausfällen.
Die SKOS hat den Vorschlag analysiert.
Es hat sich gezeigt, dass die Besteuerung
von Sozialhilfeleistungen mehr Probleme
schafft, als sie löst. Unter anderem aus
folgenden Gründen: Der Staat entrichtet
Sozialhilfeleistungen an Privathaushalte.
Für die Festlegung der Höhe dieser Leistungen
wird der effektive Bedarf des Haushalts
berechnet. Bei einer Besteuerung
der Sozialhilfeleistungen würde der Staat
einen Teil dieser Leistungen wieder in
Form von Steuern zurückfordern. Damit
stellt er seine eigene Bedarfsrechnung in
Frage. Der Haushalt hat anschliessend auf
dem Vollstreckungsweg die Möglichkeit,
einen Steuererlass zu beantragen. Dabei
wird wiederum eine Bedarfsrechnung erstellt,
und falls die Steuerforderung in das
Existenzminimum eingreift, werden die
Steuern erlassen.
Aufwändiges Nullsummenspiel
verhindern
Das ergibt ein Nullsummenspiel für den
Staat, das mit grossem administrativem
Aufwand verbunden ist und das die Legitimation
des Systems gefährdet. Werden die
Steuern nicht erlassen und ein Teil der Sozialhilfeleistungen
muss in Form von Steuern
zurückbezahlt werden, führt das zudem für
einige Haushalte zu einer Unterwanderung
des Existenzminimums. Um das Existenzminimum
weiterhin zu garantieren, müssten
höhere Sozialhilfeleistungen entrichtet
werden. Das wiederum führt zu unerwünschten
Finanztransfers, da die Leistungen
der Sozialhilfe in verschiedenen Kantonen
von der Gemeinde finanziert werden.
Die Sozialhilfebeziehenden geben einen Teil
der Leistungen, die sie von ihrer Gemeinde
erhalten, in Form von Steuern an den Kanton
weiter. Die Besteuerung von Leistungen
der Sozialhilfe ist also wenig sinnvoll und
verletzt die Steuergerechtigkeit.
Fazit: Damit die Sozialhilfe ihre Ziele
erreichen kann, ist es wichtig, dass das
Steuersystem und das Sozialleistungssystem
Hand in Hand gehen und dass die beiden
Systeme die beabsichtigten Wirkungen des
anderen nicht torpedieren. Damit dies gelingt,
muss das soziale Existenzminimum
von den Steuern ausgenommen sein. Wer
am Existenzminimum lebt, soll keine Steuern
zahlen, unabhängig davon, ob das verfügbare
Einkommen aus Erwerbstätigkeit
oder aus Sozialhilfeleistungen stammt. •
Franziska Ehrler,
Leiterin Fachbereich Grundlagen, SKOS
www.skos.ch/grundlagen-und-positionen
position skos 1/14 ZeSo
9
«Das Eröffnen von Perspektiven
ist das A und O jeder Hilfe»
Für die SKOS geht eine Ära zu Ende: Nach 15 Jahren Präsidentschaft tritt Walter Schmid im Mai von
seinem Amt zurück. Die SKOS nehme in einem sehr schwierigen Politikfeld eine Brückenbauerfunktion
ein, sagt Schmid, und blickt auf kommende Herausforderungen für den Verband und die Sozialhilfe.
Als Sie im Jahr 1999 zum Präsidenten
der SKOS gewählt wurden, beschäftigte
sich der Verband mit einem
«drastischen Zuwachs» der Fallzahlen
bei der Sozialhilfe. Die SKOS forderte
in Anbetracht neuer sozialer Risiken
als Folge von Liberalisierung und Deregulierung
Massnahmen gegen den
brüchig gewordenen Sozialversicherungsschutz.
Wo stehen wir in dieser
Hinsicht heute, 15 Jahre später?
Walter Schmid: Damals ging eine lange
Rezessionsphase in der Schweiz zu Ende.
Während meiner Amtszeit als Chef des
Fürsorgeamts der Stadt Zürich beispielsweise
hatten sich die Fallzahlen verdoppelt
und die Kosten verdreifacht. Wir forderten
einen Umbau der sozialen Sicherungssysteme.
Dazu ist es allerdings nicht gekommen.
Dafür zu verschiedenen Teilrevisionen.
Dank guter Konjunktur flachte das
Wachstum der Fallzahlen in der Sozialhilfe
später wieder ab.
Was entgegnen Sie den Kritikern, die
sagen, die heutige Sozialhilfe sei zu
attraktiv und zu grosszügig?
Die Leistungen der Sozialhilfe haben
sich seit 1999 nicht wesentlich verändert,
und der Grundbedarf wurde nur teuerungsbereinigt
angehoben. Der Grundbedarf in
der Sozialhilfe ist wesentlich tiefer als bei
den Ergänzungsleistungen und auch tiefer
als beim Betreibungsrecht. Es stimmt
also nicht, dass die Sozialhilfe grosszügiger
geworden ist. Aber man kann sagen,
dass mehr Menschen nicht mehr auf
den Versicherungsschutz der Sozialwerke
zählen können und dass es auch mehr
Menschen gibt, die die Voraussetzungen
für einen Sozialversicherungsbezug nicht
erfüllen und nie erfüllen werden. Aus
diesem Grund sind die Zahl der Sozialhilfebeziehenden
und die Kosten weiter
angestiegen.
Die Sozialhilfe kommt gegenüber den
Sozialversicherungen vermehrt komplementär
zum Einsatz. Wie beurteilen
Sie diesen schleichenden Paradigmawandel,
der den subsidiären
Charakter der Sozialhilfe zunehmend
infrage stellt?
Natürlich gilt in der Sozialhilfe weiterhin
das Subsidiaritätsprinzip. Sie kommt
also nur zum Zuge, wenn keine anderen
Mittel zur Verfügung stehen. Wenn man
jedoch bedenkt, welche Arbeitsplätze in
den vergangenen Jahren neu geschaffen
wurden und welche verschwunden sind,
dann erkennt man gewaltige Umwälzungen.
Die Sozialhilfe hat wesentlich
mitgeholfen, die Nebenwirkungen dieses
Strukturwandels der Wirtschaft zu bewältigen
und den Menschen ein Minimum an
Sicherheit zu geben. Zur komplementären
Seite der Sozialhilfe: Für mich bedeutet
das eigentlich nur, dass die Sozialhilfe ein
wichtiger und etablierter Bestandteil des
Ganzen geworden ist.
In Ihre «Ära» fällt die Festschreibung
der aktivierenden Sozialhilfe in den
SKOS-Richtlinien. Was hat man damit
bewirken können?
Die Sozialhilfeempfängerinnen und
-empfänger sollen dabei unterstützt werden,
wieder in die Erwerbstätigkeit zurückzufinden
und auf eigenen Füssen stehen zu
können. Das ist ein wichtiges Prinzip und
ein generelles Paradigma in der Schweizer
Sozialpolitik. Die aktivierende Sozialpolitik
hat Möglichkeiten geschaffen, dass
Leute wieder arbeiten konnten, die dies
sonst nicht mehr getan hätten. Sie eröffnet
für viele Menschen Perspektiven und
erhöht die Akzeptanz der Sozialhilfe in der
Bevölkerung.
Wo sehen Sie die Grenzen des Gegenleistungsprinzips?
Es hat eine gewisse Verabsolutierung
dieses Prinzips stattgefunden, die mir
missfällt. Man hat aus den Augen verloren,
dass es auch Menschen gibt, die trotz
Aktivierung nicht mehr zurück in einen
Job finden, und die dennoch eine Existenzberechtigung
haben. Auch für sie trägt die
Gesellschaft eine Verantwortung. Was mir
auch nicht gefällt ist, dass die Armut individualisiert
wird. Man schiebt alle sozialen
Probleme dem Individuum zu, und auch
die Lösungen werden nur bei ihm gesucht.
Dadurch entsteht schnell einmal der Eindruck,
es läge nur am Individuum, seine
Situation zu verbessern. Gesellschaftliche
Entwicklungen wie der Strukturwandel
oder der Einfluss der Bildungschancen
werden ausgeblendet.
Welchen weiteren Herausforderungen
muss sich die SKOS vermehrt stellen?
Das heutige Instrumentarium kann
schlecht unterscheiden zwischen kurzfristiger,
subsidiärer Unterstützung für
Personen, die es schaffen, aus eigenem
Antrieb wieder aus der Sozialhilfe herauszukommen,
und Personen, die auf Dauer
auf Sozialhilfe angewiesen sind. Auch das
gibt es, etwa wenn die Invalidenversiche-
«Die Sozialhilfe
hat wesentlich
mitgeholfen, die
Nebenwirkungen
des Strukturwandels
zu
bewältigen.»
12 ZeSo 1/14 interview
ung heute gewisse Krankheitsbilder nicht
mehr als für eine Rente relevant betrachtet
und arbeitsunfähige Menschen keinen Zugang
mehr zur Sozialversicherung haben.
Diese Entwicklungen bedingen differenzierte
Antworten.
Eine andere grosse Herausforderung
ist die öffentliche Wahrnehmung der Sozialhilfe
und der Armut. Sie ist manchmal
ziemlich weit von der Realität entfernt. So
werden viele Probleme auf die Sozialhilfe
projiziert, die gar nichts mit ihr zu tun
haben, etwa bei Jugendlichen und ihren
Bildungschancen: Bis die Sozialhilfe zum
Zug kommt, ist schon sehr viel schief gelaufen.
Gleichwohl macht die Öffentlichkeit
solche Probleme an der Sozialhilfe
fest und erwartet von uns Lösungen, für
die wir die Instrumente nicht haben. Die
Sozialhilfe wird oft mit dem Sozialstaat
gleichgesetzt, obwohl bekannt ist, dass die
Sozialhilfeausgaben nur rund zwei Prozent
der gesamten Sozialausgaben und Sozialtransfers
ausmachen. Solche Verzerrungen
in der Wahrnehmung sind echte Herausforderungen.
Daraus resultiert auch das Imageproblem,
das die Sozialhilfe und mit ihr
die SKOS in der Öffentlichkeit haben.
Wie kann die SKOS dem begegnen?
Solange die SKOS sich mit Sozialhilfe
befasst, wird sie immer wieder mit Imageproblemen
konfrontiert sein. Die Sozialhilfe
war noch nie ein geliebtes Kind der
Gesellschaft. Das war auch schon so, als
man das Bettlervolk am Abend noch aus
den Städten hinaus trieb, um die Leute
nicht mehr sehen zu müssen. Wir haben
es mit Menschen zu tun, die relativ wenig
geben können und die oft als Belastung
empfunden werden. Ich glaube aber, dass
wir als Fachverband trotzdem viel Anerkennung
geniessen. Wir haben in einem
sehr schwierigen Politikfeld eine Brückenbauerfunktion
und wir konnten in schwierigen
Fragen immer wieder einen Konsens
herstellen. Der Verband leistet insgesamt
gute Arbeit. Ich habe das gerade jetzt bei
der Ankündigung meines Rücktritts erfahren,
als verschiedenste Kreise ihre Anerkennung
unserer Arbeit zum Ausdruck
gebracht haben.
Bilder: Béatrice Devènes
interview 1/14 ZeSo
13
Wie haben Sie die Position der SKOS
vis-à-vis von Bund, Kantonen und
Gemeinden erlebt?
Die Rolle der SKOS ist einzigartig, auch
im internationalen Vergleich. Alle Akteure
sind im Verband versammelt. Dadurch haben
wir die wichtigsten Stimmen immer
einfangen und in die Lösungsentwicklung
einbinden können. Das ist ein grosses
Privileg. Wir sind in unserer Entscheidfindung
manchmal etwas schwerfällig,
dafür sind unsere Entscheide solide abgestützt.
Die Kehrseite ist, dass sich der Bund
nicht besonders um das Thema Sozialhilfe
kümmert – sie gehört nicht in seinen Zuständigkeitsbereich
– und dass auch die
Kantone dem Thema selten hohe Priorität
einräumen.
Fühlten Sie sich von den Kantonen in
der Öffentlichkeit genügend unterstützt,
als die Sozialhilfe im vergangenen
Jahr politisch heftig angegriffen
wurde?
Im Grossen und Ganzen haben uns die
Sozialdirektoren in der Sache sehr unterstützt.
Sie haben aber verständlicherweise
auch stark Rücksicht auf ihre kantonsinternen
politischen Verhältnisse nehmen müssen.
Aus Sicht der SKOS hätte man sich
gelegentlich noch klarere oder vernehmbarere
Aussagen zum Thema Sozialhilfe
gewünscht. Das gilt übrigens auch für den
Bund.
Können Sie das noch weiter ausführen?
Gerade etwa während der Debatte
über die Renitenten vom vergangenen
Frühjahr: Just zu jenem Zeitpunkt haben
Behörden und Verbände sich mit
grossen Gesten bei den Opfern der
administrativen Verwahrung entschuldigt.
Überspitzt gesagt waren die administrativ
Versorgten die Renitenten von
damals. Sie waren teilweise auch keine
angenehmen Zeitgenossen. Man hat
sie verwahrt und hat dabei rechtsstaatliche
Prinzipien verletzt. Deshalb reicht
es aus heutiger Sicht nicht, wenn man
sich vierzig Jahre später entschuldigt
für das, was man damals falsch gemacht
hat, und nicht darüber nachdenkt, dass
man auch in der Gegenwart etwas falsch
machen könnte. Ein Wort zum Umgang
mit Armutsbetroffenen und zur Bedeutung
von rechtstaatlichen Prinzipien auch
heute wäre da angebracht gewesen.
14 ZeSo 1/14 interview
Walter Schmid
Walter Schmid (60) studierte Rechtswissenschaft
in Lausanne, Zürich und Stanford.
Von 1982 bis 1991 war er Zentralsekretär
der Schweizerischen Flüchtlingshilfe, danach
Leiter des Amts für Jugend- und Sozialhilfe
der Stadt Zürich. Von 2000 bis 2003
arbeitete er als Projektleiter im Auftrag
des Bundesrats für die Solidaritätsstiftung
und die Verwendung von Goldreserven der
Nationalbank. Seit 2003 ist Walter Schmid
Direktor des Departements Soziale Arbeit
an der Hochschule Luzern. Walter Schmid
tritt an der Mitgliederversammlung im Mai
nach 15 Jahren als Präsident der SKOS
zurück.
«Es genügt nicht,
wenn man sich
40 Jahre später
entschuldigt für
das, was man
damals falsch
gemacht hat.»
Ein Ziel der SKOS ist die Harmonisierung
der Sozialhilfe. Nun sind
Tendenzen zu beobachten, die dem
Erreichten entgegenlaufen. Wie gewonnen,
so zerronnen?
Die Harmonisierung ist relativ weit
fortgeschritten, und es gibt immer wieder
Gegenbewegungen. Das wird solange so
bleiben, wie das System Sozialhilfe vom
föderativen Staat gelenkt wird. Dort, wo es
Abweichungen gibt, sind diese entweder
im Rahmen der Bandbreiten, die die SKOS
empfiehlt, oder sie bewirken keine allzu
grossen Einschränkungen. Wenn etwa der
Kanton Waadt die SKOS-Richtlinien nicht
integral übernimmt, dafür bei den Jugendlichen
eine «Stipendien-statt-Sozialhilfe-
Strategie» verfolgt, dann ist das ein gutes
kantonales Experiment. Der Föderalismus
birgt gerade auch dann Chancen, wenn es
auf nationaler Ebene zu politischen Blockaden
kommt. Wir sehen das zurzeit bei den
Ergänzungsleistungen für einkommensschwache
Familien. Das sind Beispiele für
gute und innovative Entwicklungen.
«Die Bekämpfung
der Armut ist eine
komplexe Sache,
zu der es keine
einfachen Rezepte
gibt.»
Was läuft, allgemein betrachtet, im
System der sozialen Sicherheit der
Schweiz gut?
Wir haben ein zwar kompliziertes aber
gut ausgebautes Netz von Sozialversicherungen,
und im Hintergrund wirkt auch
die Sozialhilfe als letztes verlässliches Netz
der sozialen Sicherheit stabilisierend in der
Sozialpolitik. Schwachpunkte sind gewisse
Doppelspurigkeiten bei den Sozialwerken
oder die immer noch sehr ungenügende interdisziplinäre
Zusammenarbeit. Man sollte
auch hinschauen, wo Fehlallokationen stattfinden,
wo der Sozialstaat Umverteilungen
vornimmt, von denen nicht unbedingt jene
profitieren, die Leistungen nötig haben.
Welchen konkreten Nutzen steuert die
Sozialhilfe dem System bei?
Es ist entscheidend für eine Gesellschaft,
dass die letzten Existenzrisiken aufgefangen
werden. Dass die Leute wissen,
dass sie nicht ins Bodenlose fallen. Das
gibt ihnen eine gewisse Autonomie und
eine gewisse Risikofreude. Das ist nicht
nur unter dem Aspekt des Strukturwandels,
sondern ganz generell für den Zusammenhalt
der Gesellschaft wichtig.
Dank der Sozialhilfe haben wir in der
Schweiz keine grösseren Bevölkerungsgruppen,
die von der Gesellschaft ausgegrenzt
leben. Das Eröffnen von Perspektiven
für die Menschen ist das A und O
jeder Hilfe.
Wie beurteilen Sie die Armutspolitik
des Bundes und der Kantone?
Armut ist ein Thema, das alle staatlichen
Ebenen angehen muss. Die Bekämpfung
von Armut ist eine komplexe
Sache, zu der es keine einfachen Rezepte
gibt. Armut lässt sich im übrigen auch
nie vollständig beseitigen. Es ist aber
ein grosser Unterschied, ob man sich in
einem Land mit der Armut arrangiert
und nichts dagegen unternimmt oder ob
man sie wahrnimmt und versucht, die
Menschen zu unterstützen. Dabei muss
auch dem Bund eine Rolle zukommen.
Er hat – zwar erst in homöopathischen
Dosen – damit begonnen, sich mit dem
Thema zu befassen und Projekte zur Armutsbekämpfung
aufzugleisen. Das ist
ein erster wichtiger Schritt. Sonst überlässt
man auf nationaler Ebene das Feld einseitig
den Protagonisten der Empörungspolitik.
Hatten Sie persönliche Ziele, als Sie
vor 15 Jahren die Führung der SKOS
übernommen haben, und sind Sie
zufrieden mit dem, was Sie erreicht
haben?
Ich hatte die Absicht, den Verband gut
zu führen und einen Beitrag an die Weiterentwicklung
der Sozialhilfe zu leisten. Die
Sozialhilfe hat in den vergangen Jahren gut
funktioniert und sich weiterentwickelt. Die
SKOS hat dazu einen wichtigen Beitrag
geleistet. Insofern habe ich meine Ziele
erreicht. Der grösste Teil der Verbandsarbeit
wird allerdings nicht vom Präsidenten
geleistet. Deshalb möchte ich an dieser
Stelle auch den vielen Leuten, die uns bei
unserer Arbeit unterstützt haben, meinen
Dank aussprechen.
Welche Erfahrung wird Ihnen nachhaltig
in Erinnerung bleiben?
Die Verabschiedung der Richtlinien
von 2005 in der Helferei des Grossmünsters
in Zürich, als wir während Stunden
um die letzten Formulierungen des damals
neuen Richtlinienwerks gerungen
hatten und es uns schliesslich gelang, bis
auf ganz wenige Enthaltungen sämtliche
Mitglieder des Vorstands zur Zustimmung
zu bewegen.
•
Das Gespräch führte
Michael Fritschi
interview 1/14 ZeSo
15
Armut und Unterversorgung schaden
der Gesundheit
Menschen, die unter Mangel leiden, sind einem erhöhten Gesundheitsrisiko ausgesetzt. Wer wenig
Geld hat, spart bei den Gesundheitsleistungen. Da die Ärmsten der Bevölkerung auch am häufigsten
krank sind, entsteht eine doppelte Ungleicheit: Die, die eigentlich mehr zum Arzt gehen sollten, sind
gleichzeitig jene, die am ehesten auf einen Arztbesuch verzichten.
Ein geringer Sozialstatus ist für den Menschen das grösste
Gesundheitsrisiko. Das war vor 500 Jahren so, und das ist leider
auch heute noch so, sogar wieder mit zunehmender Tendenz. Die
Situa-tion von damals ist belegt durch statistische Zahlen des
Hospice Général in Genf. Dort wurden ab dem 17. Jahrhundert
Kinder nach der Geburt registriert und dabei in drei Gruppen eingeteilt,
abhängig davon, ob sie in reiche, arme oder in Familien
zwischen diesen Polen hineingeboren wurden. Vergleicht man die
Mortalitätsquotionten dieser «Versuchsgruppen», so zeigt sich anhand
der Sterblichkeit in der Kindheit und im Alter, dass die arme
Bevölkerung im Durchschnitt viel häufiger gestorben ist respektive
weniger alt wurde. Im Weiteren lässt sich zeigen, dass sich die
Gesundheitschancen der Menschen im Verlauf der Jahrhunderte
deutlich verbessert haben und dass die Armen davon am meisten
profitiert haben. Die Entwicklung, wonach die Gesundheitsrisiken
aufgrund von sozialen Ungleichheiten geringer wurden, dauerte
bis Mitte 20. Jahrhundert. Seit 1950 wird eine Trendwende beobachtet.
Die Schere der Ungleichheiten zwischen arm und reich
und damit der Gesundheitschancen geht seither wieder auseinander.
Je reicher man ist, desto weniger besteht ein Risiko, an einem
Herzschlag zu sterben oder an Diabetes zu leiden. Je nach Krankheit
trägt die Gruppe der Armen in der Bevölkerung ein zwei-, vieroder
sogar ein zehnfaches Risiko, zu erkranken. Wohlhabende
Menschen scheinen sehr viel mehr von den diversen sozialen, medizinischen
und kulturellen Errungenschaften des 20. Jahrhunderts
zu profitieren als materiell schlechtgestellte Menschen.
15 Prozent verzichten
Eine repräsentative Studie zum Gesundheitsverhalten der Genfer
Bevölkerung zeigt, dass 15 Prozent der Bevölkerung im Jahr 2009
aus ökonomischen Gründen während der letzten zwölf Monate auf
Der « Zahnstatus»
eines Menschen lässt
auf seinen Sozialstatus
schliessen.
Gesundheitsleistungen verzichtet haben. Drei Viertel dieser
Gruppe haben beispielsweise auf Zahnarztleistungen verzichtet.
Das erstaunt noch nicht sonderlich, wenn man bedenkt, dass in
der Schweiz Zahnarztleistungen nicht durch die obligatorische
Krankenversicherung abgedeckt werden. Die eigentliche Überraschung
war, dass 35 Prozent dieser Gruppe auf medizinische
Konsultationen verzichten, und dass 5 Prozent sogar auf einen
chirurgischen Eingriff verzichtet haben – dies trotz obligatorischer
Krankenversicherung.
Wenn man die Verzichte auf Gesundheitsleistungen unter dem
Aspekt des Einkommens betrachtet, so sind darunter 4 Prozent
Personen, die mehr als 13 000 Franken pro Monat verdienen.
Bei den Ärmsten, jenen, die weniger als 3000 Franken verdienen,
sind es 30 Prozent. Da die Ärmsten der Bevölkerung auch
am häufigsten krank sind, entsteht eine doppelte Ungleichheit:
Die, die eigentlich mehr zum Arzt gehen sollten, sind gleichzeitig
jene, die am ehesten darauf verzichten. Eine Ursache für diesen
Missstand ist das Schweizer Krankenversicherungssystem. Seit
der Einführung der obligatorischen Krankenversicherung im
Jahr 1996 haben sich die Prämien mehr als verdoppelt, und das
geltende Franchisensystem verleitet sozial Schwächere dazu, eine
hohe Franchise zu wählen. Wenn dann etwas passiert, steht ihnen
das nötige Geld für die Behandlung nicht zur Verfügung. Verallgemeinernd
gesagt lässt sich vom «Zahnstatus» eines Menschen auf
seinen Sozialstatus schliessen.
Die Rolle der sozio-ökonomischen Stellung
Die wachsende soziale Ungleichheit und mit ihr die ungleiche
Ressourcenverteilung führen also dazu, dass armutsbetroffene
Menschen von der Gesellschaft als selbstverständlich angesehene
Gesundheitsziele vermehrt nicht mehr erreichen und dass sie die
ihnen zustehenden medizinische Leistungen nicht erhalten. Um
die diversen Gesundheitsrisiken besser abschätzen zu können, beobachtet
die Wissenschaft so genannte soziale Determinanten. Sie
haben den weitaus grössten Einfluss auf unsere Gesundheit: Die
Forschung geht davon aus, dass die sozio-ökonomische Situation
und mit ihr verbundene Verhaltensweisen unsere Gesundheit
zu 40 bis 50 Prozent bestimmen. Weiteren Einfluss üben die
Umwelt sowie die Wohnsituation aus (20 Prozent). Die genetische
Veranlagung ist zu 20 bis 30 Prozent bestimmend. Der Einfluss
des Gesundheitssystems, in dem wir uns bewegen, auf die Gesundheit
beträgt hingegen lediglich 10 bis 15 Prozentpunkte.
Die zehn wichtigsten sozialen Determinanten sind, gemäss
WHO, der Sozialgradient (die Stellung in der Gesellschaft), Stress,
die frühe Kindheit, soziale Isolierung, die Situation am Arbeits-
18 ZeSo 1/14 SCHWERPUNKT
Gesundheit
15 Prozent der Genfer Bevölkerung verzichtet gemäss einer Studie aus ökonomischen Gründen auf Gesundheitsleistungen. Bilder: Keystone
platz, Arbeitslosigkeit, soziale Unterstützung, (Sucht-)Abhängigkeiten,
die Ernährung und die Transportsituation (Bewegung,
Distanzen, Kosten). Am Sozialgradient beispielsweise lässt sich
zeigen, dass Personen mit universitärer Ausbildung eine fünf bis
sieben Jahre höhere Lebenserwartung haben als Personen, die
nur die Grundstufe absolviert haben oder über keine Ausbildung
verfügen. Es gilt: je höher die sozio-ökonomische Stellung, desto
höher die Lebenserwartung.
Eine besonders wichtige Determinante ist auch die frühe Kindheit.
In dieser Phase wird unsere gesundheitliche Entwicklung fürs
ganze weitere Leben vorbestimmt. Das Risiko von Diabetes bei
Männern beispielsweise hängt erwiesenermassen mit dem Geburtsgewicht
zusammen. Je geringer das Geburtsgewicht, desto höher
das Diabetesrisiko (mit 64 Jahren bis zu siebenfach erhöhtes Risiko).
Wenn man untersucht, welche Frauen Kinder zur Welt bringen,
die ein geringes Geburtsgewicht haben, dann sind das häufig
Frauen, die rauchen oder die unter mehr Stress stehen als andere,
beispielsweise weil sie ihr Kind ohne Partner aufziehen. Monoparentale
Kinder sind zudem tendenziell auch einer schlechteren
und unregelmässigeren Ernährung ausgesetzt. Später gesellen sich
die Ausbildungschancen als weiterer gesundheitsbestimmender
Faktor hinzu. Über die Ausbildung lernt man beispielsweise, was
dem Körper gut tut und was nicht. Ein Blick auf des Rauchverhalten
von 25-jährigen Amerikanern zeigt: Von den Jugendlichen, die
nur eine Basisausbildung machen, rauchen rund 30 Prozent, bei
den Studentinnen und Studenten sind es 10 Prozent.
Es ist allerdings nicht immer so, dass eine einzelne, spezifische
soziale Determinante stärker auf unsere Gesundheit wirkt als andere.
Vielmehr greifen Determinanten ineinander über. Das Bild
ist immer als Ganzes zu betrachten. Bei der Determinante Arbeit
– um ein weiteres Beispiel zu nennen – geht es um die Autonomie,
die Arbeitsprozesse selbst zu bestimmen. Ein Manager, der zwar
oft unter grossem Stress steht, kann seinen Arbeitsplan selber einteilen.
Wenn er sich vom Stress erholen muss, geht er Golf spielen
oder joggen. Seine Sekretärin hingegen muss die Arbeit erledigen,
die er ihr vorgibt. Sie kann die Arbeit nicht einfach kurz mal liegen
lassen. Es gilt: je tiefer in der sozialen Hierarchie, desto geringer
die Autonomie, seine Arbeitsprozesse zu bestimmen. Und je weniger
Autonomie, desto höher ist beispielsweise das Risiko für einen
Herzinfarkt.
Den Einfluss der Determinanten ernst nehmen
In den aktuellsten verfügbaren Zahlen weist das Bundesamt für
Statistik (BfS) für das Jahr 2011 rund 580 000 Personen aus, die
von Einkommensarmut betroffen sind. 2012 waren ebenfalls
gemäss BfS 15 Prozent der Bevölkerung oder jede siebte Person in
der Schweiz armutsgefährdet. Schon aufgrund dieser Zahlen ist es
angezeigt, den Einfluss der sozialen Determinanten ernst zu
nehmen und gegen die zunehmende soziale Ungleichheit aktiv zu
werden. Dass die Schweiz ein reiches Land ist, ist kein Grund,
nicht genau hinzuschauen. Denn das Motto «je reicher, desto
höher die Lebenserwartung» gilt primär für Entwicklungsländer
SCHWERPUNKT 1/14 ZeSo
19
mit einem Pro-Kopf-Einkommen bis 5000 Dollar. Für industrialisierte
Länder mit hohen Pro-Kopf-Einkommen hat man hingegen
festgestellt, dass die durchschnittliche Lebenserwartung bei extremen
Unterschieden bei der Vermögensverteilung tiefer ist als in
Ländern, wo diese Schere weniger weit geöffnet ist.
Den diversen wissenschaftlichen Erkenntnissen kann ich eigene
Beobachtungen aus rund zwanzig Jahren sozialmedizinischer
Arbeit hinzufügen. Ich hatte viel mit vulnerablen Populationen,
mit Obdachlosen, mit nicht versicherten «illegalen» Migranten
und aktuell mit Gefängnisinsassen zu tun und bin zur Einsicht
gekommen, dass man aufgrund des Gesundheitszustandes eines
Menschen oft auch auf die Qualität des Gesundheitssystems in
seinem Herkunftsland schliessen kann. Wenn eine Gesellschaft
vulnerable Bevölkerungsgruppen wie Migranten oder Häftlinge
schlecht behandelt oder von Sozialleistungen ausschliesst, besteht
eine höhere Wahrscheinlichkeit, dass diese Gesellschaft auch andere
sozial schwache Gruppen schlecht behandelt oder misshandelt.
In Ländern, die auch für Häftlinge eine gute Gesundheitsversorgung
gewährleisten, kann man hingegen davon ausgehen, dass
die gesamte Population sehr gut betreut wird.
Konsequenzen für die Sozialarbeit
In Analogie kann man wohl davon ausgehen, dass, wenn in einem
Land die Sozialsysteme bei den Ärmsten greifen, sie generell gut
greifen und dass dadurch die Ungleichheit bei der Vermögens-
verteilung geringer ist. Ungleichheiten im System sind für alle
schlecht. Sie bergen die Gefahr von sozialer Unruhe, senken die
durchschnittliche Lebenserwartung und verursachen langfristig
Mehrkosten, die auf den Staat und die Gesellschaft zurückfallen.
Soziale Systeme sind dann gut, wenn die sozialen Auffangmechanismen
auch bei vulnerablen Gruppen richtig umgesetzt
werden.
Wer die wichtigsten sozialen Determinanten kennt und beachtet,
kann früher intervenieren und gezielter handeln, auch in der
Sozialarbeit. Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter sollten deshalb
die genannten zehn Determinanten «auf dem Radar» haben
und ihren Klienten entsprechende Fragen stellen. Wenn mehrere
Fragen alarmierende Antworten zur Folge haben, dann ist unter
Umständen eine Kontaktaufnahme mit dem Arzt angebracht.
Möglicherweise zeigt sich auch, dass dem Klient die Kompetenz
fehlt, mit Ärzten zu sprechen oder eine Packungsbeilage zu lesen
und zu verstehen («health illiteracy»). Solchen Klienten können
Sozialarbeitende begleitend zur Seite stehen und ihnen helfen, sich
im System zu orientieren. Eine parallele Handlungsebene besteht
sinngemäss bei der Ernährung respektive bei Ernährungsfragen.
Investieren, wo es sich lohnt
Die Gesellschaft sollte erkennen, dass es sich lohnt, möglichst früh in
Integrationsprojekte zu investieren. Was Integrationsmassnahmen
langfristig bewirken können, zeigt das «Perry-Preschool-Project»,
für das in einer amerikanischen Kleinstadt in der Nähe von Detroit
rund 120 drei- bis vierjährige Kinder aus sehr prekären Verhältnissen
in zwei Gruppen eingeteilt wurden: Die Hälfte der Kinder
wurde während sechs Monaten von Erzieherinnen betreut und stimuliert,
etwa indem ihnen bei den Hausaufgaben geholfen wurde
oder indem man ihnen eine ausgewogene Ernährung reichte. Die
andere Hälfte wurde nicht stimuliert und betreut. Die Kinder wurden
dann 40 Jahre lang beobachtet.
Es zeigten sich spektakuläre Unterschiede im Werdegang der
Probanden: Die während eines halben Jahrs geförderten Kinder
hatten im Vergleich zu den anderen Kindern wesentlich häufiger
einen Schulabschluss gemacht, sie verdienten wesentlich häufiger
mehr als 20 000 Dollar im Jahr, es kam in dieser Gruppe zu wesentlich
weniger Verhaftungen durch die Polizei usw. Das Projekt
kostete den Staat rund 18 000 Dollar, gut investiertes Geld. Man
hat berechnet, dass jeder Dollar dem Staat eine Ausgabenersparnis
von 16 Dollar generiert hat. Wenn ein Staat also bei den Ausgaben
sparen will, wie er es auch bei uns in jüngster Zeit wieder vermehrt
tun muss, sollte man bedenken, dass man durch eine gezielte
Förderung von sozial Benachteilgten einen sehr viel grösseren
Spareffekt erreicht, als wenn man neue Gefängnisse baut und bei
Gesundheits- und Bildungsangeboten spart.
•
Hans Wolff
Universitätsspital Genf, Leiter gefängnismedizinische Abteilung
Mitglied der Antifolterkommission des Europarats
protokolliert von Michael Fritschi
Manche können Gesundheitsinformationen nicht selbständig verarbeiten.
Literatur
Hans Wolff, Jean-Michel Gaspoz, Idris Guessous, Health care
renunciation for economic reasons, Swiss Medical Weekly, 2011.
20 ZeSo 1/14 SCHWERPUNKT
Unregelmässige Einkommen: Wann
ist die Soziahilfeablösung möglich?
Das Einkommen einer Sozialhilfebezügerin unterliegt wegen unregelmässiger Arbeitseinsätze
Schwankungen. Massgebend für den Zeitpunkt der Ablösung ist die Bedürftigkeit. Um diese besser
abschätzen zu können, kann das Einkommen über mehrere Monate beobachtet und beurteilt werden.
Frage
Maria C. arbeitet neu im Stundenlohn als
Verkäuferin. Sie wird unregelmässig beschäftigt.
In gewissen Monaten reicht ihr
Einkommen nicht aus, um den Bedarf zu
decken, während in anderen Monaten der
Lohn über dem errechneten Existenzminimum
liegt. Ihre Sozialarbeiterin stellt sich
die Frage, ob dieser Einkommensüberschuss
Frau C. jeweils zur freien Verfügung
stehen sollte, wenn absehbar ist, dass ihr
Einkommen im nachfolgenden Monat den
Bedarf nicht decken wird und sie in der
Folge erneut ergänzend mit Sozialhilfe
unterstützt werden muss.
PRAXIS
In dieser Rubrik werden exemplarische Fragen aus
der Sozialhilfe praxis an die «SKOS-Line» publiziert
und beantwortet. Die «SKOS-Line» ist ein webbasiertes
Beratungsangebot für SKOS-Mitglieder.
Der Zugang erfolgt über www.skos.ch Mitgliederbereich
(einloggen) SKOS-Line.
Grundlagen
Die Ablösung von der wirtschaftlichen Hilfe
ist zu dem Zeitpunkt möglich, ab dem
der Bedarf durch ein Einkommen gedeckt
wird. Bei unregelmässigen Einkommen ist
dieser Zeitpunkt aber nicht immer eindeutig
feststellbar. Auch die gesetzlichen Grunlagen
geben auf diese Frage keine Antwort.
Daher besteht eine unterschiedliche Praxis,
zu welchem Zeitpunkt ein Fall verwaltungstechnisch
abgeschlossen wird und somit
bei einer allfälligen Neuanmeldung
das teils umfangreiche Abklärungsprozedere
zu Beginn einer sozialhilferechtlichen
Unterstützung wiederholt werden muss.
Bei der Beurteilung können unterschiedliche
Berechnungszeiträume für die sozialhilferechtliche
Notlage gewählt werden.
Ausschlaggebend muss jedoch immer die
aktuelle Bedürftigkeit sein. Dabei sind die
Prinzipien der Subsidiarität und der
Gleichbehandlung, aber auch die Verhältnismässigkeit
der getroffenen Lösung zu
beachten.
Grundsätzlich ist bei unregelmässigen
Einkünften der Sozialhilfeanspruch jeden
Monat neu zu berechnen. Dies bedeutet jedoch
nicht, dass der Abrechnungszeitraum
ebenfalls monatlich gewählt werden muss.
Eine dreimonatige oder in begründeten
Fällen sogar eine halbjährliche oder jährliche
Abrechnung kann je nach Situation
geeignet und erforderlich sein, um den
grundsätzlichen Anspruch zu prüfen. So
stellte das Bundesgericht kürzlich für einen
Fall aus dem Kanton Zürich zusammenfassend
fest (8C_325/2012, 24. August
2012, Abschnitte 4.3 bis 4.5): Die Frage
der Anrechenbarkeit von Einkünften stellt
sich im sozialhilferechtlichen Sinne so lange,
als sich die bedürftige Person in einer
Notlage befindet. Eine besondere Problematik
ergibt sich bei der Anrechnung von
schwankendem Einkommen. Entscheidend
ist, für welchen Zeitraum die Bedürftigkeit
beurteilt wird. Eine monatliche
Prüfung kann je nachdem zu anderen Ergebnissen
führen als die Berücksichtigung
einer Gesamtperiode. «Es ist nicht bundesrechtswidrig
und bedeutet insbesondere
keine willkürliche Auslegung und Anwendung
(Art. 9 BV) der Bestimmungen des
zürcherischen Sozialhilferechts, wenn die
Überschussabrechnung nicht monatlich
erfolgt.» Diese Einschätzung dürfte auch
auf die Rechtslage in den meisten anderen
Kantonen zutreffen.
Diese Betrachtungsweise lässt sich
insbesondere vor dem Hintergrund der
Gleichbehandlung mit Personen rechtfertigen,
die ebenfalls nahe dem sozialhilferechtlichen
Existenzminimum leben und
entsprechende Rücklagen bilden müssen.
Es kann davon ausgegangen werden, dass
von der Sozialhilfe unterstützte Personen
Lohnüberschüsse in den Folgemonaten für
Bedarfsdefizite nutzen und somit selber in
der Lage sind, eine Bedürftigkeit abzuwenden
oder zumindest zu mindern.
Sofern im gewählten Betrachtungszeitraum
ein durchschnittlicher Überschuss
ermittelt wird, kann davon ausgegangen
werden, dass keine sozialhilferechtliche
Bedürftigkeit mehr besteht und die bisher
unterstützte Person von der Sozialhilfe
abgelöst werden kann. Andernfalls ist die
Person weiter zu unterstützen, und ein
allfälliger Überschuss ist im Folgemonat
anzurechnen.
Antwort
Maria C. hat keinen Rechtsanspruch darauf,
dass ihr der Lohnüberschuss eines einzelnen
Monats zur freien Verfügung steht
und im Folgemonat nicht angerechnet
wird. Die Einschätzung, ob Maria C. im
Durchschnitt über ausreichend Einkommen
verfügt, um den Lebensunterhalt selbständig
zu bestreiten, dürfte in diesem Fall
nach drei Monaten möglich sein. Die Abrechnung
kann demzufolge auch erst nach
drei Monaten erfolgen. Sofern das durchschnittliche
Einkommen nur knapp über
dem Bedarf liegt, insbesondere wenn im
nächsten Monat erneut ein Manko entsteht,
ist eine Verlängerung des Betrachtungszeitraums
um weitere drei Monate zu prüfen. •
Markus Morger
Daniela Moro
Kommission Richtlinien
und Praxishilfen der SKOS
10 ZeSo 1/14 praxis
Psychische Probleme und Armut sind
eng miteinander verbunden
Psychisch Kranke sind besonders häufig von Erwerbslosigkeit und Armut betroffen. Mit einem
abgestimmten Vorgehen könnten Ärzte und Sozialarbeitende dazu beitragen, mehr Personen mit
psychischen Problemen im Arbeitsmarkt zu halten.
Menschen mit psychischen Problemen haben ein signifikant erhöhtes
Armutsrisiko gegenüber psychisch gesunden Menschen. In der
Schweiz zeigt sich das beispielsweise darin, dass unter den Personen,
deren Haushalteinkommen nicht mehr als 60 Prozent des
Medianeinkommens der Bevölkerung entspricht, der Anteil der Personen
mit psychischen Problemen etwa ein Drittel höher ist als jener
der psychisch Beschwerdefreien. In den meisten anderen Industriestaaten
liegen die Quoten zwischen psychisch kranken und gesunden
armutsgefährdeten Personen noch deutlicher auseinander.
Betrachtet man nur Personen mit schwereren psychischen
Störungen, zum Beispiel psychisch Kranke mit einer IV-Rente,
dann ist das Armutsrisiko nochmals signifikant höher – auch
im Vergleich zu IV-Berenteten mit körperlichen Krankheiten,
Geburtsgebrechen oder unfallbedingten Gebrechen. Fast jeder
zweite psychisch behinderte IV-Rentner lebt in Armut oder ist
armutsgefährdet. Bei Geburtsgebrechen, körperlich Behinderten
und unfallbedingten Behinderungen betragen die entsprechenden
Werte 25, 33 respektive 20 Prozent.
Negative Wechselwirkungen
Armut wiederum ist ein wesentlicher Risikofaktor für die Ausprägung
einer psychischen Krankheit. Armut ist ein starker psychischer
Stressor, der die Bewältigung des täglichen Lebens konkret
erschwert. Wie stark die Belastung durch Armut sein kann, lässt
sich erahnen, wenn man bedenkt, dass die Angst vor Arbeitsplatzverlust
zu den grössten psychischen Stressoren gehört, die es gibt.
Armut und von ihr ausgelöster Stress wirkt sich aber auch indirekt
auf die psychische Befindlichkeit aus. Man fühlt sich inkompetent,
an den Rand der Gesellschaft gedrängt, ausgeschlossen, und man
ist abhängig von den Systemen der sozialen Sicherung. Dass die
Betroffenen Sozialversicherungsleistungen erhalten, ist selbstverständlich
eine wichtige Unterstützung. Auf der anderen Seite bedeutet
es auch einen engen Kontakt zu den Behörden mit all den
jeweiligen Vorschriften, Regeln und Pflichten, die subjektiv als bevormundend,
erniedrigend oder stigmatisierend (als faul, undiszipliniert
oder unwillig) erlebt werden können.
Dies ist gerade bei Personen mit einer psychischen Störung
nicht selten der Fall, weil ihre konkreten Behinderungen für Aussenstehende
nur schwer einzuschätzen sind. Kommt hinzu, dass
die häufigen Versagensängste psychisch Kranker oft mit fehlender
Veränderungsmotivation verwechselt werden und die teils krankheitsbedingte
«Uneinsichtigkeit» in das eigene problematische
Verhalten als Verletzung der Mitwirkungspflicht interpretiert
wird. Viele psychisch Kranke sehen sich deshalb latent oder offen
mit dem Verdacht konfrontiert, zu Unrecht Sozialversicherungsleistungen
zu beziehen.
In der Schweiz entsteht die Verbindung zwischen Armut und
psychischer Krankheit häufig über die Erwerbslosigkeit. Schweizerinnen
und Schweizer mit psychischen Problemen haben eine
geringere Erwerbsquote und eine höhere Arbeitslosenquote als
die beschwerdefreie Population. Betrachtet man die Bezügerinnen
und Bezüger von Sozialversicherungsleistungen, so leiden
zwischen 30 bis 45 Prozent der Arbeitslosen, der Sozialhilfeempfänger
und der IV-Berenteten unter einer psychischen Störung,
während die Rate in der Gesamtbevölkerung rund 20 Prozent
beträgt.
Die Gründe für den engen Zusammenhang zwischen psychischer
Krankheit und Erwerbslosigkeit liegen in besonderen Merkmalen
dieser Krankheiten, der Personen und der Reaktionen des
Umfelds. Besonders der frühe Beginn psychischer Störungen ist
bedeutsam. Anders als die meisten körperlichen Erkrankungen
beginnt die Hälfte aller psychischen Erkrankungen vor dem
14. Lebensjahr und drei Viertel davon vor dem 24. Lebensjahr.
Dieses frühe Erkrankungsalter hat negative Konsequenzen auf
die Ausbildung (Schulprobleme, Ausbildungsabbrüche) und auf
den Berufseinstieg (prekäre Jobs, häufige Stellenwechsel), und
das frühe Erkrankungsalter prägt das Erleben der Betroffenen
(Versagensängste und in der Folge starkes Vermeidungsverhalten).
Neben dem frühen Störungsbeginn ist wesentlich, dass psychische
Krankheiten oft wiederkehrend oder chronisch verlaufen und sich
durch psychiatrische Behandlung zwar stabilisieren, aber meist
nicht heilen lassen.
Persönlichkeitsmerkmale mit Konfliktpotenzial
Dies schlägt sich im Einkommen nieder: Personen, die aus psychischen
Gründen eine IV-Rente beziehen, haben auch in der Zeit, als
sie noch erwerbstätig waren, oft ein stark unterdurchschnittliches
Einkommen erzielt, bedingt durch schlechte Jobs, wiederholte
Arbeitslosigkeit und Sozialhilfeabhängigkeit. Armut und Erwerbslosigkeit
haben fast immer eine lange Geschichte. Bei den personbezogenen
Merkmalen ist wesentlich, dass schwer psychisch Kranke
oft eine «schwierige» Persönlichkeit haben und in ihrem Erleben
und Verhalten nur schwer zu beeinflussen sind. Sie verhalten sich
uneinsichtig, stur und anklagend, fühlen sich schlecht behandelt
oder sehen sich als Opfer. Diese häufigen Persönlichkeitsmerkmale
sind auf dem biografischen Hintergrund der Betroffenen zu
verstehen, und führen oft zu Konflikten am Arbeitsplatz oder in
der Beziehung zu Behörden.
Schliesslich tragen auch umfeldbezogene Charakteristiken zur
besonderen Problematik psychisch Kranker bei, so etwa Vorurteile,
ungenügendes professionelles Know-how involvierter Instanzen
und die meist fehlende Vernetzung unter den behandelnden Ärzten.
22 ZeSo 1/14 SCHWERPUNKT
Gesundheit
Psychisch bedingte Arbeitsprobleme lassen sich oft nur mit einem integrierten Vorgehen lösen.
Bild: Keystone
Aber auch behandelnde Ärzte sind oft wenig hilfreich, weil sie den
Kontakt mit den Arbeitgebenden und den Behörden zu selten suchen
oder ihn mit Verweis auf das Arztgeheimnis gar verhindern.
Das Krankschreibeverhalten der Ärzte – man will den Patienten
«schützen» – ist nicht selten eine Barriere für den Arbeitsplatzerhalt
oder für eine Wiedereingliederung. Zudem tragen die Sozialversicherungen
der Häufigkeit von psychischen Störungen bei
ihrer Klientel kaum Rechnung. Sei es, weil psychische Krankheit
mehr oder weniger negiert wird wie bei der Arbeitslosenversicherung
oder weil die entsprechenden Kompetenzen und Ressourcen
nicht vorhanden sind. Die meist negativen Reaktionen des Umfelds
verstärken zudem die Hemmung der Betroffenen, sich mit
ihren psychischen Problemen beispielsweise am Arbeitsplatz zu
outen. Dies wiederum verhindert oft eine adäquate Reaktion des
Umfelds. So lässt sich erahnen, wie komplex der Zusammenhang
zwischen psychischen Problemen und Erwerbslosigkeit ist.
Gemeinsam ein Setting erarbeiten
Psychische Probleme spielen in der sozialen Arbeit sehr häufig eine
wesentliche Rolle. Diese sollten von den Sozialarbeiterinnen und
Sozialarbeitern aufgegriffen werden, und wenn psychische Probleme
oder eine schwierige Persönlichkeit den Unterstützungsprozess
entscheidend hemmen, sollten die Klienten respektive Klientinnen
nach Möglichkeit einer ärztlichen oder psychiatrischen Behandlung
zugewiesen werden. Generell sollte der Kontakt mit den
behandelnden Ärzten gesucht werden. Dies ist gerade bei Klienten,
die immer wieder Arbeitsstellen wegen Konflikten am Arbeitsplatz
verlieren, besonders wichtig. Denn psychisch bedingte
Arbeitsprobleme sind oft so komplex und dynamisch, dass man sie
nur gemeinsam lösen kann. Das bedeutet allerdings, dass Sozialarbeitende,
behandelnde Ärtinnen und Ärzte und die Klientel sich
darüber einig werden müssen, wo das Problem zu verorten ist
(Problemanalyse), wie dagegen vorgegangen werden soll (Eingliederungsplanung)
und welche «Spielregeln» dabei gelten sollen
(Setting).
Psychische Krankheit, Erwerbslosigkeit und Armut sind nicht zuletzt
deshalb eng miteinander verbunden, weil das Sozial- und das
Gesundheitswesen so fragmentiert sind: Ärzte gehen Arbeitsprobleme
in der Behandlung nicht konkret an und Sozialarbeitende kümmern
sich zu wenig um die psychische Problematik. Mit einem integrierteren
Vorgehen könnten mehr Personen mit psychischen Problemen im
Arbeitsmarkt gehalten werden. Angesichts der steigenden Belastung
der Sozialversicherungen durch die Ausgliederung psychisch Kranker
sollte dies dringend an die Hand genommen werden.
•
Niklas Baer
Leiter Fachstelle für Psychiatrische Rehabilitation
Psychiatrie Baselland
SCHWERPUNKT 1/14 ZeSo