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ZESO 01/14

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SKOS CSIAS COSAS<br />

Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe<br />

Conférence suisse des institutions d’action sociale<br />

Conferenza svizzera delle istituzioni dell’azione sociale<br />

Conferenza svizra da l’agid sozial<br />

ZeSo<br />

Zeitschrift für Sozialhilfe<br />

<strong>01</strong>/<strong>14</strong><br />

Gesundheit Die Gesundheitschancen sind auch in der Schweiz ungleich<br />

verteilt 15 Jahre skos-präsident abschiedsgespräch mit walter schmid<br />

wohnungssuche die stiftung apollo hilft Menschen in schwierigen Situationen


SCHWERPUNKT16–27<br />

gESUNDHEIT<br />

Armut macht krank, und soziale Einschränkungen<br />

führen zu gesundheitlichen Belastungen. Ein geringer<br />

Sozialstatus wird so zum Gesundheitsrisiko.<br />

Das Problem wird akzentuiert, wenn Ärzte wenig<br />

Kenntnis über die Zusammenhänge der Armutsproblematik<br />

haben, und Sozialversicherungen der<br />

psychischen Verfassung ihrer Klientinnen und<br />

Klienten zu wenig Aufmerksamkeit schenken.<br />

Durch besser abgestimmte Hilfen könnten mehr<br />

Personen mit psychischen Problemen im Arbeitsmarkt<br />

gehalten werden.<br />

<strong>ZESO</strong> zeitschrift für sozialhilfe<br />

Herausgeberin Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe SKOS,<br />

www.skos.ch Redaktionsadresse Redaktion <strong>ZESO</strong>, SKOS,<br />

Monbijoustrasse 22, Postfach, CH-3000 Bern <strong>14</strong>, zeso@skos.ch,<br />

Tel. 031 326 19 19 Redaktion Michael Fritschi Redaktionelle<br />

begleitung Dorothee Guggisberg Autorinnen und Autoren<br />

in dieser Ausgabe Niklas Baer, Franziska Ehrler, Rachèle Féret,<br />

Bettina Fredrich, Regine Gerber, Paula Lanfranconi, Lucrezia Meier-<br />

Schatz, Markus Morger, Daniela Moro, Rahel Müller de Menezes,<br />

Christian Rupp, Emine Sariaslan, Margrit Schmid, Simon Steger,<br />

Martin Wild-Näf, Hans Wolff Titelbild Rudolf Steiner layout<br />

mbdesign Zürich, Marco Bernet Korrektorat Peter Brand<br />

Druck und Aboverwaltung Rub Media AG, Postfach, 30<strong>01</strong> Bern,<br />

zeso@rubmedia.ch, Tel. 031 740 97 86 preise Jahresabonnement<br />

Inland CHF 82.– (für SKOS-Mitglieder CHF 69.–),<br />

Abonnement ausland CHF 120.–, Einzelnummer CHF 25.–.<br />

© SKOS. Nachdruck nur mit genehmigung der Herausgeberin.<br />

Die <strong>ZESO</strong> erscheint viermal jährlich.<br />

ISSN <strong>14</strong>22-0636 / 111. Jahrgang<br />

Bild: Keystone<br />

Erscheinungsdatum: 10. März 2<strong>01</strong>4<br />

Die nächste Ausgabe erscheint im Juni 2<strong>01</strong>4.<br />

2 ZeSo 1/<strong>14</strong> inhalt


INHALT<br />

5 Nach wie vor hoher Handlungsbedarf<br />

in der Familienpolitik. Kommentar<br />

von Lucrezia Meier-Schatz<br />

6 13 Fragen an Margrit Schmid<br />

8 Die Besteuerung von Sozialhilfeleistungen<br />

schafft neue Probleme<br />

10 Praxis: Unregelmässige Einkommen<br />

– wann ist die Soziahilfeablösung<br />

möglich?<br />

11 Frühe Förderung zahlt sich aus<br />

12 «Das Eröffnen von Perspektiven<br />

ist das A und O jeder Hilfe»: Interview<br />

zum Rücktritt von Walter Schmid<br />

16 SCHWERPUNKT: gesundheit<br />

18 Armut und Unterversorgung schaden<br />

der Gesundheit<br />

21 Migrantenvereine als Plattform für die<br />

Anliegen der Gesundheitsförderung<br />

22 Psychische Krankheit und Armut<br />

sind eng miteinander verbunden<br />

24 Informationslücken an der Schnittstelle<br />

von medizinischer und sozialer<br />

Tätigkeit<br />

26 Freiwillige leisten Unterstützung bei<br />

der Bewältigung des Alltags<br />

Die verlegerin<br />

Der sozialhilfepromotor<br />

die milizsozialberater<br />

Margrit Schmid ist Verlagsleiterin des<br />

Schweizerischen Jugendschriftenwerks<br />

(SJW), das Kindern und Jugendlichen<br />

Literatur in allen vier Landessprachen<br />

bietet. Sie ist auch als Dokumentarfilmerin<br />

und Ausstellungsmacherin tätig.<br />

6<br />

Im Mai tritt SKOS-Präsident Walter Schmid<br />

nach 15 Jahren engagiertem Einsatz von<br />

seinem Amt zurück. Die SKOS nehme<br />

in einem sehr schwierigen Politikfeld<br />

eine Brückenbauerfunktion ein, sagt er<br />

im Interview, und blickt auf kommende<br />

Herausforderungen für den Verband und die<br />

Sozialhilfe.<br />

12<br />

Die Büros des Armeesozialdienstes<br />

lassen einen militärischen Kontext kaum<br />

erahnen. Hier werden die Einsätze der<br />

26 Milizsozialberater koordiniert, die im<br />

Rahmen ihres Militärdienstes Beratungen in<br />

den Rekrutenschulen durchführen.<br />

28 Professionelle Sozialarbeit bedingt<br />

flexible Vorgehensweisen<br />

30 Reportage: Wenn in der Rekrutenschule<br />

das Geld ausgeht<br />

32 Plattform: Die Stiftung Apollo hilft<br />

Benachteiligten bei der Wohnungssuche<br />

34 Lesetipps und Veranstaltungen<br />

36 Porträt: Schwester Agnes Schneider,<br />

Lehrerin in Tansania<br />

Die Missionarin<br />

30<br />

Schwester Agnes Schneider unterrichtet<br />

auch mit 74 Jahren noch an der St. Martins<br />

Girls Secondary School in Tansania. Sie hat<br />

eine Mission: Junge Frauen durch Bildung<br />

vor Aids und Drogen bewahren.<br />

36<br />

inhalt 1/<strong>14</strong> ZeSo<br />

3


Die Besteuerung von Sozialhilfeleistungen<br />

schafft neue Probleme<br />

Bei einem guten Steueraufkommen kann der Staat mehr Leistungen anbieten, was insbesondere<br />

einkommensschwachen Haushalten zugute kommt. Doch Steuern sind nicht gleich Steuern. Sie<br />

können auch Armut begünstigen. Und die Besteuerung von Sozialhilfeleistungen würde mehr<br />

Probleme schaffen, als sie löst.<br />

Steuern lassen sich grob in zwei Kategorien<br />

einteilen: in Steuern auf Einkommen und<br />

Vermögen sowie in Verbrauchssteuern. Bei<br />

den Verbrauchssteuern fällt die Mehrwertsteuer<br />

für einkommensschwache Haushalte<br />

am stärksten ins Gewicht. Einkommensschwache<br />

Haushalte geben insgesamt zwar<br />

einen kleineren Betrag, anteilmässig aber<br />

einen grösseren Teil ihres Einkommens für<br />

den unmittelbaren Konsum aus als Haushalte<br />

mit hohen Einkommen. Einkommensschwache<br />

Haushalte sind deshalb von<br />

Erhöhungen der Mehrwertsteuer stärker<br />

betroffen. Sie können ihren bereits bescheidenen<br />

Konsum nicht weiter reduzieren. In<br />

der anderen Kategorie sind für einkommensschwache<br />

Haushalte vor allem die<br />

Einkommenssteuern von Bedeutung. Für<br />

einkommensschwache Haushalte ist es wesentlich,<br />

wie Einkommen besteuert und<br />

welche Abzüge getätigt werden können<br />

und wie das Steuer- und das Sozialtransfersystem<br />

aufeinander abgestimmt sind.<br />

Zwischen Sozial- und Fiskalpolitik<br />

Das Einkommen eines Haushalts umfasst<br />

nicht nur den Lohn, sondern alle finanziellen<br />

Einkünfte des Haushalts. Dazu gehören<br />

auch Sozialversicherungs- und Bedarfsleistungen.<br />

Diese werden unterschiedlich<br />

besteuert. Die Renten der AHV und der IV<br />

sowie Leistungen der Arbeitslosenversicherung<br />

werden beispielsweise vollständig<br />

besteuert, und auch bevorschusste Alimente<br />

und Kinderzulagen werden wie Lohneinkommen<br />

besteuert. Andere Renten und<br />

Pensionen hingegen werden mit einem tieferen<br />

Steuersatz besteuert, beispielsweise<br />

Renten aus der beruflichen Vorsorge und<br />

Leibrenten. Von den Steuern ausgenommen<br />

sind Stipendien, Ergänzungsleistungen<br />

zur AHV oder IV und Leistungen der<br />

Sozialhilfe. Wie viele Steuern ein Haushalt<br />

bezahlen muss, hängt also nicht unwesentlich<br />

davon ab, wie sich sein Einkommen<br />

zusammensetzt.<br />

Neben dem Einkommen spielen bei der<br />

Berechnung der Steuern auch die Abzüge<br />

eine Rolle. Mit diesen werden teilweise explizit<br />

sozialpolitische Ziele verfolgt. So wird<br />

beispielsweise der verminderten finanziellen<br />

Leistungsfähigkeit eines Haushalts<br />

mit Kindern gegenüber einem Haushalt<br />

ohne Kinder Rechnung getragen, indem<br />

ein Kinderabzug getätigt werden kann<br />

und Kosten für die familienergänzende<br />

Kinderbetreuung in Abzug gebracht wer-<br />

Ohne sorgfältige Abstimmung zwischen dem Steuer- und dem Sozialsystem können Ineffizienz und Ungerechtigkeit entstehen.<br />

Bild: Keystone<br />

8 ZeSo 1/<strong>14</strong> position skos


den können. Solche Abzüge können Haushalte<br />

steuerlich entlasten und damit im<br />

besten Fall Armut verhindern. Allerdings<br />

schmälert eine allgemeine Erhöhung der<br />

Abzüge das Steueraufkommen, und aufgrund<br />

der progressiven Ausgestaltung des<br />

Steuersystems fällt die Steuereinsparung<br />

für tiefe Einkommen geringer aus als für<br />

hohe Einkommen. Ein weiterer Faktor ist<br />

der Steuersatz, mit dem tiefe Einkommen<br />

besteuert werden. Die Zusammenhänge<br />

zwischen dem Steuer- und dem Sozialsystem<br />

sind also vielfältig, und es braucht eine<br />

sorgfältige Abstimmung zwischen den beiden<br />

Systemen, damit beide effizient und<br />

gerecht funktionieren können.<br />

Working-Poor-Haushalte sind<br />

besonders betroffen<br />

Dies ist vor allem in Bezug auf Working-<br />

Poor-Haushalte eine Herausforderung. Für<br />

sie kann die Steuerbelastung der Tropfen<br />

sein, der das Fass zum Überlaufen bringt<br />

und die Armutsproblematik akzentuiert.<br />

Zudem kann eine mangelhafte Abstimmung<br />

der Systeme dazu führen, dass sich<br />

Working-Poor-Haushalte in einer Situation<br />

wiederfinden, in der sich Erwerbsarbeit<br />

finanziell nicht mehr lohnt, weil Erwerbseinkommen<br />

besteuert werden und Sozialleistungen<br />

nicht. Um solches zu verhindern,<br />

können Massnahmen sowohl auf<br />

Seiten der Sozial- als auch der Steuerpolitik<br />

ergriffen werden. Bei den Sozialleistungen<br />

etwa können Freibeträge auf Erwerbseinkommen,<br />

wie sie die Sozialhilfe kennt, die<br />

Steuerlast von Working-Poor-Haushalten<br />

kompensieren und dafür sorgen, dass sich<br />

Erwerbsarbeit in jedem Fall finanziell<br />

lohnt. Auf Seite der Steuerpolitik kann die<br />

Steuerbefreiung des Existenzminimums,<br />

wie sie bei den Bundessteuern und in einigen<br />

Kantonen bereits umgesetzt ist, dafür<br />

sorgen, dass die Steuerbelastung niemanden<br />

in die Armut treibt.<br />

Ein radikalerer Ansatz zur Lösung dieser<br />

Problematik sieht die Besteuerung von<br />

Sozialhilfeleistungen bei gleichzeitiger<br />

Steuerbefreiung des Existenzminimums<br />

vor. Der Bundesrat wird im Frühling einen<br />

Bericht zu einer entsprechenden parlamentarischen<br />

Vorlage veröffentlichen.<br />

Aktuelle<br />

Steuervorlagen aus<br />

armutspolitischer<br />

Perspektive<br />

«Millionen-Erbschaften besteuern<br />

für unsere AHV» (SP)<br />

Die Initiative sieht die Schaffung einer<br />

Erbschafts- und Schenkungssteuer vor. Die<br />

Einnahmen kämen zu zwei Dritteln der AHV<br />

und zu einem Drittel den Kantonen zugute.<br />

Eine solide, langfristig finanzierte AHV ist für<br />

die Bekämpfung von Armut zentral. Ob diese<br />

mit der Erbschaftssteuer erreicht werden<br />

kann, bleibt allerdings fraglich.<br />

«Für Ehe und Familie –<br />

gegen die Heiratsstrafe» (CVP)<br />

Die Initiative möchte die Nachteile verheirateter<br />

Paare gegenüber Konkubinatspaaren<br />

bei den Steuern und Sozialversicherungen<br />

ausmerzen. Die Auswirkungen sind schwierig<br />

einzuschätzen. Es ist nicht klar, ob es bei<br />

einzelnen Sozialleistungen zu Veränderungen<br />

bei der Behandlung von Ehe- respektive Konkubinatspaaren<br />

kommen wird.<br />

«Familien stärken! Steuerfreie Kinderund<br />

Ausbildungszulagen» (CVP)<br />

Angestrebt wird eine steuerliche Entlastung<br />

aller Familien. Faktisch ist die steuerliche Entlastung<br />

umso höher, je höher das Einkommen<br />

ist. Die Wirkung auf Armutsbetroffene und<br />

Haushalte im Niedriglohnbereich ist sehr<br />

gering bis nichtig, gleichzeitig kommt es zu<br />

erheblichen Steuerausfällen.<br />

Die SKOS hat den Vorschlag analysiert.<br />

Es hat sich gezeigt, dass die Besteuerung<br />

von Sozialhilfeleistungen mehr Probleme<br />

schafft, als sie löst. Unter anderem aus<br />

folgenden Gründen: Der Staat entrichtet<br />

Sozialhilfeleistungen an Privathaushalte.<br />

Für die Festlegung der Höhe dieser Leistungen<br />

wird der effektive Bedarf des Haushalts<br />

berechnet. Bei einer Besteuerung<br />

der Sozialhilfeleistungen würde der Staat<br />

einen Teil dieser Leistungen wieder in<br />

Form von Steuern zurückfordern. Damit<br />

stellt er seine eigene Bedarfsrechnung in<br />

Frage. Der Haushalt hat anschliessend auf<br />

dem Vollstreckungsweg die Möglichkeit,<br />

einen Steuererlass zu beantragen. Dabei<br />

wird wiederum eine Bedarfsrechnung erstellt,<br />

und falls die Steuerforderung in das<br />

Existenzminimum eingreift, werden die<br />

Steuern erlassen.<br />

Aufwändiges Nullsummenspiel<br />

verhindern<br />

Das ergibt ein Nullsummenspiel für den<br />

Staat, das mit grossem administrativem<br />

Aufwand verbunden ist und das die Legitimation<br />

des Systems gefährdet. Werden die<br />

Steuern nicht erlassen und ein Teil der Sozialhilfeleistungen<br />

muss in Form von Steuern<br />

zurückbezahlt werden, führt das zudem für<br />

einige Haushalte zu einer Unterwanderung<br />

des Existenzminimums. Um das Existenzminimum<br />

weiterhin zu garantieren, müssten<br />

höhere Sozialhilfeleistungen entrichtet<br />

werden. Das wiederum führt zu unerwünschten<br />

Finanztransfers, da die Leistungen<br />

der Sozialhilfe in verschiedenen Kantonen<br />

von der Gemeinde finanziert werden.<br />

Die Sozialhilfebeziehenden geben einen Teil<br />

der Leistungen, die sie von ihrer Gemeinde<br />

erhalten, in Form von Steuern an den Kanton<br />

weiter. Die Besteuerung von Leistungen<br />

der Sozialhilfe ist also wenig sinnvoll und<br />

verletzt die Steuergerechtigkeit.<br />

Fazit: Damit die Sozialhilfe ihre Ziele<br />

erreichen kann, ist es wichtig, dass das<br />

Steuersystem und das Sozialleistungssystem<br />

Hand in Hand gehen und dass die beiden<br />

Systeme die beabsichtigten Wirkungen des<br />

anderen nicht torpedieren. Damit dies gelingt,<br />

muss das soziale Existenzminimum<br />

von den Steuern ausgenommen sein. Wer<br />

am Existenzminimum lebt, soll keine Steuern<br />

zahlen, unabhängig davon, ob das verfügbare<br />

Einkommen aus Erwerbstätigkeit<br />

oder aus Sozialhilfeleistungen stammt. •<br />

Franziska Ehrler,<br />

Leiterin Fachbereich Grundlagen, SKOS<br />

www.skos.ch/grundlagen-und-positionen<br />

position skos 1/<strong>14</strong> ZeSo<br />

9


«Das Eröffnen von Perspektiven<br />

ist das A und O jeder Hilfe»<br />

Für die SKOS geht eine Ära zu Ende: Nach 15 Jahren Präsidentschaft tritt Walter Schmid im Mai von<br />

seinem Amt zurück. Die SKOS nehme in einem sehr schwierigen Politikfeld eine Brückenbauerfunktion<br />

ein, sagt Schmid, und blickt auf kommende Herausforderungen für den Verband und die Sozialhilfe.<br />

Als Sie im Jahr 1999 zum Präsidenten<br />

der SKOS gewählt wurden, beschäftigte<br />

sich der Verband mit einem<br />

«drastischen Zuwachs» der Fallzahlen<br />

bei der Sozialhilfe. Die SKOS forderte<br />

in Anbetracht neuer sozialer Risiken<br />

als Folge von Liberalisierung und Deregulierung<br />

Massnahmen gegen den<br />

brüchig gewordenen Sozialversicherungsschutz.<br />

Wo stehen wir in dieser<br />

Hinsicht heute, 15 Jahre später?<br />

Walter Schmid: Damals ging eine lange<br />

Rezessionsphase in der Schweiz zu Ende.<br />

Während meiner Amtszeit als Chef des<br />

Fürsorgeamts der Stadt Zürich beispielsweise<br />

hatten sich die Fallzahlen verdoppelt<br />

und die Kosten verdreifacht. Wir forderten<br />

einen Umbau der sozialen Sicherungssysteme.<br />

Dazu ist es allerdings nicht gekommen.<br />

Dafür zu verschiedenen Teilrevisionen.<br />

Dank guter Konjunktur flachte das<br />

Wachstum der Fallzahlen in der Sozialhilfe<br />

später wieder ab.<br />

Was entgegnen Sie den Kritikern, die<br />

sagen, die heutige Sozialhilfe sei zu<br />

attraktiv und zu grosszügig?<br />

Die Leistungen der Sozialhilfe haben<br />

sich seit 1999 nicht wesentlich verändert,<br />

und der Grundbedarf wurde nur teuerungsbereinigt<br />

angehoben. Der Grundbedarf in<br />

der Sozialhilfe ist wesentlich tiefer als bei<br />

den Ergänzungsleistungen und auch tiefer<br />

als beim Betreibungsrecht. Es stimmt<br />

also nicht, dass die Sozialhilfe grosszügiger<br />

geworden ist. Aber man kann sagen,<br />

dass mehr Menschen nicht mehr auf<br />

den Versicherungsschutz der Sozialwerke<br />

zählen können und dass es auch mehr<br />

Menschen gibt, die die Voraussetzungen<br />

für einen Sozialversicherungsbezug nicht<br />

erfüllen und nie erfüllen werden. Aus<br />

diesem Grund sind die Zahl der Sozialhilfebeziehenden<br />

und die Kosten weiter<br />

angestiegen.<br />

Die Sozialhilfe kommt gegenüber den<br />

Sozialversicherungen vermehrt komplementär<br />

zum Einsatz. Wie beurteilen<br />

Sie diesen schleichenden Paradigmawandel,<br />

der den subsidiären<br />

Charakter der Sozialhilfe zunehmend<br />

infrage stellt?<br />

Natürlich gilt in der Sozialhilfe weiterhin<br />

das Subsidiaritätsprinzip. Sie kommt<br />

also nur zum Zuge, wenn keine anderen<br />

Mittel zur Verfügung stehen. Wenn man<br />

jedoch bedenkt, welche Arbeitsplätze in<br />

den vergangenen Jahren neu geschaffen<br />

wurden und welche verschwunden sind,<br />

dann erkennt man gewaltige Umwälzungen.<br />

Die Sozialhilfe hat wesentlich<br />

mitgeholfen, die Nebenwirkungen dieses<br />

Strukturwandels der Wirtschaft zu bewältigen<br />

und den Menschen ein Minimum an<br />

Sicherheit zu geben. Zur komplementären<br />

Seite der Sozialhilfe: Für mich bedeutet<br />

das eigentlich nur, dass die Sozialhilfe ein<br />

wichtiger und etablierter Bestandteil des<br />

Ganzen geworden ist.<br />

In Ihre «Ära» fällt die Festschreibung<br />

der aktivierenden Sozialhilfe in den<br />

SKOS-Richtlinien. Was hat man damit<br />

bewirken können?<br />

Die Sozialhilfeempfängerinnen und<br />

-empfänger sollen dabei unterstützt werden,<br />

wieder in die Erwerbstätigkeit zurückzufinden<br />

und auf eigenen Füssen stehen zu<br />

können. Das ist ein wichtiges Prinzip und<br />

ein generelles Paradigma in der Schweizer<br />

Sozialpolitik. Die aktivierende Sozialpolitik<br />

hat Möglichkeiten geschaffen, dass<br />

Leute wieder arbeiten konnten, die dies<br />

sonst nicht mehr getan hätten. Sie eröffnet<br />

für viele Menschen Perspektiven und<br />

erhöht die Akzeptanz der Sozialhilfe in der<br />

Bevölkerung.<br />

Wo sehen Sie die Grenzen des Gegenleistungsprinzips?<br />

Es hat eine gewisse Verabsolutierung<br />

dieses Prinzips stattgefunden, die mir<br />

missfällt. Man hat aus den Augen verloren,<br />

dass es auch Menschen gibt, die trotz<br />

Aktivierung nicht mehr zurück in einen<br />

Job finden, und die dennoch eine Existenzberechtigung<br />

haben. Auch für sie trägt die<br />

Gesellschaft eine Verantwortung. Was mir<br />

auch nicht gefällt ist, dass die Armut individualisiert<br />

wird. Man schiebt alle sozialen<br />

Probleme dem Individuum zu, und auch<br />

die Lösungen werden nur bei ihm gesucht.<br />

Dadurch entsteht schnell einmal der Eindruck,<br />

es läge nur am Individuum, seine<br />

Situation zu verbessern. Gesellschaftliche<br />

Entwicklungen wie der Strukturwandel<br />

oder der Einfluss der Bildungschancen<br />

werden ausgeblendet.<br />

Welchen weiteren Herausforderungen<br />

muss sich die SKOS vermehrt stellen?<br />

Das heutige Instrumentarium kann<br />

schlecht unterscheiden zwischen kurzfristiger,<br />

subsidiärer Unterstützung für<br />

Personen, die es schaffen, aus eigenem<br />

Antrieb wieder aus der Sozialhilfe herauszukommen,<br />

und Personen, die auf Dauer<br />

auf Sozialhilfe angewiesen sind. Auch das<br />

gibt es, etwa wenn die Invalidenversiche-<br />

«Die Sozialhilfe<br />

hat wesentlich<br />

mitgeholfen, die<br />

Nebenwirkungen<br />

des Strukturwandels<br />

zu<br />

bewältigen.»<br />

12 ZeSo 1/<strong>14</strong> interview


ung heute gewisse Krankheitsbilder nicht<br />

mehr als für eine Rente relevant betrachtet<br />

und arbeitsunfähige Menschen keinen Zugang<br />

mehr zur Sozialversicherung haben.<br />

Diese Entwicklungen bedingen differenzierte<br />

Antworten.<br />

Eine andere grosse Herausforderung<br />

ist die öffentliche Wahrnehmung der Sozialhilfe<br />

und der Armut. Sie ist manchmal<br />

ziemlich weit von der Realität entfernt. So<br />

werden viele Probleme auf die Sozialhilfe<br />

projiziert, die gar nichts mit ihr zu tun<br />

haben, etwa bei Jugendlichen und ihren<br />

Bildungschancen: Bis die Sozialhilfe zum<br />

Zug kommt, ist schon sehr viel schief gelaufen.<br />

Gleichwohl macht die Öffentlichkeit<br />

solche Probleme an der Sozialhilfe<br />

fest und erwartet von uns Lösungen, für<br />

die wir die Instrumente nicht haben. Die<br />

Sozialhilfe wird oft mit dem Sozialstaat<br />

gleichgesetzt, obwohl bekannt ist, dass die<br />

Sozialhilfeausgaben nur rund zwei Prozent<br />

der gesamten Sozialausgaben und Sozialtransfers<br />

ausmachen. Solche Verzerrungen<br />

in der Wahrnehmung sind echte Herausforderungen.<br />

Daraus resultiert auch das Imageproblem,<br />

das die Sozialhilfe und mit ihr<br />

die SKOS in der Öffentlichkeit haben.<br />

Wie kann die SKOS dem begegnen?<br />

Solange die SKOS sich mit Sozialhilfe<br />

befasst, wird sie immer wieder mit Imageproblemen<br />

konfrontiert sein. Die Sozialhilfe<br />

war noch nie ein geliebtes Kind der<br />

Gesellschaft. Das war auch schon so, als<br />

man das Bettlervolk am Abend noch aus<br />

den Städten hinaus trieb, um die Leute<br />

nicht mehr sehen zu müssen. Wir haben<br />

es mit Menschen zu tun, die relativ wenig<br />

geben können und die oft als Belastung<br />

empfunden werden. Ich glaube aber, dass<br />

wir als Fachverband trotzdem viel Anerkennung<br />

geniessen. Wir haben in einem<br />

sehr schwierigen Politikfeld eine Brückenbauerfunktion<br />

und wir konnten in schwierigen<br />

Fragen immer wieder einen Konsens<br />

herstellen. Der Verband leistet insgesamt<br />

gute Arbeit. Ich habe das gerade jetzt bei<br />

der Ankündigung meines Rücktritts erfahren,<br />

als verschiedenste Kreise ihre Anerkennung<br />

unserer Arbeit zum Ausdruck<br />

gebracht haben.<br />

<br />

Bilder: Béatrice Devènes<br />

interview 1/<strong>14</strong> ZeSo<br />

13


Wie haben Sie die Position der SKOS<br />

vis-à-vis von Bund, Kantonen und<br />

Gemeinden erlebt?<br />

Die Rolle der SKOS ist einzigartig, auch<br />

im internationalen Vergleich. Alle Akteure<br />

sind im Verband versammelt. Dadurch haben<br />

wir die wichtigsten Stimmen immer<br />

einfangen und in die Lösungsentwicklung<br />

einbinden können. Das ist ein grosses<br />

Privileg. Wir sind in unserer Entscheidfindung<br />

manchmal etwas schwerfällig,<br />

dafür sind unsere Entscheide solide abgestützt.<br />

Die Kehrseite ist, dass sich der Bund<br />

nicht besonders um das Thema Sozialhilfe<br />

kümmert – sie gehört nicht in seinen Zuständigkeitsbereich<br />

– und dass auch die<br />

Kantone dem Thema selten hohe Priorität<br />

einräumen.<br />

Fühlten Sie sich von den Kantonen in<br />

der Öffentlichkeit genügend unterstützt,<br />

als die Sozialhilfe im vergangenen<br />

Jahr politisch heftig angegriffen<br />

wurde?<br />

Im Grossen und Ganzen haben uns die<br />

Sozialdirektoren in der Sache sehr unterstützt.<br />

Sie haben aber verständlicherweise<br />

auch stark Rücksicht auf ihre kantonsinternen<br />

politischen Verhältnisse nehmen müssen.<br />

Aus Sicht der SKOS hätte man sich<br />

gelegentlich noch klarere oder vernehmbarere<br />

Aussagen zum Thema Sozialhilfe<br />

gewünscht. Das gilt übrigens auch für den<br />

Bund.<br />

Können Sie das noch weiter ausführen?<br />

Gerade etwa während der Debatte<br />

über die Renitenten vom vergangenen<br />

Frühjahr: Just zu jenem Zeitpunkt haben<br />

Behörden und Verbände sich mit<br />

grossen Gesten bei den Opfern der<br />

administrativen Verwahrung entschuldigt.<br />

Überspitzt gesagt waren die administrativ<br />

Versorgten die Renitenten von<br />

damals. Sie waren teilweise auch keine<br />

angenehmen Zeitgenossen. Man hat<br />

sie verwahrt und hat dabei rechtsstaatliche<br />

Prinzipien verletzt. Deshalb reicht<br />

es aus heutiger Sicht nicht, wenn man<br />

sich vierzig Jahre später entschuldigt<br />

für das, was man damals falsch gemacht<br />

hat, und nicht darüber nachdenkt, dass<br />

man auch in der Gegenwart etwas falsch<br />

machen könnte. Ein Wort zum Umgang<br />

mit Armutsbetroffenen und zur Bedeutung<br />

von rechtstaatlichen Prinzipien auch<br />

heute wäre da angebracht gewesen.<br />

<strong>14</strong> ZeSo 1/<strong>14</strong> interview<br />

Walter Schmid<br />

Walter Schmid (60) studierte Rechtswissenschaft<br />

in Lausanne, Zürich und Stanford.<br />

Von 1982 bis 1991 war er Zentralsekretär<br />

der Schweizerischen Flüchtlingshilfe, danach<br />

Leiter des Amts für Jugend- und Sozialhilfe<br />

der Stadt Zürich. Von 2000 bis 2003<br />

arbeitete er als Projektleiter im Auftrag<br />

des Bundesrats für die Solidaritätsstiftung<br />

und die Verwendung von Goldreserven der<br />

Nationalbank. Seit 2003 ist Walter Schmid<br />

Direktor des Departements Soziale Arbeit<br />

an der Hochschule Luzern. Walter Schmid<br />

tritt an der Mitgliederversammlung im Mai<br />

nach 15 Jahren als Präsident der SKOS<br />

zurück.<br />

«Es genügt nicht,<br />

wenn man sich<br />

40 Jahre später<br />

entschuldigt für<br />

das, was man<br />

damals falsch<br />

gemacht hat.»<br />

Ein Ziel der SKOS ist die Harmonisierung<br />

der Sozialhilfe. Nun sind<br />

Tendenzen zu beobachten, die dem<br />

Erreichten entgegenlaufen. Wie gewonnen,<br />

so zerronnen?<br />

Die Harmonisierung ist relativ weit<br />

fortgeschritten, und es gibt immer wieder<br />

Gegenbewegungen. Das wird solange so<br />

bleiben, wie das System Sozialhilfe vom<br />

föderativen Staat gelenkt wird. Dort, wo es<br />

Abweichungen gibt, sind diese entweder<br />

im Rahmen der Bandbreiten, die die SKOS<br />

empfiehlt, oder sie bewirken keine allzu<br />

grossen Einschränkungen. Wenn etwa der<br />

Kanton Waadt die SKOS-Richtlinien nicht<br />

integral übernimmt, dafür bei den Jugendlichen<br />

eine «Stipendien-statt-Sozialhilfe-<br />

Strategie» verfolgt, dann ist das ein gutes<br />

kantonales Experiment. Der Föderalismus<br />

birgt gerade auch dann Chancen, wenn es<br />

auf nationaler Ebene zu politischen Blockaden<br />

kommt. Wir sehen das zurzeit bei den<br />

Ergänzungsleistungen für einkommensschwache<br />

Familien. Das sind Beispiele für<br />

gute und innovative Entwicklungen.


«Die Bekämpfung<br />

der Armut ist eine<br />

komplexe Sache,<br />

zu der es keine<br />

einfachen Rezepte<br />

gibt.»<br />

Was läuft, allgemein betrachtet, im<br />

System der sozialen Sicherheit der<br />

Schweiz gut?<br />

Wir haben ein zwar kompliziertes aber<br />

gut ausgebautes Netz von Sozialversicherungen,<br />

und im Hintergrund wirkt auch<br />

die Sozialhilfe als letztes verlässliches Netz<br />

der sozialen Sicherheit stabilisierend in der<br />

Sozialpolitik. Schwachpunkte sind gewisse<br />

Doppelspurigkeiten bei den Sozialwerken<br />

oder die immer noch sehr ungenügende interdisziplinäre<br />

Zusammenarbeit. Man sollte<br />

auch hinschauen, wo Fehlallokationen stattfinden,<br />

wo der Sozialstaat Umverteilungen<br />

vornimmt, von denen nicht unbedingt jene<br />

profitieren, die Leistungen nötig haben.<br />

Welchen konkreten Nutzen steuert die<br />

Sozialhilfe dem System bei?<br />

Es ist entscheidend für eine Gesellschaft,<br />

dass die letzten Existenzrisiken aufgefangen<br />

werden. Dass die Leute wissen,<br />

dass sie nicht ins Bodenlose fallen. Das<br />

gibt ihnen eine gewisse Autonomie und<br />

eine gewisse Risikofreude. Das ist nicht<br />

nur unter dem Aspekt des Strukturwandels,<br />

sondern ganz generell für den Zusammenhalt<br />

der Gesellschaft wichtig.<br />

Dank der Sozialhilfe haben wir in der<br />

Schweiz keine grösseren Bevölkerungsgruppen,<br />

die von der Gesellschaft ausgegrenzt<br />

leben. Das Eröffnen von Perspektiven<br />

für die Menschen ist das A und O<br />

jeder Hilfe.<br />

Wie beurteilen Sie die Armutspolitik<br />

des Bundes und der Kantone?<br />

Armut ist ein Thema, das alle staatlichen<br />

Ebenen angehen muss. Die Bekämpfung<br />

von Armut ist eine komplexe<br />

Sache, zu der es keine einfachen Rezepte<br />

gibt. Armut lässt sich im übrigen auch<br />

nie vollständig beseitigen. Es ist aber<br />

ein grosser Unterschied, ob man sich in<br />

einem Land mit der Armut arrangiert<br />

und nichts dagegen unternimmt oder ob<br />

man sie wahrnimmt und versucht, die<br />

Menschen zu unterstützen. Dabei muss<br />

auch dem Bund eine Rolle zukommen.<br />

Er hat – zwar erst in homöopathischen<br />

Dosen – damit begonnen, sich mit dem<br />

Thema zu befassen und Projekte zur Armutsbekämpfung<br />

aufzugleisen. Das ist<br />

ein erster wichtiger Schritt. Sonst überlässt<br />

man auf nationaler Ebene das Feld einseitig<br />

den Protagonisten der Empörungspolitik.<br />

Hatten Sie persönliche Ziele, als Sie<br />

vor 15 Jahren die Führung der SKOS<br />

übernommen haben, und sind Sie<br />

zufrieden mit dem, was Sie erreicht<br />

haben?<br />

Ich hatte die Absicht, den Verband gut<br />

zu führen und einen Beitrag an die Weiterentwicklung<br />

der Sozialhilfe zu leisten. Die<br />

Sozialhilfe hat in den vergangen Jahren gut<br />

funktioniert und sich weiterentwickelt. Die<br />

SKOS hat dazu einen wichtigen Beitrag<br />

geleistet. Insofern habe ich meine Ziele<br />

erreicht. Der grösste Teil der Verbandsarbeit<br />

wird allerdings nicht vom Präsidenten<br />

geleistet. Deshalb möchte ich an dieser<br />

Stelle auch den vielen Leuten, die uns bei<br />

unserer Arbeit unterstützt haben, meinen<br />

Dank aussprechen.<br />

Welche Erfahrung wird Ihnen nachhaltig<br />

in Erinnerung bleiben?<br />

Die Verabschiedung der Richtlinien<br />

von 2005 in der Helferei des Grossmünsters<br />

in Zürich, als wir während Stunden<br />

um die letzten Formulierungen des damals<br />

neuen Richtlinienwerks gerungen<br />

hatten und es uns schliesslich gelang, bis<br />

auf ganz wenige Enthaltungen sämtliche<br />

Mitglieder des Vorstands zur Zustimmung<br />

zu bewegen. <br />

•<br />

Das Gespräch führte<br />

Michael Fritschi<br />

interview 1/<strong>14</strong> ZeSo<br />

15


Armut und Unterversorgung schaden<br />

der Gesundheit<br />

Menschen, die unter Mangel leiden, sind einem erhöhten Gesundheitsrisiko ausgesetzt. Wer wenig<br />

Geld hat, spart bei den Gesundheitsleistungen. Da die Ärmsten der Bevölkerung auch am häufigsten<br />

krank sind, entsteht eine doppelte Ungleicheit: Die, die eigentlich mehr zum Arzt gehen sollten, sind<br />

gleichzeitig jene, die am ehesten auf einen Arztbesuch verzichten.<br />

Ein geringer Sozialstatus ist für den Menschen das grösste<br />

Gesundheitsrisiko. Das war vor 500 Jahren so, und das ist leider<br />

auch heute noch so, sogar wieder mit zunehmender Tendenz. Die<br />

Situa-tion von damals ist belegt durch statistische Zahlen des<br />

Hospice Général in Genf. Dort wurden ab dem 17. Jahrhundert<br />

Kinder nach der Geburt registriert und dabei in drei Gruppen eingeteilt,<br />

abhängig davon, ob sie in reiche, arme oder in Familien<br />

zwischen diesen Polen hineingeboren wurden. Vergleicht man die<br />

Mortalitätsquotionten dieser «Versuchsgruppen», so zeigt sich anhand<br />

der Sterblichkeit in der Kindheit und im Alter, dass die arme<br />

Bevölkerung im Durchschnitt viel häufiger gestorben ist respektive<br />

weniger alt wurde. Im Weiteren lässt sich zeigen, dass sich die<br />

Gesundheitschancen der Menschen im Verlauf der Jahrhunderte<br />

deutlich verbessert haben und dass die Armen davon am meisten<br />

profitiert haben. Die Entwicklung, wonach die Gesundheitsrisiken<br />

aufgrund von sozialen Ungleichheiten geringer wurden, dauerte<br />

bis Mitte 20. Jahrhundert. Seit 1950 wird eine Trendwende beobachtet.<br />

Die Schere der Ungleichheiten zwischen arm und reich<br />

und damit der Gesundheitschancen geht seither wieder auseinander.<br />

Je reicher man ist, desto weniger besteht ein Risiko, an einem<br />

Herzschlag zu sterben oder an Diabetes zu leiden. Je nach Krankheit<br />

trägt die Gruppe der Armen in der Bevölkerung ein zwei-, vieroder<br />

sogar ein zehnfaches Risiko, zu erkranken. Wohlhabende<br />

Menschen scheinen sehr viel mehr von den diversen sozialen, medizinischen<br />

und kulturellen Errungenschaften des 20. Jahrhunderts<br />

zu profitieren als materiell schlechtgestellte Menschen.<br />

15 Prozent verzichten<br />

Eine repräsentative Studie zum Gesundheitsverhalten der Genfer<br />

Bevölkerung zeigt, dass 15 Prozent der Bevölkerung im Jahr 2009<br />

aus ökonomischen Gründen während der letzten zwölf Monate auf<br />

Der « Zahnstatus»<br />

eines Menschen lässt<br />

auf seinen Sozialstatus<br />

schliessen.<br />

Gesundheitsleistungen verzichtet haben. Drei Viertel dieser<br />

Gruppe haben beispielsweise auf Zahnarztleistungen verzichtet.<br />

Das erstaunt noch nicht sonderlich, wenn man bedenkt, dass in<br />

der Schweiz Zahnarztleistungen nicht durch die obligatorische<br />

Krankenversicherung abgedeckt werden. Die eigentliche Überraschung<br />

war, dass 35 Prozent dieser Gruppe auf medizinische<br />

Konsultationen verzichten, und dass 5 Prozent sogar auf einen<br />

chirurgischen Eingriff verzichtet haben – dies trotz obligatorischer<br />

Krankenversicherung.<br />

Wenn man die Verzichte auf Gesundheitsleistungen unter dem<br />

Aspekt des Einkommens betrachtet, so sind darunter 4 Prozent<br />

Personen, die mehr als 13 000 Franken pro Monat verdienen.<br />

Bei den Ärmsten, jenen, die weniger als 3000 Franken verdienen,<br />

sind es 30 Prozent. Da die Ärmsten der Bevölkerung auch<br />

am häufigsten krank sind, entsteht eine doppelte Ungleichheit:<br />

Die, die eigentlich mehr zum Arzt gehen sollten, sind gleichzeitig<br />

jene, die am ehesten darauf verzichten. Eine Ursache für diesen<br />

Missstand ist das Schweizer Krankenversicherungssystem. Seit<br />

der Einführung der obligatorischen Krankenversicherung im<br />

Jahr 1996 haben sich die Prämien mehr als verdoppelt, und das<br />

geltende Franchisensystem verleitet sozial Schwächere dazu, eine<br />

hohe Franchise zu wählen. Wenn dann etwas passiert, steht ihnen<br />

das nötige Geld für die Behandlung nicht zur Verfügung. Verallgemeinernd<br />

gesagt lässt sich vom «Zahnstatus» eines Menschen auf<br />

seinen Sozialstatus schliessen.<br />

Die Rolle der sozio-ökonomischen Stellung<br />

Die wachsende soziale Ungleichheit und mit ihr die ungleiche<br />

Ressourcenverteilung führen also dazu, dass armutsbetroffene<br />

Menschen von der Gesellschaft als selbstverständlich angesehene<br />

Gesundheitsziele vermehrt nicht mehr erreichen und dass sie die<br />

ihnen zustehenden medizinische Leistungen nicht erhalten. Um<br />

die diversen Gesundheitsrisiken besser abschätzen zu können, beobachtet<br />

die Wissenschaft so genannte soziale Determinanten. Sie<br />

haben den weitaus grössten Einfluss auf unsere Gesundheit: Die<br />

Forschung geht davon aus, dass die sozio-ökonomische Situation<br />

und mit ihr verbundene Verhaltensweisen unsere Gesundheit<br />

zu 40 bis 50 Prozent bestimmen. Weiteren Einfluss üben die<br />

Umwelt sowie die Wohnsituation aus (20 Prozent). Die genetische<br />

Veranlagung ist zu 20 bis 30 Prozent bestimmend. Der Einfluss<br />

des Gesundheitssystems, in dem wir uns bewegen, auf die Gesundheit<br />

beträgt hingegen lediglich 10 bis 15 Prozentpunkte.<br />

Die zehn wichtigsten sozialen Determinanten sind, gemäss<br />

WHO, der Sozialgradient (die Stellung in der Gesellschaft), Stress,<br />

die frühe Kindheit, soziale Isolierung, die Situation am Arbeits-<br />

18 ZeSo 1/<strong>14</strong> SCHWERPUNKT


Gesundheit<br />

15 Prozent der Genfer Bevölkerung verzichtet gemäss einer Studie aus ökonomischen Gründen auf Gesundheitsleistungen. Bilder: Keystone<br />

platz, Arbeitslosigkeit, soziale Unterstützung, (Sucht-)Abhängigkeiten,<br />

die Ernährung und die Transportsituation (Bewegung,<br />

Distanzen, Kosten). Am Sozialgradient beispielsweise lässt sich<br />

zeigen, dass Personen mit universitärer Ausbildung eine fünf bis<br />

sieben Jahre höhere Lebenserwartung haben als Personen, die<br />

nur die Grundstufe absolviert haben oder über keine Ausbildung<br />

verfügen. Es gilt: je höher die sozio-ökonomische Stellung, desto<br />

höher die Lebenserwartung.<br />

Eine besonders wichtige Determinante ist auch die frühe Kindheit.<br />

In dieser Phase wird unsere gesundheitliche Entwicklung fürs<br />

ganze weitere Leben vorbestimmt. Das Risiko von Diabetes bei<br />

Männern beispielsweise hängt erwiesenermassen mit dem Geburtsgewicht<br />

zusammen. Je geringer das Geburtsgewicht, desto höher<br />

das Diabetesrisiko (mit 64 Jahren bis zu siebenfach erhöhtes Risiko).<br />

Wenn man untersucht, welche Frauen Kinder zur Welt bringen,<br />

die ein geringes Geburtsgewicht haben, dann sind das häufig<br />

Frauen, die rauchen oder die unter mehr Stress stehen als andere,<br />

beispielsweise weil sie ihr Kind ohne Partner aufziehen. Monoparentale<br />

Kinder sind zudem tendenziell auch einer schlechteren<br />

und unregelmässigeren Ernährung ausgesetzt. Später gesellen sich<br />

die Ausbildungschancen als weiterer gesundheitsbestimmender<br />

Faktor hinzu. Über die Ausbildung lernt man beispielsweise, was<br />

dem Körper gut tut und was nicht. Ein Blick auf des Rauchverhalten<br />

von 25-jährigen Amerikanern zeigt: Von den Jugendlichen, die<br />

nur eine Basisausbildung machen, rauchen rund 30 Prozent, bei<br />

den Studentinnen und Studenten sind es 10 Prozent.<br />

Es ist allerdings nicht immer so, dass eine einzelne, spezifische<br />

soziale Determinante stärker auf unsere Gesundheit wirkt als andere.<br />

Vielmehr greifen Determinanten ineinander über. Das Bild<br />

ist immer als Ganzes zu betrachten. Bei der Determinante Arbeit<br />

– um ein weiteres Beispiel zu nennen – geht es um die Autonomie,<br />

die Arbeitsprozesse selbst zu bestimmen. Ein Manager, der zwar<br />

oft unter grossem Stress steht, kann seinen Arbeitsplan selber einteilen.<br />

Wenn er sich vom Stress erholen muss, geht er Golf spielen<br />

oder joggen. Seine Sekretärin hingegen muss die Arbeit erledigen,<br />

die er ihr vorgibt. Sie kann die Arbeit nicht einfach kurz mal liegen<br />

lassen. Es gilt: je tiefer in der sozialen Hierarchie, desto geringer<br />

die Autonomie, seine Arbeitsprozesse zu bestimmen. Und je weniger<br />

Autonomie, desto höher ist beispielsweise das Risiko für einen<br />

Herzinfarkt.<br />

Den Einfluss der Determinanten ernst nehmen<br />

In den aktuellsten verfügbaren Zahlen weist das Bundesamt für<br />

Statistik (BfS) für das Jahr 2<strong>01</strong>1 rund 580 000 Personen aus, die<br />

von Einkommensarmut betroffen sind. 2<strong>01</strong>2 waren ebenfalls<br />

gemäss BfS 15 Prozent der Bevölkerung oder jede siebte Person in<br />

der Schweiz armutsgefährdet. Schon aufgrund dieser Zahlen ist es<br />

angezeigt, den Einfluss der sozialen Determinanten ernst zu<br />

nehmen und gegen die zunehmende soziale Ungleichheit aktiv zu<br />

werden. Dass die Schweiz ein reiches Land ist, ist kein Grund,<br />

nicht genau hinzuschauen. Denn das Motto «je reicher, desto<br />

höher die Lebenserwartung» gilt primär für Entwicklungsländer<br />

SCHWERPUNKT 1/<strong>14</strong> ZeSo<br />

<br />

19<br />


mit einem Pro-Kopf-Einkommen bis 5000 Dollar. Für industrialisierte<br />

Länder mit hohen Pro-Kopf-Einkommen hat man hingegen<br />

festgestellt, dass die durchschnittliche Lebenserwartung bei extremen<br />

Unterschieden bei der Vermögensverteilung tiefer ist als in<br />

Ländern, wo diese Schere weniger weit geöffnet ist.<br />

Den diversen wissenschaftlichen Erkenntnissen kann ich eigene<br />

Beobachtungen aus rund zwanzig Jahren sozialmedizinischer<br />

Arbeit hinzufügen. Ich hatte viel mit vulnerablen Populationen,<br />

mit Obdachlosen, mit nicht versicherten «illegalen» Migranten<br />

und aktuell mit Gefängnisinsassen zu tun und bin zur Einsicht<br />

gekommen, dass man aufgrund des Gesundheitszustandes eines<br />

Menschen oft auch auf die Qualität des Gesundheitssystems in<br />

seinem Herkunftsland schliessen kann. Wenn eine Gesellschaft<br />

vulnerable Bevölkerungsgruppen wie Migranten oder Häftlinge<br />

schlecht behandelt oder von Sozialleistungen ausschliesst, besteht<br />

eine höhere Wahrscheinlichkeit, dass diese Gesellschaft auch andere<br />

sozial schwache Gruppen schlecht behandelt oder misshandelt.<br />

In Ländern, die auch für Häftlinge eine gute Gesundheitsversorgung<br />

gewährleisten, kann man hingegen davon ausgehen, dass<br />

die gesamte Population sehr gut betreut wird.<br />

Konsequenzen für die Sozialarbeit<br />

In Analogie kann man wohl davon ausgehen, dass, wenn in einem<br />

Land die Sozialsysteme bei den Ärmsten greifen, sie generell gut<br />

greifen und dass dadurch die Ungleichheit bei der Vermögens-<br />

verteilung geringer ist. Ungleichheiten im System sind für alle<br />

schlecht. Sie bergen die Gefahr von sozialer Unruhe, senken die<br />

durchschnittliche Lebenserwartung und verursachen langfristig<br />

Mehrkosten, die auf den Staat und die Gesellschaft zurückfallen.<br />

Soziale Systeme sind dann gut, wenn die sozialen Auffangmechanismen<br />

auch bei vulnerablen Gruppen richtig umgesetzt<br />

werden.<br />

Wer die wichtigsten sozialen Determinanten kennt und beachtet,<br />

kann früher intervenieren und gezielter handeln, auch in der<br />

Sozialarbeit. Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter sollten deshalb<br />

die genannten zehn Determinanten «auf dem Radar» haben<br />

und ihren Klienten entsprechende Fragen stellen. Wenn mehrere<br />

Fragen alarmierende Antworten zur Folge haben, dann ist unter<br />

Umständen eine Kontaktaufnahme mit dem Arzt angebracht.<br />

Möglicherweise zeigt sich auch, dass dem Klient die Kompetenz<br />

fehlt, mit Ärzten zu sprechen oder eine Packungsbeilage zu lesen<br />

und zu verstehen («health illiteracy»). Solchen Klienten können<br />

Sozialarbeitende begleitend zur Seite stehen und ihnen helfen, sich<br />

im System zu orientieren. Eine parallele Handlungsebene besteht<br />

sinngemäss bei der Ernährung respektive bei Ernährungsfragen.<br />

Investieren, wo es sich lohnt<br />

Die Gesellschaft sollte erkennen, dass es sich lohnt, möglichst früh in<br />

Integrationsprojekte zu investieren. Was Integrationsmassnahmen<br />

langfristig bewirken können, zeigt das «Perry-Preschool-Project»,<br />

für das in einer amerikanischen Kleinstadt in der Nähe von Detroit<br />

rund 120 drei- bis vierjährige Kinder aus sehr prekären Verhältnissen<br />

in zwei Gruppen eingeteilt wurden: Die Hälfte der Kinder<br />

wurde während sechs Monaten von Erzieherinnen betreut und stimuliert,<br />

etwa indem ihnen bei den Hausaufgaben geholfen wurde<br />

oder indem man ihnen eine ausgewogene Ernährung reichte. Die<br />

andere Hälfte wurde nicht stimuliert und betreut. Die Kinder wurden<br />

dann 40 Jahre lang beobachtet.<br />

Es zeigten sich spektakuläre Unterschiede im Werdegang der<br />

Probanden: Die während eines halben Jahrs geförderten Kinder<br />

hatten im Vergleich zu den anderen Kindern wesentlich häufiger<br />

einen Schulabschluss gemacht, sie verdienten wesentlich häufiger<br />

mehr als 20 000 Dollar im Jahr, es kam in dieser Gruppe zu wesentlich<br />

weniger Verhaftungen durch die Polizei usw. Das Projekt<br />

kostete den Staat rund 18 000 Dollar, gut investiertes Geld. Man<br />

hat berechnet, dass jeder Dollar dem Staat eine Ausgabenersparnis<br />

von 16 Dollar generiert hat. Wenn ein Staat also bei den Ausgaben<br />

sparen will, wie er es auch bei uns in jüngster Zeit wieder vermehrt<br />

tun muss, sollte man bedenken, dass man durch eine gezielte<br />

Förderung von sozial Benachteilgten einen sehr viel grösseren<br />

Spareffekt erreicht, als wenn man neue Gefängnisse baut und bei<br />

Gesundheits- und Bildungsangeboten spart. <br />

•<br />

Hans Wolff<br />

Universitätsspital Genf, Leiter gefängnismedizinische Abteilung<br />

Mitglied der Antifolterkommission des Europarats<br />

protokolliert von Michael Fritschi<br />

Manche können Gesundheitsinformationen nicht selbständig verarbeiten.<br />

Literatur<br />

Hans Wolff, Jean-Michel Gaspoz, Idris Guessous, Health care<br />

renunciation for economic reasons, Swiss Medical Weekly, 2<strong>01</strong>1.<br />

20 ZeSo 1/<strong>14</strong> SCHWERPUNKT


Unregelmässige Einkommen: Wann<br />

ist die Soziahilfeablösung möglich?<br />

Das Einkommen einer Sozialhilfebezügerin unterliegt wegen unregelmässiger Arbeitseinsätze<br />

Schwankungen. Massgebend für den Zeitpunkt der Ablösung ist die Bedürftigkeit. Um diese besser<br />

abschätzen zu können, kann das Einkommen über mehrere Monate beobachtet und beurteilt werden.<br />

Frage<br />

Maria C. arbeitet neu im Stundenlohn als<br />

Verkäuferin. Sie wird unregelmässig beschäftigt.<br />

In gewissen Monaten reicht ihr<br />

Einkommen nicht aus, um den Bedarf zu<br />

decken, während in anderen Monaten der<br />

Lohn über dem errechneten Existenzminimum<br />

liegt. Ihre Sozialarbeiterin stellt sich<br />

die Frage, ob dieser Einkommensüberschuss<br />

Frau C. jeweils zur freien Verfügung<br />

stehen sollte, wenn absehbar ist, dass ihr<br />

Einkommen im nachfolgenden Monat den<br />

Bedarf nicht decken wird und sie in der<br />

Folge erneut ergänzend mit Sozialhilfe<br />

unterstützt werden muss.<br />

PRAXIS<br />

In dieser Rubrik werden exemplarische Fragen aus<br />

der Sozialhilfe praxis an die «SKOS-Line» publiziert<br />

und beantwortet. Die «SKOS-Line» ist ein webbasiertes<br />

Beratungsangebot für SKOS-Mitglieder.<br />

Der Zugang erfolgt über www.skos.ch Mitgliederbereich<br />

(einloggen) SKOS-Line.<br />

Grundlagen<br />

Die Ablösung von der wirtschaftlichen Hilfe<br />

ist zu dem Zeitpunkt möglich, ab dem<br />

der Bedarf durch ein Einkommen gedeckt<br />

wird. Bei unregelmässigen Einkommen ist<br />

dieser Zeitpunkt aber nicht immer eindeutig<br />

feststellbar. Auch die gesetzlichen Grunlagen<br />

geben auf diese Frage keine Antwort.<br />

Daher besteht eine unterschiedliche Praxis,<br />

zu welchem Zeitpunkt ein Fall verwaltungstechnisch<br />

abgeschlossen wird und somit<br />

bei einer allfälligen Neuanmeldung<br />

das teils umfangreiche Abklärungsprozedere<br />

zu Beginn einer sozialhilferechtlichen<br />

Unterstützung wiederholt werden muss.<br />

Bei der Beurteilung können unterschiedliche<br />

Berechnungszeiträume für die sozialhilferechtliche<br />

Notlage gewählt werden.<br />

Ausschlaggebend muss jedoch immer die<br />

aktuelle Bedürftigkeit sein. Dabei sind die<br />

Prinzipien der Subsidiarität und der<br />

Gleichbehandlung, aber auch die Verhältnismässigkeit<br />

der getroffenen Lösung zu<br />

beachten.<br />

Grundsätzlich ist bei unregelmässigen<br />

Einkünften der Sozialhilfeanspruch jeden<br />

Monat neu zu berechnen. Dies bedeutet jedoch<br />

nicht, dass der Abrechnungszeitraum<br />

ebenfalls monatlich gewählt werden muss.<br />

Eine dreimonatige oder in begründeten<br />

Fällen sogar eine halbjährliche oder jährliche<br />

Abrechnung kann je nach Situation<br />

geeignet und erforderlich sein, um den<br />

grundsätzlichen Anspruch zu prüfen. So<br />

stellte das Bundesgericht kürzlich für einen<br />

Fall aus dem Kanton Zürich zusammenfassend<br />

fest (8C_325/2<strong>01</strong>2, 24. August<br />

2<strong>01</strong>2, Abschnitte 4.3 bis 4.5): Die Frage<br />

der Anrechenbarkeit von Einkünften stellt<br />

sich im sozialhilferechtlichen Sinne so lange,<br />

als sich die bedürftige Person in einer<br />

Notlage befindet. Eine besondere Problematik<br />

ergibt sich bei der Anrechnung von<br />

schwankendem Einkommen. Entscheidend<br />

ist, für welchen Zeitraum die Bedürftigkeit<br />

beurteilt wird. Eine monatliche<br />

Prüfung kann je nachdem zu anderen Ergebnissen<br />

führen als die Berücksichtigung<br />

einer Gesamtperiode. «Es ist nicht bundesrechtswidrig<br />

und bedeutet insbesondere<br />

keine willkürliche Auslegung und Anwendung<br />

(Art. 9 BV) der Bestimmungen des<br />

zürcherischen Sozialhilferechts, wenn die<br />

Überschussabrechnung nicht monatlich<br />

erfolgt.» Diese Einschätzung dürfte auch<br />

auf die Rechtslage in den meisten anderen<br />

Kantonen zutreffen.<br />

Diese Betrachtungsweise lässt sich<br />

insbesondere vor dem Hintergrund der<br />

Gleichbehandlung mit Personen rechtfertigen,<br />

die ebenfalls nahe dem sozialhilferechtlichen<br />

Existenzminimum leben und<br />

entsprechende Rücklagen bilden müssen.<br />

Es kann davon ausgegangen werden, dass<br />

von der Sozialhilfe unterstützte Personen<br />

Lohnüberschüsse in den Folgemonaten für<br />

Bedarfsdefizite nutzen und somit selber in<br />

der Lage sind, eine Bedürftigkeit abzuwenden<br />

oder zumindest zu mindern.<br />

Sofern im gewählten Betrachtungszeitraum<br />

ein durchschnittlicher Überschuss<br />

ermittelt wird, kann davon ausgegangen<br />

werden, dass keine sozialhilferechtliche<br />

Bedürftigkeit mehr besteht und die bisher<br />

unterstützte Person von der Sozialhilfe<br />

abgelöst werden kann. Andernfalls ist die<br />

Person weiter zu unterstützen, und ein<br />

allfälliger Überschuss ist im Folgemonat<br />

anzurechnen.<br />

Antwort<br />

Maria C. hat keinen Rechtsanspruch darauf,<br />

dass ihr der Lohnüberschuss eines einzelnen<br />

Monats zur freien Verfügung steht<br />

und im Folgemonat nicht angerechnet<br />

wird. Die Einschätzung, ob Maria C. im<br />

Durchschnitt über ausreichend Einkommen<br />

verfügt, um den Lebensunterhalt selbständig<br />

zu bestreiten, dürfte in diesem Fall<br />

nach drei Monaten möglich sein. Die Abrechnung<br />

kann demzufolge auch erst nach<br />

drei Monaten erfolgen. Sofern das durchschnittliche<br />

Einkommen nur knapp über<br />

dem Bedarf liegt, insbesondere wenn im<br />

nächsten Monat erneut ein Manko entsteht,<br />

ist eine Verlängerung des Betrachtungszeitraums<br />

um weitere drei Monate zu prüfen. •<br />

Markus Morger<br />

Daniela Moro<br />

Kommission Richtlinien<br />

und Praxishilfen der SKOS<br />

10 ZeSo 1/<strong>14</strong> praxis


Psychische Probleme und Armut sind<br />

eng miteinander verbunden<br />

Psychisch Kranke sind besonders häufig von Erwerbslosigkeit und Armut betroffen. Mit einem<br />

abgestimmten Vorgehen könnten Ärzte und Sozialarbeitende dazu beitragen, mehr Personen mit<br />

psychischen Problemen im Arbeitsmarkt zu halten.<br />

Menschen mit psychischen Problemen haben ein signifikant erhöhtes<br />

Armutsrisiko gegenüber psychisch gesunden Menschen. In der<br />

Schweiz zeigt sich das beispielsweise darin, dass unter den Personen,<br />

deren Haushalteinkommen nicht mehr als 60 Prozent des<br />

Medianeinkommens der Bevölkerung entspricht, der Anteil der Personen<br />

mit psychischen Problemen etwa ein Drittel höher ist als jener<br />

der psychisch Beschwerdefreien. In den meisten anderen Industriestaaten<br />

liegen die Quoten zwischen psychisch kranken und gesunden<br />

armutsgefährdeten Personen noch deutlicher auseinander.<br />

Betrachtet man nur Personen mit schwereren psychischen<br />

Störungen, zum Beispiel psychisch Kranke mit einer IV-Rente,<br />

dann ist das Armutsrisiko nochmals signifikant höher – auch<br />

im Vergleich zu IV-Berenteten mit körperlichen Krankheiten,<br />

Geburtsgebrechen oder unfallbedingten Gebrechen. Fast jeder<br />

zweite psychisch behinderte IV-Rentner lebt in Armut oder ist<br />

armutsgefährdet. Bei Geburtsgebrechen, körperlich Behinderten<br />

und unfallbedingten Behinderungen betragen die entsprechenden<br />

Werte 25, 33 respektive 20 Prozent.<br />

Negative Wechselwirkungen<br />

Armut wiederum ist ein wesentlicher Risikofaktor für die Ausprägung<br />

einer psychischen Krankheit. Armut ist ein starker psychischer<br />

Stressor, der die Bewältigung des täglichen Lebens konkret<br />

erschwert. Wie stark die Belastung durch Armut sein kann, lässt<br />

sich erahnen, wenn man bedenkt, dass die Angst vor Arbeitsplatzverlust<br />

zu den grössten psychischen Stressoren gehört, die es gibt.<br />

Armut und von ihr ausgelöster Stress wirkt sich aber auch indirekt<br />

auf die psychische Befindlichkeit aus. Man fühlt sich inkompetent,<br />

an den Rand der Gesellschaft gedrängt, ausgeschlossen, und man<br />

ist abhängig von den Systemen der sozialen Sicherung. Dass die<br />

Betroffenen Sozialversicherungsleistungen erhalten, ist selbstverständlich<br />

eine wichtige Unterstützung. Auf der anderen Seite bedeutet<br />

es auch einen engen Kontakt zu den Behörden mit all den<br />

jeweiligen Vorschriften, Regeln und Pflichten, die subjektiv als bevormundend,<br />

erniedrigend oder stigmatisierend (als faul, undiszipliniert<br />

oder unwillig) erlebt werden können.<br />

Dies ist gerade bei Personen mit einer psychischen Störung<br />

nicht selten der Fall, weil ihre konkreten Behinderungen für Aussenstehende<br />

nur schwer einzuschätzen sind. Kommt hinzu, dass<br />

die häufigen Versagensängste psychisch Kranker oft mit fehlender<br />

Veränderungsmotivation verwechselt werden und die teils krankheitsbedingte<br />

«Uneinsichtigkeit» in das eigene problematische<br />

Verhalten als Verletzung der Mitwirkungspflicht interpretiert<br />

wird. Viele psychisch Kranke sehen sich deshalb latent oder offen<br />

mit dem Verdacht konfrontiert, zu Unrecht Sozialversicherungsleistungen<br />

zu beziehen.<br />

In der Schweiz entsteht die Verbindung zwischen Armut und<br />

psychischer Krankheit häufig über die Erwerbslosigkeit. Schweizerinnen<br />

und Schweizer mit psychischen Problemen haben eine<br />

geringere Erwerbsquote und eine höhere Arbeitslosenquote als<br />

die beschwerdefreie Population. Betrachtet man die Bezügerinnen<br />

und Bezüger von Sozialversicherungsleistungen, so leiden<br />

zwischen 30 bis 45 Prozent der Arbeitslosen, der Sozialhilfeempfänger<br />

und der IV-Berenteten unter einer psychischen Störung,<br />

während die Rate in der Gesamtbevölkerung rund 20 Prozent<br />

beträgt.<br />

Die Gründe für den engen Zusammenhang zwischen psychischer<br />

Krankheit und Erwerbslosigkeit liegen in besonderen Merkmalen<br />

dieser Krankheiten, der Personen und der Reaktionen des<br />

Umfelds. Besonders der frühe Beginn psychischer Störungen ist<br />

bedeutsam. Anders als die meisten körperlichen Erkrankungen<br />

beginnt die Hälfte aller psychischen Erkrankungen vor dem<br />

<strong>14</strong>. Lebensjahr und drei Viertel davon vor dem 24. Lebensjahr.<br />

Dieses frühe Erkrankungsalter hat negative Konsequenzen auf<br />

die Ausbildung (Schulprobleme, Ausbildungsabbrüche) und auf<br />

den Berufseinstieg (prekäre Jobs, häufige Stellenwechsel), und<br />

das frühe Erkrankungsalter prägt das Erleben der Betroffenen<br />

(Versagensängste und in der Folge starkes Vermeidungsverhalten).<br />

Neben dem frühen Störungsbeginn ist wesentlich, dass psychische<br />

Krankheiten oft wiederkehrend oder chronisch verlaufen und sich<br />

durch psychiatrische Behandlung zwar stabilisieren, aber meist<br />

nicht heilen lassen.<br />

Persönlichkeitsmerkmale mit Konfliktpotenzial<br />

Dies schlägt sich im Einkommen nieder: Personen, die aus psychischen<br />

Gründen eine IV-Rente beziehen, haben auch in der Zeit, als<br />

sie noch erwerbstätig waren, oft ein stark unterdurchschnittliches<br />

Einkommen erzielt, bedingt durch schlechte Jobs, wiederholte<br />

Arbeitslosigkeit und Sozialhilfeabhängigkeit. Armut und Erwerbslosigkeit<br />

haben fast immer eine lange Geschichte. Bei den personbezogenen<br />

Merkmalen ist wesentlich, dass schwer psychisch Kranke<br />

oft eine «schwierige» Persönlichkeit haben und in ihrem Erleben<br />

und Verhalten nur schwer zu beeinflussen sind. Sie verhalten sich<br />

uneinsichtig, stur und anklagend, fühlen sich schlecht behandelt<br />

oder sehen sich als Opfer. Diese häufigen Persönlichkeitsmerkmale<br />

sind auf dem biografischen Hintergrund der Betroffenen zu<br />

verstehen, und führen oft zu Konflikten am Arbeitsplatz oder in<br />

der Beziehung zu Behörden.<br />

Schliesslich tragen auch umfeldbezogene Charakteristiken zur<br />

besonderen Problematik psychisch Kranker bei, so etwa Vorurteile,<br />

ungenügendes professionelles Know-how involvierter Instanzen<br />

und die meist fehlende Vernetzung unter den behandelnden Ärzten.<br />

22 ZeSo 1/<strong>14</strong> SCHWERPUNKT


Gesundheit<br />

Psychisch bedingte Arbeitsprobleme lassen sich oft nur mit einem integrierten Vorgehen lösen. <br />

Bild: Keystone<br />

Aber auch behandelnde Ärzte sind oft wenig hilfreich, weil sie den<br />

Kontakt mit den Arbeitgebenden und den Behörden zu selten suchen<br />

oder ihn mit Verweis auf das Arztgeheimnis gar verhindern.<br />

Das Krankschreibeverhalten der Ärzte – man will den Patienten<br />

«schützen» – ist nicht selten eine Barriere für den Arbeitsplatzerhalt<br />

oder für eine Wiedereingliederung. Zudem tragen die Sozialversicherungen<br />

der Häufigkeit von psychischen Störungen bei<br />

ihrer Klientel kaum Rechnung. Sei es, weil psychische Krankheit<br />

mehr oder weniger negiert wird wie bei der Arbeitslosenversicherung<br />

oder weil die entsprechenden Kompetenzen und Ressourcen<br />

nicht vorhanden sind. Die meist negativen Reaktionen des Umfelds<br />

verstärken zudem die Hemmung der Betroffenen, sich mit<br />

ihren psychischen Problemen beispielsweise am Arbeitsplatz zu<br />

outen. Dies wiederum verhindert oft eine adäquate Reaktion des<br />

Umfelds. So lässt sich erahnen, wie komplex der Zusammenhang<br />

zwischen psychischen Problemen und Erwerbslosigkeit ist.<br />

Gemeinsam ein Setting erarbeiten<br />

Psychische Probleme spielen in der sozialen Arbeit sehr häufig eine<br />

wesentliche Rolle. Diese sollten von den Sozialarbeiterinnen und<br />

Sozialarbeitern aufgegriffen werden, und wenn psychische Probleme<br />

oder eine schwierige Persönlichkeit den Unterstützungsprozess<br />

entscheidend hemmen, sollten die Klienten respektive Klientinnen<br />

nach Möglichkeit einer ärztlichen oder psychiatrischen Behandlung<br />

zugewiesen werden. Generell sollte der Kontakt mit den<br />

behandelnden Ärzten gesucht werden. Dies ist gerade bei Klienten,<br />

die immer wieder Arbeitsstellen wegen Konflikten am Arbeitsplatz<br />

verlieren, besonders wichtig. Denn psychisch bedingte<br />

Arbeitsprobleme sind oft so komplex und dynamisch, dass man sie<br />

nur gemeinsam lösen kann. Das bedeutet allerdings, dass Sozialarbeitende,<br />

behandelnde Ärtinnen und Ärzte und die Klientel sich<br />

darüber einig werden müssen, wo das Problem zu verorten ist<br />

(Problemanalyse), wie dagegen vorgegangen werden soll (Eingliederungsplanung)<br />

und welche «Spielregeln» dabei gelten sollen<br />

(Setting).<br />

Psychische Krankheit, Erwerbslosigkeit und Armut sind nicht zuletzt<br />

deshalb eng miteinander verbunden, weil das Sozial- und das<br />

Gesundheitswesen so fragmentiert sind: Ärzte gehen Arbeitsprobleme<br />

in der Behandlung nicht konkret an und Sozialarbeitende kümmern<br />

sich zu wenig um die psychische Problematik. Mit einem integrierteren<br />

Vorgehen könnten mehr Personen mit psychischen Problemen im<br />

Arbeitsmarkt gehalten werden. Angesichts der steigenden Belastung<br />

der Sozialversicherungen durch die Ausgliederung psychisch Kranker<br />

sollte dies dringend an die Hand genommen werden. <br />

•<br />

Niklas Baer<br />

Leiter Fachstelle für Psychiatrische Rehabilitation<br />

Psychiatrie Baselland<br />

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