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ARGUMENTE 2/2013 Bundestagswahl - Jusos

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<strong>ARGUMENTE</strong><br />

2/<strong>2013</strong><br />

<strong>Bundestagswahl</strong>


Argumente_02_<strong>2013</strong>_Inhalt 13.08.13 11:39 Seite 1<br />

<strong>ARGUMENTE</strong><br />

2/<strong>2013</strong><br />

<strong>Bundestagswahl</strong><br />

Impressum<br />

Herausgeber Bundesverband der Jungsozialistinnen und Jungsozialisten in der SPD beim<br />

SPD-Parteivorstand<br />

Verantwortlich Sascha Vogt und Jan Böning<br />

Redaktion Jan Schwarz, Katharina Oerder, Matthias Ecke und Ariane Werner<br />

Redaktionsanschrift SPD-Parteivorstand, Juso-Bundesbüro, Willy-Brandt-Haus,<br />

10963 Berlin<br />

Tel.: 030 25991-366, Fax: 030 25991-415, www.jusos.de<br />

Verlag Eigenverlag<br />

Druck braunschweig-druck GmbH<br />

Die Artikel geben nicht in jedem Fall die Meinung der Redaktion oder<br />

des Herausgebers wieder.


Argumente_02_<strong>2013</strong>_Inhalt 13.08.13 11:39 Seite 2<br />

INHALT<br />

Intro: Und jetzt alle: Gerechtigkeit! Zur <strong>Bundestagswahl</strong> <strong>2013</strong> ............................ 5<br />

von Matthias Ecke, Katharina Oerder und Jan Schwarz,<br />

Mitglieder der Redaktion<br />

Magazin<br />

Die folgenden Artikel wurden durch ein Call for Paper zu „Zeit für Gerechtigkeit“ eingeworben<br />

und ausgewählt.<br />

Homo Gerechticus ................................................................................................... 9<br />

von Katharina Oerder, Doktorandin Psychologie, Juso-Bundesvorstand,<br />

Peter Beule, Doktorand Geschichtswissenschaft, Politikwissenschaftler<br />

und Lena Oerder, Doktorandin Rechtswissenschaft, Juso-Vorstand Köln<br />

Wie die Linken die Moral entdeckten – und die Mitte sie aus dem Blick verlor 16<br />

von Rainer Freudenthaler, Student der Medien- und Kommunikationswissenschaft<br />

Universität Mannheim, SPD Stuttgart<br />

Ist Hans verrückt?<br />

Über das Zusammenspiel von Freiheit, Gleichheit und Demokratie ................... 22<br />

von Katharina Schenk, promoviert an der Universität Leipzig<br />

im Fachbereich Philosophie zum Themenkomplex Gemeinwohl und Glück<br />

Mehr Gleichheit wagen ..........................................................................................26<br />

von Moritz Rudolph, stellv. Vorsitzender <strong>Jusos</strong> Nordost<br />

Schwerpunkt<br />

Programm für den linken Politikwechsel .............................................................. 33<br />

von Sascha Vogt, Juso-Bundesvorsitzender<br />

2 Inhalt Argumente 2/<strong>2013</strong>


Argumente_02_<strong>2013</strong>_Inhalt 13.08.13 11:39 Seite 3<br />

Kanzlerkandidaten und -kandidatinnen:<br />

Wie beeinflussen sie die Wahlentscheidung? ...................................................... 39<br />

von Aiko Wagner, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt „German Longitudinal<br />

Election Study (GLES)“, Abteilung „Demokratie und Demokratisierung“ am Wissenschaftszentrum<br />

Berlin für Sozialforschung (WZB)<br />

„E-Mail ist total 90er!“ – Perspektiven einer vernetzten Gesellschaft................. 46<br />

von Prof. Dr. Gesche Joost, Professorin für Designforschung und Mitglied im Kompetenzteam<br />

von Peer Steinbrück für den Bereich Netzpolitik<br />

Holt Deutschland von der Insel! Antworten der SPD auf die Krise der Eurozone:<br />

Was leistet das Regierungsprogramm? ................................................................ 52<br />

von Dr. Björn Hacker, stellvertretender Vorsitzender des Fachausschusses Europa der<br />

SPD Berlin und Referent in der Friedrich-Ebert-Stiftung<br />

Umsteuern für Bildung und Gerechtigkeit ........................................................... 58<br />

von Dr. Carsten Sieling, MdB<br />

Wohnen muss bezahlbar bleiben ......................................................................... 64<br />

von Felix von Grünberg, Vorsitzender des Mieterbundes und Landtagsabgeordneter der<br />

SPD in NRW<br />

It’s the women’s vote, honey. ............................................................................... 69<br />

von Nancy Haupt und Elisa Gutsche, Projektgruppe Junge Frauen im SPD-Parteivorstand<br />

Die SPD auf dem Weg zu einem progressiven Selbstverständnis<br />

im pluralen Deutschland? ...................................................................................... 77<br />

von Daniela Kaya, Mitglied im Bundesvorstand der SPD-AG Migration und Vielfalt,<br />

Autorin<br />

3


Argumente_02_<strong>2013</strong>_Inhalt 13.08.13 11:39 Seite 4<br />

Die Würde der Arbeit – SPD-Politik für Beschäftigte .......................................... 85<br />

von Klaus Wiesehügel, Vorsitzender der Gewerkschaft IG BAU und<br />

zuständig für den Bereich Arbeit und Soziales im Kompetenzteam von Peer Steinbrück<br />

Von der Leistungs- zur Erbengesellschaft? .......................................................... 90<br />

von Anita Tiefensee, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hertie School<br />

of Governance<br />

Ein anderes Deutschland in einem anderen Europa:<br />

Was EuropäerInnen von der <strong>Bundestagswahl</strong> erwarten ..................................... 95<br />

von Daniel Cornalba, Vizepräsident der Young European Socialists,<br />

Nationalsekretär für den Arbeitsbereich Europa des MJS France<br />

Mit Essen spielt man nicht! ................................................................................. 101<br />

von David Hachfeld, Referent für Handelspolitik bei Oxfam Deutschland<br />

Auch Kevin muss können dürfen! ....................................................................... 105<br />

von Mareike Strauß und Amina Yousaf, Mitglieder im Bundesvorstand<br />

der Juso-Hochschulgruppen<br />

4 Inhalt Argumente 2/<strong>2013</strong>


Argumente_02_<strong>2013</strong>_Inhalt 13.08.13 11:39 Seite 5<br />

INTRO: UND JETZT ALLE:<br />

GERECHTIGKEIT! ZUR<br />

BUNDESTAGSWAHL <strong>2013</strong><br />

von Matthias Ecke, Katharina Oerder und Jan Schwarz, Mitglieder der Redaktion<br />

Einleitung zum Schwerpunkt<br />

Am 22. September sind fast 62 Millionen<br />

BundesbürgerInnen berechtigt<br />

und aufgerufen den 18. Deutschen<br />

Bundestag zu wählen. Plakate, Flyer<br />

und Großflächen, Sondersendungen<br />

und TV-Duelle zeugen von der kommenden<br />

Entscheidung.<br />

Eine nervöse Spannung im Land ist<br />

deswegen derzeit kaum zu spüren.<br />

Der Wahlkampf gilt vielen als gewohntes<br />

und manchmal skurriles Ritual einer<br />

konsolidierten Demokratie in relativem<br />

Wohlstand.<br />

Ist die Wahl also nur ein Popstar-Casting<br />

für Erwachsene? Wer sich die entpolitisierte,<br />

oft seicht psychologisierende<br />

und bisweilen erschreckend<br />

lethargische Berichterstattung über<br />

die <strong>Bundestagswahl</strong> anschaut, könnte<br />

leicht diesen Eindruck gewinnen. Ganz<br />

so, als gelte es im September nur darüber<br />

zu entscheiden, wessen tägliches<br />

Erscheinen im abendlichen Nachrichtenprogramm<br />

den Fernsehzuschauern<br />

zumutbarer erscheint. Tatsächlich geht<br />

es aber um weit mehr: Es geht um<br />

eine Grundsatzentscheidung über Lebensumstände,<br />

Rechte und Freiheitsgrade<br />

von über 80 Millionen Menschen<br />

in diesem Land (von den Lebens -<br />

umständen hunderter Millionen anderer<br />

EuropäerInnen ganz zu schweigen).<br />

Oft werden vor Wahlen Richtungsentscheidungen<br />

beschworen, das gehört zur<br />

Mobilisierung dazu. Allerdings: In jüngerer<br />

Vergangenheit war diese Einschätzung<br />

niemals so zutreffend wie heute. Das konservative<br />

und das rot-grüne Lager verorten<br />

die Probleme dieses Landes in jeweils anderen<br />

Bereichen. Ihre programmatischen<br />

Profile dienen den Interessen unterschiedlicher<br />

sozialer Gruppen in diesem Land.<br />

Sie bieten andersgeartete, teils gar gegensätzliche<br />

Lösungen an. Das Gesicht dieses<br />

Landes wird durch die Entscheidung am<br />

22. September entscheidend geprägt werden,<br />

das steht fest. Mindestlohn, Steuerpolitik,<br />

Rente und Bürgerversicherung, Bildungsinvestitionen,<br />

Entgeltgleichheit,<br />

Mietenbremse oder doppelte Staatsbürgerschaft:<br />

Nur mit der SPD besteht die Chance,<br />

dass die gesellschaftlichen Wunden aus<br />

der zunehmenden sozialen Spaltung<br />

schrittweise heilen. Schwarz-Gelb will und<br />

wird tiefere Kerben schlagen.<br />

5


Argumente_02_<strong>2013</strong>_Inhalt 13.08.13 11:39 Seite 6<br />

Wir <strong>Jusos</strong> haben in den letzten Jahren<br />

an der programmatischen Konsolidierung<br />

der SPD intensiv mitgewirkt, Reformdebatten<br />

angestoßen und auch manchen<br />

Kompromiss geschmiedet. Wir haben uns<br />

sprichwörtlich als Trümmerfrauen und -<br />

männer einer nach der Wahlniederlage<br />

2009 erschütterten und programmatisch<br />

förmlich entstellten SPD verdingt. Nicht<br />

alle Trümmer konnten wir beseitigen;<br />

manche Brocken waren zu groß, andere zu<br />

verschüttet, dritte wiederum wurden von<br />

Anderen vor dem Wegräumen geschützt.<br />

Trotz alledem hat die SPD (auch mit unserer<br />

Hilfe) aus den Trümmern ein neues<br />

Haus errichtet, das sich sehen lassen kann.<br />

Bis zum 22. September suchen wir nach<br />

weiteren BewohnerInnen.<br />

Dieses Heft ist als eine Art Inventur<br />

der gesellschaftlichen Herausforderungen<br />

und Konflikte im Deutschland des Jahres<br />

<strong>2013</strong> angelegt, verbunden mit der kritischen<br />

Würdigung der Lösungsvorschläge<br />

der SPD. Die AutorInnen durchleuchten<br />

die zentralen Reformbaustellen der Gegenwartsgesellschaft<br />

und zeigen auf, ob die<br />

SPD die richtigen Werkzeuge zur Hand<br />

hat. Wir fragen: Wird sich das Leben in<br />

diesem Land für die Mehrheit der Menschen<br />

real und spürbar verbessern, wenn<br />

die SPD ab September in diesem Land regiert?<br />

Wenn ja: warum?<br />

Diese Perspektive trägt unserer Überzeugung<br />

Rechnung, dass politischer<br />

Machterwerb niemals Selbstzweck sein<br />

kann und Machtbegehren ohne politisches<br />

Ziel immer scheitern muss. Wahlsiege und<br />

Regierungswechsel sind stets Mittel, um<br />

gesellschaftliche Mehrheiten für fortschrittliche<br />

und emanzipatorische Politik<br />

in Parlaments- und Regierungsmehrheiten<br />

zu überführen. Sie sollen dazu dienen, die<br />

richtigen Leute mit den richtigen Lösungen<br />

an die wichtigen Stellen zu bringen.<br />

Dafür kämpfen wir als Teil der Sozialdemokratie.<br />

Darum geht es am 22. September.<br />

Deutschland im Sommer <strong>2013</strong>. Es ist<br />

Zeit für einen Politikwechsel. Zeit für Gerechtigkeit!<br />

Die Beiträge im Einzelnen<br />

Sascha Vogt zeigt in seinem Beitrag<br />

auf, wie die SPD sich in den letzten vier<br />

Jahren einer Re-Sozialdemokratisierung un -<br />

terzogen hat. In diesem Prozess spielten die<br />

<strong>Jusos</strong> eine erhebliche Rolle. Das Regierungs -<br />

programm enthält nach längerer Zeit erstmals<br />

wieder viele Juso-Positionen. Es wird<br />

anhand unterschiedlicher Kernbereiche<br />

des Programms deutlich gemacht, inwiefern<br />

die SPD-Positionen für einen klaren<br />

Kurswechsel hin zu linker Politik stehen.<br />

Welchen messbaren Beitrag leisten<br />

SpitzenkandidatInnen für die Stimmentscheidung<br />

der WählerInnen tatsächlich,<br />

fragt Aiko Wagner. Er hinterfragt die gängige<br />

Personalisierungsthese wonach politikfremde<br />

Charaktereinschätzungen von<br />

politischen Führungspersonen einen zunehmend<br />

gravierenderen Einfluss erhalten<br />

hätten. Parteien blieben vielmehr die relevanteren<br />

Bewertungsobjekte für die Bürgerinnen<br />

und Bürger. Die SpitzenkandidatInnen<br />

übten einen kleinen, aber in<br />

Pattsituationen womöglich entscheidenden<br />

Einfluss aus.<br />

Visionen für die Ausgestaltung der vernetzten<br />

Gesellschaft entwirft Prof. Dr.<br />

6<br />

Intro: Und jetzt alle: Gerechtigkeit! Zur <strong>Bundestagswahl</strong> <strong>2013</strong> Argumente 2/<strong>2013</strong>


Argumente_02_<strong>2013</strong>_Inhalt 13.08.13 11:39 Seite 7<br />

Gesche Joost. Die digitale Entwicklung<br />

hält viele Chancen für Bürgerinnen und<br />

Bürger bereit, jedoch stellt die Überwindung<br />

der digitalen Spaltung eine große<br />

Herausforderung dar. Der Beitrag zeigt<br />

auf, welche politischen Diskurse dringend<br />

geführt werden müssen, um die richtigen<br />

Rahmenbedingungen für eine vernetzte<br />

Gesellschaft zu setzen. Ob digitale Arbeitswelt,<br />

vernetztes Engagement oder digitale<br />

Technologien – alle Bereiche zeigen,<br />

dass die Partizipation aller insbesondere<br />

von seitens der Politik umfassende Anstrengungen<br />

erfordert.<br />

Die politische „Insellage“ Deutschlands<br />

in der Europadebatte beschreibt Dr. Björn<br />

Hacker. In keinem anderen Land werde<br />

die Refinanzierungskrise der Staaten im<br />

Euroraum so einseitig zur Schuldenkrise<br />

verklärt wie hierzulande. Er erläutert, wie<br />

es der Opposition trotz eines breiten Fundus’<br />

an alternativen Ideen nicht gelang,<br />

dem dominanten Krisendiskurs der Bundesregierung,<br />

vieler Medien und der Mainstream-Ökonomie<br />

eine Alternative entgegen<br />

zu setzen. Wie ein Paradigmenwechsel<br />

für ein soziales und demokratisches Europa<br />

aussehen kann skizziere der Europateil des<br />

SPD-Wahlprogramms.<br />

Der Bundestagsabgeordnete Dr. Cars -<br />

ten Sieling kritisiert in seinem Beitrag die<br />

verfehlte Finanz- und Steuerpolitik der<br />

schwarz-gelben Bundesregierung und<br />

stellt die Alternativen der SPD vor. Für ihn<br />

hat Steuer- und Finanzpolitik eine dienende<br />

Funktion für die Erfüllung der zentralen<br />

Aufgaben unseres Gemeinwesens. Chancen<br />

zur Finanzierung der notwendigen<br />

Zukunftsinvestitionen in Bildung, Infrastruktur,<br />

ökologische Modernisierung und<br />

zur Finanzierung des Sozialstaats müssten<br />

durch eine Verbesserung der Staatseinnahmen<br />

genutzt werden. Wichtig seien dabei<br />

die Reform der Einkommenssteuer, eine<br />

Rückführung der Abgeltungssteuer in die<br />

Einkommensbesteuerung und das Heranziehen<br />

großer Vermögen durch Reformen<br />

in der Erbschaftssteuer sowie der Wiedereinführung<br />

der Vermögensteuer.<br />

Wohnungsnot und steigende Wohnkosten<br />

sind gerade im Wahlkampf wieder<br />

vermehrt in die Aufmerksamkeit der Politik<br />

gerückt. Der Vorsitzende des Mieterbundes<br />

und Landtagsabgeordnete der SPD<br />

in NRW, Felix von Grünberg beschreibt<br />

Forderungen des Mieterbundes an die Politik,<br />

um Wohnen wieder bezahlbar zu machen.<br />

Nancy Haupt und Elisa Gutsche beschreiben<br />

in ihrem Beitrag ein Konzept,<br />

mit dem die SPD die Stimmen von Frauen<br />

(zurück) gewinnen soll. Junge Frauen, die<br />

sich 2009 von der SPD abgewandt werden,<br />

sollen mit den richtigen Konzepten wieder<br />

von der SPD-Politik überzeugt werden.<br />

Nur wer TESH ist (also die richtigen Themen<br />

hat, echte Einbindung verspricht,<br />

neutrale Sprache verwendet und eine ehrliche<br />

Haltung zu Frauenpolitik an den Tag<br />

legt) kann heute noch überzeugen, argumentieren<br />

die beiden Willy-Brandt-Haus<br />

Mitarbeiterinnen.<br />

Den Weg der SPD zu einem progressiven<br />

Selbstverständnis der Einwanderungsgesellschaft<br />

in Deutschland analysiert Daniela<br />

Kaya. Trotz der historischen<br />

Verortung im Internationalismus und des<br />

Bekenntnisses zum republikanischen Nationenverständnis<br />

sei die Programmatik<br />

der SPD zu Nation und Pluralismus seit<br />

langem ambivalent. Anhand einer Analyse<br />

7


Argumente_02_<strong>2013</strong>_Inhalt 13.08.13 11:39 Seite 8<br />

der zentralen Programmbausteine der Integrationspolitik<br />

seit dem Berliner Programm<br />

1989 zeigt sie das Changieren der<br />

SPD zwischen paternalistischen Assimilationsappellen<br />

einerseits und einer modernen<br />

Diversitätspolitik andererseits. Trotz<br />

Fortschritten in einzelnen Feldern fehle es<br />

der Partei diesbezüglich noch an einer Gesellschaftsvision.<br />

Der zukünftige Arbeitsminister Klaus<br />

Wiesehügel beschreibt in seinem Artikel<br />

die immer weiter verbreiteten schlechten<br />

Arbeitsbedingungen für viele Beschäftigte<br />

und beschreibt seine Vorstellungen von der<br />

Würde der Arbeit. Erwerbsarbeit werde<br />

entwertet, weil sie immer schlechter bezahlt<br />

wird. Deswegen fordert er den gesetzlichen<br />

Mindestlohn von mindestens<br />

8,50 Euro, einheitlich, in allen Branchen<br />

und überall. Erwerbsarbeit werde aber<br />

auch entwertet, weil sie unsicherer geworden<br />

ist. Dem möchte er mit einer Regulierung<br />

der Leiharbeit und Maßnahmen gegen<br />

den Missbrauch von Werkverträgen<br />

vorgehen. Die Würde des Menschen und<br />

die Würde der Arbeit seine für die Sozialdemokratie<br />

immer unverzichtbar. Dazu gehört<br />

für ihn auch die Demokratisierung der<br />

Wirtschaft.<br />

Die Transformation von der Leistungsin<br />

die Erbengesellschaft analysiert Anita<br />

Tiefensee in ihrem Beitrag. Sie beschreibt<br />

die zunehmende Konzentration von Vermögen<br />

in den Händen weniger, oft durch<br />

Erbschaft begünstigter Menschen und die<br />

gesellschaftlichen Konsequenzen dieser<br />

Entwicklung. Sie schlägt vor die steuerpolitischen<br />

Vorschläge der SPD um eine beherzte<br />

Erbschaftssteuerreform zu ergänzen.<br />

Daniel Cornalba blickt aus Sicht der<br />

europäischen NachbarInnen auf die anstehende<br />

<strong>Bundestagswahl</strong>. Er beschreibt die<br />

verheerenden Folgen der Politik der Regierung<br />

Merkel für viele Menschen in Europa<br />

und deckt zusätzlich den Versuch auf, dieses<br />

Treiben als alternativlos hinzustellen.<br />

Cornalba berichtet von den Hoffnungen,<br />

die viele EuropäerInnen in die SPD setzen,<br />

und zählt auf welche Probleme die SPD<br />

angehen müsste um diese zu erfüllen.<br />

Die weltweiten Auswirkungen von<br />

Nahrungsmittelspekulationen beschreibt<br />

David Hachfeld von Oxfam Deutschland<br />

in seinem Beitrag „Mit Essen spielt man<br />

nicht“. Organisationen wie Oxfam oder<br />

Attac setzen sich schon seit längerem gegen<br />

Nahrungsmittelspekulationen und die<br />

daraus resultierenden Hungersnöte für die<br />

Ärmsten der Armen ein. Oxfam fordert<br />

beispielsweise Obergrenzen für den Wert<br />

der von Händlern gehaltenen Rohstoffderivate<br />

um Fehlentwicklungen auf dem Terminmarkt<br />

endlich einzuschränken.<br />

Wie stark Bildungschancen in<br />

Deutschland immer noch von der Herkunft<br />

abhängen erläutern Mareike Strauß<br />

und Amina Yousaf. Sie bemängeln die<br />

mangelnde Ausfinanzierung der öffentlichen<br />

Bildungseinrichtungen in Deutschland<br />

und die Lücken in der Studienfinanzierung.<br />

Strauß und Yousaf fordern nicht<br />

nur institutionelle und finanzielle Verbesserungen,<br />

wie sie das SPD-Regierungsprogramm<br />

etwa hinsichtlich Gebührenfreiheit,<br />

Durchlässigkeit, Ganztagsschulen,<br />

inklusiver Bildung, Aus bil dungs -<br />

platzgarantie oder einer BAföG-Reform<br />

vorsieht. Sie mahnen zudem eine neue<br />

Kultur des Lehrens und Lernens an. l<br />

8 Intro: Und jetzt alle: Gerechtigkeit! Zur <strong>Bundestagswahl</strong> <strong>2013</strong> Argumente 2/<strong>2013</strong>


Argumente_02_<strong>2013</strong>_Inhalt 13.08.13 11:39 Seite 9<br />

HOMO GERECHTICUS<br />

von Katharina Oerder, Peter Beule und Lena Oerder, ???<br />

Magazin<br />

Wie eine heiße Welle breitet sich das<br />

Gefühl im Körper aus. Heiße Wut,<br />

Ohnmachtsgefühle, das dringende<br />

Bedürfnis dagegen anzugehen. Ungerechtigkeit<br />

zu erleben, sie mit ansehen<br />

zu müssen, ist schwer zu ertragen. Ein<br />

unbändiges Gefühl der Ungerechtigkeit<br />

ist es, das viele Menschen in die<br />

Politik getrieben hat: Das Bedürfnis an<br />

einer ungerechten Welt etwas zu ändern,<br />

etwas zu verbessern, die Welt<br />

gerechter zu machen.<br />

Mit „Zeit für Gerechtigkeit“ ziehen wir<br />

<strong>Jusos</strong> nun in den Wahlkampf. Mit der<br />

inneren Überzeugung, dass es so nicht<br />

weitergehen kann, dass die Zeit für<br />

Gerechtigkeit nun endlich gekommen<br />

ist.<br />

Aber auch andere Parteien werben –<br />

gerade im Wahlkampf – damit, mit ihren<br />

Maßnahmen für mehr Gerechtigkeit<br />

zu sorgen. Gerechtigkeit ist in der<br />

Öffentlichkeit durchweg positiv besetzt,<br />

keine Partei würde für weniger<br />

Gerechtigkeit eintreten. So wirbt beispielsweise<br />

die neoliberale, CDU/FDPnahe<br />

Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft<br />

auf großen Plakatwänden mit<br />

ihrer Interpretation von Gerechtigkeit:<br />

„Ist es gerecht, dass Sandra bessere<br />

Chancen hat als Laura? Nein. Ist es<br />

gerecht die Steuern zu erhöhen?<br />

Nein“, heißt es dort, und beschreibt<br />

damit das Gegenteil dessen, was wir<br />

uns unter Gerechtigkeit vorstellen.<br />

Aber auch das sozialdemokratische<br />

Verständnis von Gerechtigkeit hat sich<br />

in den letzten Jahren immer wieder<br />

gewandelt.<br />

Soziale Gerechtigkeit<br />

Die wichtigste Gerechtigkeitskategorie<br />

der Sozialdemokratie ist die der „sozialen<br />

Gerechtigkeit“. Es waren die durch die Industrialisierung<br />

hervorgebrachte „soziale<br />

Frage“ und die erstarkende Arbeiterbewegung,<br />

in der sich die Verbindung der Begriffe<br />

„sozial“ und „Gerechtigkeit“ vollzog.<br />

Seither hat sich das Grundverständnis von<br />

sozialer Gerechtigkeit als Verteilungs -<br />

gerechtigkeit herausgebildet. Nach dem<br />

Zweiten Weltkrieg ist sie zum Grundwert<br />

des Sozialstaats schlechthin geworden. Sie<br />

beinhaltet eine breite soziale Sicherung<br />

und Gleichheit, gleiche Rechte und Chan-<br />

9


Argumente_02_<strong>2013</strong>_Inhalt 13.08.13 11:39 Seite 10<br />

cen und die dafür erforderliche Umverteilung<br />

von Einkommen und Vermögen von<br />

oben nach unten.<br />

Im Kern geht es bei in der Auseinandersetzung<br />

um soziale Gerechtigkeit immer<br />

um die Grundfrage des Verhältnisses<br />

zwischen Markt und Staat/Politik. Im<br />

Zuge des Aufschwungs marktradikaler<br />

Theorien und Politikansätze beginnend in<br />

den 1970er Jahren ist die Kategorie der sozialen<br />

Gerechtigkeit intellektuell ins Hintertreffen<br />

geraten. Auch das sozialdemokratische<br />

Verständnis von Gerechtigkeit<br />

blieb davon nicht unberührt. Der Ansatz<br />

des Dritten Weges setzte auf „mehr Markt“<br />

und ließ die Frage der gerechten Verteilung<br />

weitgehend außen vor. Eine kapitalistische<br />

Wirtschaftsordnung schaffe hohes Wachstum,<br />

das, wenn auch nicht allen, so doch<br />

der großen Mehrheit zugute komme. Ungleichheit<br />

galt eher als ein die Wirtschaft<br />

belebendes Element.<br />

Kennzeichen des neoliberalen Vormarsches<br />

war auch, dass andere Begriffe von<br />

Gerechtigkeit gegen die soziale Gerechtigkeit<br />

gesetzt wurden, mit dem Ziel, das Verhältnis<br />

von Markt und Staat in Richtung<br />

„mehr Markt“ zu verschieben. So gebrauchen<br />

die Marktradikalen „Leistungsgerechtigkeit“,<br />

um den Sozialstaat auszuhebeln.<br />

Oft missbraucht wird in diesem<br />

Sinne auch „Generationengerechtigkeit“,<br />

um sie gegen vorgeblich „alte Verteilungsfragen“<br />

auszuspielen. Dabei geht es immer<br />

um dasselbe: Besitzstandswahrung der Kapitalseite.<br />

Auch bei Sozialdemokraten war seit<br />

den 1990er Jahren immer wieder von<br />

„Chancengerechtigkeit“ und weniger von<br />

sozialer Gerechtigkeit die Rede. Die<br />

„Chancengesellschaft“ drohte den „demokratischen<br />

Sozialismus“ als Leitbild abzulösen.<br />

Der breite Angriff aus marktliberalkonservativer<br />

Warte gipfelte schließlich in<br />

der perfiden Argumentation, soziale Gerechtigkeit<br />

sei nicht mehr als eine leere<br />

Formel, ihre Verfechter wollten nur Neid<br />

schüren, eine Ausbeutung fände heute von<br />

unten nach oben statt: fleißige Leistungsträger<br />

durch asoziale Leistungsempfänger.<br />

Seit uns der Kapitalismus mit der Finanzmarkt-<br />

und Bankenkrise eine lange<br />

Nase gezeigt hat, der Marktradikalismus<br />

an die Wand gefahren ist und sich Herausgeber<br />

der Frankfurter Allgemeinen Zeitung<br />

eingestehen müssen, dass die Linke<br />

Recht behalten hat, hat sich der Wind allerdings<br />

gedreht. Heute wird immer mehr<br />

deutlich, dass das Konzept der „Chancengerechtigkeit“<br />

nicht taugt, um den Begriff<br />

der sozialen Gerechtigkeit abzulösen.<br />

Denn ist es gerecht, nur den zur Chance<br />

Befähigten, der egoistisch Bildung, sozialem<br />

Aufstieg und Prestige hinterherjagt,<br />

Anerkennung zukommen zu lassen und<br />

Armut als selbstverschuldetes Schicksal<br />

hinzunehmen? Nein, sagt die Sozialdemokratie<br />

(mittlerweile wieder) und mit ihr<br />

auch die meisten anderen Menschen.<br />

Was aber ist dann gerecht, und warum<br />

empfinden wir so? Was bedeutet nun eigentlich<br />

Gerechtigkeit?<br />

Gerechtigkeitsdefinitionen<br />

Eine (westliche) Definition, auf die<br />

sich viele Menschen einigen können, lautet:<br />

„Gerechtigkeit bedeutet, jedem das zu<br />

geben, was ihm gebührt“ – worüber wir uns<br />

dann schnell wieder uneinig sein können:<br />

Was gebührt mir? Muss ich mir „verdie-<br />

10<br />

Homo gerechticus Argumente 2/<strong>2013</strong>


Argumente_02_<strong>2013</strong>_Inhalt 13.08.13 11:39 Seite 11<br />

nen“, was mir gebührt oder stehen mir gewisse<br />

Dinge einfach zu? Gebührt mir das<br />

gleiche wie dir – egal ob ich vielleicht etwas<br />

ganz anderes brauche als du?<br />

Distributive Gerechtigkeit<br />

Distributive Gerechtigkeit beschreibt<br />

die Gerechtigkeit der Verteilung von Gütern.<br />

Eine Sonderumfrage im Rahmen des<br />

sozio-ökonomischen Panels im Jahr 2003<br />

bestätigt für Deutschland die Auffassung,<br />

dass Gleichheit, Leistung und Bedürfnisse<br />

von der Bevölkerung als gleichzeitig nebeneinander<br />

gültige Gerechtigkeitskriterien<br />

betrachtet werden. Diese drei Auffassungen<br />

von Gerechtigkeit scheinen es zu<br />

sein, die wir immer wieder zur Beurteilung<br />

verschiedener Situationen heranziehen, die<br />

sowohl staatliche Leitlinien vorgeben als<br />

auch in der Sozialdemokratie in jeweils<br />

verschiedenen Situationen unsere Handlungsmaximen<br />

sind.<br />

„Jede/r kriegt was er verdient“ ist das<br />

Motto der Leistungsgerechtigkeit (eaquity).<br />

Dieses Prinzip wird beispielsweise bei<br />

der Entlohnung von Arbeit und auch in<br />

der Rentenversicherung angewandt.<br />

„Jede/r kriegt was er braucht“ heißt es<br />

nach dem Verständnis der Bedürfnisgerechtigkeit<br />

(need), die zum Beispiel die<br />

Grundidee der Krankenversicherung beschreibt<br />

(auch wenn dieses Prinzip in einigen<br />

Bereichen bereits ausgehöhlt wurde).<br />

Gerecht ist, wenn „Jede/r das gleiche<br />

kriegt“ sagt die Gleichheit (equity). Nach<br />

dieser Idee wird beispielsweise das Kindergeld<br />

verteilt. Zumindest rhetorisch war<br />

dem Staat stets jedes Kind gleich viel Wert<br />

(auch wenn diese Argumentation durch die<br />

hohen Steuerfreibeträge für Besserverdienende<br />

eine reine Farce war).<br />

Auch wenn es natürlich noch weitere<br />

Gerechtigkeitsbegriffe gibt, die die Distribution<br />

von materiellen oder immateriellen<br />

Gütern beschreibt (Umweltgerechtigkeit,<br />

Generationengerechtigkeit, Tauschgerechtigkeit),<br />

sind diese meist einer der oben beschriebenen<br />

Spielarten zuzuordnen.<br />

Prozedurale Gerechtigkeit<br />

Bei der prozeduralen Gerechtigkeit<br />

hingegen steht nicht das Ergebnis, sondern<br />

der Prozess, der zur Entscheidung führt,<br />

im Mittelpunkt. Auch Entscheidungen,<br />

die für die eigene Person oder Gruppe mit<br />

einem ungünstigen Ergebnis verbunden<br />

sind, werden akzeptiert, wenn das Verfahren,<br />

das zu dieser Lösung geführt hat, als<br />

gerecht wahrgenommen wurde (Tyler &<br />

Folger, 1980).<br />

Ein gutes Beispiel dafür ist die Debatte<br />

um Stuttgart 21. Die Sympathien für die<br />

Gegner des Bahnhofbaus brachen in dem<br />

Moment weg, als sich die Mehrheit der<br />

BürgerInnen in einem als gerecht empfundenen<br />

Verfahren (Volksentscheid), FÜR<br />

den Bau des Bahnhofes aussprach. Auch<br />

der große Wunsch nach „Transparenz“ in<br />

der Politik, der bei Umsetzung in den politischen<br />

Prozess auch nicht zwangsläufig zu<br />

anderen Ergebnissen führt – wie Stuttgart<br />

21 gezeigt hat –, kann durch dieses Streben<br />

nach prozeduraler Gerechtigkeit zumindest<br />

ansatzweise erklärt werden.<br />

Justizielle Gerechtigkeit<br />

Unter justizieller Gerechtigkeit werden<br />

gemeinhin angemessene Gesetze sowie<br />

11


Argumente_02_<strong>2013</strong>_Inhalt 13.08.13 11:39 Seite 12<br />

eine faire Rechtsprechung verstanden.<br />

Doch wann sind Gesetze „richtig“, wann<br />

ist Rechtsprechung ausgewogen? Schnell<br />

erinnern wir uns an den oft zitierten Satz,<br />

Recht haben und Recht bekommen sei<br />

nicht das gleiche. Ist es auch nicht. Man<br />

kann einen Anspruch zugesprochen bekommen,<br />

obwohl man ihn eigentlich gar<br />

nicht hat – und umgekehrt. Manchmal ist<br />

der Fall klar. Und wenn das passiert, wenn<br />

Recht haben und Recht bekommen auseinander<br />

fallen, empfinden wir das als ungerecht.<br />

Manchmal aber, und das geschieht<br />

vor den Gerichten weit öfter als man meinen<br />

könnte, ist der Fall eben gar nicht klar.<br />

Justizielle Gerechtigkeit kann nicht in jeder<br />

Lebenslage eine objektive Gerechtigkeit<br />

widerspiegeln. Dies ist unabhängig von<br />

der philosophischen Frage einleuchtend,<br />

ob es eine objektive Gerechtigkeit überhaupt<br />

gibt. Unser Anspruch an Gesetze<br />

und Rechtsprechung muss daher sein, dass<br />

sich diese so häufig wie möglich, so nah<br />

wie möglich einer objektiven Gerechtigkeit<br />

annähern. Dies wird durch verschiedene<br />

Rechtsprinzipien und Verfahrensregeln ver -<br />

sucht. Die von uns selbst gesetzten Normen<br />

spiegeln folglich wider, was wir als Ge -<br />

rechtigkeit (vor dem Gesetz) empfinden.<br />

Zunächst fällt dabei auf, dass zivilrechtliche<br />

Gerechtigkeit, beispielsweise aus<br />

Verträgen oder Erbe, von uns gänzlich anders<br />

gehandhabt wird, als die Gerechtigkeit<br />

im Strafrecht. In letzterem haben wir<br />

nämlich die Vorstellung, dass es gerecht ist,<br />

wenn nicht jede einzelne Person individuell<br />

Vergeltung gegenüber ihren PeinigerInnen<br />

üben muss. Das darf sie gar nicht. Es<br />

wird vielmehr davon ausgegangen, dass<br />

Gerechtigkeit am besten durch den Staat<br />

ausgeübt werden kann. Deshalb klagt im<br />

Strafrecht keine individuell geschädigte<br />

Partei die angeschuldigte Person an, sondern<br />

die Staatsanwaltschaft. Das leuchtet<br />

ein, hält man sich vor Augen, dass im<br />

Strafrecht nicht in erster Linie individuelle<br />

Unrecht an einer einzelnen Person vergolten<br />

wird, sondern die Tatsache, dass die<br />

TäterInnen sich gegen die Rechtsordnung<br />

und damit gegen gesellschaftliche Vereinbarungen<br />

gestellt haben. Denn wenn Personen<br />

andere verletzen, betrügen oder ihnen<br />

etwas stehlen, dann ist dies nach<br />

unserem Verständnis ein Angriff auf unser<br />

Zusammenleben. Dieses zu schützen, ist<br />

Aufgabe des Staates. Das empfinden wir<br />

als gerecht.<br />

Im Zivilrecht hingegen haben wir ein<br />

anderes Gerechtigkeitsverständnis. Hier<br />

gilt die Dispositionsmaxime, was bedeutet,<br />

dass es den einzelnen Parteien frei steht zu<br />

bestimmen, ob sie überhaupt ein Verfahren<br />

einleiten wollen. Obwohl man es als ungerecht<br />

empfinden kann, wenn Menschen für<br />

sich selbst nachteilige Verträge schließen,<br />

oder sie Forderungen erfüllen, die eigentlich<br />

gar nicht bestehen, wird nicht „im Namen<br />

des Volkes“ Klage erhoben. Hier sehen<br />

wir die Rechtsordnung offenbar nicht<br />

so sehr in Gefahr, dass wir von staatlicher<br />

Seite eingreifen müssten. Die Parteien<br />

müssen sich nicht nur selbst an die Gerichte<br />

wenden, sondern Beweise vorbringen.<br />

Wer dies nicht kann oder will, muss eben<br />

mit der Situation leben. Das empfinden<br />

wir als gerecht.<br />

Gerechte-Welt-Glaube<br />

Das Bedürfnis, in einer gerechten Welt<br />

zu leben, in der prinzipiell jeder das bekommt,<br />

was „ihm gebührt“, ist ein basales<br />

soziales Motiv von Menschen (Lerner,<br />

1977, 1980). Wir glauben an motivierende<br />

12<br />

Homo gerechticus Argumente 2/<strong>2013</strong>


Argumente_02_<strong>2013</strong>_Inhalt 13.08.13 11:39 Seite 13<br />

Sinnsprüche wie: „Jeder kriegt was er verdient“<br />

oder „alles gleicht sich irgendwann<br />

aus“. Tatsächlich erleben wir jedoch tagtäglich<br />

Ungerechtigkeiten: eine ungerechte<br />

Abfuhr, einen unfreundlichen Kollegen;<br />

oder noch schlimmer: Krankheit, Gewalt<br />

oder gar Tod. Diese folgen keinem glaubhaften<br />

Schema.<br />

Die gerechte Welt ist daher keine Tatsache,<br />

sondern lediglich eine Hoffnung,<br />

und allzu oft nur noch eine Illusion.<br />

Nichtsdestotrotz wollen wir Menschen sie<br />

aufrechterhalten, um drohende Kontrollverluste<br />

und Gefühle der fundamentalen<br />

Sinnlosigkeit abzuwehren (vergl. Montada<br />

& Lerner, 1998 ). Dieses Bedürfnis des<br />

„Gerechte-Welt-Glaubens“ geht so weit,<br />

dass wir uns nicht nur wünschen, dass jeder<br />

kriegt was er verdient, sondern auch, dass<br />

jeder verdient was er bekommt. Solche Erklärungsmuster<br />

können unter Umständen<br />

sogar zu lasten der „Wahrheit“ gehen. So<br />

lassen sich beispielsweise „blaming the victim“-Muster<br />

erklären. Arbeitslosigkeit?<br />

Wahrscheinlich hat sich da jemand nicht<br />

rasiert oder nicht gut genug gearbeitet. Sexuelle<br />

Belästigung? Die hatte doch bestimmt<br />

einen viel zu kurzen Rock an. Irgendeinen<br />

Grund muss es ja geben, gäbe es<br />

nämlich keinen, könnten mir solche<br />

schrecklichen Situationen auch jederzeit<br />

passieren, ohne dass ich mich dagegen<br />

schützen kann.<br />

Entsprechende Untersuchungen können<br />

also zeigen, dass es sich bei dem „Gerechtigkeitsmotiv“<br />

von Menschen nicht allein<br />

um eine prosoziale Form des Strebens<br />

nach Gerechtigkeit handelt, sondern dass<br />

diese durchaus aufs Spiel gesetzt werden<br />

kann, für eine „gerechte Wahrnehmung“<br />

der Situation (Montada, 1998).<br />

Handlungsrelevanz von Gerechtigkeit<br />

Die Gerechtigkeitsforschung kann zeigen,<br />

dass auch Kosten-Nutzen-Verteilungen,<br />

von denen Ökonomen unterstellen,<br />

Menschen würden nur nach ihrer eigenen,<br />

persönlichen Vorteilsrechnung handeln,<br />

nicht greifen. Menschen denken und handeln<br />

eben nicht als homo oeconomicus,<br />

sondern in Kategorien von Gerechtigkeit!<br />

Anders als häufig angenommen, ist Gerechtigkeit<br />

für viele Menschen keine theoretische,<br />

sondern eine ganz reale, handlungsrelevante<br />

Größe, an Hand derer<br />

Entscheidungen getroffen werden.<br />

So genannte „Green Justice“-Forschung<br />

kann zum Beispiel zeigen, dass sowohl<br />

emotionales als auch kognitives (Un)Gerechtigkeitsempfinden<br />

Auswirkungen auf<br />

(umweltrelevantes) Handeln haben kann<br />

(Ittner et al., 2002). Auch die Social Dilemma-Forschung<br />

zeigt, wie wichtig „Gerechtigkeit“<br />

für Urteile und Handlungen von<br />

Menschen ist. Ein soziales Dilemma stellt<br />

Beispielsweise die Nutzung von Automobilen<br />

oder Flugzeugen dar. Während es für<br />

einzelne Personen deutlich komfortabler<br />

ist, mit dem Auto zur Arbeit oder in den<br />

Urlaub zu fahren, anstatt das Fahrrad oder<br />

ÖPNV zu nutzen, erscheint es für die Allgemeinheit<br />

(und so eigentlich auch wieder<br />

für jeden einzelnen) im Hinblick auf saubere<br />

Luft und Lärmreduzierung angemessener,<br />

auf solche Verkehrsmittel zu verzichten.<br />

Ähnlich angelegt funktioniert auch<br />

„Free Riding“, also das Phänomen, dass<br />

Menschen (oder Institutionen) von etwas<br />

profitieren, ohne selbst einen Beitrag zu<br />

leisten. Beispiele hierfür sind Beschäftigte,<br />

die nicht bereit sind, einer Gewerkschaft<br />

13


Argumente_02_<strong>2013</strong>_Inhalt 13.08.13 11:39 Seite 14<br />

beizutreten und einen Mitgliedsbeitrag zu<br />

entrichten, aber von den gewerkschaftlich<br />

erstrittenen Lohnerhöhungen profitieren.<br />

Auf der Ebene der Institutionen ist das<br />

Nicht-Ratifizieren des Koyoto-Protokolls<br />

durch die USA ein Beispiel dafür, wie ein<br />

Land, in dem verantwortungsbewusster<br />

Umgang mit der Umwelt kleingeschrieben<br />

wird (das also selbst maßgeblich für das<br />

Problem mitverantwortlich ist), von den<br />

Auswirkungen des Protokolls profitiert.<br />

Solche Geschichten lassen uns wieder mit<br />

einem brennenden Gefühl der Ungerechtigkeit<br />

zurück.<br />

Selbst Personen, dies kann in Studien<br />

gezeigt werden, für die Gerechtigkeitsmotive<br />

und das Erreichen gemeinsamer Ziele<br />

einen sehr hohen Stellenwert haben, sind<br />

überraschenderweise nicht mehr bereit zu<br />

kooperieren bzw. entpuppen sich als unerbittliche<br />

Defekteure, wenn sie mit „Free<br />

Riding“ konfrontiert sind. Sie stellen in<br />

dem Moment das gemeinsame Ziel zurück,<br />

um vorrangig den Freifahrer zu sanktionieren,<br />

da er ihr Gerechtigkeitsempfinden<br />

massiv verletzt.<br />

Ein subjektives „Gerechtigkeitsurteil“ –<br />

das ist gerecht, das ist ungerecht – kann<br />

sich dabei entweder auf einen individuellen<br />

Vergleich (dieses Jahr habe ich mehr gearbeitet<br />

als letztes Jahr, deshalb ist es gerecht,<br />

wenn ich mehr Geld bekomme) oder soziale<br />

Vergleiche (mein Arbeitskollege bekommt<br />

mehr als ich, das ist ungerecht) beziehen.<br />

Klar ist, dass gerade in der Wahl<br />

dieser Referenzgruppe ein wichtiger Faktor<br />

bzw. eine Variable in der Gerechtigkeitswahrnehmung<br />

von Menschen liegt.<br />

Einem Vorstandsvorsitzenden der Sparkasse,<br />

dessen Gehalt gedeckelt werden soll,<br />

erscheint dies wahrscheinlich ungerecht,<br />

wenn er sich mit dem Vorstandsvorsitzenden<br />

der Deutschen Bank vergleicht. Vergleicht<br />

er sich jedoch mit seinen eigenen<br />

Angestellten, wird ihm sein Gehalt schon<br />

eher gerecht erscheinen. In dieser Erkenntnis<br />

liegt für die Sozialdemokratie Chance<br />

und Risiko zugleich, wenn es darum geht,<br />

die richtige Referenzgruppe zur Klärung<br />

unserer Vorstellung von Gerechtigkeit zu<br />

finden.<br />

Schlussfolgerung<br />

Welche Schlussfolgerungen können aus<br />

den oben beschriebenen Prinzipien sowie<br />

Wahrnehmung von Gerechtigkeit gezogen<br />

werden?<br />

Gerechtigkeit ist relativ (Referenzgruppe),<br />

das bedeutet, die Politik muss den<br />

Rahmen (die Relation) für das Gerechtigkeitsempfinden<br />

setzten. Menschen haben<br />

ein Gerechtigkeitsempfinden; Politik muss<br />

handeln.<br />

Gerechtigkeit hat verschiedene Bezugsrahmen<br />

(Leistung, Bedürfnis, Gleichheit,<br />

prozedurale Gerechtigkeit). Die Politik<br />

hat die Aufgabe, den Bezugsrahmen<br />

entsprechend ihres Wertekanons zu wählen.<br />

In unterschiedlichen Situationen halten<br />

wir in der Sozialdemokratie unterschiedliche<br />

Bezugsrahmen für an gemessen.<br />

Die entsprechende Handlungsmaxime<br />

gibt uns in der Sozialdemokratie die soziale<br />

Gerechtigkeit (Verteilungsgerechtigkeit).<br />

Gerechtigkeit ist nicht bloß eine abstrakte<br />

Norm, sondern die Menschen haben<br />

ein Empfinden für Gerechtigkeit. Das<br />

sozialdemokratische Gerechtigkeitsverständnis<br />

muss also von den Menschen ver-<br />

14 Homo gerechticus Argumente 2/<strong>2013</strong>


Argumente_02_<strong>2013</strong>_Inhalt 13.08.13 11:39 Seite 15<br />

standen werden, muss bei ihnen ankommen.<br />

Dies zu transportieren ist eine politische<br />

Aufgabe, die im Wahlkampf auch<br />

emotional geleistet werden kann und muss<br />

– denn Gerechtigkeit ist Emotion.<br />

Auch Ungerechtigkeit ist Emotion, die<br />

sich ebenso gut (vielleicht sogar besser) bedienen<br />

lässt. Menschen haben den<br />

Wunsch, Ungerechtigkeit nicht zuzulassen<br />

(aggressives Reagieren gegen „Free Riding“).<br />

Auch das ist eine Chance für soziale<br />

Gerechtigkeit.<br />

Schließlich ist das Streben nach Gerechtigkeit<br />

nicht naiv, nicht bloße Traumtänzerei,<br />

das Bedürfnis nach einer gerechten<br />

Welt ist in den Menschen angelegt<br />

(Gerechte-Welt-Glaube). Diesen Wunsch<br />

wollen wir bedienen – denn auch wir glauben,<br />

dass eine gerechte Welt möglich ist.<br />

Es ist Zeit für Gerechtigkeit. l<br />

Literatur<br />

Lerner, M. J. (1980). The belief in a just world. A<br />

fundamental delusion. New York: Plenum Press.<br />

Lerner, M. J. (1977). The justice motive in social behavior.<br />

Some hypotheses as to its origins and forms.<br />

Journal of Personality, 45, 1 – 52.<br />

Montada, L. (1998), Gerechtigkeitsmotiv und Eigeninteresse.<br />

Zeitschrift für Erziehungswissenschaften,<br />

3,413 – 430.<br />

Ittner, H. (2002), Verkehrspolitische Engagements<br />

und Mobilitätsentscheidungen: Eine Frage von Moral,<br />

eigenem Nutzen oder Lebensstilen? Trier: Universitätsbibliothek<br />

Trier.<br />

Tyler, T.R./Folger, R. (1980). Distributional and procedural<br />

aspects of satisfaction with citizen-police encounters.<br />

Basis and Applied Social Psychology, 1,<br />

281 – 292.<br />

Montada, L. & Lerner, M.J. (1998). Responses to<br />

Victimizations and Belief in a Just World. New York:<br />

Plenum Press.<br />

15


Argumente_02_<strong>2013</strong>_Inhalt 13.08.13 11:39 Seite 16<br />

WIE DIE LINKEN DIE MO-<br />

RAL ENTDECKTEN – UND<br />

DIE MITTE SIE AUS DEM<br />

BLICK VERLOR<br />

von Rainer Freudenthaler, Student der Medien- und Kommunikationswissenschaft<br />

Universität Mannheim, SPD Stuttgart<br />

Dieses Jahr feierte die SPD ihren<br />

150. Geburtstag. Gleichzeitig befindet<br />

sie sich im Wahlkampf zur <strong>Bundestagswahl</strong>,<br />

und damit mitten im Deutungskampf<br />

darum, welche Politik als<br />

normativ richtig und als politisch realistisch<br />

gesehen werden kann. Dabei<br />

fehlt es häufig nicht an Vertrauen in<br />

die moralische Richtigkeit sozialdemokratischer<br />

Politik, viel häufiger wird einerseits<br />

die Umsetzbarkeit sozialdemokratischer<br />

Forderungen in Frage<br />

gestellt, oder der Wille sozialdemokratischer<br />

PolitikerInnen, ihre Versprechen<br />

auch einzulösen. Sozialdemokratische<br />

Politik ist heute auf einen<br />

Hoffnungsvorsprung angewiesen, den<br />

sie sich im Wahlkampf erst noch erarbeiten<br />

muss.<br />

Darum ist es interessant, die historische<br />

Entwicklung der Rolle moralischer<br />

Argumentation innerhalb linker<br />

Politik zu betrachten, um zu sehen,<br />

dass weder der Appell an das Mögliche<br />

immer typisch links war, noch der<br />

Rückgriff auf Sachzwänge immer typisch<br />

für bürgerliche Politik. Dieser<br />

Blick in die Geschichte zeigt, dass die<br />

Öffnung linker Diskurse für moralische<br />

Argumentation als Teil der Demokratisierung<br />

der Bewegung der Arbeitenden<br />

gesehen werden kann – und dass<br />

der Verweis auf vermeintliche geschichtliche<br />

Notwendigkeiten heute<br />

oft nur dazu dient, einer demokratischen<br />

Diskussion der moralischen<br />

Grundlagen der eigenen Politik aus<br />

dem Weg zu gehen.<br />

Die sozialistische Öffnung zur Moralphilosophie<br />

Heutzutage fällt es schwer, sich daran<br />

zu erinnern, dass die Orientierung an einer<br />

offenen, gestaltbaren Zukunft nicht schon<br />

immer eine genuin linke, sozialdemokratische<br />

Position war:<br />

Wie so verschiedene AutorInnen wie<br />

Laclau und Mouffe (2006) oder Habermas<br />

(1995) eindrucksvoll nachzeichnen, war im<br />

16 Wie die Linken die Moral entdeckten – und die Mitte sie aus dem Blick verlor Argumente 2/<strong>2013</strong>


Argumente_02_<strong>2013</strong>_Inhalt 13.08.13 11:39 Seite 17<br />

19. Jahrhundert innerhalb der deutschen<br />

Sozialdemokratie ein Marxismus bestimmend,<br />

der davon ausging, den objektiven<br />

Gang der Geschichte aus den Widersprüchen<br />

des Kapitalismus ablesen zu können,<br />

und damit die eigene Politik an vermeintlichen<br />

geschichtlichen Notwendigkeiten<br />

orientieren zu können. Vor diesem Hintergrund<br />

erschien eine eigenständige Moralphilosophie<br />

nicht notwendig, sogar unmöglich:<br />

Da gesellschaftliche Moral als<br />

geschichtlich bedingt gesehen wurde, wurde<br />

die Aufgabe der Politik als wissenschaftliches<br />

Ablesen des geschichtlich notwendigen<br />

Handelns verstanden, und eine<br />

moralische Diskussion bestenfalls als ideologische<br />

Ablenkung. Wie Mouffe und Laclau<br />

zeigen, geriet diese Anschauung bereits<br />

zu Zeiten der zweiten Internationale<br />

ins Wanken – wenn das objektive Interesse<br />

der Arbeitenden Massen Maßstab sozialistischer<br />

Politik sein sollte, warum wählten<br />

diese nicht konsequent sozialistische Parteien,<br />

und warum waren sozialistische PolitikerInnen<br />

weit uneiniger über die historisch<br />

notwendige Politik, als dies die<br />

Theorie vorhersah?<br />

Diese latente Krise des Marxismus verschärfte<br />

sich Anfang des 20. Jahrhunderts,<br />

als die politische Entwicklung des Westens<br />

nahelegte, dass der Kapitalismus sich mit<br />

Hilfe des Wohlfahrtsstaates weit genug<br />

stabilisieren konnte, dass sein Untergang in<br />

absehbarer Zeit als unwahrscheinlich erschien.<br />

Gleichzeitig zeigten westliche Demokratien<br />

Möglichkeiten zur Reform, die<br />

einen sozialdemokratischen Reformismus<br />

zu bestätigen schienen – dabei aber das<br />

prinzipielle Abhängigkeitsverhältnis zwischen<br />

Arbeitenden und Besitzenden nicht<br />

in Frage stellten. Die Erfahrung des totalitären<br />

Sozialismus der Sowjetunion auf der<br />

anderen Seite zeigte, dass das blinde Vertrauen<br />

darauf, dass sozialistische Parteien<br />

die objektiven Interessen der Arbeitenden<br />

erkennen könnten und immer vertreten<br />

würden, naiv war.<br />

Damit ging dem Marxismus sowohl die<br />

historische Legitimation als auch der Anspruch,<br />

objektive Interessen direkt aus der<br />

historischen Situation ableiten zu können,<br />

verloren.<br />

SozialistInnen und SozialdemokratInnen<br />

reagierten auf verschiedenste Weise<br />

auf diese Entwicklung: Einerseits durch<br />

eine Abwendung vom Marxismus und<br />

Hinwendung zu anderen politischen Strömungen,<br />

vor allem zu linksliberalen und<br />

keynesianischen Argumentationen.<br />

Andererseits, indem verschiedene postmarxistische<br />

Strömungen sich einer moralischen<br />

Begründung linker Politik zuwandten:<br />

Wenn sich normative Maßstäbe nicht<br />

einfach aus der historischen Situation ableiten<br />

ließen, war es an der Zeit, diese moralisch<br />

zu begründen. Habermas (1995 und<br />

1998) beispielsweise begann, die kritische<br />

Theorie normativ zu unterfüttern, indem<br />

er moralische Urteile vom gesellschaftlichen<br />

Diskurs abhängig machte. Moralisch<br />

richtig ist für ihn, was in einem zwanglosen<br />

Diskurs Zustimmung finden würde. Da<br />

dieser zwanglose Diskurs unter realen Bedingungen<br />

nie vollständig gegeben ist, ist<br />

es Aufgabe der demokratischen Institutionen,<br />

Einschränkungen und Verzerrungen<br />

des demokratischen Diskurses problematisierbar<br />

zu machen und damit den Einfluss<br />

von Macht und Geld zurückzudrängen.<br />

Für Laclau und Mouffe wiederum ist<br />

die Bildung gesellschaftlichen Konsenses<br />

17


Argumente_02_<strong>2013</strong>_Inhalt 13.08.13 11:39 Seite 18<br />

weniger wichtig als die Ermöglichung gesellschaftlichen<br />

Dissenses und der Herausbildung<br />

alternativer Identitäten – wenn es<br />

keine vereinende Identität eines Proletariats<br />

mehr gibt, die gesellschaftliche Veränderungen<br />

vorgeben könnte, muss es vielmehr<br />

jeder gesellschaftlichen Gruppe<br />

möglich sein, sich eigene Identitäten und<br />

davon abhängige Interessen herauszubilden<br />

und diese im demokratischen Konflikt<br />

mit anderen Interessengruppen zu vertreten.<br />

Analytische MarxistInnen wie Cohen<br />

(1995 und 2009) wiederum bemühen sich<br />

nun, analog zur liberalen Philosophie, zunächst<br />

komplett losgelöst von konkreten<br />

historischen Situationen für universalistische<br />

Gerechtigkeitsmaßstäbe der Chancen-<br />

und Leistungsgerechtigkeit und sozialer<br />

Fürsorge zu argumentieren, bevor<br />

deren Möglichkeit zur Umsetzung diskutiert<br />

wird.<br />

Was die genannten TheoretikerInnen,<br />

bei allen Differenzen, gemeinsam haben,<br />

ist die Betonung der Wichtigkeit, dass demokratische<br />

Institutionen Spielräume für<br />

alternative Politikentwürfe schaffen und<br />

den diskursiven Raum bereitstellen, diese<br />

Alternativen zu diskutieren. An die Stelle<br />

historischer Gegebenheiten tritt die Aufgabe<br />

der Politik, in die Gesellschaft gestaltend<br />

einzugreifen – und den Bürgern die<br />

Möglichkeit zu geben, an dieser Gestaltung<br />

teilzuhaben. Demokratie wird damit<br />

nicht mehr nur Mittel zur Durchsetzung<br />

sozialistischer Politik, sondern selbst Ziel<br />

linker Politik, da nur im demokratischen<br />

Diskurs legitime politische Ziele herausgebildet<br />

werden können.<br />

Die Spaltung des Liberalismus<br />

Was heute ebenfalls häufig vergessen<br />

wird, ist, dass der Liberalismus seinen Anfang<br />

in der Moralphilosophie hatte. Für<br />

DenkerInnen wie David Hume und Adam<br />

Smith war der freie Markt kein Selbstzweck,<br />

sondern verbunden mit dem Anspruch,<br />

dass sich auf ihm die moralische<br />

Autonomie der StaatsbürgerInnen verwirklichen<br />

ließe, dass die Unsichtbare<br />

Hand des Marktes zu tatsächlich moralisch<br />

überlegenen Ergebnissen führt. Amartya<br />

Sen (2007 und 2009) weist vor diesem<br />

Hintergrund darauf hin, dass Smith Eingriffen<br />

in den Markt nicht prinzipiell ablehnend<br />

gegenüber stand, sondern diesen,<br />

sofern er sie moralisch gerechtfertigt sah,<br />

zustimmte. Gleichzeitig unterschätzte er<br />

wohl die Ungleichheit, die der aufkommende<br />

Kapitalismus erzeugte.<br />

Habermas (1995) spricht in diesem<br />

Zusammenhang nicht umsonst von der<br />

„Vernunftutopie der Aufklärung“: Die<br />

Idee, dass sich eine Gesellschaft aus relativ<br />

gleichen und freien BürgerInnen durch einen<br />

weitestgehend unregulierten Markt<br />

verwirklichen ließe, stieß schon im 19.<br />

Jahrhundert auf die Realität von Massenarmut<br />

und Ungleichheit der frühkapitalistischen<br />

Gesellschaft. Die Vernunft des<br />

Marktes und die Vernunft der Moral traten<br />

deutlich auseinander.<br />

Dem Liberalismus blieben zwei Reaktionen:<br />

Einerseits die, teilweise widerspenstige,<br />

Anerkennung des im 20. Jahrhundert<br />

sich immer weiter ausbreitenden Sozialstaats,<br />

und der Versuch, diesen mit liberalen<br />

Prinzipien in Einklang zu bringen –<br />

John Rawls (1971) und Amartya Sens<br />

(2009) Beiträge zum Sozialliberalismus<br />

18 Wie die Linken die Moral entdeckten – und die Mitte sie aus dem Blick verlor Argumente 2/<strong>2013</strong>


Argumente_02_<strong>2013</strong>_Inhalt 13.08.13 11:39 Seite 19<br />

beispielsweise versuchen, Gerechtigkeitsprinzipien<br />

aus der moralischen Autonomie<br />

des Einzelnen demokratisch zu begründen<br />

und einen Freiheitsbegriff zu etablieren,<br />

der von den Lebenschancen der Einzelnen<br />

ausgeht, statt sich mit der formalen Freiheit<br />

der Besitzenden zu begnügen. Übereinstimmend<br />

mit Habermas betont Sen<br />

dabei die Bedeutung des demokratischen<br />

Aushandelns solcher Wertmaßstäbe: Da in<br />

einer pluralistischen Gesellschaft verschiedenste<br />

normative Ansprüche aufeinandertreffen,<br />

muss für ihn das demokratische<br />

Aushandeln von Kompromissen solche<br />

Konflikte mindern.<br />

Andererseits fanden sich AutorInnen<br />

wie Friedrich August von Hayek (1993),<br />

die einfach einen immer geringeren moralischen<br />

Anspruch an den freien Markt forderten:<br />

Der Markt solle nun nicht mehr an<br />

den Ergebnissen gemessen werden, die er<br />

erzeugt, sondern anhand einer Verfahrensgerechtigkeit,<br />

die auf die Konsequenzen<br />

marktwirtschaftlicher Verfahren keine<br />

Rücksicht mehr nimmt – Einkommensungleichheit,<br />

Armut, sogar Monopole sind<br />

aus dieser Sicht hinzunehmende Übel, die<br />

man in Kauf nehmen muss. Die Gerechtigkeit<br />

einer Gesellschaft wird nicht mehr<br />

an externen Maßstäben gemessen, sondern<br />

nur noch daran, inwieweit sie mit marktwirtschaftlichen<br />

Prinzipien übereinstimmt.<br />

Die Orientierung an anderen Prinzipien,<br />

beispielsweise an sozialer Gerechtigkeit,<br />

wird dabei von Hayek als nicht nur<br />

nicht wünschenswert, sondern funktional<br />

unmöglich erklärt: Jeder Versuch, soziale<br />

Gerechtigkeit zu definieren und politisch<br />

durchzusetzen führe automatisch in den<br />

Totalitarismus. Ziel liberaler Politik solle<br />

daher sein, solche Sozialpolitik unmöglich<br />

zu machen – einerseits durch ein Verfassungsrecht,<br />

das die Gestaltungsmöglichkeiten<br />

des Staates beschränkt, andererseits<br />

durch Förderung eines Steuerwettbewerbs<br />

zwischen Staaten, der die steuerlichen<br />

Spielräume demokratischer Staaten weiter<br />

einschränken soll (Vgl. Hayek 1991).<br />

Francis Fukuyama (1992) führte diese<br />

Abkehr von der Moralphilosophie noch<br />

weiter, indem er die Behauptung aufstellte,<br />

Kapitalismus und liberale Demokratie<br />

stellten das Ende der Geschichte dar. Damit<br />

tauchte der Geschichtsdeterminismus,<br />

von dem sich die politische Linke mühsam<br />

losgesagt hatte, plötzlich als Geschichtsphilosophie<br />

des freien Marktes wieder auf.<br />

Nach dem Fall der Sowjetunion konnte<br />

diese Philosophie, wonach die immer weitere<br />

Ausbreitung und Entgrenzung der<br />

Marktwirtschaft historisch gegeben und<br />

jede Kritik daran unzeitgemäß und unrealistisch<br />

sei, lange Zeit beinahe Hegemonie<br />

für sich beanspruchen (Naomi Klein<br />

(2007) konnte diese Entwicklung sehr gut<br />

nachzeichnen). Auch die europäische Sozialdemokratie<br />

war an diesem Prozess nicht<br />

unbeteiligt. Der Vorwurf an die SPD, dass<br />

unter Schröder linke Politikgestaltung fast<br />

komplett hinter der Anpassung an (vermeintliche)<br />

weltwirtschaftliche Gegebenheiten<br />

zurücktrat, ist schwer zu entkräften<br />

(sehr differenziert dargelegt beispielsweise<br />

in Ulrich Beck (2005)).<br />

Möglichkeiten und Notwendigkeiten<br />

in der aktuellen Politik<br />

In den Jahren seit der Finanzkrise 2007<br />

lässt sich relativ deutlich beobachten, wie<br />

sehr die Definition dessen, was als möglich,<br />

und was als notwendig angesehen<br />

wird, selbst Teil des gesellschaftlichen Dis-<br />

19


Argumente_02_<strong>2013</strong>_Inhalt 13.08.13 11:39 Seite 20<br />

kurses ist. Politische Alternativen für unmöglich<br />

zu erklären ist heutzutage die<br />

Ausweichstrategie, um das moralisch Unbegründbare<br />

zum Notwendigen zu erklären.<br />

So galt eine strengere Regulierung des<br />

Bankensektors jahrelang als unmöglich, die<br />

Deregulierung als notwendig. Nach Ausbruch<br />

der Krise kehrte sich diese Stimmung<br />

für kurze Zeit komplett – die Re-<br />

Regulierung des Bankensektors wurde zur<br />

allgemein anerkannten Notwendigkeit, die<br />

Einführung einer Finanztransaktionssteuer<br />

wurde plötzlich – wenn auch halbherzig<br />

– sogar von der CDU vorangetrieben.<br />

Die Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke<br />

in Deutschland galt der CDU<br />

lange Zeit als Notwendigkeit, ein Atomausstieg<br />

wie geplant als unmöglich – was<br />

sich über Nacht komplett umkehrte. Die<br />

Tendenz, die eigene Politik als unausweichlich<br />

zu deklarieren, fand sich schon<br />

unter Schröder – aber unter Angela Merkel<br />

wurde daraus das einzig bestimmende<br />

Prinzip.<br />

Was als machbar gilt, kann sich über<br />

Nacht ändern, und wird sogleich notwendig<br />

– im Kanzleramt wird einfach jeden<br />

Tag aufs Neue entschieden, was morgen als<br />

realistisch gilt.<br />

Dabei sollte die SPD nicht unterschätzen,<br />

dass ein solcher Kurs für WählerInnen<br />

durchaus attraktiv sein kann – was auf der<br />

einen Seite als dreiste Wankelmütigkeit<br />

und undemokratischer Führungsstil wirken<br />

kann, kann auf der anderen Seite auch<br />

als Führungsstärke und politische Expertise<br />

angesehen werden. Zynischer Weise<br />

könnte es gerade die Undurchsichtigkeit<br />

von Merkels Führungsstil sein, die den<br />

Eindruck bestärkt, Politik sei so unüberschaubar,<br />

dass nur noch das Regierungskabinett<br />

den Überblick behalten kann.<br />

Dennoch sollte die SPD sich davor hüten,<br />

diesen Politikstil zu kopieren. Als „etwas<br />

bessere CDU“ könnte die Sozialdemokratie<br />

längerfristig kaum glaubhafte Politik<br />

machen.<br />

Stattdessen liegt es an der Sozialdemokratie,<br />

zu zeigen, dass Politik aus der öffentlichen<br />

Diskussion darüber bestehen<br />

kann, in was für einer Gesellschaft wir leben<br />

wollen. Die partizipative Erarbeitung<br />

des Wahlprogramms im Bürger-Dialog<br />

verspricht die Beteiligung der BürgerInnen.<br />

Es liegt an der SPD, in der politischen<br />

Praxis zu zeigen, dass sie dieses Versprechen<br />

auch einlösen kann – nicht nur durch<br />

mittelfristige politische Entscheidungen,<br />

sondern auch durch längerfristige Weichenstellungen,<br />

die die Gestaltungsspielräume<br />

der Politik wieder erweitern und<br />

diese gleichzeitig unter stärkere demokratische<br />

Kontrolle bringen. Wie Beck (2012)<br />

und Habermas (2011) zeigen, ist es gerade<br />

in der aktuellen Krise des Euroraums wichtig,<br />

einerseits die Möglichkeiten europäischer<br />

Institutionen zur demokratischen<br />

Gestaltung der Politik auszubauen, da eine<br />

Stabilisierung des Sozialstaats auf rein nationalstaatlicher<br />

Ebene längerfristig an der<br />

zwischenstaatlichen Konkurrenz scheitern<br />

würde. Andererseits ist eine solche Politik<br />

nur verantwortbar, wenn sie mit einer Stärkung<br />

der europäischen Legislative und einer<br />

stärkeren Beteiligung der BürgerInnen<br />

Europas einhergeht. Dem steht momentan<br />

eine weitverbreitete Europaverdrossenheit<br />

entgegen, die auf der Erfahrung gründet,<br />

dass europäische Institutionen bisher we-<br />

20<br />

Wie die Linken die Moral entdeckten – und die Mitte sie aus dem Blick verlor Argumente 2/<strong>2013</strong>


Argumente_02_<strong>2013</strong>_Inhalt 13.08.13 11:39 Seite 21<br />

der ausreichend demokratisch legitimiert,<br />

noch in der Lage sind, sozialpolitische<br />

Weichenstellungen vorzunehmen, es sei<br />

denn zur Einschränkung sozialstaatlicher<br />

Leistungen. Wenn es der Sozialdemokratie<br />

gelingt, die realistische Hoffnung auf ein<br />

demokratischeres und sozialeres Europa zu<br />

wecken, würde sie damit nicht nur die Tradition<br />

demokratischer linker Politik bestärken,<br />

sondern könnte zur Erneuerung der<br />

europäischen Demokratie beitragen. l<br />

Literatur<br />

Beck, U. (2005). Was zur Wahl steht. Frankfurt am<br />

Main: Suhrkamp.<br />

Hayek, Friedrich August von (1993). Law, legislation<br />

and liberty: a new statement of the liberal principles<br />

of justice and political economy. London: Routledge.<br />

Klein, N. (2007). Die Schock-Strategie. Der Aufstieg<br />

des Katastrophen-Kapitalismus. Frankfurt am<br />

Main: S. Fischer Verlag GmbH.<br />

Laclau, E., Mouffe, C. (2006). Hegemonie und radikale<br />

Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus.<br />

Wien: Passagen Verlag, 3. Auflage.<br />

Sen, A. (2007). Ökonomie für den Menschen. Wege<br />

zu Gerechtigkeit und Solidarität in der Marktwirtschaft.<br />

München: Deutscher Taschenbuch Verlag<br />

GmbH & Co. KG, 4. Auflage.<br />

Sen, A. (2009). The Idea of Justice. Harvard: Harvard<br />

University Press.<br />

Beck, U. (2012). Das deutsche Europa: Neue Machtlandschaften<br />

im Zeichen der Krise. Berlin: Suhrkamp<br />

Verlag.<br />

Cohen, G. A. (1995). Self-Ownership, Freedom and<br />

Equality. Cambridge: Press Syndicate of the University<br />

of Cambridge.<br />

Cohen, G. A. (2009). Why not Socialism? Princeton:<br />

Princeton University Press.<br />

Fukuyama, F. (1992). Das Ende der Geschichte: Wo<br />

stehen wir? München: Kindler.<br />

Habermas, J. (1995). Theorie des kommunikativen<br />

Handelns. Band 1: Handlungsrationalität und gesellschaftliche<br />

Rationalisierung. Frankfurt am Main:<br />

Suhrkamp.<br />

Habermas, J. (1995). Theorie des kommunikativen<br />

Handelns. Band 2: Zur Kritik der funktionalistischen<br />

Vernunft. Frankfurt am Main: Suhrkamp.<br />

Habermas, J. (1998). Faktizität und Geltung. Beiträge<br />

zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen<br />

Rechtsstaats. Frankfurt am Main: Suhrkamp.<br />

Habermas, J. (2011). Zur Verfassung Europas. Ein<br />

Essay. Berlin: Suhrkamp Verlag.<br />

Hayek, Friedrich August von (1991). Die Verfassung<br />

der Freiheit. Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck),<br />

3. Auflage.<br />

21


Argumente_02_<strong>2013</strong>_Inhalt 13.08.13 11:39 Seite 22<br />

IST HANS VERRÜCKT?<br />

Über das Zusammenspiel von Freiheit, Gleichheit und Demokratie<br />

von Katharina Schenk, promoviert an der Universität Leipzig im Fachbereich Philosophie<br />

zum Themenkomplex Gemeinwohl und Glück<br />

Es war einmal ein junger Mann, der<br />

bekam, als er seinen Meister verließ,<br />

einen Klumpen Gold zum Lohn, der so<br />

groß war, wie sein eigener Kopf. Hans,<br />

so hieß der junge Mann, hatte an dem<br />

Klumpen ganz schön zu schleppen.<br />

Auf seiner Reise nach Hause, die nicht<br />

eben kurz war, tauschte er deswegen<br />

den lästigen Klumpen zuerst gegen<br />

ein geschwind trabendes Pferd, alsbald<br />

dann gegen eine flattrige Gans<br />

und immer so weiter, bis er schließlich<br />

mit leeren Händen, aber sehr glücklich<br />

bei seiner Mutter in der Heimat anlangte.<br />

Aus diesem Grimmschen Märchen<br />

können wir, neben der glänzenden Unterhaltung<br />

durch die unerwarteten<br />

Wendungen Hänschens, zweierlei ziehen:<br />

Zum einen die Wahrheit, dass<br />

materieller Besitz in keinem Fall ein<br />

Garant für Glück ist, zum anderen –<br />

und das macht die Sache besonders<br />

spannend – zeigt uns Hans im Tauschen,<br />

dass wir die Möglichkeit haben,<br />

selbst den Weg zu unserem Glück zu<br />

wählen, ja sogar selbst zu bestimmen,<br />

wo der Weg hinführen sollen. Hans<br />

tauscht den lästigen Brocken einfach<br />

ein und gewinnt auf diese Weise<br />

selbst handelnd seine Freiheit zurück.<br />

Eine inspirierende Vorstellung!<br />

Dass materieller Besitz keine Garantie<br />

für Glück im Sinne eines andauernden Gefühls<br />

von Lebenserfolg ist, ist eine alte,<br />

man kann fast schon sagen, traditionelle<br />

Aussage. Schon Diogenes von Sinope, der<br />

berühmte Kyniker, der in einer Tonne lebte,<br />

verzichtete weitgehend auf Besitz. Und<br />

auch andere Philosophen, wie etwa Platon,<br />

der in seiner Staatsutopie den Wächterstand<br />

vom Besitz befreite, erkannten frühzeitig<br />

die Gefahren des Besitzens. Besitz<br />

als Last, denn wer viel hat, kann nicht nur<br />

viel verlieren, sondern muss sich auch um<br />

viel kümmern.<br />

Auch jenseits der philosophischen<br />

Schulen war diese Ansicht verbreitet, man<br />

denke nur an das Gebot der Besitzlosigkeit<br />

für die meisten Mönche.<br />

Kurz und gut: Es kann einen sogar einigermaßen<br />

verwundern, dass das viel zitierte<br />

Buch „The spirit level. Why Equality is<br />

Better for Everyone“ von Richard Wilkinson<br />

und Kate Pickett in den Industriestaaten<br />

für kaum übersehbare Aufregung sorgte.<br />

Aber mal ehrlich: Würden Sie, wenn<br />

Sie jetzt noch einmal Hans auf seiner Reise<br />

zu seiner Mutter begleiten würden, nicht<br />

auch an irgendeinem Punkt sagen: „Halt,<br />

22 Ist Hans verrückt? Argumente 2/<strong>2013</strong>


Argumente_02_<strong>2013</strong>_Inhalt 13.08.13 11:39 Seite 23<br />

stopp – hör doch endlich mal auf zu tauschen<br />

Du Depp, sonst stehst Du am Ende<br />

mit leeren Händen da!“ Nein? Dann sind<br />

Sie vermutlich Teil einer aussterbenden<br />

Spezies, denn fast alle Menschen, die ich<br />

bisher kennen lernen durfte, wünschen<br />

sich, auch wenn sie es nicht so explizit sagen,<br />

vor allem eins: Sicherheit. Und diese<br />

ist – das ist ein Fakt – wesentlich von materieller<br />

Sicherheit, also Geld, bestimmt.<br />

Jede und jeden treibt das bange Gefühl<br />

um, abgehängt zu werden oder zumindest<br />

abgehängt werden zu können. Jede und jeder<br />

kennt den bangen Blick auf den Lebenslauf<br />

der eigenen Freunde und Freundinnen<br />

und die heimlichen Gedanken<br />

darüber, ob man nicht doch noch ein Praktikum<br />

mehr hätte in Angriff nehmen sollen.<br />

All diese Ängste sind auf eine gewisse<br />

Art luxuriös, das macht sie jedoch keineswegs<br />

zu weniger relevanten Ängsten.<br />

Fest steht, dass unsere Gesellschaft zu<br />

einem immer größer werdenden Teil aus<br />

Menschen besteht, die nicht nur heimlich<br />

Hans ein „Halt, stopp!“ zuflüstern würden,<br />

sondern die ganz entschieden in seinen<br />

Weg sprängen. Menschen, die so verzweifelt<br />

um das bisschen Geld kämpfen, das sie<br />

zum täglichen Leben brauchen, dass ihnen<br />

ein junger Mann, der seinen Goldklumpen<br />

gegen die Freiheit tauscht, um unbeschwerter<br />

laufen zu können, wie ein Affront<br />

vorkommen muss.<br />

Warum ist das so?<br />

Das Märchen „Hans im Glück“, so<br />

habe ich Eingangs geschrieben, lehrt uns<br />

zwei grundsätzliche Dinge: Die Volksweisheit,<br />

dass Geld allein nicht glücklich macht<br />

– und eine Tatsache, die heute oft mit der<br />

Redewendung ,Jeder ist seines eigenen<br />

Glückes Schmied‘ zum Ausdruck gebracht<br />

wird. Die Freiheit, sein Leben selbst in die<br />

Hand nehmen zu können, selber Autor<br />

oder Autorin seines Lebens zu sein, ist die<br />

– betrachtet man ihre lange Geschichte –<br />

treibende Kraft der Sozialdemokratie und<br />

ihrer Gedankenvorläufer. Weg mit den<br />

vorbestimmenden Merkmalen Herkunft<br />

und Geschlecht, weg mit den klassengebundenen<br />

Lebensungerechtigkeiten. Ich<br />

bestimme wie ich lebe!<br />

Für sein Leben selbst verantwortlich zu<br />

sein, bedeutete zunächst und lange Zeit ein<br />

neues Maß an Freiheit – und Gleichheit.<br />

Endlich waren bestimmte Dinge nicht<br />

mehr nur einer ganz bestimmten Schicht<br />

oder Gruppe vorbehalten. Die Arbeiter<br />

gründeten eine Vielzahl von Vereinen, in<br />

denen sie all das taten, was zuvor für die<br />

Oberschicht reserviert war. Frauen errangen<br />

den Zugang zu Universitäten und das<br />

Wahlrecht. Ein emanzipiertes, ein kämpferisches<br />

Ich schien lange der Motor der sozialdemokratischen<br />

Bewegung zu sein –<br />

und ein Garant für jedermanns Glück.<br />

Andere Staaten wurden vom individuellen<br />

Streben nach Glück weit eher erfasst.<br />

Ein verheißungsvolles Symbol in der Ferne<br />

waren die Vereinigten Staaten von Amerika,<br />

die als erstes Land der Welt in ihren<br />

Gründungsdokumenten ein Recht auf<br />

Glück festschrieben. Der Beginn eines<br />

Nimbus, der bis heute den Reiz des sogenannten<br />

Landes der unbegrenzten Möglichkeiten<br />

ausmacht, auch wenn die soziale<br />

Mobilität in kaum einem anderen Land<br />

nachweislich so niedrig ist, wie in den Vereinigten<br />

Staaten.<br />

23


Argumente_02_<strong>2013</strong>_Inhalt 13.08.13 11:39 Seite 24<br />

Es scheint zunächst so, als sei mit der<br />

Entfesselung des Ichs auch ein neues Wir<br />

entstanden. Kollektiv kämpfen zunächst<br />

Meister, dann Handwerker und schließlich<br />

Industriearbeiter für ihre Rechte. Die Freiheit<br />

nimmt zu, die Unterschiede zu den<br />

oberen Schichten werden durch den Kapitalismus<br />

immer weiter abgeschmolzen.<br />

Man kann sagen: Der Ausbruch aus der<br />

malthusianischen Falle begann mit dem<br />

Kapitalismus. Thomas Malthus hat die<br />

Kraft des technischen Fortschritts und des<br />

investitionsgetriebenen Wachstums nicht<br />

erkannt. Von 1900 bis etwa 1975 kann man<br />

den fulminanten Aufstieg einer ganzen<br />

Klasse beobachten.<br />

Dieser Artikel könnte nun also mit der<br />

Feststellung enden, dass die Emanzipation<br />

des Ichs zu immer größerer Gleichheit<br />

führt, und dass das Ende der Geschichte<br />

eine Welt der Gleichen ist. Die Welt zeigt<br />

uns jedoch ein ganz anderes Gesicht. Zunehmende<br />

Ungleichheit, die ihr kaum fassbares<br />

Ausmaß in Zahlen wie dem Gini-<br />

Koeffizienten manifestiert.<br />

Im Godesberger Programm war es, als<br />

die historische Trias „Freiheit, Gleichheit,<br />

Brüderlichkeit“ eine entscheidende Wandlung<br />

erfuhr. Die Gleichheit wurde gegen<br />

die Gerechtigkeit eingetauscht. Zwar verschwand<br />

die Gleichheit nicht vollständig<br />

aus dem sozialdemokratischen Gedächtnis,<br />

sie wurde von nun an aber am liebsten als<br />

Teil einer endlosen Schlange von Komposita<br />

gebraucht. Chancengleichheit ist das<br />

wohl bekannteste Beispiel. Und auch den<br />

marxschen Geschichtsdeterminismus haben<br />

die SozialdemokratInnen – hier kann<br />

man sagen zum Glück – mittels des Godesberger<br />

Programms in der Mottenkiste<br />

verstaut.<br />

Was ist mit der Gleichheit geschehen?<br />

Die Gleichheit fiel der immer größeren<br />

Individualisierung zum Opfer. Man kann<br />

auch sagen: Das immer stärker werdende<br />

Ich hat sein eigenes Kind, die zunehmende<br />

Gleichheit, aufgefressen.<br />

Während man 1900 noch fast zwei<br />

Jahrzehnte vom Frauenwahlrecht entfernt<br />

war, genossen in den 1960er Jahren immer<br />

mehr Menschen den wachsenden Wohlstand.<br />

Die Produkte wurden immer individueller,<br />

es herrschte Überfluss – und demokratische<br />

Teilhabe. Dies ist nun vielleicht<br />

eine überraschende Korrelation, es lässt<br />

sich jedoch zweifelsfrei zeigen, dass die historisch<br />

größte Wahlbeteiligung der Bundesdeutschen<br />

am 19. November 1972 verzeichnet<br />

wurde. Sie war von der auch<br />

schon beachtlichen Marke von 78,5 Prozent<br />

zur ersten <strong>Bundestagswahl</strong> 1949 auf<br />

91,9 Prozent geklettert. Ein Zufall?<br />

Nein! Der breite Wohlstand der 1960er<br />

Jahre machte diese umfassende Teilhabe<br />

erst möglich. Seit 1972 können wir einen<br />

kontinuierlichen Rückgang der Wahlbeteiligung<br />

beobachten. Den aktuellen Tiefstand<br />

erreichte die Bundesrepublik 2009<br />

mit 72,5 Prozent. Ist das bloße Politikverdrossenheit?<br />

Ist es einfach immer mehr<br />

Menschen egal, was in unserem Land passiert?<br />

Ist es Faulheit, oder ist es das viel zitierte<br />

Misstrauen gegenüber den PolitikerInnen,<br />

wie es in den Medien allzu oft<br />

kolportiert wird?<br />

Nein! Es ist die einfache Tatsache, dass<br />

die Freiheit, sein Leben zu gestalten, zunehmend<br />

von den eigenen finanziellen<br />

Kräften abhängt.<br />

24 Ist Hans verrückt? Argumente 2/<strong>2013</strong>


Argumente_02_<strong>2013</strong>_Inhalt 13.08.13 11:39 Seite 25<br />

Gestalten, AutorIn des eigenen Lebens<br />

sein, das bedeutet wählen zu können – im<br />

privaten und im öffentlichen Raum. Dazu<br />

braucht es, das lässt sich an allerhand Beispielen<br />

zeigen, finanziellen Spielraum.<br />

Gute Gesundheitsversorgung, gute Bildung,<br />

gute Kinderbetreuung, sicheren und<br />

erschwinglichen Wohnraum, flächendekkender<br />

ÖPNV, bezahlbarer Strom. Die Liste<br />

der Bereiche, aus denen der Staat sich<br />

im Glauben an die Kompetenz des Marktes<br />

und die individuellen Kräfte immer<br />

weiter zurückgezogen hat, könnte noch<br />

fortgesetzt werden.<br />

Jede und jeder ist seines eigenen Glükkes<br />

Schmied. Was Hänschen noch als Freiheitsversprechen<br />

verstand, wird für die Generation,<br />

die nach 1972 das Wahlrecht<br />

erlangt, zur Drohung. Du trägst die Verantwortung<br />

für dein Leben, deine Erfolge<br />

und dein Versagen. Du musst dich um deinen<br />

Lebenslauf, deine Wohnung, deine<br />

Gesundheit, die Versorgung deiner Kinder,<br />

deine Weiterbildung, deinen Kontostand<br />

und deine Stromrechnung sorgen. Und so<br />

kämpft meine Generation bisher wohl am<br />

deutlichsten in einem Strudel aus Praktika,<br />

Teilnahmebescheinigungen und Sprachzertifikaten<br />

um den individuellsten und<br />

detailreichsten Lebenslauf.<br />

Das Ich, das im Kollektiv der Interessen<br />

der Arbeiter erstarkte, wurde sich selbst<br />

zum Feind. Gleichheit wurde als abgegriffen,<br />

verstaubt, vielleicht sogar als bedrohlich<br />

empfunden. Wir wollen frei sein.<br />

Selbst handeln, selbst bestimmen, selbst an<br />

unserem Leben schmieden. Am Ende der<br />

Selbstverwirklichungstheorie steht jedoch<br />

oft eine traurige Bilanz. Wir wollen unverwechselbare<br />

Individuen sein – trotzdem<br />

bedauern wir die Konsequenzen der Ellenbogengesellschaft.<br />

Die existenzielle Angst,<br />

die immer mehr Menschen spüren,<br />

schränkt uns in unserer Freiheit ein. Die<br />

alte Trias der Sozialdemokratie, deren sich<br />

bedingendes Gefüge lange verkannt wurde,<br />

geriet mit Godesberg immer mehr ins<br />

Wanken. Es ist Zeit zurück zu rudern. Wir<br />

müssen die Gleichheit zurück ins Boot,<br />

mindestens aber zurück in die praktische<br />

sozialdemokratische Politik holen! Erst ein<br />

starkes Wir ermöglicht ein starkes Ich.<br />

Gleichheit als Gleichheit von Zugängen<br />

verstanden ist ein wesentlicher Teil der Sozialdemokratie.<br />

Gleichheit als eine Gleichheit<br />

von Fähigkeiten etwas tun oder wählen<br />

zu können ist nicht nur eine reizvolle<br />

Quelle größtmöglicher Individualität, sondern<br />

auch die Basis für eine stabile Demokratie.<br />

Gleichheit – das klingt für viele nach<br />

Gleichschaltung, Gleichmacherei und<br />

nach dem Ende der Individualität. Für uns<br />

SozialdemokratInnen und demokratische<br />

SozialistInnen sollte Gleichheit jedoch der<br />

Schlüssel zu dem sein, was wir unseren<br />

Markenkern nennen: Gerechtigkeit. Die<br />

Gerechtigkeit, und auch das wussten die<br />

antiken Denker schon, ist die allumfassende,<br />

die oberste Tugend. Alle anderen<br />

Grundwerte sind Teilaspekte, wenn auch<br />

sehr wichtige. Es kann ohne Sozialstaat,<br />

ohne die Umverteilung und die Ermöglichung<br />

gleicher Zugänge keine Demokratie<br />

geben, zumindest keine substantielle.<br />

Gleichheit ist kein illusorisches Projekt.<br />

Gleichheit ist die normative Basis der Demokratie.<br />

Deswegen muss Gleichheit<br />

durch den Staat geschaffen werden. Das<br />

Wir entscheidet. So lautet der Wahlkampfslogan<br />

der SPD. Man kann also hoffen,<br />

dass das, was Hänschen gelernt hat,<br />

Hans auch noch lernen kann. l<br />

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Argumente_02_<strong>2013</strong>_Inhalt 13.08.13 11:39 Seite 26<br />

MEHR GLEICHHEIT<br />

WAGEN<br />

von Moritz Rudolph, stellv. Vorsitzender <strong>Jusos</strong> Nordost<br />

Prächtig gedieh die Ungleichheit im<br />

neoliberalen Treibhaus der vergangenen<br />

Dekaden; doch war es wohl eher<br />

Unkraut, das da wuchs. Eine Gegenbewegung<br />

ist längst überfällig – sozial,<br />

politisch und ökonomisch.<br />

Umverteilt wird immer; nur von wem<br />

zu wem, das ist zu allen Zeiten offen.<br />

In den vergangenen Jahren – den<br />

neoliberalen – kannte der Mittelfluss<br />

in den OECD-Staaten vor allem eine<br />

Richtung: Von unten nach oben.<br />

Derzeit wird jedoch wieder ernsthaft<br />

über die gegenläufige Bewegung diskutiert:<br />

François Hollande boxte in<br />

Frankreich einen Spitzensteuersatz<br />

von 75 % durch, die SPD will ebenfalls<br />

Vermögende stärker besteuern, Obama<br />

prescht auch immer mal wieder<br />

mit Derartigem vor; Bündnisse wie<br />

„umfairteilen“ oder „Appell für eine<br />

Vermögensabgabe“ entfalten zivilgesellschaftlichen<br />

Druck in Richtung Umverteilung<br />

von oben nach unten; das<br />

neoliberale Gefüge der Vorkrisenzeit<br />

scheint – zumindest diskursiv – ins<br />

Wanken zu geraten.<br />

Das ist gut so; und dringend notwendig.<br />

Gleichheit ist Glück<br />

Reichtum ist eine feine Sache. Umfassend<br />

entfaltete Produktivkräfte ermöglichen<br />

eine Bedürfnisbefriedigung auf hohem<br />

Niveau; das schafft Wohlstand und<br />

die Möglichkeit zur freien Entfaltung des<br />

Individuums; Reichtum birgt daher ein gewaltiges<br />

emanzipatorisches Potenzial.<br />

Doch liegt der Schlüssel zur Entfaltung<br />

dieses Potenzials in der Verteilungsfrage.<br />

Konzentriert er sich in den Händen weniger,<br />

verliert Reichtum sein emanzipatorisches<br />

Gesicht; er wird zum Siechtum.<br />

In ihrer vielbeachteten Studie „The<br />

Spirit Level“ (deutsche Ausgabe: „Gleichheit<br />

ist Glück“) wiesen Wilkinson/Pickett<br />

– gestützt auf umfassendes empirisches<br />

Material – nach, dass gleiche Gesellschaften<br />

bei Lebensqualitätsindikatoren durchweg<br />

besser abschneiden als ungleiche: Kriminalitäts-<br />

und Selbstmordrate, Lebenserwartung,<br />

psychische Krankheiten, Vertrauen,<br />

Säuglingssterblichkeit, soziale Mobilität,<br />

Bildung etc.: Der Schlüssel zum guten<br />

Leben liegt im Verhältnis zwischen den<br />

oberen und den unteren 20 % einer Gesellschaft.<br />

Ab einer gewissen Schwelle beeinflusst<br />

vor allem die relative Vermögensver-<br />

26 Mehr Gleichheit wagen Argumente 2/<strong>2013</strong>


Argumente_02_<strong>2013</strong>_Inhalt 13.08.13 11:39 Seite 27<br />

teilung – weniger der absolute Wohlstand –<br />

die Lebensqualität. Die Pointe: Nicht nur<br />

die Armen, auch Reiche profitieren von<br />

egalitären Gesellschaften. Anders als in Johannesburg<br />

oder Sao Paulo sollten sie sich<br />

in Helsinki und Stockholm kaum zur Errichtung<br />

scharfer (materieller und symbolischer)<br />

Schutz- und Trutzburgen zur Verteidigung<br />

gegen den Ansturm der Armen<br />

veranlasst sehen. Sozialer Druck und Statusgerangel<br />

verlieren an Notwendigkeit, je<br />

weiter sich die soziale Schere schließt; es<br />

lebt sich stressfreier. Das egalitäre Finnland<br />

etwa, dessen Pro-Kopf-Einkommen unter<br />

dem US-amerikanischen Durchschnitt<br />

liegt, schneidet deutlich besser ab als die<br />

Vereinigten Staaten – nicht nur verglichen<br />

mit den ärmsten AmerikanerInnen; auch<br />

Reiche leiden an der Ungleichheit.<br />

Doch steigert Gleichheit nicht nur Lebensqualität<br />

und gesellschaftliche Stabilität,<br />

sie ist überdies ein Gebot ökonomischer<br />

Vernunft.<br />

„Die Rückkehr der Bourbonen“<br />

(Steindl)<br />

Reifen kapitalistischen Ökonomien<br />

wohnt stets eine stagnative Tendenz inne.<br />

Oligopolisierung und ein säkularer Trend<br />

zu fallenden Investitionsraten verlangsamen<br />

den Akkumulationsprozess mit zunehmender<br />

Entwicklung der Produktivkräfte.<br />

Der Nachkriegsboom war daher für<br />

den postkeynesianischen Ökonomen Josef<br />

Steindl „eine große Überraschung“, die im<br />

Kern durch eine nachfrageorientierte, keynesianische<br />

Wirtschaftspolitik ermöglicht<br />

wurde.<br />

Jedoch bereitete die neoliberale Konterrevolution<br />

(= die „Rückkehr der Bourbonen“,<br />

die man in keynesianisch-revolutionärer<br />

Manier bereits endgültig vom<br />

Thron gestoßen zu haben glaubte) der erstaunlichen<br />

Prosperitätsphase vor etwa<br />

dreieinhalb Jahrzehnten ein jähes Ende.<br />

Die Wirtschaftspolitik arbeitete von nun<br />

an angebotsorientiert, bemühte sich autistisch<br />

um Preisstabilität, deregulierte, liberalisierte,<br />

privatisierte und schwächte die<br />

Verhandlungsmacht von Arbeit. Im Verbund<br />

mit einer erhöhten Sparneigung der<br />

privaten Haushalte infolge (relativ) abnehmender<br />

Konsumbedürfnisse reifer kapitalistischer<br />

Ökonomien führte dies geradewegs<br />

in eine „neue Stagnationspolitik“. Der<br />

Anteil der Löhne und Gehälter am Volkseinkommen<br />

sank; Nicht-Lohneinkommen<br />

(Vermögenseinkommen) stiegen rasant an.<br />

Die Steuerlast verschob sich von den Gewinnen<br />

zu den Löhnen und dämpfte die<br />

expansive Wirkung der öffentlichen Investitionen.<br />

Insbesondere in Europa verlangsamte<br />

sich das Wachstum deutlich.<br />

Steindl forderte daher, die „Bourbonen<br />

wieder von ihrem Thron zu vertreiben“ und<br />

an die Errungenschaften der keynesianischen<br />

Revolution anzuknüpfen. Im Kern<br />

geht es dabei um Umverteilung von oben<br />

nach unten und von den Vermögens- zu<br />

den Lohneinkommen. Untere Einkommensgruppen<br />

weisen eine signifikant höhere<br />

Konsumneigung auf, während höhere<br />

Einkommenssegmente eher zum Sparen<br />

tendieren. Letzteres gilt ebenso für Vermögenseinkommen<br />

im Vergleich zu Lohneinkommen.<br />

Eine Verschiebung der (funktionalen<br />

und persönlichen) Einkommensverteilung<br />

zugunsten der Reichen und Vermögensbesitzer<br />

destabilisiert die Konsumnachfrage.<br />

„Entsparen“ muss daher auf der<br />

wirtschaftspolitischen Tagesordnung stehen,<br />

um den stagnativen Tendenzen entge-<br />

27


Argumente_02_<strong>2013</strong>_Inhalt 13.08.13 11:39 Seite 28<br />

genzuwirken; oder um sie zumindest hinauszuzögern.<br />

Mit Steindl können wir festhalten:<br />

Je fortgeschrittener eine kapitalistische<br />

Ökonomie, umso mehr ist sie auf Gleichheit<br />

angewiesen, um Wachstum zu generieren.<br />

Kein Fußbreit dem Feudalismus<br />

Kapitalismus ist, wenn die KapitalistInnen<br />

nachts nicht ruhig schlafen können,<br />

weil sie Sorgen haben, dass ihnen die<br />

ArbeitInnen aufs Dach steigen und (idealiter<br />

produktivitätsorintierte) Lohnsteigerungen<br />

durchboxen, die die kurzfristigen<br />

Profite schmälern, aber die Massennachfrage<br />

ausweiten, Absatzerwartungen stabilisieren<br />

und Investitionen stimulieren. Der<br />

Kapitalist ist eine eigenartige Figur, die eigentlich<br />

gar nicht sein will, was sie ist. Anstatt<br />

auf dezentralen Wettbewerbsmärkten<br />

agieren zu müssen, möchte sie viel lieber<br />

ein unbeschwertes Rentiersdasein führen;<br />

erst die Arbeiterbewegung macht sie zum<br />

realinvestiven Kapitalisten. Kapitalismus<br />

als „dezentrales System“ hängt daher „von<br />

der Gegenmacht der Vielen gegen die Bereicherung<br />

der Wenigen ab“ (Elsenhans).<br />

Wer hingegen die Verhandlungsmacht<br />

von Arbeit schwächt, ebnet Strukturen den<br />

Weg, die nicht kapitalistisch sind. Neoliberale<br />

sind daher beinharte AntikapitalistInnen.<br />

Doch hat dies nichts mit einer progressiven<br />

Aufhebung des Kapitalismus zu<br />

tun – über die sich durchaus diskutieren<br />

ließe –; vielmehr bläht sie neofeudale<br />

Strukturen auf. Gesellschaftliche Stratifizierung,<br />

Klientelismus, die Verschmelzung<br />

und Konzentration von politischer und<br />

ökonomischer Macht, Postdemokratie,<br />

Stagnation und Siechtum wären die Konsequenz.<br />

Lesen wir nun Steindl durch die Elsenhanssche<br />

Brille, so können wir festhalten,<br />

dass Gleichheit uns vor stagnativ-neofeudalen<br />

Tendenzen bewahrt, die drauf und<br />

dran sind, uns in die schlechte alte Zeit zu<br />

katapultieren und demokratietheoretisch<br />

äußerst bedenkliche Konsequenzen hervorzubringen<br />

drohen. Wählen wir also besser<br />

den Weg der egalitären Moderne anstatt<br />

uns vom Neoliberalismus in die<br />

Vormoderne treiben zu lassen.<br />

Die Krise als Verteilungskrise<br />

Doch werden wir ein wenig konkreter:<br />

Ungleichheit bereitet nicht nur langfristig<br />

stagnativen Tendenzen den Boden, auch<br />

kurze, eruptive Entladungen angestauter<br />

Widersprüche haben hier ihre Ursache.<br />

Die gegenwärtige Krise ist eine Krise der<br />

Reichtumsverteilung.<br />

Wie schon in den 1920er Jahren erfuhr<br />

die (persönliche und funktionale) Einkommensverteilung<br />

im Vorfeld der Krise eine<br />

ungeheure Spreizung. Stöbern wir ein wenig<br />

nach dem Zusammenhang zwischen<br />

Ungleichheit und Krise:<br />

Ungleichheit bläht Finanzmärkte auf.<br />

Das Kapital, „geil wie ein Bock“ (Marx),<br />

jagt auf der Suche nach rentablen Anlagemöglichkeiten<br />

über den Erdball und forciert<br />

Instabilität auf den Finanzmärkten.<br />

Doch was mästet den geilen Bock? Polarisierte<br />

Einkommen, die sich zu konzentrierten<br />

Vermögen anhäufen, sind sein<br />

Treibstoff. „Finanzmaktinnovationen“ sind<br />

eher Ausdruck, weniger Ursache der Möglichkeit<br />

spekulativer Exzesse. Die aufge-<br />

28 Mehr Gleichheit wagen Argumente 2/<strong>2013</strong>


Argumente_02_<strong>2013</strong>_Inhalt 13.08.13 11:39 Seite 29<br />

blähten Finanzmärkte wiederum verschieben<br />

die Kräfteverhältnisse zugunsten der<br />

Vermögenden und das Spiel beginnt von<br />

vorn; ein Teufelskreis.<br />

Noch einmal: Das alles hat wenig mit<br />

Kapitalismus zu tun. Vermachtete Finanzmärkte<br />

sind eher ein Fingerzeit in Richtung<br />

Refeudalisierung der Gesellschaft.<br />

Die Regulierung von Finanzmärkten<br />

ist notwendig; doch um diese erstens<br />

machtpolitisch möglich und um zweitens<br />

spekulative Exzesse unmöglich zu machen,<br />

sollten wir ein wenig tiefer bohren und der<br />

Ungleichheit bereits im den Finanzmärkten<br />

vorgelagerten Raum des Verteilungskampfes<br />

die Stirn bieten.<br />

Denn nicht erst auf Finanzmärkten<br />

richtet Ungleichheit allerhand Schaden an.<br />

Der Unsinn entfaltet seine destruktive<br />

Kraft bereits in der damit verschlungenen<br />

Sphäre der Warenproduktion, -zirkulation<br />

und -konsumtion. Der entstandene Nachfragemangel<br />

infolge ungleicher Einkommens-<br />

und Vermögensverteilung wurde<br />

bereits weiter oben diskutiert. Nun mussten<br />

die entwickelten Volkswirtschaften<br />

darauf eine Antwort finden. Zwei Hauptstrategien<br />

kristallisierten sich in der Vergangenheit<br />

heraus: ein kreditgetriebenes<br />

Wachstumsmodell im angelsächsischen<br />

Raum und Südeuropa sowie ein exportgestütztes<br />

in Deutschland, China und Japan.<br />

Der Ausweg durch das Nadelöhr Kredit<br />

bzw. Export schuf gigantische globale Außenhandelsungleichgewichte,<br />

ermöglicht<br />

durch die Liberalisierung internationaler<br />

Kapitalflüsse in der Post-Bretton-Woods-<br />

Ära. Nicht Im- und Exporte bestimmten<br />

fortan die Wechselkurse; es durfte munter<br />

spekuliert werden; riesige Kapitalbrocken<br />

rauschten über den Erdball. Das kann eine<br />

Zeit lang gut gehen; doch irgendwann,<br />

wenn die „capital flow bonanzas“ (Reinhart/Reinhart)<br />

allzu fette Blasen genährt<br />

haben und die schmerzhafte Korrektur der<br />

Ungleichgewichte ansteht, wird es bitter.<br />

Die (partielle) eruptive Entladung der<br />

Ungleichgewichte äußert sich in der globalen<br />

Krise. Stärker noch erleben wir derzeit<br />

einen beinharten und ökonomisch wie gesellschaftlich<br />

verheerenden Korrekturmechanismus<br />

in der Eurozone als Teil der<br />

weltweiten Ungleichgewichte.<br />

Die Explosion der privaten Haushaltsverschuldung<br />

in den USA steht im Zusammenhang<br />

mit der dümpelnden Einkommensentwicklung,<br />

die die (Konsum-)Nachfrage<br />

tendenziell zu destabilisieren droht.<br />

Als das Lohnwachstum der unteren Einkommensschichten<br />

ausblieb, wurde es kurzerhand<br />

durch wachsende Privatverschuldung<br />

der Armen ersetzt. Über kurz oder<br />

lang musste dieser „Privatkeynesianismus“<br />

(Crouch) vor die Wand donnern. Der US-<br />

Immobiliencrash, der ab 2006 ins Rollen<br />

kam, ist dessen allzu konkreter Ausdruck.<br />

Was lernen wir daraus? Ungleichheit<br />

wirkt krisentreibend und langfristig stagnativ;<br />

alle Wege der Vernunft führen uns<br />

daher zur Überwindung des ungleichen<br />

Zustands; es schlägt die Stunde der Umverteilung.<br />

Was tun?<br />

Doch werden wir noch etwas konkreter<br />

und ziehen wir einige Schlüsse aus der<br />

Analyse. Der klassische Besteckkasten redistributiver<br />

Politik hält hier allerhand<br />

29


Argumente_02_<strong>2013</strong>_Inhalt 13.08.13 11:39 Seite 30<br />

Nützliches bereit; wir brauchen nur zuzugreifen:<br />

Einführung eines saftigen Spitzensteuersatzes.<br />

Warum nicht einmal 75 % wagen,<br />

wie sie in Frankreich wohl kommen<br />

werden. Dafür sollte er jedoch erst<br />

in reichlich hohen Einkommenssegmenten<br />

greifen, um nur wenige zu<br />

Spit zensteuersatzzahlern zu machen<br />

(1,5 – 3% der Bevölkerung). Dies erleichtert<br />

Hegemonie und die Bildung<br />

strategischer Allianzen mit großen Teilen<br />

der Mittelklassen, die niemals in die<br />

Reichweite derartiger Steuersätze<br />

kommen und sich darüber auch keine<br />

Illusionen machen müssen.<br />

Erhebung einer einmaligen, europaweit<br />

koordinierten Vermögensabgabe. Rasche<br />

Durchsetzung ist hier geboten; die<br />

Krise stößt ein window of opportunity<br />

auf, um die Abgabe kommunikationsstrategisch<br />

an eine notwendige Kostenbegleichung<br />

infolge der Krise zu binden.<br />

Eine supranationale Erhebung<br />

und Verwendung auf europäischer<br />

Ebene wäre wünschenswert, könnte sie<br />

doch zur so dringend benötigten politischen<br />

und Fiskalunion beitragen; und<br />

überdies die Stellung des Europäischen<br />

Parlaments stärken. Allerdings legt das<br />

geltende EU-Primärrecht einer zentralisierten<br />

Steuererhebung einige Steine<br />

in den Weg. Eine Implementierung<br />

wird daher wohl (vorerst) auf nationalstaatlicher<br />

Ebene erfolgen müssen.<br />

Erhöhung der Kapitalertragssteuer.<br />

Einführung einer Finanztransaktionssteuer;<br />

Frankreich macht es seit August<br />

2012 vor.<br />

Steuerflucht bekämpfen; Steueroasen<br />

trocken legen.<br />

Erbschaftssteuer drastisch erhöhen<br />

(dies ist eine zutiefst liberale Forderung<br />

zur Herstellung annähernd gleicher<br />

Startbedingungen; siehe USA und<br />

Großbritannien).<br />

EU-Mindeststeuersätze festschreiben,<br />

um ruinöses Steuerdumping zu verhindern.<br />

allgemein: Orientierung an der Zauberformel<br />

„produktivitätsorientierte<br />

Lohnpolitik“. Hierfür muss die Verhandlungsmacht<br />

von Arbeit gestärkt<br />

werden. Mindestlohn und Unterstützung<br />

der Gewerkschaften (politisch wie<br />

rechtlich) können einen entscheidenden<br />

Beitrag dazu leisten.<br />

Doch Geld allein reicht nicht aus. Der<br />

Ungleichheit wird bereits in Sphären jenseits<br />

von Fiskus und Arbeitsmarktes der<br />

Weg geebnet. In Deutschland ist die Schule<br />

die schlagkräftigste Reproduktionsinstanz<br />

der Klassengesellschaft; und somit<br />

auch der Ungleichheit.<br />

Wer etwas mehr Gleichheit will, muss<br />

dem vormodernen dreigliedrigen Schulsys -<br />

tem ans Leder; eine ganztätige Gemeinschaftsschule<br />

nach skandinavischem Vorbild<br />

könnte stattdessen als Vorbild dienen.<br />

Sicher, die Klassengesellschaft wird sich<br />

auch dann noch ihren Weg suchen. Einebnen<br />

lassen sich die Unterschiede wohl<br />

nicht, doch eine asymptotische Annäherung<br />

an die „Assoziation freier Individuen“<br />

(Marx) ist allemal drin. Umso wichtiger<br />

wird eine ex-post Umverteilung über das<br />

Steuersystem.<br />

30 Mehr Gleichheit wagen Argumente 2/<strong>2013</strong>


Argumente_02_<strong>2013</strong>_Inhalt 13.08.13 11:39 Seite 31<br />

Hegemonie entfalten<br />

Wie wir es auch drehen und wenden;<br />

ob sozial, politisch, ökonomisch etc.: Der<br />

Schluss ist immer derselbe: Mehr Gleichheit<br />

durch Umverteilung brauchen wir<br />

jetzt. Doch werden nicht alle Feuer und<br />

Flamme sein in Anbetracht der damit verbundenen<br />

politischen Konsequenzen. Einige<br />

aus dem Lager der Opponierenden<br />

können wohl durch Offenlegung ihrer objektiven<br />

Interessenlage auf unsere Seite gezogen<br />

werden; dies betrifft große Teile der<br />

Mittelschichten.<br />

Hier ist jedoch Ideologie im Spiel; allerhand<br />

falsches Bewusstsein schwirrte und<br />

schwirrt durch den neoliberal strukturierten<br />

Raum des Politischen (sonst hätte die<br />

FDP niemals knapp 15 % holen können).<br />

Konsequente Ideologiekritik ist daher notwendig;<br />

die neoliberale Diskurshoheit beginnt<br />

bereits zu bröckeln, doch wartet hier<br />

wohl noch ein ganzer ideologischer<br />

Schutthaufen, der sorgfältig abgetragen<br />

werden muss.<br />

Auch der inklusive „Gleichheit ist<br />

Glück“-Ansatz, der Vermögende mit ins<br />

Boot holt und ihnen Sicherheit bietet,<br />

könnte die Grundlage für ein umfassendes<br />

hegemoniales Projekt sein. Und eigentlich<br />

ist Umverteilung von oben nach unten<br />

auch eine volkswirtschaftliche Notwendigkeit.<br />

Warum also sind nicht alle längst auf<br />

unserer Seite?<br />

Einsichten in ökonomische Vernunftgebote<br />

führen nicht automatisch zu adäquatem<br />

Handeln der entscheidenden Akteure.<br />

Kalecki hat in seinem Aufsatz<br />

„Politische Aspekte der Vollbeschäftigung“<br />

gezeigt, dass Unternehmer an eine Stärkung<br />

der Verhandlungsmacht von Arbeit<br />

nicht unmittelbar interessiert sind; schließlich<br />

wollen sie nicht Unternehmer, sondern<br />

Rentiers sein; das ist viel angenehmer.<br />

Selbst wenn Vollbeschäftigung makroökonomisch<br />

sinnvoll ist, fürchten sie deren<br />

Konsequenzen: Aufmüpfige Arbeiter bedeuten<br />

Stress; sie sind ihnen ein Dorn im<br />

Auge. Die Unternehmer werden daher alles<br />

daran setzen, ihrerseits Hegemonie zu<br />

entfalten – vielleicht im Verbund mit einigen<br />

Rentiers –, eine Ausweitung der<br />

Lohnquote zu verhindern und somit werden<br />

sie den Kapitalismus ein wenig zum<br />

Wanken bringen; er neigt sein Haupt bereits<br />

gewaltig in Richtung Feudalismus; die<br />

schlechten alten Zeiten drohen wiederzukehren.<br />

Also wird es doch nicht auf rein konsensuellem<br />

Wege möglich sein, Umverteilung<br />

durchzusetzen. Ideologiekritik hin,<br />

Aufklärung her – Ideen sind klassenbasiert<br />

und einige gewinnen, andere verlieren<br />

(kurzfristig).<br />

Die Zauberformel lautet daher konfrontative<br />

Hegemonie; sie setzt weder auf<br />

Avantgarde noch vertraut sie in einen allgemeinen<br />

postpolitischen Konsens. Stattdessen<br />

sucht sie nach einer breiten politischen<br />

Basis, um der Verhandlungsmacht<br />

von Arbeit den Rücken zu stärken und das<br />

Klassengleichgewicht wiederherzustellen.<br />

Dafür müssen wir uns jedoch von der Mär<br />

vom Ende von links und rechts verabschieden.<br />

Politik kann nicht zu Verwaltung erstarren;<br />

tut sie es doch, verfestigt sie in der<br />

Regel Klassenstrukturen zugunsten der<br />

Mächtigen; mit – wie oben gezeigt – sozial,<br />

politisch und ökonomisch verheerenden<br />

Konsequenzen. Scheuen wir uns daher<br />

nicht vor der Umverteilung; und trauen wir<br />

31


Argumente_02_<strong>2013</strong>_Inhalt 13.08.13 11:39 Seite 32<br />

uns ruhig, das Kind beim Namen zu nennen:<br />

Es ist ein linkes Projekt. l<br />

Literatur<br />

Elsenhans, H. (2009): Kapitalismus kontrovers. Zerklüftungen<br />

im nicht so sehr kapitalistischen Weltsystem,<br />

Welt Trends Papiere, Potsdam.<br />

Kalecki, M (1987): Politische Aspekte der Vollbeschäftigung,<br />

in: Ders.: Krise und Prosperität im Kapitalismus,<br />

Marburg, S. 235f.<br />

Pickett, K./Wilkinson, R. (2009): Gleichheit ist<br />

Glück. Warum gerechte Gesellschaften für alle besser<br />

sind, Hamburg.<br />

Steindl, J. (1952): Maturity and Stragnation in American<br />

Capitalism, Oxford.<br />

Steindl, J. (1988): Diskussionsbeitrag zur EG-Frage.<br />

In: Kurswechsel, 4 (3), S. 3–7.<br />

Stockhammer, A. (2011): Von der Verteilungs- zur<br />

Wirtschaftskrise. Die Rolle der zunehmenden Polarisierung<br />

als strukturelle Ursache der Finanz- und<br />

Wirtschaftskrise . In: http://www.wege-aus-der-kri-<br />

se.at/fileadmin/dateien/downloads/HINTER-<br />

GRUNDMATERIAL/Studie_Stockhammer.pdf<br />

[10.06.<strong>2013</strong>].<br />

32 Mehr Gleichheit wagen Argumente 2/<strong>2013</strong>


Argumente_02_<strong>2013</strong>_Inhalt 13.08.13 11:39 Seite 33<br />

PROGRAMM<br />

FÜR DEN LINKEN<br />

POLITIKWECHSEL<br />

von Sascha Vogt, Juso-Bundesvorsitzender<br />

Schwerpunkt<br />

Als „Linksschwenk“ oder gar als<br />

„Linksruck“ wurde das Regierungsprogramm<br />

der SPD bei seiner Verabschiedung<br />

von vielen Medien bezeichnet.<br />

Auch SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück<br />

verortet es – etwas zurückhaltender<br />

– als „links von der Mitte“. Wer<br />

auch immer diese ominöse Mitte ist,<br />

sie scheint auf jeden Fall mit dem Programm<br />

zufrieden: Etliche zentrale Aussagen<br />

des Programms werden von einer<br />

großen Mehrheit der Menschen –<br />

gemessen an den Ergebnissen der<br />

Meinungsforschung – geteilt. Ein Widerspruch?<br />

Nur zum Teil. Denn erstens<br />

haben Finanzkrise und Co. in der Tat<br />

dazu geführt, dass auch der Zeitgeist<br />

ein Stück nach links gerückt ist. Zweitens<br />

gibt es anscheinend und erfreulicherweise<br />

eine Mehrheit für solidarische<br />

und sozial gerechte Politik – auch<br />

wenn das manchen auch in der SPD<br />

verwundern sollte. Und drittens eignen<br />

sich einige zugespitzte und gewollt<br />

skandalisierende Formulierungen<br />

mancher JournalistInnen nicht immer<br />

zur Einordnung. Das Regierungsprogramm<br />

ist das Programm einer linken<br />

Volkspartei, es stellt eine Re-Sozialdemokratisierung<br />

der SPD dar, es ist in<br />

vielen Bereichen ein Erfolg für die <strong>Jusos</strong>,<br />

die für eine inhaltliche Erneuerung<br />

der SPD gekämpft haben, und es<br />

macht deutlich, wie eine Alternative –<br />

eben ein Politikwechsel – zu schwarzgelb<br />

aussehen kann. Nicht mehr, aber<br />

auch nicht weniger.<br />

Auch das war und ist freilich nicht<br />

selbstverständlich. Blicken wir zurück ins<br />

Jahr 2009. Mit gerade einmal 23 Prozent<br />

hat die SPD ihr schlechtestes Ergebnis bei<br />

einer <strong>Bundestagswahl</strong> eingefahren. Ein<br />

maßgeblicher Grund: Viele Menschen<br />

trauen der SPD nicht mehr zu, tatsächlich<br />

für soziale Gerechtigkeit zu sorgen und<br />

bleiben deswegen der Wahl fern. Auch das<br />

Wahlprogramm ist voll des Zögerns und<br />

Zauderns und taugt neben vielen weiteren<br />

Ursachen nicht unbedingt zu einer Zuspit-<br />

33


Argumente_02_<strong>2013</strong>_Inhalt 13.08.13 11:39 Seite 34<br />

zung, sondern verfestigt eher den Eindruck,<br />

dass die Fortsetzung der großen Koalition<br />

eine beschlossene Sache sei. Spätestens<br />

mit dem Dresdner Bundesparteitag<br />

im November 2009 macht sich die SPD<br />

auf den mühevollen Weg der Erneuerung,<br />

arbeitet die Vergangenheit auf und findet<br />

neue Positionierungen. Für uns <strong>Jusos</strong> war<br />

klar: Wir wollen eine Triebfeder für die Erneuerung<br />

sein, wir mischen uns in die Debatten<br />

über die Neuaufstellung der SPD<br />

ein. Wir entwerfen und diskutieren auf vielen<br />

Veranstaltungen eigene Ideen. Egal ob<br />

Arbeit, Bildung, Rente oder Steuern – wir<br />

bringen eigene Vorschläge in die Debatte,<br />

kämpfen in den Vorständen der Partei, auf<br />

Parteitagen und überall wo es sonst sinnvoll<br />

erscheint für einen neuen Kurs. Dabei<br />

halten wir engen Kontakt zu unseren<br />

Bündnispartnern außerhalb der SPD und<br />

lassen viele Vorschläge etwa von Gewerkschaftsjugend<br />

und anderen Jugendverbänden<br />

in die innerparteiliche Debatte einfließen.<br />

Doppelstrategie eben. Das alles war<br />

nicht immer einfach. Manche Debatten<br />

sind zäh. Manchmal fasst man sich an den<br />

Kopf. Und gelegentlich muss man auch<br />

Kompromisse eingehen. Aber alles in allem<br />

hat es sich gelohnt. Denn ohne Zweifel<br />

kann man nun sagen, dass es in den vergangenen<br />

15 Jahren wohl kaum ein Regierungsprogramm<br />

gegeben hat, in dem so<br />

viele Positionen der <strong>Jusos</strong> enthalten sind.<br />

Im Vergleich zum Jahr 2009 lässt sich mit<br />

Fug und Recht behaupten: Die SPD hat<br />

sich auf die Positionen der <strong>Jusos</strong> zubewegt<br />

und nicht umgekehrt.<br />

Nahezu in allen Politikfeldern oder Kapiteln<br />

des Programms lässt sich ein solcher<br />

Kurswechsel deutlich machen, der übrigens<br />

auch im Hinblick auf die Sorge vieler,<br />

die nächste große Koalition stehe vor der<br />

Tür, deutlich macht, dass dies entweder<br />

nur unter maximalen Zugeständnissen der<br />

Union oder des Verlustes der Glaubwürdigkeit<br />

der SPD funktionieren könnte.<br />

Dieser Kurs- und mit der Regierungsübernahme<br />

dann auch eben Politikwechsel lässt<br />

sich an den folgenden Kernbereichen aufzeigen:<br />

1. Der Kampf für gute Arbeit als Kernidentität<br />

der SPD umfasst anders als<br />

2009 eben nicht nur die inzwischen<br />

zum Allgemeingut gehörende Forderung<br />

nach dem gesetzlichen Mindestlohn.<br />

Dieser ist sicherlich weiterhin<br />

eine zentrale Forderung, dürfte aber<br />

nicht ausreichen, um prekäre Beschäftigung<br />

und vernünftige Löhne zu sichern.<br />

Deshalb tritt die SPD auch für<br />

eine umfassende Regulierung der Leiharbeit<br />

unter anderem durch die Durchsetzung<br />

des Equal-Pay-Grundsatzes<br />

und die Abschaffung der sachgrundlosen<br />

Befristung ein. Letzteres ist gerade<br />

für junge BerufseinsteigerInnen enorm<br />

wichtig, kann damit eben der Arbeitgeber<br />

nicht mehr beliebig den Kündigungsschutz<br />

umgehen, sondern muss<br />

auch jungen Menschen eine sichere<br />

Perspektive geben. Zusätzlich soll eine<br />

Reform der Minijobs unter anderem<br />

durch eine Begrenzung der Zahl der<br />

Stunden dafür sorgen, dass diese nicht<br />

mehr für Millionen Menschen Dumpinglöhne<br />

bedeuten. Ebenso möchte<br />

die SPD der ausufernden Praxis, durch<br />

Werkverträge einen regulären Arbeitsvertrag<br />

zu ersetzen, einen Riegel vorschieben.<br />

Abgerundet wird dieser Katalog<br />

durch ein klares Bekenntnis zu<br />

einem Tariftreuegesetz sowie einer Reform<br />

der Zumutbarkeitskriterien beim<br />

Arbeitslosengeld II: Künftig sollen nur<br />

34 Programm für den linken Politikwechsel Argumente 2/<strong>2013</strong>


Argumente_02_<strong>2013</strong>_Inhalt 13.08.13 11:39 Seite 35<br />

noch Jobs angenommen werden müssen,<br />

die nach dem ortsüblichen Lohn<br />

vergütet werden. Das komplette Maßnahmenbündel<br />

würde nicht nur dazu<br />

führen, die in den vergangenen Jahren<br />

erschreckend ausgeweitete prekäre Beschäftigung<br />

zurückzudrängen, es würde<br />

auch ganz allgemein die Position der<br />

Gewerkschaften in Tarifverhandlungen<br />

stärken und damit dafür sorgen, dass<br />

die Politik ihren Teil zur Forderung<br />

nach Lohnsteigerungen für die Beschäftigten<br />

nachkommt.<br />

2. Eine Kehrtwende vollzieht die SPD<br />

auch im Bereich der sozialen Sicherungssysteme<br />

und möchte allgemein<br />

das Prinzip der Solidarität stärken und<br />

die eingeleiteten Schritte zur Privatisierung<br />

zumindest zum Teil zurücknehmen.<br />

Das beginnt bei der Gesetzlichen<br />

Krankenversicherung und der Einführung<br />

der Bürgerversicherung. Alle<br />

Menschen sollen einen guten Versicherungsschutz<br />

genießen, nach und nach<br />

sollen alle Gruppen in die Bürgerversicherung<br />

einzahlen. Das stärkt die Solidarität.<br />

Das gleiche Prinzip soll im Bereich<br />

der Pflegeversicherung gelten,<br />

außerdem ist hier eine Steigerung der<br />

Beitragssätze vorgesehen. Das ist angesichts<br />

der jetzt schon teilweise katastrophalen<br />

Bedingungen in der Pflege sowie<br />

der abzusehenden Herausforderungen<br />

auch mehr als notwendig. Innerparteilich<br />

am meisten umstritten, aber<br />

letztlich auch einer der vielleicht deutlichsten<br />

Kurswechsel ist in der Rentenpolitik<br />

zu sehen. Die umstrittene Rente<br />

mit 67 wird so lange ausgesetzt, bis es<br />

ausreichend Beschäftigungsmöglichkeiten<br />

für ältere Beschäftigte gibt, zusätzlich<br />

sollen Verbesserungen bei der<br />

Erwerbsminderungsrente dafür sorgen,<br />

dass Menschen aus gesundheitlichen<br />

Gründen ohne Rentenkürzung früher<br />

in den Ruhestand gehen können. Für<br />

Menschen, die lange Zeit gearbeitet<br />

haben, wird über eine Solidarrente sichergestellt,<br />

dass sie auch, wenn sie lange<br />

Jahre in prekären Jobs tätig waren,<br />

eine Rente deutlich über dem Niveau<br />

der Sozialhilfe erhalten. Das für die <strong>Jusos</strong><br />

wichtigste Element ist und bleibt<br />

jedoch die Sicherung des Rentenniveaus<br />

und damit der Stopp der weiteren<br />

Privatisierung. Damit wird klargestellt,<br />

dass die solidarische umlagefinanzierte<br />

Rentenversicherung weiterhin die<br />

hauptsächlich tragende Säule bleiben<br />

soll. Finanziert wird das ganze übrigens<br />

über eine Demographiereserve, also einem<br />

leichten Vorzug der ohnehin vorgesehenen<br />

Steigerungen der Rentenbeitragssätze.<br />

3. Hatte die rot-grüne Bundesregierung<br />

noch dafür gesorgt, dass massive Steuersenkungen<br />

die staatlichen Handlungsmöglichkeiten<br />

insbesondere bei<br />

den Kommunen eingeschränkt hatten,<br />

bekennt sich die SPD in ihrem Programm<br />

deutlich zu Steuererhöhungen<br />

für hohe Einkommen und Vermögen.<br />

Der Spitzensteuersatz soll auf 49 Prozent<br />

erhöht, Kapitaleinkünfte wieder<br />

genauso wie Arbeit besteuert und die<br />

Vermögensteuer eingeführt werden.<br />

Das ist nicht nur ein Gebot der Gerechtigkeit<br />

– schließlich sind die reichsten<br />

dieser Gesellschaft in den vergangenen<br />

Jahren immer reicher geworden.<br />

Das ist angesichts des Investitionsstaus<br />

auch eine Notwendigkeit, wenn man<br />

künftigen Generationen nicht die Zukunft<br />

verbauen möchte. Deswegen sol-<br />

35


Argumente_02_<strong>2013</strong>_Inhalt 13.08.13 11:39 Seite 36<br />

len die zusätzlichen Einnahmen auch<br />

für Investitionen in Bildung, Infra -<br />

struktur und zur Stärkung der Kommunen<br />

eingesetzt werden. In allen diesen<br />

Bereichen hinkt Deutschland im europäischen<br />

Vergleich übrigens deutlich<br />

zurück – höchste Zeit also, das zu verändern.<br />

4. Bildung ist zwar in vielen Bereichen<br />

Ländersache, das Wahlprogramm zeigt<br />

trotzdem die klaren Unterschiede zu<br />

schwarz-gelb auf. Neben den zusätz -<br />

lichen finanziellen Mitteln (die Einnahmen<br />

der Vermögensteuer z. B.<br />

kommen ausschließlich den Ländern<br />

zur Finanzierung von Bildung zugute)<br />

soll auch das Kooperationsverbot fallen.<br />

Damit hätte der Bund wieder die<br />

Möglichkeit, gemeinsam mit den Ländern<br />

große Aufgaben zu stemmen. Ein<br />

weiterer Kernpunkt ist der Bereich der<br />

beruflichen Ausbildung. Allen Berichten<br />

und Bündnissen zum Trotz gibt es<br />

immer noch viel zu wenig Ausbildungsplätze,<br />

hier möchte die SPD mit<br />

einer Ausbildungsgarantie und der<br />

Einführung von branchenbezogenen<br />

Fonds oder Umlagen Abhilfe schaffen.<br />

Außerdem soll gemeinsam mit den Tarifpartnern<br />

die teilweise schlechte Ausbildungsqualität<br />

verbessert werden, indem<br />

zum Beispiel längere<br />

Ausbildungsgänge wieder stärker unterstützt<br />

werden. Und auch für Studierende<br />

soll sich etwas ändern: Das elitäre<br />

Deutschlandstipendium wird<br />

abgeschafft, dafür das BAföG verbessert,<br />

unter anderem durch eine stärkere<br />

Anerkennung ehrenamtlichen Engagements<br />

bei der Bemessung der Förderungshöchstdauer.<br />

Alles in allem wird<br />

deutlich, dass es in Sachen Chancengleichheit<br />

in der Bildung einen enormen<br />

Unterschied macht, wer regiert.<br />

5. Endlich wird auch das Thema Gleichstellung<br />

offensiv angegangen. Das unsinnige<br />

Betreuungsgeld wird abgeschafft,<br />

stattdessen soll in einem<br />

Stufenplan flächendeckend und kostenfreie<br />

Kinderbetreuung ab dem ersten<br />

Lebensjahr zur Verfügung gestellt<br />

werden. Das betrifft zwar nicht nur<br />

Frauen, in der Realität aber leider immer<br />

noch zu häufig Frauen, da die Kinderbetreuung<br />

zwischen Frauen und<br />

Männern ungleich verteilt ist. Für die<br />

beruflichen Chancen mindestens ebenso<br />

wichtig ist die Einführung eines<br />

Entgeltgleichheitsgesetzes, das dafür<br />

sorgen soll, dass Frauen bei gleichem<br />

Job eben nicht mehr 23 Prozent weniger<br />

verdienen als ihre männlichen Kollegen.<br />

Und ebenso soll eine Quote bei<br />

Aufsichtsräten und Vorständen von<br />

börsennotierten Unternehmen dafür<br />

sorgen, dass endlich mehr Frauen in<br />

Chefetagen zu finden sind. Ein wichtiger<br />

Schritt nach vorn ist darüber hinaus<br />

die Abschaffung des Ehegattensplitting,<br />

das völlig unsinnig Milliarden verschlingt<br />

und traditionelle Rollenbilder<br />

verfestigt. Klar, volle Gleichstellung ist<br />

auch eine gesellschaftliche Einstellungsfrage.<br />

Die Politik kann aber Einfluss<br />

nehmen. Und das will die SPD –<br />

anders als die Union mit ihren freiwilligen<br />

Selbstverpflichtungen und Flexiquoten.<br />

6. Bei aller berechtigten Kritik am eigenen<br />

Regierungshandeln in der Vergangenheit:<br />

Was schon rot-grün gewaltig<br />

nach vorne gebracht hat – nämlich die<br />

Liberalisierung und Öffnung der Ge-<br />

36 Programm für den linken Politikwechsel Argumente 2/<strong>2013</strong>


Argumente_02_<strong>2013</strong>_Inhalt 13.08.13 11:39 Seite 37<br />

sellschaft – soll nun fortgesetzt werden.<br />

Ausgehend von der Idee einer offenen,<br />

toleranten und solidarischen Gesellschaft<br />

würde sich bei einem Wahlsieg<br />

der SPD auch gesellschaftspolitisch einiges<br />

tun. Wir sind eine Einwanderungsgesellschaft<br />

– deshalb brauchen<br />

wir eine Willkommenskultur und auch<br />

hierfür kann die Politik etwas tun.<br />

Etwa mit der Einführung der doppelten<br />

Staatsbürgerschaft für alle, die das<br />

wünschen. Mehrere Identitäten zu haben<br />

ist in einer Einwanderungsgesellschaft<br />

total normal – das sollte die Politik<br />

auch endlich akzeptieren. Dazu<br />

gehört auch die Einführung des Wahlrechts<br />

für Migrantinnen und Migranten<br />

– wer längere Zeit hier lebt, soll<br />

auch an demokratischen Entscheidungen<br />

beteiligt werden. Zu einer toleranten<br />

Gesellschaft gehört auch das Zusammenleben<br />

von Menschen mit und<br />

ohne Behinderung. Auch Inklusion<br />

kann nicht von oben verordnet, aber<br />

von Politik beeinflusst werden, z. B. indem<br />

Mittel zum Umbau von Gebäuden<br />

bereit gestellt werden, oder indem bei<br />

der Jobvermittlung gezielter auf die Bedürfnisse<br />

aller Menschen geachtet<br />

wird. Und zu einer toleranten Gesellschaft<br />

gehört auch, homosexuelle Paare<br />

endlich mit allen anderen Paaren tatsächlich<br />

gleichzustellen und nicht immer<br />

erst dann zu reagieren, wenn das<br />

Bundesverfassungsgericht mal wieder<br />

ein Urteil gefällt hat. Eines braucht<br />

eine tolerante Gesellschaft aber garantiert<br />

nicht: Nazis. Deshalb ist es gut,<br />

dass die SPD auch die Extremismusklausel<br />

abschaffen möchte und so gesellschaftliche<br />

Initiativen gegen Nazis<br />

wieder besser gefördert werden können.<br />

Man könnte nun noch viele weitere<br />

Punkte aufzählen. Die Ablehnung von<br />

Kampfdrohnen etwa. Die flächendeckende<br />

Einführung von Breitbandversorgung auch<br />

in ländlichen Räumen. Oder die Einführung<br />

des Wahlalters 16 auch bei Bundestags-<br />

und Europawahlen. In nahezu jedem<br />

Kapitel wird deutlich, warum es sich für einen<br />

Wahlsieg der SPD zu kämpfen lohnt,<br />

wenn man tatsächlich für gesellschaftliche<br />

Veränderungen einstehen möchte. Nun<br />

gibt es diejenigen die nicht glauben, dass<br />

das alles ernst gemeint ist und viele Punkte<br />

in Regierungsverantwortung nicht umgesetzt<br />

würden. Denen kann man dreierlei<br />

zurückrufen:<br />

1. Mit der Fortsetzung der schwarz-gelben<br />

Bundesregierung wäre sogar ziemlich<br />

sicher, dass kaum einer der genannten<br />

Punkte umgesetzt würde.<br />

2. Wohl kaum ein Wahlprogramm der<br />

vergangenen Jahre ist so intensiv diskutiert<br />

worden wie dieses. Das führt auch<br />

zu einer breiten und tief verwurzelten<br />

Mehrheit in der SPD für so ziemlich<br />

jeden Punkt. Es dürfte daher schwierig<br />

für wen auch immer sein, gravierend<br />

davon abzuweichen.<br />

3. Natürlich kann es sein, dass im Zuge<br />

von Koalitionsverhandlungen oder<br />

neuen Rahmenbedingungen auch zu<br />

Regierungszeiten neue Debatten entstehen.<br />

Na und? Für gesellschaftlichen<br />

Fortschritt muss man immer kämpfen.<br />

Und es gibt diejenigen, die befürchten,<br />

dass große Teile des Programms auf dem<br />

Basar einer großen Koalition geopfert werden.<br />

Wenn man nichts dagegen tut, kann<br />

das geschehen. Aber erstens geht es jetzt<br />

37


Argumente_02_<strong>2013</strong>_Inhalt 13.08.13 11:39 Seite 38<br />

erstmal darum, mit einem guten Programm<br />

ein möglichst gutes Ergebnis für<br />

die SPD zu erkämpfen. Und zweitens wird<br />

eigentlich aus jeder Zeile des Programms<br />

deutlich, dass damit keine große Koalition<br />

möglich ist. Deshalb geht es umso mehr<br />

darum, unsere Positionen im Wahlkampf<br />

nach vorne zu tragen und deutlich zu machen,<br />

was wir unter einem linken Politikwechsel<br />

verstehen! l<br />

38 Programm für den linken Politikwechsel Argumente 2/<strong>2013</strong>


Argumente_02_<strong>2013</strong>_Inhalt 13.08.13 11:39 Seite 39<br />

KANZLERKANDIDATEN<br />

UND -KANDIDATINNEN:<br />

WIE BEEINFLUSSEN SIE<br />

DIE WAHLENTSCHEI-<br />

DUNG?<br />

Von Aiko Wagner, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt „German Longitudinal<br />

Election Study (GLES)“, Abteilung „Demokratie und Demokratisierung“ am Wissenschaftszentrum<br />

Berlin für Sozialforschung (WZB)<br />

Das politische Personal entscheidet<br />

die Wahlen – Die Personalisierungsthese<br />

Die These von der Personalisierung<br />

der Politik geistert seit Längerem<br />

durch die Medien. Sie besagt, dass,<br />

erstens, das politische Personal stärkere<br />

Beachtung fände als politische Inhalte<br />

und Parteibewertungen, zweitens,<br />

dass die Bedeutung rollenferner<br />

Bewertungskriterien relevanter seien<br />

als dezidiert politische Eigenschaften<br />

und drittens, dass diese Ungleichgewichte<br />

zunähmen. Demnach würde<br />

der Souverän in erster Linie nicht mehr<br />

die Parteien, ihre Politikvorschläge<br />

und bisherigen Leistungen bewerten,<br />

sondern vorrangig die KandidatInnen.<br />

Flankiert wird dieser Befund von der<br />

Beobachtung, dass vor allem die Boulevardmedien<br />

ihre Berichterstattung<br />

mehr auf die Personen konzentrierten<br />

als auf die inhaltlichen Aussagen der<br />

Parteiprogramme . Diese Konzentration<br />

der Medien auf die Kandidaten<br />

und Kandidatinnen in ihre Strategie<br />

aufnehmend, würden insbesondere<br />

die großen Parteien ihre Kanzlerkandidatin<br />

bzw. ihren Kandidaten stärker in<br />

den Vordergrund rücken. Diese Wandlung<br />

der Wahlkämpfe gälte nicht nur<br />

für Deutschland, sondern sei ein in<br />

fast allen Demokratien anzutreffendes<br />

Phänomen.<br />

Die drei kurz vorgestellten Sachverhalte<br />

– Fokussierung der Medien auf die Spitzenkandidaten<br />

unter Hervorhebung ihrer<br />

politikfernen Persönlichkeitsmerkmale,<br />

Betonung des Personals durch die Parteien<br />

und deren Relevanz für die Wahlentscheidungen<br />

– hängen inhaltlich natürlich stark<br />

zusammen. Die politischen Parteien kon-<br />

39


Argumente_02_<strong>2013</strong>_Inhalt 13.08.13 11:39 Seite 40<br />

zentrieren ihre Wahlkämpfe genau dann<br />

stärker auf ihr Führungspersonal, wenn sie<br />

unterstellen, dass die Wählerinnen und<br />

Wähler (immer stärker) auf Spitzenkandidaten<br />

achten und ihnen für ihre Wahlentscheidung<br />

mehr Gewicht zumessen (Adam<br />

und Maier 2010). Zugleich drängt es sich<br />

aus Sicht der Wählerinnen und Wähler geradezu<br />

auf, die Bewertung von Parteien<br />

durch das Bewerten der Kandidaten zu ersetzen,<br />

wenn in den Medien vor allem Personal<br />

dargestellt wird und Inhalte vergleichsweise<br />

kurz kommen. Dieser Logik<br />

nach ist Personalisierung durch das Zusammenwirken<br />

dieser drei Elemente quasi<br />

zwangsläufig: Sie wäre somit ein stärker<br />

werdender und sich selbst verstärkender<br />

Prozess.<br />

Personenorientierung und<br />

Wahlentscheidung<br />

Dementsprechende Befunde finden<br />

sich in den Medien. So titelte Spiegel Online<br />

beispielsweise mit Blick auf den Wahlkampf<br />

2009: „Union feiert die Merkel-<br />

Show“, und führte aus, dass der Wahlkampf<br />

„nun mal in diesen Zeiten […] vor<br />

allem Inszenierung, Spektakel, Show“ sei<br />

(Spiegel Online, 06.09.2009). Zudem verdanke<br />

die Union 2009 „knapp ein Drittel<br />

ihrer Wähler der Person Merkel“ (Bartsch<br />

et al., Der Spiegel, 29.09.2009). Ähnliches<br />

scheint sich im momentanen Wahlkampf<br />

zu wiederholen. Allerdings wurden bereits<br />

frühere Wahlkämpfe als hochgradig personalisiert<br />

bezeichnet. Die Konfrontation<br />

von Franz Josef Strauß und Helmut<br />

Schmidt 1980 habe laut ZEIT bereits ein<br />

„schlimmes Beispiel dafür geliefert, wie<br />

Polarisierung und Personalisierung jede<br />

Sachdebatte erschlagen“ könnten (Die<br />

Zeit, 24.10.1980). Und bereits Willy<br />

Brandts Wahlkämpfen wurde nachgesagt,<br />

in besonderem Maße Rücksicht auf die moderne<br />

Medienrealität genommen zu haben.<br />

In der Politikwissenschaft werden sich<br />

zum Teil widersprechende Ergebnisse berichtet.<br />

Einige verweisen auf den Umstand,<br />

dass die meisten der eine Personalisierung<br />

fördernden Faktoren, wie etwa die<br />

starke Position des Regierungschefs, auf<br />

Deutschland zutreffen , wenngleich das<br />

Wahlrecht eine Fokussierung auf das Spitzenpersonal<br />

weniger als in anderen Ländern<br />

begünstigt . Andere Autoren finden<br />

in empirischen Studien keine starke oder<br />

etwa zunehmende Personenorientierung<br />

des Wahlverhaltens . Wieder andere konstatieren,<br />

dass die KanzlerkandidatInnen in<br />

einigen Wahlen durchaus ergebnisrelevant<br />

gewesen seien, allerdings nicht in allen und<br />

auch nicht in zunehmendem Maße . Als<br />

allgemeiner Befund lässt sich festhalten,<br />

dass generalisierte Parteibewertungen im<br />

Mittel deutlich relevanter als KandidatInnenbewertungen<br />

sind .<br />

Träfe die Personalisierungshypothese<br />

hinsichtlich der Bedeutungszunahme der<br />

Personenbewertung für die Wahlentscheidung<br />

zu und evaluierten die BürgerInnen<br />

das Personal auch noch anhand weitgehend<br />

unpolitischer Kriterien, wären die erwähnten<br />

demokratietheoretischen Bedenken<br />

womöglich dennoch berechtigt. Die<br />

Politik liefe Gefahr, zu einem Schönheitswettbewerb<br />

zu verkommen, in dem bloße<br />

physische Attraktivität oder charismatische<br />

Ausstrahlung über die Zuweisung politischer<br />

Macht entscheiden und die KandidatInnen<br />

nur „attraktiv verpackte Waren<br />

[sind], hergestellt vom ‚image-Maker’, der<br />

die Öffentlichkeit manipuliert“ . Eine solche<br />

Entwicklung wäre auch darum be-<br />

40 Kanzlerkandidaten und -kandidatinnen: Wie beeinflussen sie die Wahlentscheidung? Argumente 2/<strong>2013</strong>


Argumente_02_<strong>2013</strong>_Inhalt 13.08.13 11:39 Seite 41<br />

denklich, da in der Bundesrepublik mit der<br />

relevanteren Zweitstimme nicht SpitzenpolitikerInnen<br />

gewählt werden, sondern<br />

politische Parteien. Andererseits griffe<br />

auch hier eine Untergangsprophetie der<br />

Demokratie zu kurz, denn sie würde die<br />

Mehrdimensionalität der Personenbeurteilung<br />

sowie die komplexitätsreduzierende<br />

Rolle von Personen im Prozess der Beurteilung<br />

der Wahloptionen verkennen.<br />

Wie beeinflussen KanzlerkandidatInnen<br />

die Wahlentscheidung?<br />

Wahlergebnisse in der Bundesrepublik<br />

sind einerseits also nicht durch die KanzlerkandidatInnen<br />

determinert. Andererseits<br />

widerspricht niemand der These, dass<br />

ein Teil des Wahlverhaltens der Bürgerinnen<br />

und Bürger durch sie mitbestimmt<br />

wird. Zwei demokratietheoretisch weniger<br />

bedenkliche Wege der Beeinflussung der<br />

individuellen Wahlentscheidung lassen<br />

sich unterscheiden: Erstens können die in<br />

den Medien sichtbaren Spitzenpolitiker als<br />

Entscheidungshilfe verwendet werden – in<br />

der politischen Psychologie und Sozialpsychologie<br />

spricht man von Heuristiken oder<br />

information shortcuts: Selbst im Internetzeitalter<br />

ist es mit großem (vor allem zeitlichen)<br />

Aufwand verbunden, sich über die<br />

Positionen der Parteien zu allen relevanten<br />

Themen zu informieren, um darauffolgend<br />

eine sachfragenorientierte Wahlentscheidung<br />

zu treffen. Daher können politisch<br />

weniger informierte Bürgerinnen und Bürger<br />

oder Personen, die sich vor dieser Zeitinvestition<br />

scheuen, auf die einfacher zugänglichen<br />

Bewertungen von Politikerinnen<br />

und Politikern zurückgreifen. Von Positionen<br />

zur Wirtschafts- oder Außenpolitik<br />

einer Kanzlerkandidatin bzw. eines -<br />

kandidaten beispielsweise schließen Informationskosten<br />

sparende Wählerinnen und<br />

Wähler auf die Parteiposition. Zweitens<br />

muss die Gesamtbewertung von politischem<br />

Personal nicht vorrangig aus der Beurteilung<br />

von physischer Attraktivität oder<br />

menschlicher Sympathie resultieren. Die<br />

Bewertung eines Spitzenpolitikers kann<br />

ebenfalls von dezidiert politischen und politisch<br />

relevanten Kriterien abhängen. Dabei<br />

rücken sowohl die Lösungskompetenz<br />

für wichtige anstehende Probleme in den<br />

Blickpunkt als auch sogenannte rollennahe<br />

Persönlichkeitseinschätzungen wie Führungsstärke,<br />

Tatkraft und Integrität .<br />

Schaubild 1 stellt die Prozesse der Bewertungsgeneralisierung,<br />

Präferenzbildung<br />

und Entscheidung dar: Die spezifischen<br />

Beurteilungen der KandidatInnen hinsichtlich<br />

der vier Bereiche, in die sich laut<br />

der politikwissenschaftlichen Literatur die<br />

Evaluierung von SpitzenpolitikerInnen<br />

einordnen lässt, werden im ersten Schritt<br />

von den WählerInnen in eine allgemeine<br />

Einschätzung überführt. Diese generalisierte<br />

Bewertung dient als Grundlage für<br />

die Präferenzbildung – wer wird als KanzlerIn<br />

bevorzugt? Diese Präferenz geht<br />

dann in die Wahlentscheidung zugunsten<br />

einer der beiden großen Parteien ein. Ganz<br />

zentral ist dabei, dass auf jede dieser vier<br />

Entitäten die Parteineigung, also langfristige<br />

affektive Bindungen an die Parteien,<br />

einen erheblichen Einfluss ausübt. Sowohl<br />

die letztendliche Wahlentscheidung als<br />

auch Bewertungen und Präferenzen erfolgen<br />

demnach nicht ungefiltert oder entspringen<br />

einer quasi objektiven Beurteilung<br />

des Kandidaten oder der Kandidatin,<br />

sondern sind ganz zentral davon abhängig,<br />

ob eine Person der dazugehörigen Partei<br />

zuneigt oder nicht. Auch hierin zeigt sich<br />

wiederum die Relevanz des Objekts ‚Partei‘.<br />

41


Argumente_02_<strong>2013</strong>_Inhalt 13.08.13 11:39 Seite 42<br />

Spezifische<br />

Bewertungen<br />

(Führungsstärke,<br />

Integrität, Kompetenz,<br />

Sympathie)<br />

Generalisiserte<br />

Bewertungen<br />

Kanzlerpräferenz<br />

Wahlentscheidung<br />

Schaubild 1: Generalisierung, Präferenzbildung und Entscheidungsfindung:<br />

Wie KandidatInnenorientierungen die Wahlentscheidung beeinflussen<br />

Quelle: Eigene Abbildung nach Wagner/Weßels<br />

Wie wichtig die einzelnen spezifischen<br />

Bewertungsdimensionen sind, variiert zwischen<br />

den Wahlen. Für die letzten <strong>Bundestagswahl</strong>en<br />

lässt sich aber festhalten, dass<br />

die Gesamtbeurteilung der Kanzlerkandidaten<br />

zumeist politisch erfolgt: Wie kompetent<br />

wirkt der/die KandidatIn? Wie viel<br />

Vertrauenswürdigkeit, wie viel Tatkraft<br />

strahlt er oder sie aus? Nur selten waren<br />

rollenferne Bewertungen, wie die menschliche<br />

Sympathie, relevanter.<br />

Bewertung der KanzlerkandidatInnen<br />

und Wahlergebnis<br />

Der Effekt der Parteibewertung ist für<br />

die individuelle Wahlentscheidung relevanter<br />

als die Beurteilungen der KanzlerkandidatInnen<br />

und letztere beeinflussen<br />

die Entscheidungen der WählerInnen, indem<br />

spezifische Bewertungen von rollennahen<br />

und rollenfernen Aspekten zu allgemeineren<br />

Evaluierungen generalisiert und<br />

diese in Präferenzen umgesetzt werden.<br />

Welches Ausmaß haben die KanzlerkandidatInnen<br />

nun auf das Wahlergebnis?<br />

Partei Ergebnis 2009<br />

Modellvorhersage<br />

für 2009<br />

Simulation 1 Simulation 2<br />

Union 36 % 41 % 39 % 40 %<br />

SPD 24 % 23 % 23 % 22 %<br />

FDP 15 % 11 % 12 % 11 %<br />

Grüne 11 % 12 % 12 % 12 %<br />

Linke 13 % 14 % 15 % 14 %<br />

Tabelle 1: Ergebnis der <strong>Bundestagswahl</strong> 2009 (Zweitstimmanteile an den Zweitstimmen für alle Bundestagsparteien)<br />

und Simulationsergebnisse<br />

Anmerkung: Anteile an den Stimmen, die für die Bundestagsparteien abgegeben wurden:<br />

Lesehinweis: 24 % aller Stimmen, die für die Bundestagsparteien abgegeben wurden, entfielen auf die SPD, die<br />

Modellvorhersage für 2009 liegt bei 23 %; Abweichungen von 100 % sind rundungsbedingt; Quelle für das<br />

Wahlergebnis: http://www.bundeswahlleiter.de/de/bundestagswahlen/BTW_BUND_09/ergebnisse/<br />

bundesergebnisse/ [10.07.<strong>2013</strong>]. Quelle für die Modellvorhersage sowie die Simulationen stammen aus dem<br />

Nachwahlquerschnitt der „German Longitudinal Election Study (GLES)“.<br />

42<br />

Kanzlerkandidaten und -kandidatinnen: Wie beeinflussen sie die Wahlentscheidung? Argumente 2/<strong>2013</strong>


Argumente_02_<strong>2013</strong>_Inhalt 13.08.13 11:39 Seite 43<br />

Tabelle 1 zeigt das Wahlergebnis –<br />

Zweit stimmenanteile der im Bundestag<br />

vertretenen Fraktionen an allen Zweitstimmen<br />

der Bundestagsparteien – sowie eine<br />

Modellvorhersage. Dafür wurde die Wahlabsicht<br />

auf die Parteineigung, die wahrgenommene<br />

ideologische Distanz zwischen<br />

der jeweiligen Partei und Ego und die generalisierten<br />

Partei- und KandidatInnenbewertungen<br />

zurückgeführt. 1<br />

Vor dem Hintergrund, dass Wahlentscheidungen<br />

durch viele weitere Faktoren<br />

beeinflusst werden, ist die Vorhersage des<br />

Modells durchaus passabel. Die Abweichungen<br />

für die SPD, die Grünen und die<br />

Linke liegen bei unter 1,5 Prozentpunkten.<br />

Der Zweitstimmenanteil der Union wird<br />

deutlich überschätzt, der der FDP dagegen<br />

unterschätzt, was auf strategisches Stimmverhalten<br />

von WählerInnen hindeutet, die<br />

aus sog. aufrichtigen Motiven für die Unionsparteien<br />

gestimmt hätten, ihr Kreuz<br />

doch letztlich beim Wunschkoalitionspartner<br />

machten. Nichtsdestotrotz können diese<br />

Vorhersagen für eine kleine Simulation<br />

verwendet werden. Dazu wurde ermittelt,<br />

wie sich das Wahlergebnis verändert hätte,<br />

wenn der SPD-Herausforderer Frank-<br />

Walter Steinmeier so populär wie die<br />

Kanzlerin Angela Merkel gewesen und<br />

Merkel wie der SPD-Spitzenmann bewertet<br />

worden wäre. 2<br />

Bekanntermaßen wurde Merkel 2009<br />

sowohl absolut als auch im Vergleich zum<br />

Herausforderer von der Bevölkerung sehr<br />

gut bewertet (7,1 Punkte im Vergleich zu<br />

6,3 Punkte für Steinmeier auf einer Skala<br />

von 1 bis 11). Tauscht man nun diese Einschätzungen<br />

aus, nimmt man also einmal<br />

an, die Merkelbewertungen hätten Steinmeier<br />

gegolten und umgekehrt, ergibt sich<br />

das Wahlergebnis aus der dritten Ergebnisspalte<br />

(„Simulation 1“).<br />

Aus der Perspektive des Personalisierungsparadigmas<br />

sind diese Ergebnisse ernüchternd.<br />

Die Unionsparteien hätten –<br />

wie aufgrund der nun im Mittel niedrigeren<br />

Bewertung ihrer Kandidatin zu erwarten<br />

war – wohl etwa knapp zwei Prozentpunkte<br />

weniger Zweitstimmen erhalten als<br />

in der Modellvorhersage für die <strong>Bundestagswahl</strong><br />

2009, also auf Basis der realen<br />

Umfragedaten. Allerdings hätte die SPD<br />

davon und durch den nun beliebter simulierten<br />

Spitzenkandidaten kaum profitiert:<br />

die Abweichungen bewegen sich lediglich<br />

im Nachkommabereich.<br />

Was bedeuten diese Ergebnisse für die<br />

anstehende <strong>Bundestagswahl</strong>? Nach dem<br />

ARD-DeutschlandTREND vom Juni <strong>2013</strong><br />

sind 70 Prozent der Bundesbürgerinnen<br />

und Bundesbürger mit der politischen Arbeit<br />

der Kanzlerin sehr zufrieden oder zufrieden,<br />

30 Prozent weniger oder gar nicht<br />

zufrieden. Für den Herausforderer Peer<br />

Steinbrück lauten die Zahlen 36 zu 59. 3<br />

Verwendet man die Salden (+40 bei Mer-<br />

1 Es wurde ein konditionales Logit-Modell für<br />

WählerInnen einer der Bundestagsparteien geschätzt.<br />

Daten gewichtet mittels sozialstrukturellem,<br />

regionalstrukturellem und Transformationsgewicht;<br />

1.483 Befragte.<br />

2 Konkret wurden schlicht die generalisierten Bewertungen<br />

(Kandidatenskalometerwerte) von<br />

Merkel auf Steinmeier übertragen und vice versa.<br />

Die Grenzen dieser Simulation sollten jedoch beachtet<br />

werden. So wurde nicht untersucht, welche<br />

Auswirkungen die KandidatInnenbewertungen<br />

auf andere Faktoren (zum Beispiel die Passung<br />

von KandidatIn und Partei) und auf die Mobilisierung<br />

hätte. So ist durchaus vorstellbar, dass ein<br />

beliebterer Kandidat oder eine beliebtere Kandidatin<br />

womöglich nicht den anderen Parteien<br />

Stimmen genommen, aber mehr Anhänger an die<br />

Wahlurne gelockt hätte.<br />

3 Vgl. http://www.infratest-dimap.de/umfragenanalysen/bundesweit/ard-deutschlandtrend/<strong>2013</strong>/juni/<br />

[10.07.<strong>2013</strong>].<br />

43


Argumente_02_<strong>2013</strong>_Inhalt 13.08.13 11:39 Seite 44<br />

kel und –23 bei Steinbrück) als Kenngrößen<br />

im obigen Modell in einer zweiten Simulation,<br />

ergibt sich das in der letzten<br />

Spalte berichtete, simulierte Wahlergebnis<br />

(„Simulation 2“). 4 Natürlich sollte beachtet<br />

werden, dass <strong>2013</strong> nicht 2009 ist und sich<br />

demnach selbstredend nicht nur die Bewertungen<br />

der KandidatInnen der beiden<br />

großen Parteien geändert haben. Diese Simulation<br />

ist daher nicht als Prognose für<br />

den Wahlausgang, sondern lediglich als<br />

Gedankenexperiment zu verstehen. Sie<br />

sagt uns, wie sich die Kräfteverhältnisse<br />

2009 dargestellt hätten, wenn der SPD-<br />

Kandidaten so beliebt gewesen wäre wie es<br />

momentan Steinbrück ist und wenn die<br />

Bewertung von Merkel der gegenwärtigen<br />

entsprochen hätte. Was erkennen wir nun?<br />

Wiederum ist der Unterschied nur marginal.<br />

Im Vergleich zur Vorhersage des Ursprungsmodells<br />

verlieren beide Volksparteien<br />

jeweils einen Prozentpunkt. Die<br />

<strong>Bundestagswahl</strong> 2009 wäre demnach mit<br />

den gegenwärtigen KanzlerkandidatInnen<br />

wohl ähnlich ausgegangen.<br />

Fassen wir zusammen: Die politikwissenschaftliche<br />

Forschung zeigt auf, dass<br />

Parteien noch immer die relevanteren Bewertungsobjekte<br />

für die Bürgerinnen und<br />

Bürger sind. Zudem sind politiknahe Bewertungskriterien<br />

wichtiger für die generalisierte<br />

Beurteilung der KandidatInnen als<br />

politikferne Kriterien. Hinsichtlich des<br />

Wahlverhaltens kann also Entwarnung gegeben<br />

werden – ein Trend demokratietheoretisch<br />

problematischer Personalisierung<br />

ist nicht erkennbar, vielmehr ist jede Wahl<br />

unterschiedlich.<br />

KandidatInnen machen jedoch einen<br />

Unterschied für das Wahlergebnis. Dieser<br />

bleibt allerdings recht überschaubar – sie<br />

bewegen das Wahlergebnis wohl eher im<br />

niedrigen einstelligen Bereich. Zwar sind<br />

wenige Prozentpunkte durchaus wichtig,<br />

können sie doch über Koalitionsmöglichkeiten<br />

und Mehrheitsverhältnisse, kurz:<br />

über Sieg und Niederlage entscheiden. Die<br />

präsentierten Simulationen zeigen aber,<br />

dass die SPD auch mit einem genauso beliebten<br />

Kandidaten wie Angela Merkel<br />

eine war (und ist) die Wahl 2009 zumindest<br />

nicht gewonnen hätte. Und auch die<br />

Wahl <strong>2013</strong> wird wohl nicht vorrangig<br />

durch das Duell zwischen Merkel und<br />

Steinbrück entschieden werden. l<br />

4 Diese Salden, die theoretisch Werte von -100 bis<br />

+100 annehmen können, wurden in den Wertebereich<br />

von 1 bis 11 umgewandelt, der in den Umfragen<br />

gebräuchlich ist (mit -100 = 1, 0 = 6 und<br />

+100 = 11). Daraufhin wurden Zufallsvariablen<br />

erstellt, die den Saldo als Mittelwert (8,0 und 5,2)<br />

und ähnliche Standardabweichungen wie die empirischen<br />

Werte aus 2009 aufweisen.<br />

44<br />

Kanzlerkandidaten und -kandidatinnen: Wie beeinflussen sie die Wahlentscheidung? Argumente 2/<strong>2013</strong>


Argumente_02_<strong>2013</strong>_Inhalt 13.08.13 11:39 Seite 45<br />

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45


Argumente_02_<strong>2013</strong>_Inhalt 13.08.13 11:39 Seite 46<br />

„E-MAIL IST TOTAL 90ER!“<br />

– PERSPEKTIVEN<br />

EINER VERNETZTEN<br />

GESELLSCHAFT<br />

von Prof. Dr. Gesche Joost, Professorin für Designforschung und Mitglied<br />

im Kompetenzteam von Peer Steinbrück für den Bereich Netzpolitik<br />

Wenn sich Kleinkinder heute vor den<br />

heimischen Fernseher stellen und mit<br />

der Wisch-Bewegung, die sie vom<br />

Smartphone kennen, das Programm<br />

wechseln wollen – spätestens dann<br />

wissen wir, dass wir in einer vernetzten<br />

Gesellschaft angekommen sind. An<br />

diesem Bild wird vieles deutlich: Zum<br />

einen, dass die Technik-Nutzung bestimmte<br />

Erwartungen an Logik und<br />

Bedienkomfort weckt – einfache Gesten<br />

werden zum Standard. Die Art<br />

der Nutzung verändert unsere Wahrnehmung<br />

und unsere Erwartungen an<br />

die Welt, die uns umgibt. Wer hat sich<br />

noch nicht intuitiv die „Rückgängig“-<br />

Eingabe gewünscht, wenn der Kaffeebecher<br />

umfiel? Die Nutzung des Computers<br />

in all seinen heutigen Formen<br />

ist kaum mehr aus dem Leben wegzudenken<br />

– beeinflusst sie doch unsere<br />

Art zu kommunizieren, uns zu organisieren<br />

und zu informieren, zu arbeiten<br />

und unsere Freizeit zu gestalten. Zum<br />

anderen wird an dem Bild des Kindes<br />

vor dem Fernseher deutlich, dass die<br />

sogenannte „Generation Y“ der heute<br />

20- bis 30-jährigen, die mit der Nutzung<br />

der digitalen Welt aufgewachsen<br />

sind, zum neuen Standard wird. Ihre<br />

Kinder werden uns fragen, wozu denn<br />

diese runde Scheibe am alten Telefon<br />

gut war. Und sie werden uns fragen,<br />

wie wir uns denn in Zeiten, bevor es<br />

soziale Netzwerke gab, überhaupt verabreden<br />

konnten. „E-Mail ist total<br />

90er!“ – so eine 15-jährige Schülerin in<br />

einem meiner Forschungsprojekte an<br />

der Universität der Künste in Berlin auf<br />

die Frage, welche Medien sie denn<br />

täglich nutzen würde. Dagegen sehen<br />

viele von uns ganz schön alt aus.<br />

Die „Generation Y“ kommuniziert dezentral-vernetzt,<br />

mit vielen gleichzeitig<br />

über Facebook, Twitter & co. Sie sind immer<br />

im Loop der Neuigkeiten. Das ist Mikro-Kommunikation:<br />

schnell, kurz, stän-<br />

46 „E-Mail ist total 90er!“ – Perspektiven einer vernetzten Gesellschaft Argumente 2/<strong>2013</strong>


Argumente_02_<strong>2013</strong>_Inhalt 13.08.13 11:39 Seite 47<br />

dig. Das sind massive Veränderungen in<br />

unserem Alltag, die besonders viele junge<br />

Menschen betreffen – und die teilweise<br />

von der älteren Generation kaum nachvollzogen<br />

werden. Die Selbstverständlichkeit,<br />

mit der sich junge Menschen heute im<br />

Netz bewegen – always online – ist für<br />

„Offliner“ fremd und ist ein Grund für eine<br />

digitale Spaltung unserer Gesellschaft in<br />

diejenigen, die das Netz als selbstverständliche<br />

Struktur in ihren Alltag integrieren,<br />

und diejenigen, die das Netz selten oder<br />

gar nicht nutzen. Einer solchen Spaltung<br />

müssen wir entgegentreten – denn eine<br />

vernetzte Gesellschaft bietet große Chancen<br />

für alle Bürgerinnen und Bürger, z. B.<br />

auf gute Bildung oder Teilhabe an gesellschaftspolitischen<br />

Debatten. Dabei sollten<br />

wir nicht vergessen: Die Technik-Affinität<br />

und alltägliche Nutzung digitaler Technologien<br />

verläuft nicht entlang der Altersgrenze<br />

der jungen Generation, sondern ist<br />

quer dazu in allen Altersgruppen zu finden<br />

– bis hin zu älteren Menschen, die mehr<br />

und mehr aufgeschlossen und kompetent<br />

neueste Technologien nutzen. Eine Politik<br />

der vernetzten Gesellschaft bezieht sich<br />

daher nicht allein auf eine junge Generation,<br />

sondern knüpft an die alltägliche Erfahrungswelt<br />

aller an.<br />

In der vernetzten Gesellschaft liegt ein<br />

großes Potential für die Zukunft von Wirtschaft,<br />

Kultur, Bildung, Forschung und<br />

Technologie; es bedeutet aber auch Herausforderungen<br />

an die Politik, alle mit an<br />

Bord zu holen. Daher müssen wir immer<br />

wieder Anknüpfungspunkte und Schnittstellen<br />

für Partizipation gestalten. Grundbegriffe<br />

unseres politischen Handelns sind<br />

daher Vernetzung und Teilhabe, die soziale<br />

und technologische Strukturen betreffen.<br />

Welche gesellschaftspolitischen Diskurse<br />

und regierungspolitischen Rahmenbedingungen<br />

müssen wir initiieren, um unsere<br />

Vision einer vernetzten Gesellschaft<br />

zu realisieren? Dazu gehören aktuelle Themen,<br />

etwa die gesetzliche Festschreibung<br />

der Netzneutralität oder die Neuregelung<br />

des Urheberrechts. Aber auch unsere Reaktionen<br />

auf die Schattenseiten der vernetzten<br />

Gesellschaft – wie etwa das Cybermobbing,<br />

dem junge Menschen heute viel<br />

zu oft ausgesetzt sind – entscheiden über<br />

die Wahrnehmung von politischer Kompetenz<br />

in Netzfragen.<br />

Gleichzeitig müssen wir die großen Potentiale<br />

der Vernetzung politisch und gesellschaftlich<br />

ermöglichen:<br />

Open Data und Open Government –<br />

bieten freien Zugang zu öffentlich relevanten<br />

Daten ohne bürokratische Hürden;<br />

die Zukunft der Bürokratie<br />

Open Access – ermöglicht die freie und<br />

direkte Verfügbarkeit wissenschaftlicher<br />

Publikationen; eine Revolution für<br />

die Wissenschaft, die schon vielerorts<br />

begonnen hat.<br />

Open Innovation – initiiert eine offene<br />

Zusammenarbeit an Zukunftsthemen<br />

über die Grenzen von Institutionen<br />

hinweg; die Zukunft des Fortschritts.<br />

Digitale Arbeit<br />

Die „Generation Y“ ist eine der treibenden<br />

Kräfte, um die digitale Revolution<br />

zum Nutzen aller Gesellschaftsschichten<br />

umzusetzen. Sie verändern auch die Arbeitswelt.<br />

Vielfach sind die fachlichen<br />

Qualifikationen dieser Generation hervor-<br />

47


Argumente_02_<strong>2013</strong>_Inhalt 13.08.13 11:39 Seite 48<br />

ragend, sie ist technikaffin sozialisiert und<br />

ihre Vorstellung von einer erfüllenden Arbeit<br />

ist gleichzeitig hoch. Sie verlangt flexible<br />

Arbeitsstrukturen, deren Grundvoraussetzungen<br />

eine ausgewogene Work-Life-<br />

Balance, die Vereinbarkeit von Familie und<br />

Beruf sowie die Möglichkeit der heterogenen<br />

Karrierepfade in unterschiedlichen<br />

Lebensphasen sind (z. B. internationale<br />

Bildungsaufenthalte, private Auszeiten<br />

und „Sabbaticals“). So können Modelle<br />

entstehen, die zu einer nachhaltigen Arbeitskultur<br />

führen – weg von der Burnout-<br />

Falle. Die digital vernetzten Arbeitsstrukturen<br />

ermöglichen hier oftmals insofern<br />

eine bessere Vereinbarkeit von Familie und<br />

Beruf, als dass das Arbeiten zeitlich und<br />

räumlich unabhängiger wird. Gleichzeitig<br />

müssen jedoch die sozialen Sicherungssysteme<br />

auf diese Flexibilität und Heterogenität<br />

reagieren können. Die Erwerbsbiografien<br />

der jungen Generation sind häufig<br />

durch Diskontinuitäten gekennzeichnet,<br />

durch Praktika und Freelancer-Tätigkeiten,<br />

durch „Auszeiten“ und Neuorientierungen.<br />

Vernetztes Engagement<br />

Diese Generation ist mit den Möglichkeiten<br />

der dezentralen, vernetzten Kommunikation<br />

aufgewachsen und äußert zum<br />

Teil Skepsis gegenüber hierarchischen,<br />

dauerhaften Organisationen wie den politischen<br />

Parteien. Für sie gilt es insbesondere,<br />

Formate der Teilhabe zu schaffen. Ihr<br />

soziales Engagement ist vielfach über digitale<br />

Plattformen und dezentrale Formate<br />

organisiert. Es ist situations- und themenbezogen,<br />

temporär, Community-orientiert<br />

und mit Spaß verbunden. Das Engagement<br />

ist besonders in Großstädten und<br />

Ballungsräumen weniger auf das lokale<br />

Umfeld und die Nachbarschaft bezogen,<br />

sondern kann global vernetzt stattfinden.<br />

Der Erfolg des Engagements wird online<br />

direkt erlebbar gemacht: bei betterplace.org<br />

kann der Nutzer oder die Nutzerin<br />

direkt den Projektfortschritt und damit<br />

virtuell die Wirkung der Spende nachverfolgen,<br />

bei kickstarter.com kann der Nutzende<br />

durch seine (Mini-)Investition<br />

Startups die nötige Starthilfe geben und<br />

sich somit direkt an der Wirtschaftsförderung<br />

beteiligen. Dadurch entsteht eine gemeinsame<br />

Verantwortung und ein gemeinsames<br />

Risiko, das diese Community verbindet.<br />

Diese Art der (digitalen) Schnittstellen<br />

zur aktiven Beteiligung wollen wir<br />

zukünftig verstärkt auch als politisches Instrument<br />

nutzen. Dadurch würde auch der<br />

Begriff des politischen Engagements neu<br />

verhandelt werden. Darüber hinaus ist es<br />

sinnvoll, Schnittstellen und Formate der<br />

Beteiligung weiter zu entwickeln oder neu<br />

zu gestalten, und zwar unter massiver Einbeziehung<br />

der unterschiedlichen Nutzergruppen<br />

und Communities. Nur durch einen<br />

Dialog mit der „Netzgemeinde“ und<br />

der Berücksichtigung der Wissenstands<br />

der netzpolitisch Informierten kann es gelingen,<br />

zu gemeinsamen Schnittstellen und<br />

Formaten zu kommen, die analoges und<br />

digitales, dezentrales und lokales, parteipolitisch<br />

organisiertes und temporär-themenorientiertes<br />

Engagement verbinden.<br />

Ziel unseres politischen Engagements<br />

ist daher eine Haltungsänderung: weg von<br />

der Politikverdrossenheit. Menschen die<br />

Möglichkeit zu geben, sich nach ihren eigenen<br />

Interessen, Fähigkeiten und Möglichkeiten<br />

zu beteiligen, ist eine der wichtigsten<br />

Aufgaben für eine zukunftsfähige<br />

Gesellschaft. Immer weniger junge Menschen<br />

durchlaufen eine parteipolitische So-<br />

48<br />

„E-Mail ist total 90er!“ – Perspektiven einer vernetzten Gesellschaft Argumente 2/<strong>2013</strong>


Argumente_02_<strong>2013</strong>_Inhalt 13.08.13 11:39 Seite 49<br />

zialisation; sie sind nicht vertraut mit den<br />

lokalen Organisationsstrukturen und traditionellen<br />

Beteiligungsformaten am politischen<br />

Geschehen. Gleichzeitig wächst jedoch<br />

die Nachfrage nach einem individuellen,<br />

sinnvollen sozialen Engagement –<br />

wo kann ich mich beteiligen? Hier müssen<br />

wir Angebote schaffen.<br />

Die „Digitale Revolution“ gestalten<br />

Der Fortschritt digitaler Technologien<br />

birgt ein großes Potential für die Innovationsentwicklung<br />

in Deutschland: es entstehen<br />

neue Produktionsprozesse, die dezentral<br />

vernetzt organisiert sind. So können<br />

beispielsweise Entwürfe von Produkten<br />

über das Netz geteilt, verändert und dezentral<br />

produziert werden – entweder durch<br />

lokale Handwerksbetriebe im traditionellen<br />

Sinne, oder aber durch neue Herstellungsverfahren<br />

wie 3D Druck. Plattformen<br />

wie etsy.com bieten neue Distributionswege<br />

für (kunst-)handwerkliche Produkte in<br />

kleiner Stückzahl, die individuell von Selbständigen<br />

hergestellt und auf der Plattform<br />

kollektiv vertrieben werden, Jovoto.com<br />

bietet die Plattform für kollaborative Projektentwicklungen<br />

weltweit. Hier entstehen<br />

neue Geschäftsmodelle und Produktionsabläufe,<br />

die in Zukunft noch an<br />

Bedeutung gewinnen werden.<br />

Gleichzeitig entwickelt sich rund um<br />

digitale Technologien eine lebendige Startup-Szene,<br />

die besonderer Förderung und<br />

Begleitung bedarf und ein hohes, dynamisches<br />

Innovationspotential hat. Die Struktur<br />

solcher Startups unterscheidet sich<br />

meines Erachtens in vielen Punkten von<br />

denen anderer KMUs: die Zyklen der Unternehmensgründung<br />

und Erfolgsgeschichten<br />

sind häufig wesentlich kürzer,<br />

digitale Produkte sind dezentral herstellbar,<br />

die Finanzierung erfolgt durch Venture<br />

Capital und oftmals gibt es Verbindungen<br />

zur Kreativwirtschaft. Diese hoch<br />

dynamische Startup-Kultur stellt ein zusätzliches<br />

Feld für die Innovationsentwicklung<br />

in Deutschland dar, dem besondere<br />

Aufmerksamkeit gelten muss. Insbesondere<br />

in der Kreativwirtschaft sind die Akteure<br />

als selbständige Kleinstunternehmen<br />

oder Ein-Mann- oder Eine-Frau-Unternehmungen<br />

organisiert und leben leider<br />

genau so häufig in prekären Verhältnissen.<br />

Diese Lebensmodelle müssen in Deutschland<br />

eine bessere Unterstützung erfahren,<br />

so dass sich ihr sozialer Status verbessern<br />

kann, nicht nur da der Kreativwirtschaft in<br />

Deutschland ein hohes Wirtschaftspotential<br />

vorausgesagt wird. Diese Selbständigen<br />

bilden eine eigene Kategorie von Freiberuflern,<br />

die eigene Rahmenbedingungen<br />

brauchen.<br />

Mittelständische Unternehmen müssen<br />

verstärkt dabei unterstützt werden, den<br />

Anschluss an die Digitalisierung zu finden,<br />

wo es sinnvoll und angemessen ist. Die Digitalisierung<br />

von Arbeits-und Produktionsprozessen,<br />

der strategische Einsatz<br />

neuer Technologien und das zugehörige<br />

Know-how sind Zukunftsfaktoren, die es<br />

zu unterstützen gilt.<br />

Die Entwicklung der „Sharing Economy“<br />

bedarf gesonderten Augenmerks, da<br />

sich hier potentiell eine alternative Wirtschaftsform<br />

entwickelt – eine, die auf der<br />

Idee des Teilens statt des Besitzens beruht.<br />

Zum Teil gehen Angebote der Sharing<br />

Economy mit einer Kritik am ungezügelten<br />

Massenkonsum und an der Anhäufung<br />

immer neuer Industrieprodukte einher.<br />

Gleichzeitig entwickeln sich neue Ge-<br />

49


Argumente_02_<strong>2013</strong>_Inhalt 13.08.13 11:39 Seite 50<br />

schäftsmodelle, die zum Teil auf alternativen<br />

(Tausch-)Währungen basieren und der<br />

eine Community zugrunde liegt. Das gemeinsame<br />

Nutzen von Ressourcen, von der<br />

Vermietung der privaten Wohnung auf<br />

Airbnb bis zu Car-Sharing Services, liegt<br />

vielen Angeboten und Plattformen zugrunde.<br />

Diese Community-basierten<br />

Dienstleistungen haben ein großes Zukunftspotential<br />

und integrieren zum Teil<br />

nicht-kommerzielle Formen des sozialen<br />

Engagements und der gesellschaftspolitischen<br />

Positionierung (z. B. Food-Sharing<br />

Services, FixMyStreet, Adopt-a-Hydrant).<br />

Potentiale vernetzter Bildung<br />

Die Vernetzung von Schulen und<br />

Hochschulen über das Internet bietet die<br />

Möglichkeit, Bildungsangebote strukturell<br />

zu erweitern. Schulen stellen auf digitale<br />

Lehrinhalte um und bringen Schülerinnen<br />

und Schülern bei, wie sie das Netz zur Informationssuche<br />

effizient nutzen können.<br />

Universitäten weltweit nutzen das Netz,<br />

um ihre Lehrangebote global zu Verfügung<br />

zu stellen und damit den Zugang jenseits<br />

lokaler Grenzen, kultureller und sozialer<br />

Rahmenbedingungen zu ermöglichen.<br />

MOOCs (massive open online courses)<br />

sind die Online-Formate, die interaktive<br />

Lerninhalte im Netz abbilden und die auch<br />

in Deutschland an einigen Universitäten<br />

bereits etabliert wurden. Das führt zu einer<br />

neuen Durchlässigkeit des Bildungssystems,<br />

so dass auch sozial schwachen<br />

Schichten oder Menschen, die außerhalb<br />

von Universitätsstädten leben, die Option<br />

geboten wird, an Lerninhalten zu partizipieren<br />

und sich weiterzubilden. Der Zugang<br />

zu Universitäten wird damit erweitert,<br />

gleichzeitig müssen sie sich aber auch<br />

neu positionieren und ihr Alleinstellungsmerkmal<br />

als Bildungseinrichtung behaupten.<br />

Eine Differenzierung wird damit einhergehen<br />

können und müssen. Der Diskurs<br />

mit den akademischen Einrichtungen<br />

im nationalen wie internationalen Kontext<br />

muss daher intensiviert werden, in den<br />

auch „Bildungsnehmer“ eingebunden werden.<br />

Eines der zentralen Ziele der SPD ist<br />

es, eine bessere Durchlässigkeit des Bildungssystems<br />

zu ermöglichen. Die Barriere<br />

der sozialen Herkunft kann durch vernetzte<br />

Bildung gemindert werden. Aufgabe<br />

unserer Gesellschaft ist es daher, Medienkompetenz<br />

zu vermitteln und den Zugang<br />

zum Internet auf breiter Basis zu ermöglichen.<br />

Um diese Potentiale einer vernetzten<br />

Gesellschaft umsetzen zu können, bedarf<br />

es zunächst der grundlegenden digitalen<br />

Infrastruktur: den Zugang zum Netz. Der<br />

Breitbandausbau ist daher eines der vorrangigen<br />

politischen Ziele, um auch ländliche<br />

Regionen Deutschlands einzubeziehen<br />

– denn gerade hier können die Vorteile der<br />

digitalen Arbeit, Bildung und politischen<br />

Partizipation zum Standortvorteil werden.<br />

Neben diesen ganz konkreten Vorhaben<br />

geht es aber darüber hinaus auch darum,<br />

den gesellschaftspolitischen Diskurs zur<br />

vernetzten Gesellschaft zu intensivieren.<br />

Dies wird gerade vor dem Hintergrund der<br />

jüngsten Datenskandale um PRISM und<br />

TEMPORA eklatant deutlich – mit den<br />

Enthüllungen ging ein massiver Vertrauensverlust<br />

der Bürgerinnen und Bürger in<br />

das Netz einher. Daher ist die Debatte um<br />

Bürgerrechte und den Schutz privater Daten<br />

dringend notwendig, gekoppelt mit einem<br />

massiven Eintreten von politischer<br />

Seite, um für ein freies und offenes Netz in<br />

50 „E-Mail ist total 90er!“ – Perspektiven einer vernetzten Gesellschaft Argumente 2/<strong>2013</strong>


Argumente_02_<strong>2013</strong>_Inhalt 13.08.13 11:39 Seite 51<br />

Europa und weltweit einzutreten. Die<br />

Möglichkeiten einer vernetzten Gesellschaft<br />

sind immens – wir müssen sie gesellschaftlich<br />

und politisch wach und vorausschauend<br />

begleiten. l<br />

51


Argumente_02_<strong>2013</strong>_Inhalt 13.08.13 11:39 Seite 52<br />

HOLT DEUTSCHLAND<br />

VON DER INSEL!<br />

ANTWORTEN DER SPD<br />

AUF DIE KRISE DER<br />

EURO ZONE: WAS LEIS -<br />

TET DAS REGIERUNGS-<br />

PROGRAMM?<br />

von Dr. Björn Hacker, stellvertretender Vorsitzender des Fachausschusses Europa der<br />

SPD Berlin und Referent in der Friederich-Ebert-Stiftung<br />

Betrachtet man die vergangenen über<br />

drei Jahre Krisenmanagement in der<br />

Eurozone, erkennt man eine erstaunliche<br />

Inselposition Deutschlands. Hier<br />

wurde wie in kaum einem anderen<br />

Land der systemische Charakter der<br />

Krise zu spät, bei einigen Akteuren bis<br />

heute gar nicht erkannt. Hier verfing<br />

das populistische und falsche Bild der<br />

angeblich faulen Südeuropäer, die<br />

über ihre Verhältnisse gelebt und so<br />

eine Staatsschuldenkrise verursacht<br />

hätten. Und hier gefällt man sich in<br />

der Rolle einer Nation, deren relative<br />

wirtschaftliche Stärke auf marktliberale<br />

Reformpolitiken der jüngeren Vergangenheit<br />

zurückzuführen sei, die man<br />

nun mit erhobenem Zeigefinger anderen<br />

Mitgliedstaaten als best practice<br />

andienen kann.<br />

Die Hauptverantwortung für den so<br />

beschriebenen Kurs aus falschem Krisenverständnis,<br />

einseitigen Schuldzuweisungen<br />

und selbstgefälligem Sendungsbedürfnis<br />

ist der Deutschen Bundesregierung<br />

zuzuschreiben. Sie hat 2010 die Krise als<br />

„griechisches Problem“ verharmlost, die<br />

schließlich unumgängliche Reaktion einer<br />

Refinanzierungshilfe nur lavierend und mit<br />

harten Konditionen der Austerität belegt<br />

zugestanden und zeitgleich die deutsche<br />

Mitverantwortung umgedeutet in die Geschichte<br />

eines Erfolgsmodells. Diese sehr<br />

52<br />

Holt Deutschland von der Insel! Antworten der SPD auf die Krise der Eurozone:<br />

Was leistet das Regierungsprogramm? Argumente 2/<strong>2013</strong>


Argumente_02_<strong>2013</strong>_Inhalt 13.08.13 11:39 Seite 53<br />

deutsche Erzählung des Krisenhergangs<br />

und eines alternativlosen Rezepts zu ihrer<br />

Überwindung wurde der Bundesregierung<br />

aber von weiten Teilen der deutschen Öffentlichkeit<br />

abgekauft. Die Inselposition<br />

Deutschlands in der Krise erklärt sich<br />

durch eine breite institutionelle und gesellschaftliche<br />

Unterstützung des hier skizzierten<br />

Krisengeschehens. Nur so konnte<br />

dieser Blick auf die Krise Dominanz im<br />

deutschen Diskursraum erlangen und<br />

maßgeblich die europäische Krisenpolitik<br />

beeinflussen.<br />

Akteure des dominierenden<br />

Krisendiskurses<br />

Zu den einflussreichen Akteuren in der<br />

Diffusion dieses Weltbilds gehört eine<br />

Mehrheit deutscher Ökonomen, die auch<br />

nach dem Fall von Lehman Brothers und<br />

der globalen Finanzkrise an die Selbstregulierungskräfte<br />

des freien Marktes glaubt.<br />

Während man außerhalb der deutschen<br />

Grenzen keine Neo-Keynesianer aufspüren<br />

muss, um Bewegung in der Zunft der<br />

Volkswirte im Sinne eines New Economic<br />

Thinking feststellen zu können, bleiben die<br />

deutschen Kolleginnen und Kollegen<br />

größtenteils in der Neoklassik verhaftet.<br />

Hier glaubt man daran, dass Staaten sich<br />

aus einer Rezession heraussparen können<br />

und wenn Defizite in der Architektur der<br />

Währungsunion zugestanden werden, so<br />

wird über mangelnde Wettbewerbsfähigkeit,<br />

Arbeitsmarktrigiditäten und laxe<br />

Haushaltsführung lamentiert.<br />

Auch die deutschen Medien tragen<br />

Verantwortung für die Festigung eines sehr<br />

spezifischen Blicks auf die Krise. Dies lag<br />

und liegt teilweise an einer offensichtlichen<br />

Überforderung politischer Journalistinnen<br />

und Journalisten, die komplexen ökonomischen<br />

Sachverhalte verstehen und bewerten<br />

zu können. Oft erschien es wohl einfacher,<br />

die auf Brüsseler Krisengipfeln<br />

produzierten Scheinlösungen als Erfolge<br />

darzustellen, als sie kritisch auseinanderzunehmen<br />

und zu hinterfragen. Und jene<br />

Journalistinnen und Journalisten, die sich<br />

seit Jahren in den Wirtschaftsredaktionen<br />

mit der Thematik beschäftigen, sind in<br />

Deutschland mehrheitlich von einer mikroökonomischen,<br />

betrieblichen Sicht auf<br />

die Dinge geprägt, wohingegen – die in<br />

dieser Krise ungleich relevanteren – makroökonomischen<br />

Zusammenhänge und<br />

Kreisläufe nur von einigen wenigen ins<br />

Feld geführt werden. Gravierender allerdings<br />

als journalistische Versäumnisse zu<br />

einem mehrdimensionalen Krisenverständnis<br />

ist der ebenfalls beobachtbare affirmative<br />

Journalismus jener Medienvertreterinnen<br />

und -vertreter, die aus der Krise<br />

einen Gegensatz von Staaten, politischen<br />

Grundannahmen und Kulturen herbeischreiben.<br />

Die solventen Länder des Nordens<br />

gegen die klammen Staaten des Südens<br />

in Europa auszuspielen, nützt in einer<br />

gemeinsamen Währungsunion wirtschaftlich<br />

niemandem und ist schädlich für das<br />

politische Klima. Und wenn Journalistinnen<br />

und Journalisten sich zur Verteidigung<br />

deutscher Interessen gegenüber anderen<br />

Staaten aufschwingen, muss gefragt werden,<br />

ob sie das Gemeinwohl noch im Blick<br />

haben oder billiger Stimmungsmache<br />

durch Bedienung altgedienter Klischees<br />

erliegen.<br />

Die Opposition in der Krise<br />

Wenn die Regierung und die sie stützende<br />

schwarz-gelbe Koalition zusammen<br />

mit dem Gros der zur Krisenanalyse rele-<br />

53


Argumente_02_<strong>2013</strong>_Inhalt 13.08.13 11:39 Seite 54<br />

vanten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler<br />

und der Mehrheit der deutschen<br />

Medienvertreterinnen und -vertreter auf<br />

der Insel sitzt, bleibt noch der Blick auf die<br />

parlamentarische Opposition und hier insbesondere<br />

auf die größte Oppositionspartei,<br />

die Sozialdemokratie. Und auch hier<br />

muss konstatiert werden, dass eine alternative<br />

Erzählung zum öffentlich dominierenden<br />

Krisendiskurs es lange sehr schwer<br />

hatte durchzudringen. Die SPD hat zwar<br />

seit Beginn der Krise einen umfangreichen<br />

Fundus an alternativen Konzepten zu ihrer<br />

Überwindung erstellt, kontrovers diskutiert,<br />

mit den europäischen Schwesterparteien<br />

abgestimmt und bis zur baldigen Regierungsübernahme<br />

archiviert. Aber die<br />

Partei zuckte jedes Mal zusammen (und<br />

zurück), wenn es um die deutschen Haftungssummen,<br />

wenn es um die Kosten der<br />

Rettungspolitik für den „deutschen Steuerzahler“<br />

– wie es die Medien plakativ nennen<br />

– ging. Aufgestellte Gegenpositionen<br />

zum Krisenmanagement der Regierung<br />

wurden dann häufig revidiert. In der Bilanz<br />

zeigte sich die größte Oppositionspartei in<br />

der Krise so als tastend, vorsichtig, letztlich<br />

unentschlossen. Dem gegenüber erscheint<br />

die blind durch die Krise tapsende Regierungskoalition<br />

in der Öffentlichkeit plötzlich<br />

als entschieden, ihre verfehlte Europapolitik<br />

als geradlinig und vertrauenswürdig.<br />

Schlimmer noch als die Angst vor<br />

dem Gegenwind der Öffentlichkeit beim<br />

Beziehen unorthodoxer Positionen: Inhaltlich<br />

ist der Glaube an den Staat<br />

als –„schwäbische Hausfrau“, an das Sparund<br />

Konsolidierungsmantra, das zwischenstaatliche<br />

Wettbewerbsprinzip und<br />

Wirtschaftswachstum infolge sozialer Entschlackung<br />

auch im linken politischen Lager<br />

fest etabliert worden. Der Neoliberalismus<br />

in den Köpfen ist – trotz Finanzkrise –<br />

längst nicht durch ein neues Narrativ ersetzt.<br />

Drei Baustellen Europas<br />

Umso wichtiger ist die klare Positionierung<br />

der SPD im Wahlkampf. Das Regierungsprogramm<br />

<strong>2013</strong> – 2017 spricht in<br />

unmissverständlicher Diktion die drei<br />

wichtigsten Baustellen des europäischen<br />

Integrationsprozesses an:<br />

Ökonomisch mit der Forderung nach einer<br />

gemeinsam gestalteten Wirtschaftspolitik<br />

der Euro-Länder in Form einer europäischen<br />

Wirtschaftsregierung. Hier sollen<br />

die wirtschaftlichen Ungleichgewichte<br />

frühzeitig erkannt und austariert werden.<br />

Als konkretes Instrument soll ein europäischer<br />

Schuldentilgungsfonds eingerichtet<br />

werden, der ein gemeinsames Schuldenmanagement<br />

ermöglicht und die Staaten<br />

von einem Teil ihrer Schuldenlast befreit.<br />

Das Wahlprogramm steht zu den strengen<br />

Auflagen für die Steigerung nationaler<br />

Haushaltsdisziplin, stellt aber fest, dass<br />

nun auch eine gemeinsame Haftung „kein<br />

Tabu“ mehr bleiben dürfe (S. 105). Ein<br />

deutliches Bekenntnis zur in der EU angestrebten<br />

Bankenunion wird abgelegt, das<br />

eine gemeinsame Bankenaufsicht und europäische<br />

Abwicklungsregeln einschließlich<br />

eines Restrukturierungsfonds umfasst.<br />

Ein zentraler Punkt ist die Forderung nach<br />

einer europäischen Wachstumsstrategie,<br />

„die wirtschaftliche Innovation mit sozialer<br />

Gerechtigkeit und ökologischer Erneuerung<br />

zusammenbringt“ (S. 26). Durch die<br />

konkreten Maßnahmen der Vermögensbesteuerung,<br />

der Ausgabe von Projektanleihen,<br />

der Umschichtung von Strukturfondsmitteln,<br />

der Aufwertung der<br />

Europäischen Investitionsbank und aus<br />

54<br />

Holt Deutschland von der Insel! Antworten der SPD auf die Krise der Eurozone:<br />

Was leistet das Regierungsprogramm? Argumente 2/<strong>2013</strong>


Argumente_02_<strong>2013</strong>_Inhalt 13.08.13 11:39 Seite 55<br />

Mitteln der Finanztransaktionssteuer soll<br />

ein europäischer Investitions- und Aufbaufonds<br />

gespeist werden. Mit diesem sollen<br />

zum einen akute Probleme wie etwa die<br />

hohe Jugendarbeitslosigkeit angegangen<br />

werden, zum anderen Investitionen in die<br />

Zukunft, in Bildung, Forschung und Infrastruktur<br />

ermöglicht werden. Für den gemeinsamen<br />

Binnenmarkt soll die Steuerharmonisierung<br />

vorangetrieben werden<br />

durch verbindliche Steuer-Mindeststandards<br />

für Unternehmensgewinne und Kapitaleinkommen.<br />

Steuerhinterziehung und<br />

unfairer Steuerwettbewerb sollen unterbunden<br />

werden.<br />

Sozialpolitisch wird zentral die Ermöglichung<br />

einer europäischen Sozialunion gefordert,<br />

die auf den sozialen Rechten der<br />

EU-Grundrechtecharta basiert. Mit einer<br />

sozialen Fortschrittsklausel in den Verträgen<br />

soll festgeschrieben werden, dass soziale<br />

Grundrechte nicht den Freiheiten des<br />

Binnenmarktes untergeordnet werden dürfen:<br />

„In Europa muss gelten: gleiche Lohnund<br />

Arbeitsbedingungen für gleiche Arbeit<br />

am gleichen Ort“ (S. 105). Besonders geschützt<br />

vor marktlichen Eingriffen werden<br />

soll die öffentliche Daseinsvorsorge, etwa<br />

durch die Ablehnung eines Privatisierungszwangs<br />

öffentlicher Unternehmen.<br />

Die Sozialsysteme der Einzelstaaten sollen<br />

nicht vereinheitlicht werden, aber gemeinsame<br />

Standardsetzung soll Dumpingprozesse<br />

unterbinden. Dafür wird ein Sozialer<br />

Stabilitätspakt vorgeschlagen, der konkrete<br />

Ziele und Vorgaben für die Höhe nationaler<br />

Sozial- und Bildungsausgaben entsprechend<br />

der jeweiligen wirtschaftlichen Entwicklung<br />

ebenso enthält, wie die<br />

Verpflichtung zur Einführung existenzsichernder<br />

Mindestlöhne in allen EU-Staaten,<br />

gemessen am jeweiligen nationalen<br />

Durchschnittseinkommen. Darüber hinaus<br />

soll die Wirtschaftsdemokratie auf europäischer<br />

Ebene durch Erweiterung der<br />

Spielräume für Mitbestimmung, Betriebsräte<br />

und sozialen Dialog ausgebaut werden.<br />

Demokratischer werden soll die EU, indem<br />

schrittweise das nationale Modell der<br />

Gewaltenteilung auf die transnationale<br />

Ebene übertragen wird. Bereits zur Europawahl<br />

2014 soll eine gemeinsame Spitzenkandidatin<br />

bzw. ein gemeinsamer Spitzenkandidat<br />

in allen EU-Ländern für die<br />

jeweiligen Parteifamilien antreten. Die<br />

Mehrheitsfraktion im Europäischen Parlament<br />

soll diesen dann zum Präsidenten der<br />

Europäischen Kommission wählen. „Der<br />

nächste Europawahlkampf kann in seiner<br />

neuen Form bereits der Anfang einer umfassenden<br />

Debatte über die Richtung der<br />

EU sein“ (S. 106). Auch die vorgeschlagene<br />

europäische Wirtschaftsregierung soll<br />

parlamentarisch kontrolliert sein. Langfristig<br />

soll die Kommission zu einer europäischen<br />

Regierung ausgebaut werden, die<br />

vom Europäischen Parlament gewählt und<br />

kontrolliert wird. Der Rat soll dann als eine<br />

zweite Kammer fungieren, der Gesetze<br />

gleichberechtigt mit dem Europäischen<br />

Parlament beschließt. Überprüfen will die<br />

SPD die Kompetenzverteilung zwischen<br />

EU und Mitgliedstaaten auf der Grundlage<br />

des Subsidiaritätsprinzips. Bevor ein<br />

Konvent vertragliche Reformschritte ausarbeitet,<br />

sollen alle Spielräume der bestehenden<br />

Verträge ausgeschöpft werden.<br />

Was fehlt?<br />

An einigen Stellen hätte man sich die<br />

Formulierung des Alternativprogramms<br />

zum derzeitigen Krisenmanagement noch<br />

55


Argumente_02_<strong>2013</strong>_Inhalt 13.08.13 11:39 Seite 56<br />

mutiger und im Detail konkreter gewünscht.<br />

Eurobonds scheinen als Begriff<br />

für gemeinschaftliche Anleihen verbrannt,<br />

weniger nötig sind sie dennoch nicht. Immer<br />

wieder wird in das Programm eingeflochten,<br />

dass man zu den verabredeten<br />

strengen budgetären Auflagen in der neuen<br />

Struktur der Wirtschaftsgovernance steht;<br />

Solidarität dürfe keine Einbahnstraße sein,<br />

„sondern muss an Anstrengungen der Krisenstaaten<br />

für tragfähige Haushalte geknüpft<br />

sein“ (S. 26). Hier wäre es angebracht,<br />

über neue Formen der Solidarität<br />

und Reformverbindlichkeit nachzudenken,<br />

etwa durch eine Abkehr vom bestrafenden<br />

Charakter europäischer Regelwerke und<br />

Sanktionen hin zu einem belohnenden und<br />

antizyklisch funktionierendem System, wie<br />

es etwa eine Fiskalkapazität für die Eurozone<br />

ermöglichen könnte. Während die<br />

Maßnahmen für die Stärkung der sozialen<br />

Dimension umfassend dargestellt und vorstellbar<br />

sind, bleibt die geforderte europäische<br />

Wirtschaftsregierung ebenso im nebulösen<br />

wie die Ermöglichung einer<br />

europäischen Vermögensbesteuerung zur<br />

anteiligen Finanzierung des europäischen<br />

Investitions- und Aufbaufonds. Denkbar<br />

wäre hier eine Übernahme des detailliert<br />

berechneten Marshallplans des Deutschen<br />

Gewerkschaftsbundes gewesen. Ähnlich<br />

unklar ist die Einsatzbereitschaft eines Restrukturierungsfonds<br />

für Banken, der<br />

durch eine Bankenabgabe finanziert werden<br />

soll. Diese Passage deutet ebenso wie<br />

die zurückhaltenden Formulierungen für<br />

die europäische Bankenaufsicht (nur große<br />

Banken) und den Verzicht auf Forderungen<br />

zur Einlagensicherung auf eine im<br />

Hintergrund weiter mitschwingende<br />

Angst der SPD vor möglichen Transferzahlungen<br />

Deutschlands an andere Staaten<br />

der Währungsunion hin. Dies steht im<br />

Widerspruch zum klaren Bekenntnis zum<br />

Erhalt der Währungsunion und der Zustimmung<br />

zu einer Haftungsgemeinschaft.<br />

Im Hinblick auf die Stärkung der demokratischen<br />

Legitimation fokussiert das<br />

Wahlprogramm mit der Europawahl auf<br />

die kurze und mit der europäischen Gewaltenteilung<br />

auf die lange Frist. Wie sich<br />

in der mittleren Frist eine „parlamentarisch<br />

kontrollierte Wirtschaftsregierung“ (S.<br />

105) umsetzen lässt, wird dagegen nicht<br />

näher erörtert. Wegweisend könnten in<br />

diesem Zusammenhang Überlegungen zur<br />

Zusammenarbeit der nationalen Parlamente<br />

mit dem Europäischen Parlament,<br />

unter Umständen auch im Rahmen eines<br />

sog. Euro-Parlaments sein.<br />

Paradigmenwechsel für ein soziales<br />

und demokratisches Europa<br />

Insgesamt überzeugt der Europateil des<br />

Regierungsprogramms durch die Benennung<br />

der Versäumnisse und Leerstellen im<br />

vorherrschenden Krisenmanagement, das<br />

unmissverständliche Bekenntnis zu einer<br />

Vertiefung der europäischen Integration<br />

und der Betonung des sozialen Charakters<br />

künftig zu ergreifender Maßnahmen. Normativ<br />

wird hier ein Wechsel von einer primär<br />

auf Währungspolitik und Wettbewerb<br />

gegründeten Gemeinschaft zu einer politischen<br />

Union im Sinne einer erneuerten sozialen<br />

Marktwirtschaft in Europa angekündigt.<br />

Dies ist der Paradigmenwechsel,<br />

den die EU dringend benötigt. Nur wenn<br />

den Bürgerinnen und Bürgern die Wahrheit<br />

über die Gründe der Krise in einem<br />

unvollständigen und einseitig auf die Erweiterung<br />

des Marktes ausgerichteten Integrationsgebäude<br />

erklärt werden, kann<br />

eine ehrliche Debatte um die richtigen Lö-<br />

56<br />

Holt Deutschland von der Insel! Antworten der SPD auf die Krise der Eurozone:<br />

Was leistet das Regierungsprogramm? Argumente 2/<strong>2013</strong>


Argumente_02_<strong>2013</strong>_Inhalt 13.08.13 11:39 Seite 57<br />

sungen zu ihrer Überwindung geführt werden.<br />

Nur wenn die in Brüsseler Krisengipfeln<br />

produzierten Scheinlösungen ins rechte<br />

Licht gerückt werden und die<br />

Mitverantwortung Deutschlands am Entstehen<br />

der Krise, etwa durch Jahre der<br />

lohnpolitischen Zurückhaltung, thematisiert<br />

wird, kann ein symmetrischer Anpassungsprozess<br />

begonnen werden. Nur wenn<br />

der Glaube an die Selbstregulierungskräfte<br />

des freien Marktes und das Austeritätsdogma<br />

als Erfolgskonzept ersetzt werden<br />

durch eine rahmende und regulierende politische<br />

sowie sozial schützende Hand und<br />

Investitionsimpulse ermöglicht werden,<br />

wird es gelingen aus der Krise herauszuwachsen<br />

und das europäische Sozialmodell<br />

zu festigen.<br />

Ein Wahlprogramm muss und kann<br />

nicht alle offenen Fragen beantworten.<br />

Wichtig erscheint vor allem, dass die an einigen<br />

Stellen sich noch bemerkbar machende<br />

Angst vor einem alternativen Politikangebot<br />

zugunsten des enthaltenen<br />

mutigen Bekenntnisses „für ein besseres<br />

Europa“ (S. 103) schwindet. Eine alternative<br />

Politik wird stets mit dem Mainstream<br />

anecken und von zögerlichen Reaktionen<br />

auf den Marktplätzen der Republik, Kritik<br />

in den Medien und schwankenden Umfragewerten<br />

begleitet sein. Hannelore Kraft<br />

hat in Nordrhein-Westfalen bewiesen, wie<br />

man in Wahlen mit einer Akzentverschiebung<br />

vom unbedingten Kürzungsprogramm<br />

hin zur Konsolidierung mit Augenmaß<br />

durch Investitionen in die<br />

Zukunft bei den Wählerinnen und Wählern<br />

punkten kann. Diese Chance gilt es für<br />

Europa zu nutzen, indem Deutschland von<br />

seiner zunehmend einsamen Inselposition<br />

befreit wird. l<br />

57


Argumente_02_<strong>2013</strong>_Inhalt 13.08.13 11:39 Seite 58<br />

UMSTEUERN<br />

FÜR BILDUNG UND<br />

GERECHTIGKEIT<br />

von Dr. Carsten Sieling, MdB<br />

Hunderte junge Menschen aus ganz<br />

Europa – unter ihnen viele <strong>Jusos</strong> –<br />

protestieren Anfang Juli dieses Jahres<br />

zusammen mit Sigmar Gabriel vor<br />

dem Bundeskanzleramt gegen Angela<br />

Merkels Tatenlosigkeit bei der Bekämpfung<br />

der europaweiten Jugendarbeitslosigkeit.<br />

Anstatt die dramatische Lage von Millionen<br />

junger Europäerinnen und Europäer<br />

zu verbessern, flüchtet sich<br />

Merkel in abstrakte Gesten und Gipfelshows,<br />

während sich Europa nach<br />

fast vier Jahren „Deutschunterricht“<br />

kaputtspart. Deutschland dagegen<br />

eine Insel der Glückseligen? Griechenland,<br />

Spanien und selbst Frankreich:<br />

Weit weg? Im Gegenteil: Die Bröckelrepublik<br />

Deutschland ist längst Realität.<br />

I. Wo wir herkommen<br />

Die verfehlte Finanz- und Steuerpolitik<br />

der schwarz-gelben Bundesregierung,<br />

begleitet von konjunkturbedingten Einnahmeausfällen,<br />

hat die Handlungsfähigkeit<br />

des Bundes, der Länder und der Kommunen<br />

in Deutschland massiv geschwächt.<br />

Die Hoffnung, dass durch Steuersenkungen<br />

und staatliche Ausgabenkürzungen<br />

Wachstum und Beschäftigung zunehmen,<br />

hat sich nicht erfüllt. Im Gegenteil: Die<br />

Finanzbasis der öffentlichen Haushalte in<br />

Deutschland erodiert zunehmend, die Verschuldung<br />

wächst bis zur drohenden<br />

Handlungsunfähigkeit, überall fehlt das<br />

nötige Geld für Bildung, Infrastruktur,<br />

ökologische Modernisierung und zur Finanzierung<br />

des Sozialstaats. Die Ungerechtigkeit<br />

in der Verteilung hat deutlich<br />

zugenommen: Die unteren und mittleren<br />

Einkommen sind zu stark belastet; die Reichen<br />

werden geschont. Mit anderen Worten:<br />

Die Zukunftsfähigkeit Deutschlands<br />

ist gefährdet!<br />

Während der Staat in den letzten Jahren<br />

immer ärmer geworden ist, hat sich das<br />

private Vermögen in Deutschland vervielfacht.<br />

Immerhin Einzug in den Entwurf<br />

des vierten Armuts- und Reichtumsberichts<br />

der Bundesregierung hat die Tatsache<br />

gefunden, dass das Nettovermögen des<br />

deutschen Staates zwischen Anfang 1992<br />

58 Umsteuern für Bildung und Gerechtigkeit Argumente 2/<strong>2013</strong>


Argumente_02_<strong>2013</strong>_Inhalt 13.08.13 11:39 Seite 59<br />

und Anfang 2012 um über 800 Milliarden<br />

Euro zurückgegangen ist. Gleichzeitig hat<br />

sich das Nettovermögen der privaten<br />

Haushalte von knapp 4,6 auf rund 10 Billionen<br />

Euro mehr als verdoppelt. Auch die<br />

internationale Finanzkrise hat diesen<br />

Trend nicht gestoppt, sondern eher verschärft.<br />

So kam es u. a. durch die staatlichen<br />

Rettungsmaßnahmen zu einer Verschiebung<br />

privater Forderungen und<br />

Verbindlichkeiten in staatliche Bilanzen,<br />

wodurch sich das private Nettovermögen<br />

zeitgleich zum Anstieg der Staatsverschuldung<br />

allein zwischen 2007 und 2012 um<br />

1400 Milliarden Euro erhöht hat.<br />

Angesichts von Steuereinnahmen von<br />

insgesamt über 600 Milliarden Euro in<br />

diesem Jahr scheinen die Befürworter von<br />

Steuersenkungen wieder an Zuspruch zu<br />

gewinnen, als hätte es die internationale<br />

Finanzkrise und die damit einhergehenden<br />

milliardenschweren Konjunktur- und Bankenrettungspakete<br />

nicht gegeben. Auch in<br />

der medialen Berichterstattung hat man<br />

den Anstieg der Steuereinnahmen euphorisch<br />

zur Kenntnis genommen.<br />

Mit Superlativen wie Rekordsteuereinnahmen<br />

wird hierbei der Eindruck erweckt,<br />

der Staat würde Bürgerinnen und<br />

Bürger inzwischen über Gebühr belasten.<br />

Lassen wir uns nicht täuschen! So erfreulich<br />

das gestiegene Aufkommen auch sein<br />

mag. Dieses Bild ist falsch. Denn erstens<br />

liegt das Steueraufkommen tatsächlich<br />

noch ca. 40 Milliarden Euro unter dem vor<br />

der Krise 2008/2009 für das Jahr 2012 veranschlagten<br />

Wert. Ohne die Krise wären<br />

die Steuereinnahmen deutlich höher ausgefallen.<br />

Zweitens deuten die Schätzungen<br />

für 2014 bereits an, dass sich die Aufkommensgewinne<br />

nicht wiederholen. Schließlich<br />

sind Superlative wie Rekordsteuereinnahmen<br />

in der Regel wenig aussagekräftig.<br />

Das Institut für Makroökonomie und<br />

Konjunkturforschung (IMK) weist in seiner<br />

Steuerschätzung 2012 – 2016 richtigerweise<br />

darauf hin, dass die bundesrepublikanische<br />

Steuergeschichte allein in 52<br />

von 61 Jahren Rekordeinnahmen verzeichnen<br />

konnte, was in einer nominal wachsenden<br />

Wirtschaft durchaus folgerichtig ist.<br />

Tatsächlich dürfte die gesamtwirtschaftliche<br />

Steuerquote <strong>2013</strong> nach den aktuellen<br />

Konjunkturprognosen bei gut 23 Prozent<br />

des Bruttoinlandsprodukts liegen. Das ist<br />

nicht mehr als in der Vergangenheit und<br />

im internationalen Vergleich eher niedrig.<br />

Dem internationalen Steuerwettbewerb<br />

folgend sind unter anderem die Steuersätze<br />

in Deutschland gesunken. Zahlreiche<br />

Steuerreformen zugunsten von<br />

Unternehmen, Vermögensmillionären und<br />

Beziehern hoher Einkommen haben dabei<br />

in der Folge nicht etwa zu mehr Steuergerechtigkeit<br />

und einem Anstieg auskömmlicher<br />

Arbeitsverhältnisse geführt, sondern<br />

stattdessen kumulierte Steuerausfälle in<br />

Höhe von mehreren hundert Milliarden<br />

Euro verursacht. Ohne die Steuersenkungen<br />

hätten Bund, Länder und Kommunen<br />

wesentlich mehr Geld in ihren Kassen,<br />

müssten deutlich weniger Kredite aufnehmen<br />

und hätten damit im Ergebnis eine<br />

niedrigere Zinslast zu tragen.<br />

Dies hat nicht nur zu einem ganz erheblichen<br />

Modernisierungs- und Sanierungsbedarf<br />

geführt, der allein im kommunalen<br />

Bereich auf rund 700 Milliarden<br />

Euro bis zum Jahr 2020 beziffert wird, sondern<br />

ebenfalls zu einem ungesunden Privatisierungsdruck,<br />

der weder zu einer merklichen<br />

Verbesserung bei der öffentlichen<br />

59


Argumente_02_<strong>2013</strong>_Inhalt 13.08.13 11:39 Seite 60<br />

Daseinsvorsorge noch zu einer Lösung der<br />

strukturellen Unterfinanzierung der öffentlichen<br />

Haushalte geführt hat. Im Gegenteil:<br />

Die Verschuldung der Kommunen<br />

hat sich in den Jahren nach der Finanzkrise<br />

noch einmal deutlich verschärft, und<br />

seitdem Jahr 2000 sogar versechsfacht.<br />

Während die Kreditmarktschulden häufig<br />

unverändert blieben, stieg der Umfang der<br />

Kassenkredite der Gemeinden und Gemeindeverbände<br />

seit 2002 von 10,7 Milliarden<br />

Euro kontinuierlich auf über 44 Milliarden<br />

Euro. Kassenkredite, die eigentlich<br />

nur der kurzfristigen Überbrückung von<br />

Liquiditätsengpässen dienen sollen, sind<br />

damit faktisch längst zu einem Instrument<br />

kommunalen Schuldenmanagements geworden.<br />

Nimmt man diese Entwicklungen auf<br />

der Einnahmen- und Ausgabenseite ernst,<br />

liegt der Schluss nahe, dass nicht die Ausgaben<br />

zu hoch, sondern die Einnahmebasis<br />

für die als notwendig erachteten öffentlichen<br />

Aufgaben zu niedrig sind. Bis 2016<br />

sieht der Bundeshaushalt keine Nettokreditaufnahme<br />

mehr vor. Entsprechend wird<br />

man die Frage beantworten müssen, ob<br />

und wie lange es noch möglich ist, auf<br />

wichtige staatliche Einnahmen zu verzichten,<br />

ohne in Zukunft gegen die Vorgaben<br />

der grundgesetzlichen Schuldenbremse zu<br />

verstoßen.<br />

II. Für eine gerechte Steuerpolitik<br />

Steuer- und Finanzpolitik hat eine dienende<br />

Funktion für die Erfüllung der zentralen<br />

Aufgaben unseres Gemeinwesens.<br />

Sie ist weder Selbstzweck noch darf sie<br />

starken Gruppen und Eliten der Gesellschaft<br />

außerordentliche Vorteile verschaffen.<br />

Die Hoffnung, durch Steuersenkungen<br />

und staatliche Ausgabenkürzung mehr<br />

Wachstum und Beschäftigung zu generieren,<br />

hat sich nicht erfüllt. Die Wahrheit ist:<br />

Chancen zur Finanzierung der notwendigen<br />

Zukunftsinvestitionen in Bildung, Infrastruktur,<br />

ökologische Modernisierung<br />

und zur Finanzierung des Sozialstaats wurden<br />

vergeben.<br />

Nach Jahrzehnten einseitig marktorientierter<br />

Politik geht es in den nächsten<br />

Jahren um die Stärkung von Bildung, des<br />

Gemeinwesens, der Infrastrukturen und<br />

sozialstaatlichen Aufgaben. Die zentrale<br />

Aufgabe zukunftsgerichteter deutscher Politik<br />

liegt daher in der Wiederherstellung<br />

der finanziellen Stabilität durch Entschuldung<br />

sowie in einer nachhaltigen wirtschaftlichen<br />

und ökologischen Modernisierung<br />

auf Grundlage einer gerechten<br />

Gesellschaft. Die Stärkung der Handlungsfähigkeit<br />

von Staat und Kommunen<br />

dient damit vor allem auch den Menschen,<br />

die durch geringes Einkommen und eingeschränkte<br />

Teilhabechancen in Arbeit und<br />

Bildung besonders auf staatliche Hilfen<br />

angewiesen sind: Denn nur Reiche können<br />

sich einen armen Staat leisten. Hier setzt<br />

unser Konzept an.<br />

1. Reform der Einkommensteuer<br />

Wir müssen die Fehlentwicklung bei<br />

der personellen Einkommenverteilung<br />

aufhalten. Denn nicht nur bei den Vermögen,<br />

sondern auch bei den Einkommen hat<br />

die Spreizung im internationalen Vergleich<br />

stark zugenommen, da einerseits die Gehälter<br />

der Gutverdiener überdurchschnittlich<br />

gestiegen sind und andererseits die<br />

Niedrigverdiener von der ohnehin nicht<br />

besonders starken allgemeinen Lohnentwicklung<br />

abgehängt wurden. Die Mittel-<br />

60<br />

Umsteuern für Bildung und Gerechtigkeit Argumente 2/<strong>2013</strong>


Argumente_02_<strong>2013</strong>_Inhalt 13.08.13 11:39 Seite 61<br />

schicht ist geschrumpft. Dabei haben sich<br />

nicht nur die Markteinkommen deutlich<br />

auseinanderentwickelt, sondern auch die<br />

verfügbaren Einkommen nach Steuern<br />

und Sozialtransfers. Um diesem Trend entgegenzuwirken,<br />

schlagen wir eine moderate<br />

Erhöhung des Spitzensteuersatzes von<br />

42 Prozent auf 49 Prozent für zu versteuernde<br />

Einkommen ab 100.000 Euro bzw.<br />

200.000 Euro bei Eheleuten vor. Gleichzeitig<br />

wollen wir das Ehegattensplitting für<br />

zukünftige Ehen durch eine Individualbesteuerung<br />

mit Unterhaltsabzug umgestalten<br />

und so den geänderten Rollenbildern<br />

in unserem Land Rechnung tragen. Kapitalerträge<br />

sollen über eine erhöhte Abgeltungsteuer<br />

stärker herangezogen werden.<br />

2. Rückführung der Abgeltungssteuer<br />

in die Einkommenbesteuerung<br />

Unser Ziel ist die synthetische Besteuerung<br />

von Kapital- und Erwerbseinkommen.<br />

Es ist nicht länger hinnehmbar, dass<br />

Einkünfte, die ohne Leistung erzielt werden,<br />

teils deutlich geringer besteuert werden,<br />

als Arbeit, die mit dem Kopf oder den<br />

Händen geleistet wird. Deshalb muss die<br />

bestehende Abgeltungssteuer in die Einkommenbesteuerung<br />

rückgeführt werden,<br />

damit Dividenden, Erlöse aus Wertpapiergeschäften<br />

und Zinseinkünfte gegenüber<br />

Arbeitseinkommen nicht länger steuerlich<br />

privilegiert werden. Um eine Privilegierung<br />

hoher und höchster Einkommen auszugleichen,<br />

reicht eine Anhebung des Abgeltungssteuersatzes<br />

von 25 auf 30 Prozent<br />

nicht aus.<br />

Dividenden, Zinseinkünfte und Erlöse<br />

aus Wertpapiergeschäften müssen künftig<br />

wieder dem individuellen Einkommensteuersatz<br />

unterworfen werden. Die Übergangszeit<br />

mit der Möglichkeit, Altverluste<br />

bis zum Jahr <strong>2013</strong> vorzutragen, ist abzuschaffen.<br />

Dabei soll im Rahmen der rechtlichen<br />

Möglichkeiten die Regelung erhalten<br />

bleiben, dass im Zusammenhang mit<br />

dem Kapitalvermögen entstehende besondere<br />

Aufwendungen weiterhin pauschal<br />

abgegolten werden. Seit der Einführung<br />

der Abgeltungssteuer ist ihr Aufkommen<br />

um fast 5 Milliarden Euro zurückgegangen.<br />

Selbst unter Einbeziehung gegenläufiger<br />

Faktoren, wie dem derzeit niedrigeren<br />

Zinsniveau und teils abweichender Berechnungsgrundlagen,<br />

kann so mit Mehreinnahmen<br />

von deutlich über 1 Milliarde<br />

Euro gerechnet werden. Damit leisten wir<br />

einen wichtigen Beitrag zur Steuergerechtigkeit<br />

in Deutschland und schaffen zusätzliches<br />

Aufkommen, das für die Finanzierung<br />

einer solidarischen<br />

Bürgerversicherung im Gesundheitswesen<br />

verwendet werden könnte.<br />

3. Große Vermögen heranziehen –<br />

Reform der Erbschaftssteuer, Wiedereinführung<br />

der Vermögensteuer<br />

Noch immer wird der Vermögensbestand<br />

in Deutschland im weltweiten Vergleich<br />

weit unterdurchschnittlich besteuert.<br />

Dies zeigt sich nicht nur bei der<br />

Vermögensteuer. Bei der Erbschaftssteuer<br />

ergibt sich ein ähnliches Bild. Gegenwärtig<br />

werden in Deutschland zwar jedes Jahr bis<br />

zu 200 Milliarden Euro vererbt. Dennoch<br />

liegen die Einnahmen aus der Erbschaftssteuer<br />

gerade einmal bei rund vier Milliarden<br />

Euro. Das ist im Vergleich mit Nachbarländern<br />

wie Frankreich nicht nur<br />

be sonders wenig, sondern mit Blick auf andere<br />

Steuern auch besonders ungerecht.<br />

Daher werden wir uns nicht nur für einen<br />

Erhalt, sondern vor allem auch für eine<br />

61


Argumente_02_<strong>2013</strong>_Inhalt 13.08.13 11:39 Seite 62<br />

verfassungsfeste Reform der Erbschaftsund<br />

Schenkungssteuer einsetzen. Kleinere<br />

und mittlere Erbschaften und Schenkungen<br />

im Familienkreis müssen auch künftig<br />

steuerfrei bleiben, hohe Erbschaften sind<br />

endlich angemessen zu besteuern. Hierfür<br />

sind zunächst die von der schwarz-gelben<br />

Koalition eingeführten Begünstigungen<br />

zugunsten von reichen Erben zurückzunehmen.<br />

Gleichzeitig sind Vergünstigungen<br />

bei der Erbschaftssteuer viel stärker an<br />

den dauerhaften Erhalt von Arbeitsplätzen<br />

zu koppeln. Eingetragene Lebenspartner<br />

sollen hingegen Ehegatten bei der Erbschafts-<br />

und Schenkungssteuer gleichgestellt<br />

werden.<br />

Die Vermögensteuer wird in Deutschland<br />

seit dem Jahr 1997 nicht mehr erhoben.<br />

Mit einem Steuersatz von 1 Prozent<br />

für natürliche Personen (0,5 Prozent für<br />

Betriebsvermögen und 0,6 Prozent für<br />

Körperschaften) bei Freibeträgen von pro<br />

Person in Höhe von 120.000 DM, konnte<br />

die öffentliche Hand jährlich umgerechnet<br />

ca. 4,6 Milliarden Euro einnehmen. Das<br />

Bundesverfassungsgericht erklärte im Jahr<br />

1995 das geltende Recht für verfassungswidrig,<br />

bei dem Immobilienvermögen besser<br />

behandelt wurde als anderes Vermögen.<br />

Die derzeit regierenden Parteien Union<br />

und FDP verweigern eine verfassungskonforme<br />

Neuregelung der Vermögensteuer.<br />

Für uns Sozialdemokraten ist klar, dass<br />

die Vermögensteuer, die vollständig den<br />

Ländern zukommt, wieder eingeführt werden<br />

muss. Diese wollen wir dabei so gestalten,<br />

dass Personengesellschaften und Unternehmen<br />

nicht in ihrer Substanz belastet<br />

werden. Eine Arbeitsgruppe, die sich derzeit<br />

mit der Ausgestaltung befasst, geht davon<br />

aus, dass sich selbst bei großzügigen<br />

Freistellungen beim persönlichen und familiären<br />

Gebrauchsvermögen und bei einem<br />

niedrigen Steuersatz von 1 Prozent,<br />

ein bundesweites Aufkommen von ca. 10<br />

Milliarden Euro erzielen lässt. Dies wäre<br />

ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung.<br />

III. Bildungsrepublik Deutschland<br />

Dass die Forderung nach einer fairen<br />

Lastenverteilung nicht immer auf Gegenliebe<br />

stößt, ist uns Sozialdemokraten dabei<br />

ebenso bewusst, wie die in weiten Teilen<br />

der Gesellschaft akzeptierte Erkenntnis,<br />

dass man die Sicherung des sozialen Zusammenhalts<br />

und die Wiederherstellung<br />

der Leistungsfähigkeit von Kommunen<br />

und Ländern nicht ohne zusätzliche Anstrengungen<br />

wird erreichen können.<br />

Dies gilt insbesondere im Bildungsbereich.<br />

Denn um es klar zu sagen: Auch<br />

wenn die derzeitige Lage vieler Jugendlicher<br />

in unseren südeuropäischen Nachbarländern<br />

an Dramatik wohl nicht zu überbieten<br />

ist, kennen wir auch in Deutschland<br />

das Problem der verlorenen Generation:<br />

Noch immer verfügen 7,5 Millionen Menschen<br />

in Deutschland nicht über notwendige<br />

Lese- und Schreibkompetenzen.<br />

Rund 2,2 Millionen junge Erwachsene unter<br />

35 haben keinen Berufsabschluss und<br />

bleiben überwiegend in gering bezahlten<br />

Hilfstätigkeiten.<br />

Das ist nicht nur aus Gerechtigkeitsgründen,<br />

sondern auch mit Blick auf unser<br />

volkswirtschaftliches Gesamtinteresse ein<br />

Skandal. Denn gerade eine gute Berufsausbildung<br />

und stetige Qualifizierung und<br />

Weiterbildung der Arbeitnehmerinnen<br />

und Arbeitnehmer sind die Grundlage für<br />

62 Umsteuern für Bildung und Gerechtigkeit Argumente 2/<strong>2013</strong>


Argumente_02_<strong>2013</strong>_Inhalt 13.08.13 11:39 Seite 63<br />

wirtschaftlichen Erfolg und die Sicherung<br />

der Fachkräftebasis in der Zukunft. Schon<br />

heute leiden neben vielen jungen Menschen<br />

viele Unternehmen unter der Unterfinanzierung<br />

des Bildungssystems: Sie<br />

müssen ihre Auszubildenden zusätzlich<br />

schulen, weil diese nicht genügend auf den<br />

Arbeitsalltag vorbereitet sind. Und sie suchen<br />

händeringend nach qualifizierten<br />

Fachkräften, während gleichzeitig im Jahr<br />

2012 in Deutschland 6,5 % aller Schüler<br />

ihre Schulzeit ohne einen Abschluss beendeten.<br />

Studien bezifferten die Kosten für<br />

den Fachkräftemangel allein im Jahr 2011<br />

auf 30 Mrd. Euro.<br />

Um gerade jungen Menschen einen<br />

reibungslosen Start in ihren Lebensweg zu<br />

ermöglichen, müssen wir die hohe Abhängigkeit<br />

des Bildungserfolgs von der sozialen<br />

Herkunft sukzessive verringern. Da<br />

insbesondere finanzielle Hürden soziale<br />

Benachteiligungen verstärken und Menschen<br />

von Bildung fernhalten, kämpfen wir<br />

für die gebührenfreie Bildung von der Kita<br />

bis zur Hochschule.<br />

Darüber hinaus wollen wir ab 2014<br />

schrittweise aufbauend bis zu jährlich 20<br />

Mrd. Euro mehr für Erzieherinnen und<br />

Erzieher, für Ganztagsschulden, zur Qualitätsverbesserung<br />

von Lehre und Studium,<br />

für die Ausweitung des Hochschulpakts<br />

und für die Weiterentwicklung eines bedarfsgerechten<br />

BAföG und Schüler-<br />

BAföG investieren. Davon soll der Bund<br />

10 Mrd. Euro und die Länder 10 Mrd.<br />

Euro bereitstellen (die Länder durch Stärkung<br />

ihrer finanziellen Handlungsfähigkeit).<br />

Ziel muss es sein, die staatlichen Bildungsausgaben<br />

mindestens auf<br />

OECD-Durchschnitt zu heben. Dem Ziel<br />

von sieben Prozent des Bruttoinlandsprodukts<br />

für Bildung kommen wir mit 20<br />

Mrd. Euro mehr pro Jahr einen großen<br />

Schritt näher und schaffen damit die<br />

Grundlage für einen wirklichen Bildungsaufbruch<br />

in Deutschland.<br />

Die protestierenden Jugendlichen vor<br />

dem Kanzleramt hatten Föne mitgebracht.<br />

Motto: „Europa braucht mehr als Merkels<br />

heiße Luft.“<br />

Zeit für frischen Wind für Bildung und<br />

Gerechtigkeit! l<br />

Um dies zu erreichen, werden wir das<br />

bildungsfeindliche Betreuungsgeld abschaffen.<br />

Die bis zu 2 Mrd. Euro, die dafür<br />

mittelfristig jährlich anfallen würden, werden<br />

wir komplett in den Ausbau von Kitas<br />

und Tagespflege investieren. Der Rechtsanspruch<br />

auf einen Kitaplatz muss umfassend<br />

eingelöst werden, damit nicht länger<br />

der Zufall des Wohnorts oder die Höhe der<br />

Kita-Gebühren über Bildungschancen der<br />

Kinder entscheidet.<br />

63


Argumente_02_<strong>2013</strong>_Inhalt 13.08.13 11:39 Seite 64<br />

WOHNEN MUSS<br />

BEZAHLBAR BLEIBEN<br />

von Felix von Grünberg, Vorsitzender des Mieterbundes und Landtagsabgeordneter<br />

der SPD in NRW<br />

In letzter Zeit steht die Diskussion<br />

über wohnungspolitische Probleme,<br />

Wohnungsnöte und drastisch steigende<br />

Wohnkosten wieder stärker im<br />

Fokus der Öffentlichkeit und der<br />

Parteien. Aufgrund der aktuellen Entwicklung<br />

auf den Wohnungsmärkten<br />

in einigen Großstädten erwartet der<br />

Deutsche Mieterbund, dass die poli -<br />

tischen Versprechen auch zeitnah<br />

umgesetzt werden.<br />

Zunächst einmal ist festzustellen, dass<br />

der Wohnungsmarkt in Deutschland vielerorts<br />

sehr uneinheitlich ist. Neben einigen<br />

Schrumpfungsregionen ist in einigen<br />

Großstädten, Ballungsgebieten oder Universitätsstädten<br />

immer wieder von einer<br />

sich weiter ausbreitenden Wohnungsnot<br />

die Rede. Insgesamt fehlen heute schon<br />

mehr als 250.000 Mietwohnungen. Parallel<br />

dazu erhöht sich das Wohnungsangebot im<br />

Verhältnis jedoch nicht angemessen. Gerade<br />

auf den angespannten Wohnungsmärkten<br />

geht preiswerter Wohnraum vielfach<br />

verloren. Die Wohnungsbaufertigstellungen<br />

bewegen sich in den letzten vier Jahren<br />

auf einem historischen Tiefstand. Gründe<br />

hierfür sind hohe Baulandpreise, gestiegene<br />

Baukosten, die schlechtere steuerliche<br />

Abschreibung und die Begrenzung der<br />

Fördermöglichkeiten.<br />

Aufgrund der gestiegenen Nachfrage in<br />

bestimmten Regionen sind bei Neuvertragsmieten<br />

Mietsprünge von bis zu 40 %<br />

keine Seltenheit mehr. Dies führt zunehmend<br />

dazu, dass sich junge Familien,<br />

Haushalte mit geringem Einkommen, aber<br />

auch Normalverdiener das Wohnen in<br />

manchen Städten nicht mehr leisten können.<br />

Aber nicht nur die Nettomiete steigt.<br />

Auch die steigenden Kosten für Energie<br />

machen sich immer mehr bemerkbar. So<br />

haben die Wohnkosten für die Mieterinnen<br />

und Mieter bereits heute Rekordniveau<br />

erreicht, denn auch die Nebenkosten<br />

sind in den letzten Jahren stark angestiegen.<br />

Der Anteil der Ausgaben für Miete<br />

und Energie an den Gesamtausgaben eines<br />

Haushaltes liegt durchschnittlich bei<br />

34,1 %; bei Haushalten mit einem Einkommen<br />

bis 1.300 Euro bei rund 45 %.<br />

Nach EU-Definition sind die Haushalte,<br />

die mehr als 40 % des verfügbaren Haushaltseinkommens<br />

für ihre Miete aufbringen<br />

müssen, als finanziell überlastet anzusehen.<br />

Das trifft in Nordrhein-Westfalen<br />

64 Wohnen muss bezahlbar bleiben Argumente 2/<strong>2013</strong>


Argumente_02_<strong>2013</strong>_Inhalt 13.08.13 11:39 Seite 65<br />

auf 16,8 % der Haushalte zu, in den Kernstädten<br />

sind es 20 %.<br />

Außerdem sind die hohen Neuvertragsmieten<br />

die Vergleichsmieten von<br />

Morgen, weil bei der Berechnung der ortsüblichen<br />

Vergleichsmiete nur die in den<br />

letzten vier Jahren erhöhten Bestandsmieten<br />

und die Neuvertragsmieten berücksichtigt<br />

werden. Dadurch drohen auch<br />

hohe Preissteigerungen in bestehenden<br />

Mietverhältnissen.<br />

Der Deutsche Mieterbund fordert deshalb<br />

die Einführung einer Kappungsgrenze<br />

bei der Wiedervermietung. Diese sollte<br />

bei maximal 5 % über der ortsüblichen<br />

Vergleichsmiete liegen.<br />

Auch für bestehende Mietverträge fordern<br />

wir eine Kappungsgrenze, damit<br />

Wohnen für die Mieterinnen und Mieter<br />

nicht unbezahlbar wird. Durch das 1. Mietrechtsänderungsgesetz<br />

wurden die Bundesländer<br />

ermächtigt, Gebiete auszuweisen,<br />

in denen auf Grund der schwierigen<br />

Wohnungssituation die Mieterhöhungsmöglichkeit<br />

auf 15 % (statt 20 %) in drei<br />

Jahren reduziert wird. Der Deutsche Mieterbund<br />

fordert eine bundesweit einheitliche<br />

Begrenzung der Mietpreise auf 15 %<br />

Prozent in vier Jahren. Die in diesem Zusammenhang<br />

von der Landesregierung untersuchte<br />

Gebietskulisse kann im Übrigen<br />

auch herangezogen werden für den Erlass<br />

einer Neuregelung der Zweckentfremdungsverordnung<br />

(Leerstehenlassen von<br />

Wohnraum und Umwandlung in Büroraum),<br />

durch die der Wohnungsmangel<br />

und damit die Verteuerung der Wohnkosten<br />

eingedämmt werden kann. Gleiches<br />

gilt für eine Neuregelung zur Kündigungssperrfristverordnung<br />

(längere Kündigungsschutzzeiten<br />

bei Umwandlung von Mietin<br />

Eigentumswohnungen).<br />

Darüber hinaus setzen wir uns ein für<br />

die Abschaffung von § 559 BGB. Nach<br />

dieser Vorschrift kann der Vermieter nach<br />

Durchführung von Modernisierungsmaßnahmen<br />

die jährliche Miete um 11 % der<br />

für die Wohnung aufgewendeten Kosten<br />

erhöhen und das auf Dauer. Diese Quote<br />

ist festgelegt worden als die Zinsen bei 8 %<br />

lagen; jetzt liegen sie nur noch bei 3 %. Der<br />

Vermieter kann damit einen immer höheren<br />

Betrag zur Tilgung seines Darlehens<br />

verwenden, während der Mieter einseitig<br />

benachteiligt wird. Vor diesem Hintergrund<br />

halten wir auch die Forderung der<br />

SPD, die Modernisierungskosten in Höhe<br />

von 9 % auf den Mieter umzulegen, für<br />

nicht ausreichend.<br />

Selbstverständlich sind die energetische<br />

Sanierung von Wohngebäuden und<br />

der damit verbundene Klimaschutz im Interesse<br />

des Deutschen Mieterbundes. Dennoch<br />

kommt es für die Akzeptanz der<br />

Energiewende bei den Mieterinnen und<br />

Mietern entscheidend auf die sozialgerechte<br />

Verteilung der Kosten und Belastungen<br />

an. Die Anwendung der Vorschrift des §<br />

559 BGB führt zu Mietpreissprüngen, die<br />

sich durch eine Heizkostenersparnis, wenn<br />

überhaupt, erst nach Jahrzehnten bemerkbar<br />

machen. Die Anknüpfung an die reinen<br />

Modernisierungskosten, ohne den Erfolg<br />

der Modernisierungsarbeiten zu<br />

berücksichtigen, halten wir außerdem für<br />

falsch. Zudem bleibt für Mieterhöhungen<br />

nach einer Modernisierung den Vermietern<br />

im frei finanzierten Wohnungsbau<br />

immer noch die Mieterhöhung nach § 558<br />

BGB bis zur ortsüblichen Vergleichsmiete.<br />

Allerdings bilden bislang nicht alle Miet-<br />

65


Argumente_02_<strong>2013</strong>_Inhalt 13.08.13 11:39 Seite 66<br />

spiegel den energetischen Zustand hinreichend<br />

ab. Für einen Übergangszeitraum,<br />

bis sich Energieeffizienz und energetische<br />

Qualität der Wohnung bei der ortsüblichen<br />

Vergleichsmiete widerspiegeln, soll<br />

der Vermieter deshalb einen Zuschlag auf<br />

die bisherige Miete verlangen können.<br />

Im Zusammenhang mit dem 1. Mietrechtsänderungsgesetz<br />

ebenfalls umgesetzt<br />

wurde der Minderungsausschluss des Mieters<br />

bei energetischer Modernisierung.<br />

Diese Vorschrift ist nicht mit dem vom<br />

Gesetzgeber vorgesehen Prinzip von Leistung<br />

und Gegenleistung zu vereinbaren.<br />

Außerdem ist in der Praxis die Abgrenzung<br />

der Modernisierung zur Instandsetzung<br />

kaum nachzuvollziehen. Wir fordern<br />

deshalb die Abschaffung dieser Vorschrift.<br />

Die in einigen Regionen bestehende<br />

Wohnungsnot erzeugt vor allem bei sozial<br />

Schwachen einen enormen Druck. Gerade<br />

der Rückgang an öffentlich geförderten<br />

Wohnungen führt noch zu einer Verschärfung<br />

dieses Problems. So hat sich der Bestand<br />

dieser Wohnungen von 1,5 Mio. im<br />

Jahr 1992 auf heute 650.000 mehr als halbiert.<br />

Durch das Auslaufen der Bindungen<br />

und die zunehmende vorzeitige Kreditrückzahlung<br />

sinkt der Bestand jährlich um<br />

durchschnittlich 46.000 Mietwohnungen.<br />

Aus der aktuellen Studie des Pestel-Institutes<br />

geht hervor, dass in Nordrhein-Westfalen<br />

mehr als 1,17 Mio. Sozialwohnungen<br />

fehlen. Wenn pro Jahr mit den bisherigen<br />

Mitteln nur 4.200 Wohnungen gebaut<br />

werden können, zeigt dies welche Dimension<br />

diese Entwicklung langfristig haben<br />

wird. Wird dieser Prozess nicht gestoppt,<br />

dann wird es in einigen Jahren aufgrund<br />

des Auslaufens der Preis- und/oder Belegungsbindungen<br />

keine Sozialwohnungen<br />

mehr geben. Die Ursache dafür liegt vor allem<br />

darin, dass es an Unternehmen fehlt,<br />

die in Sozialwohnungen investieren, weil<br />

die hier erzielbaren Renditen im Vergleich<br />

zu denen des freien Wohnungsbaus eher<br />

gering sind.<br />

Dies hat auch Auswirkungen für die<br />

Kommunen. Sie müssen ihren Transferleistungsempfängern<br />

die Miete zahlen, zu der<br />

diese auch tatsächlich eine Wohnung finden.<br />

Können die Kommunen nicht auf<br />

preiswerte, öffentlich geförderte Wohnungen<br />

zurückgreifen, steigen daher bei engen<br />

Wohnungsmärkten die Transferleistungskosten<br />

enorm an. Die Kommunen werden<br />

daher auf den Wohnkosten einer immer<br />

größer werdenden Zahl von Transferleistungsempfängern<br />

sitzen bleiben. Dies ist<br />

angesichts der katastrophalen Haushaltslage<br />

einiger Städte und Gemeinden nicht<br />

akzeptabel. Andererseits sind die im Jahr<br />

2012 bereitgestellten Wohnungsbaufördermittel<br />

im Umfang von 250 Mio. Euro<br />

nicht verbaut worden. Dies liegt vor allem<br />

daran, dass aufgrund der niedrigen Zinsen<br />

Investoren lieber freifinanziert als öffentlich<br />

gefördert bauen. Für 15-jährige Darlehen<br />

(bisherige Dauer der Wohnungsmarktdarlehen<br />

im öffentlich geförderten<br />

Wohnungsbau) sind Bankzinsen schon für<br />

2,5 bis 3 % Zinsen zu erhalten. Für den öffentlich<br />

geförderten Wohnungsbau muss<br />

man bisher 0,5 % Zinsen und 0,5 % Verwaltungskostenbeitrag<br />

zahlen. Für eine<br />

Zinsdifferenz von 1,5 bis 2 % erzielte der<br />

Bauherr aber oft das Doppelte an Miete<br />

anstatt der bisherigen Bewilligungsmiete<br />

von 5,25 Euro in Düsseldorf, Bonn und<br />

Köln für öffentlich geförderte Wohnungen.<br />

Für eine frei finanzierte Wohnung<br />

wäre auf diesen Märkten eine Miete zwischen<br />

11 und 13 Euro durchaus erzielbar.<br />

66 Wohnen muss bezahlbar bleiben Argumente 2/<strong>2013</strong>


Argumente_02_<strong>2013</strong>_Inhalt 13.08.13 11:39 Seite 67<br />

Diese hohen Mieterlöse führen dazu, dass<br />

die Bauherren auch höhere Grundstückspreise<br />

akzeptieren mit der Folge, dass diese<br />

so stark steigen, dass der öffentlich geförderte<br />

Wohnungsbau auf diesen Grundstücken<br />

immer unvorteilhafter wird.<br />

Wir fordern deshalb, dass die Kommunen<br />

eigene Instrumente zur Marktregulierung<br />

einsetzen. Hierzu gehört auch die<br />

Stärkung der kommunalen Wohnungsbauunternehmen.<br />

Sie sollten die öffentlich geförderten<br />

Wohnungen bauen, für die das<br />

Land NRW immerhin 450 Mio. Euro an<br />

Fördergeldern zur Verfügung stellt. Leider<br />

mussten viele kommunale Unternehmen<br />

bisher ihre Gewinne an die Kommunen<br />

zum Haushaltsausgleich übertragen und<br />

hatten dadurch nicht genügend Eigenkapital<br />

zum Bau öffentlich geförderter Wohnungen.<br />

Der Deutsche Mieterbund sieht daher<br />

auch die Landesregierung in der Pflicht im<br />

Hinblick auf die Umstellung der bisherigen<br />

Förderrichtlinie. Statt 20 % Eigenkapital<br />

bei 15-jähriger Bindungsfrist sollte<br />

das Eigenkapital auf 10 % reduziert werden<br />

bei 30-jähriger Bindungsfrist. Darüber<br />

hinaus sollte die Förderung der Wohnungen<br />

pro Wohneinheit von 1.500 qm<br />

Wohnfläche wegen der gestiegenen Bauund<br />

Grund stückskosten ansteigen und bei<br />

2.300 qm liegen.<br />

Ein weiteres Problem sind die fehlenden<br />

und für öffentlich geförderte Wohnungen<br />

viel zu teuren Grundstücke. Auch hier<br />

könnten die Kommunen ihre Gestaltungsmöglichkeiten<br />

nutzen. So sollte bei der Erstellung<br />

von Bebauungsplänen immer auch<br />

auf Verdichtungsmöglichkeiten geachtet<br />

werden. Außerdem kann mit einer „sozial<br />

gerechten Bodennutzung“, wie sie beispielsweise<br />

in München praktiziert wird,<br />

vorgeschrieben werden, dass 30 % der zusätzlichen<br />

Bauflächen für öffentlich geförderten<br />

Wohnungsbau ausgewiesen werden.<br />

Will der Bauherr diese Flächen nicht<br />

selbst bebauen, kann er sie zu einem angemessenen<br />

Preis zum Beispiel an ein kommunales<br />

Wohnungsbauunternehmen veräußern.<br />

Die Vergabe städtischer<br />

Grundstücke für Neubaumaßnahmen darf<br />

darüber hinaus nicht immer nach dem<br />

Höchstgebot erfolgen. Das bedeutet, dass<br />

Grundstücke auch nach sozialen und<br />

stadtentwicklungspolitischen Kriterien<br />

vergeben werden müssen.<br />

Eine weitere Forderung des Deutschen<br />

Mieterbundes ist die Erhöhung des Wohngeldes.<br />

Mieterhöhungen und hohe Energiekosten<br />

haben die Wohnkostenbelastung<br />

vieler Mieterhaushalte auf Rekordniveau<br />

steigen lassen. Trotzdem ist die Zahl der<br />

Wohngeldempfänger in Deutschland im<br />

Jahr 2011 gesunken. Mitverantwortlich<br />

hierfür ist eine Änderung des Wohngeldgesetzes,<br />

das zum 1. Januar 2011 in Kraft<br />

getreten ist. Die Bundesregierung hat mit<br />

der Begründung, die Heizkosten seien gesunken,<br />

die sog. Heizkostenkomponente<br />

aus dem Wohngeldgesetz ersatzlos gestrichen.<br />

Diese Begründung ist aus heutiger<br />

Sicht nicht mehr tragbar. So liegen die<br />

Preise für Öl, Strom, Gas und Fernwärme<br />

über den Preisen von 2008 und 2009 und<br />

drastisch über den Preisen von 2010. Deshalb<br />

halten wir eine Erhöhung des Wohngeldes<br />

um 10 % für gerechtfertigt. Darüber<br />

hinaus fordern wir eine Aktualisierung der<br />

Einkommensgrenzen und der Höchstbeträge<br />

und die Einführung einer Energiekomponente.<br />

67


Argumente_02_<strong>2013</strong>_Inhalt 13.08.13 11:39 Seite 68<br />

Eine weitere Herausforderung ist der<br />

demographische Wandel. Der Anteil älterer<br />

Menschen nimmt immer mehr zu. Es<br />

ist davon auszugehen, dass die Zahl der<br />

über 65-Jährigen sich bis 2030 auf knapp<br />

30 % und bis 2060 auf rund ein Drittel der<br />

Bevölkerung erhöhen wird. Damit diese<br />

Menschen solange wie möglich selbstbestimmt<br />

in ihren eigenen vier Wänden wohnen<br />

bleiben können, setzen wir uns ein für<br />

den Ausbau und die Schaffung von barrierefreien<br />

bzw. barrierearmen Wohnungen.<br />

So gibt es aktuell etwa 550.000 altengerechte<br />

Wohnungen in Deutschland. Dem<br />

steht nach einer Untersuchung des Instituts<br />

für Bau-, Stadt- und Raumforschung<br />

für das Bundesbauministerium aber ein<br />

kurzfristiger Bedarf an altengerechten<br />

Wohnungen um das Vier- bis Fünffache<br />

gegenüber.<br />

Die Verwahrlosung von Wohnungen<br />

finanzmarktgetriebener Wohnungsunternehmen<br />

ist ebenfalls ein Problem, das seit<br />

den 1990er Jahren immer wieder auftritt.<br />

Insbesondere in weiten Teilen des Ruhrgebietes<br />

kaufen internationale Finanzinvestoren<br />

große Wohnungsbestände auf, um<br />

dadurch eine maximale Rendite zu erzielen.<br />

In diesem Zusammenhang setzt sich<br />

der Deutsche Mieterbund für eine erweiterte<br />

Wohnungsaufsicht ein, die an die Daseinsfürsorge<br />

des Wohnens anknüpft und<br />

damit über die Gefahrenabwehr hinausgeht.<br />

Zahlreiche Kommunen sind verschuldet.<br />

Freiwillige Aufgaben werden<br />

mangels finanzieller und personeller Ressourcen<br />

oft nicht mehr ausgeübt. Wir fordern<br />

deshalb die Wohnungsaufsicht den<br />

Kommunen als Pflichtaufgabe zur Erfüllung<br />

nach Weisung zu übertragen. Außerdem<br />

zahlen zahlreiche dieser Wohnungsunternehmen<br />

aufgrund steuerlicher Umgehungstatbestände<br />

keine Grunderwerbssteuer.<br />

Dies hat zur Folge, dass einige<br />

Wohnungsbestände immer wieder ihren<br />

Eigentümer wechseln. Wir fordern deshalb<br />

eine entsprechende Anpassung des Steuerrechts,<br />

damit auch diese Unternehmen in<br />

Zukunft bei der Grunderwerbssteuer zur<br />

Kasse gebeten werden. l<br />

68<br />

Wohnen muss bezahlbar bleiben Argumente 2/<strong>2013</strong>


Argumente_02_<strong>2013</strong>_Inhalt 13.08.13 11:39 Seite 69<br />

IT’S THE WOMEN’S<br />

VOTE, HONEY.<br />

von Nancy Haupt und Elisa Gutsche, Projektgruppe Junge Frauen<br />

im SPD-Parteivorstand<br />

Die Themen Gleichstellung und<br />

Geschlechtergerechtigkeit spielen im<br />

<strong>Bundestagswahl</strong>kampf <strong>2013</strong> bisher<br />

keine große Rolle. Unserer Meinung<br />

nach tut sich die SPD damit keinen<br />

Gefallen. Denn: Wir erleben gerade<br />

einen feministischen Frühling.<br />

Geschlechterpolitisch relevante<br />

Themen prägen die Medienlandschaft<br />

und mobilisieren wie selten zuvor.<br />

Juli <strong>2013</strong>. Bis zur <strong>Bundestagswahl</strong> sind<br />

es nur noch wenige Wochen. Die Zustimmungswerte<br />

der CDU erreichen ungeahnte<br />

Höhen, die der SPD stagnieren bei unter<br />

30 Prozent, neueste Umfragen zeichnen<br />

das düstere Bild von 22 Prozent.<br />

Das Horrorszenario vor unseren Augen:<br />

die Wiederwahl der schwarz-gelben<br />

Koalition und damit: vier weitere verschwendete<br />

Jahre mit einer Regierung, die<br />

einfach nicht mehr zur heutigen Zeit passt.<br />

Doch was ist dagegen zu tun? Wie<br />

können wir vier weitere Jahre politischer<br />

Untätigkeit verhindern? Wie kann es die<br />

SPD schaffen, als bestimmende Kraft in<br />

den Bundestag einzuziehen?<br />

Gender-Gap im Wahlergebnis<br />

Die Mehrheit der Deutschen ist weiblich:<br />

31,8 Millionen Frauen sind am<br />

22. September aufgerufen, ihr Kreuz zu<br />

machen. Möglichst viele sollen dies bei der<br />

SPD tun. Wir wollen einen Gender-Gap<br />

im Wahlergebnis, wir wollen mehr Frauen<br />

als Männer überzeugen. Denn: Die SPD<br />

war immer dann am stärksten, wenn Frauen<br />

der alten Tante ihre Stimme gaben.<br />

2009 hat die SPD die größte Niederlage<br />

ihrer Geschichte einstecken müssen,<br />

auch weil sie die Frauen, insbesondere die<br />

jungen, nicht überzeugen konnte. Sie verlor<br />

bei den Frauen 13,5 Prozent. Die größten<br />

Verluste hatten wir bei den jungen<br />

Wählerinnen: im Vergleich zu 2005 wählten<br />

21 Prozent weniger junge Frauen sozialdemokratisch.<br />

Fragen über Fragen<br />

Doch wie ist die Lage <strong>2013</strong>? Was hat<br />

sich seit 2009 getan? Wie werden Frauen<br />

angesprochen? Welche Themen bewegen<br />

Frauen heute? Können wir „Frauen“ überhaupt<br />

als homogene Gruppe sehen?<br />

69


Argumente_02_<strong>2013</strong>_Inhalt 13.08.13 11:39 Seite 70<br />

Zuerst die guten Nachrichten: Beim<br />

Thema Geschlechtergerechtigkeit ist die<br />

SPD am besten von allen im Bundestag<br />

vertretenen Parteien aufgestellt. Wir haben<br />

die Ideen und die Lösungen für die drängenden<br />

Probleme unserer Zeit. Wir haben<br />

mit dem Wahlprogramm zur <strong>Bundestagswahl</strong><br />

<strong>2013</strong> entscheidende Reformansätze<br />

vorgelegt. Ausgehend vom ersten Gleichstellungsbericht<br />

der Bundesregierung haben<br />

wir umfassende und konsistente Konzepte<br />

entwickelt, um in diesem Land das<br />

Thema Geschlechtergerechtigkeit auf den<br />

richtigen Weg zu bringen.<br />

Die schlechte Nachricht: Das wird im<br />

Wahlkampf bisher kaum thematisiert. Dabei<br />

liegen die entscheidenden Tools bereit.<br />

Die SPD hat sich in den vergangenen vier<br />

Jahren wie keine andere Partei auch intern<br />

mit dem Thema Gleichstellung und Chancengleichheit<br />

beschäftigt. Verschiedene Initiativen<br />

wurden ins Leben gerufen, um vor<br />

allem die weiblichen Mitglieder sichtbar zu<br />

machen, bzw. diese zu stärken. Nach der<br />

verlorenen <strong>Bundestagswahl</strong> 2009 setzte der<br />

SPD-Parteivorstand auf Initiative vieler<br />

engagierter junger Frauen die Projektgruppe<br />

junge Frauen wieder ein. Diese regte<br />

zum einen den Austausch innerhalb des<br />

Parteivorstanden an, zum anderen suchte<br />

sie den Kontakt in die Bundestagsfraktion,<br />

die Gewerkschaften, die Stiftungen und zu<br />

anderen gesellschaftlichen AkteurInnen.<br />

Hour ihres Lebens befinden, die Teilnahme<br />

an ehrenamtlicher Parteiarbeit zu ermöglichen.<br />

Beim jährlich in Berlin stattfindenden<br />

Barcamp Frauen kommen bis zu 250 Frauen<br />

und Männer zusammen, um einen Tag<br />

lang über alle möglichen Facetten von Geschlechtergerechtigkeit<br />

zu diskutieren.<br />

Hinzu kommt der „Rote Frauensalon“, der<br />

sich an engagierte und erfolgreiche Frauen<br />

aus Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur und<br />

Politik richtet und neue Schnittstellen zwischen<br />

SPD und Bürgerinnen schafft.<br />

Aktionsplan Gleichstellung<br />

Neben diesen neuen Kommunikationsformen<br />

hat die SPD natürlich auch ihre<br />

gleichstellungspolitischen Inhalte ausdifferenziert.<br />

Sie sollen ein schlüssiges Konzept<br />

für ein ganzes Frauenleben bilden, allerdings<br />

je nach Unterzielgruppe priorisiert<br />

werden. Die Inhalte dürfen sich nicht widersprechen,<br />

der alten Einsicht folgend,<br />

dass man Zielgruppen nicht addieren und<br />

demnach jeder erzählen kann, was sie hören<br />

will.<br />

Wir unterscheiden vier verschiedene<br />

Gruppen von Frauen 5 :<br />

Die SPD ist weiblicher<br />

Im Frühjahr dieses Jahres launchte das<br />

SPD-Fem.Net. Eine Vernetzungsseite<br />

speziell für weibliche Mitglieder, die die<br />

Möglichkeit geben soll, unattraktive und<br />

zeitintensive Ortsvereinsstrukturen zu ergänzen,<br />

um Frauen, die sich in der Rush-<br />

5 Erarbeitet durch die Arbeitseinheit „Zielgruppe<br />

Frauen“ des WBH.<br />

70 It’s the women’s vote, honey. Argumente 2/<strong>2013</strong>


Argumente_02_<strong>2013</strong>_Inhalt 13.08.13 11:39 Seite 71<br />

Junge Frauen<br />

Frauen in der<br />

Familienphase<br />

Berufstätige Frauen<br />

Ältere Frauen<br />

Ausbildungs -<br />

qualität<br />

Ausbildungs -<br />

garantie<br />

Mindest aus bil -<br />

dungs vergütung<br />

Selbstbestimmung<br />

Weiterentwicklung<br />

Elterngeld<br />

Kitas statt<br />

Betreuungsgeld<br />

Betreuungsqualität<br />

Reform des<br />

Kindergeldes<br />

Familienarbeitszeit<br />

Vereinbarkeit von<br />

Familie und Beruf<br />

und von Kind und<br />

Karriere<br />

Leitbild Partnerschaftlichkeit<br />

Erzieher/-innenberuf<br />

aufwerten<br />

Leitbild Partnerschaftlichkeit<br />

Leitbild der Frau<br />

als Gestalterin des<br />

eigenen Lebens<br />

Gleicher Lohn für<br />

gleiche und gleichwertige<br />

Arbeit<br />

Verbindliche<br />

Frauenquote<br />

Überwindung<br />

Ehegattensplitting<br />

Reform Minijobs<br />

Zeitsouveränität<br />

erhöhen (z. B.<br />

mehr verbindliche<br />

Zeiterfassung;<br />

flexible Arbeitszeitmodelle)<br />

Vereinbarkeit<br />

Beruf/Pflege<br />

Rückkehrrecht<br />

in Vollzeit nach<br />

befristeter Teilzeit<br />

Anerkennung<br />

Gemeinschaft<br />

Engagement/<br />

Aktives Alter<br />

Aufstieg ermög -<br />

lichen für Nachkommen;<br />

bessere<br />

Bildung<br />

Gesicherte Renten<br />

Gesundheit/<br />

Pflege<br />

Sicherheitsgefühl<br />

im privaten und<br />

öffentlichen Raum<br />

Genau das hat die SPD-Bundestagsfraktion<br />

mit dem Aktionsplan Gleichstellung<br />

geschafft. Die Bundestagsfraktion<br />

legt damit erstmals widerspruchsfreie Ideen<br />

vor, die ein existenzsicherndes und eigenständiges<br />

Leben für Frauen ermöglichen<br />

soll. Von einer Reform der Minijobs<br />

und des Ehegattensplittings, über den qualitativen<br />

und quantitativen Ausbau der<br />

Kinderbetreuung bis hin zu besseren Aufstiegschancen<br />

für Frauen und der Einführung<br />

eines Gesetzes zur Entgeltgleichheit,<br />

setzt der Aktionsplan überall da an, wo<br />

Frauen vor entscheidenden Weichenstellungen<br />

ihres Lebens stehen und bietet eine<br />

echte Alternative zur derzeitigen Politik<br />

von CDU/CSU und FDP.<br />

Girlsteam im Merkel-Camp<br />

Richten wir aber unseren Blick auf den<br />

aktuellen Wahlkampf. Denkt man an Merkel,<br />

kommt einem eines nicht in den Sinn:<br />

progressive Frauenpolitik. Aber man hat<br />

starke Frauen vor Augen. Angela Merkel<br />

als erste Kanzlerin der Bundesrepublik.<br />

71


Argumente_02_<strong>2013</strong>_Inhalt 13.08.13 11:39 Seite 72<br />

Ursula von der Leyen als starke Ministerin,<br />

die nicht selten die alte-Herren Partei vor<br />

sich her treibt.<br />

Die Kanzlerin umgibt sich sprichwörtlich<br />

mit einem Girls-Team: Ihre engsten<br />

Beraterinnen sind Frauen. Ihre Büroleiterin<br />

Beate Baumann begleitet sie seit über<br />

einem Jahrzehnt. Eva Christiansen ist<br />

Chefin des Planungsstabes im Kanzleramt<br />

und berät Merkel in ihrem medialen Auftreten.<br />

Was eint diese Frauen? Neben ihrem<br />

Parteibuch sicher auch ein anderer<br />

Blick auf die Politik und ein anderer Habitus.<br />

Von Machtgebaren und der Hysterie<br />

ihrer männlichen Kollegen sind diese drei<br />

kilometerweit entfernt. Das wirkt auf viele<br />

Frauen attraktiv.<br />

Und die SPD? Sie war mal der Motor<br />

des Fortschritts, was ist davon heute geblieben?<br />

Bebel und die Frau im Sozialismus?<br />

Nachdem Peer Steinbrück zum Kanzlerkandidaten<br />

erklärt wurde, legte er fest,<br />

dass sein Kompetenzteam zur Hälfte aus<br />

Frauen und zur Hälfte aus Männern bestehen<br />

soll. Soweit so gut. Das Kompetenzteam<br />

steht, sein Versprechen hat Peer gehalten.<br />

Doch schauen wir uns die Sache<br />

genauer an.<br />

Das Kompetenzteam<br />

Manuela Schwesig: das Gesicht der<br />

SPD für Frauen und Familie. Sie ist natürlich<br />

im Kompetenzteam vertreten und zuständig<br />

für die Themen Frauen, Familie,<br />

Aufbau Ost, Demografie und Inklusion.<br />

Yeah! Allein das Thema „Frauen“ ist eine<br />

riesige Baustelle, bei der es um nichts weniger<br />

als gesellschaftliches Umdenken geht.<br />

Moderne wagen<br />

Das Thema „Frauenpolitik“ sollte nicht<br />

mit „Familienpolitik“ zusammengedacht<br />

werden, da wir so genau das reproduzieren,<br />

was wir eigentlich vermeiden sollten: Frauen<br />

und ihre Zuständigkeit für Familie zusammenzudenken.<br />

Die SPD will modernere<br />

Rollen und mehr Freiheit für Frauen<br />

und Männer. Unser Lösungsvorschlag:<br />

Ordnet die Ressorts neu! Was hat ein<br />

Equal-Pay-Gesetz denn mit Familienpolitik<br />

zu tun? Oder die Umsetzung der UN-<br />

Behindertenrechtskonvention mit einer<br />

Frauenquote für Aufsichtsräte?<br />

Feminismus = Mobilisierung<br />

Wäre es nicht an der Zeit gewesen, die<br />

Themen „Gleichstellung“ und „Geschlechtergerechtigkeit“<br />

moderner zu besetzen<br />

und anderen Ressorts zuzuordnen? Jetzt ist<br />

es nur eines von vielen und wird damit dem<br />

Zeitgeist nicht gerecht.<br />

In der Politik, in den Medien, abends<br />

an der Bar: Überall haben geschlechterpolitische<br />

Themen Hochkonjunktur: der<br />

Hastag „Aufschrei“ erhielt nun gar den<br />

Grimme-Online-Award in der Kategorie<br />

„Spezial“. Die Empörung über eine Entscheidung<br />

des Gesundheitsausschusses im<br />

Bundestag, die Rezeptpflicht für die Pille<br />

danach beizubehalten, drückte sich auf<br />

Twitter rasend schnell in „wiesmarties“ aus.<br />

Feministische Themen haben in diesem<br />

Jahr ein Mobilisierungspotenzial, wie<br />

man es vorher kaum kannte. Will die SPD<br />

es schaffen, diese <strong>Bundestagswahl</strong> zu gewinnen,<br />

muss sie es lernen, diese Themen<br />

auch glaubhaft zu besetzen.<br />

72 It’s the women’s vote, honey. Argumente 2/<strong>2013</strong>


Argumente_02_<strong>2013</strong>_Inhalt 13.08.13 11:39 Seite 73<br />

Ein Blick über den Tellerrand<br />

Wagen wir den Blick in die USA. <strong>2013</strong><br />

lassen sich alle größeren Parteien vom Präsidentschaftswahlkampf<br />

Barack Obamas<br />

inspirieren. Warum auch nicht? Schließlich<br />

haben Frauen die US-Präsidentschaftswahlen<br />

2012 entschieden, dem<br />

Amtsinhaber eine zweite Amtszeit gesichert.<br />

Die Kampagne der Demokraten<br />

hatte als Zielgruppe junge Frauen im Blick<br />

und hat es geschafft mit feministischen<br />

Themen zu punkten und massiv Wählerinnenstimmen<br />

zu gewinnen. Barack Obama<br />

gewann die Wahl. Warum? Wegen der<br />

geistreichen, klugen, den richtigen Tonfall<br />

treffenden Kampagne.<br />

Julia und ihre kleine Schwester Elli<br />

Um Frauen zu erreichen, wurde „the<br />

life of Julia“ ins Leben gerufen. Anhand<br />

von Julia erklärt die Kampagne, wie Obamas<br />

Politik das Leben von Frauen, egal in<br />

welchem Alter, zum positiven beeinflusst.<br />

Glücklicherweise hat Obama einige<br />

Erfolge aus seiner ersten Amtszeit vorzuweisen,<br />

zum Beispiel den Lilly Ledbetter<br />

Fair Pay Act von 2009, der die gleiche Bezahlung<br />

von Frauen und Männern garantiert<br />

und den Affordable Care Act, der eine<br />

Krankenversicherung für alle Amerikanerinnen<br />

und Amerikaner gewährleistet, die<br />

für Verhütungsmittel bezahlt.<br />

Gerade mit diesen beiden Themen<br />

konnte er bei jungen Frauen punkten. Hier<br />

möchten wir erwähnen, dass es für viele<br />

Frauen unerheblich ist, wie viele Frauen<br />

denn nun in den Aufsichtsräten sitzen.<br />

Was wichtig ist: sichere und gute Jobs, unbefristete<br />

Arbeitsverträge, um das Leben<br />

zu planen (ja, auch den Nachwuchs), soziale<br />

Sicherheit und eine Gesellschaft, in der<br />

man als Frau nicht automatisch den Kürzeren<br />

gezogen hat.<br />

Die SPD-Bundestagsfraktion macht<br />

das übrigens anhand von „Elli“ auf den<br />

Seiten der SPD-Bundestagsfraktion. „Elli<br />

verdient mehr“ findet ihr hier:<br />

www.spdfraktion.de/elli-verdient-mehr/.<br />

Anhand des Lebens der fiktiven Figur<br />

„Elli“ wird online und in einem Flyer die<br />

Geschlechterpolitik der SPD-Bundestagsfraktion<br />

anschaulich erklärt. Wir begleiten<br />

„Elli“ durch ihr Leben – von der Kindheit,<br />

über Ausbildung, Familie und Karriere, bis<br />

ins Rentenalter. Es wird gezeigt, wie die<br />

gleichstellungspolitischen Konzepte der<br />

SPD-Bundestagsfraktion positive Impulse<br />

für Frauen und Männer im Land geben,<br />

eine eigenständige Existenzsicherung aufzubauen.<br />

Peer, Barack und Hillary<br />

Landauf, landab war nach der Ernennung<br />

Peer Steinbrücks zum Kanzlerkandidaten<br />

zu lesen, dass er gerade bei jüngeren<br />

Wählerinnen nicht ankomme und diese<br />

eher Merkel wählen würden. Sicher, Steinbrück<br />

ist nicht Obama und Deutschland<br />

nicht die USA. Doch wir als junge Frauen<br />

möchten uns damit nicht zufrieden geben.<br />

Uns reicht es nicht, dass es ein paritätisch<br />

besetztes Kompetenz-Team gibt, in dem<br />

Frauen dann doch wieder für Frauen und<br />

Familie zuständig sind. Wie wäre es denn<br />

mal mit einer weiblichen Außenministerin?<br />

Obama hat nicht gezögert und Hillary<br />

Clinton zu seinem Aushängeschild in der<br />

Welt gemacht. Nicht nur wir hoffen, dass<br />

sie 2016 zur nächsten US-Präsidentin gewählt<br />

wird.<br />

73


Argumente_02_<strong>2013</strong>_Inhalt 13.08.13 11:39 Seite 74<br />

… und der passende Tonfall<br />

Nicht allein die Themen machten den<br />

Wahlkampf so spannend, sondern auch deren<br />

Kommunikation. Unterstützung im<br />

Wahlkampf bekam der Amtsinhaber zum<br />

Beispiel von Lena Dunham, der Autorin<br />

und Hauptdarstellerin der fantastischen<br />

Serie „Girls“. Sie ist eine der coolsten und<br />

glaubwürdigsten jungen Frauen, die die<br />

USA gerade zu bieten hat, und sie engagierte<br />

sich in einem wunderbaren und famosen<br />

Spot für Obamas Wiederwahl. Neben<br />

Lena Dunham setzten sich viele<br />

andere Frauen aus Medien und Kultur für<br />

die Wiederwahl Barack Obamas und für<br />

dessen politische Agenda ein.<br />

Was also können wir von der amerikanischen<br />

Präsidentschaftswahl und von<br />

Obama in Bezug auf die Wählergruppe der<br />

jungen Frauen lernen? Was sollte „unser“<br />

Kandidat anders machen, damit er wirklich<br />

UNSER Kandidat wird?<br />

Wir brauchen mehr TESH 6<br />

Wer mehr Frauen erreichen möchte,<br />

muss TESH werden. Wer TESH ist, erreicht<br />

die Frauen. Wer die Frauen erreicht,<br />

gewinnt erst ihr Herz und dann ihre Stimme.<br />

TESH wird, wer die richtigen Themen<br />

hat, Frauen einbindet, die richtige Sprache<br />

hat und die passende Haltung dazu.<br />

Frauen haben ein Gespür dafür, ob man<br />

nur ihre Stimme haben will oder tatsächlich<br />

für ihre Anliegen kämpft. Viele Frauen<br />

haben der SPD den Rücken gekehrt, sie<br />

sind skeptisch, ob sie „zurückkehren“ sollten.<br />

Sie wollen umworben und überzeugt<br />

werden.<br />

Die richtigen Themen<br />

Frau ist nicht gleich Frau. Jede Frau hat<br />

eine andere Lebensrealität. Die Zielgruppe<br />

Frauen darf nicht als homogene Masse,<br />

sondern muss differenziert betrachtet werden.<br />

Unsere Inhalte müssen konkrete Lösungen<br />

für reale Lebensprobleme sein.<br />

Daher schlagen wir vier Untergruppen<br />

vor: Junge Frauen, Frauen in der Familienphase,<br />

Berufstätige Frauen und Ältere. Frau -<br />

enpolitik ist Gesellschaftspolitik. Frau en -<br />

politik ist Arbeitsmarktpolitik, Steuerpolitik,<br />

Wirtschaftspolitik und noch vieles mehr.<br />

Frauen in unterschiedlichen Lebensphasen<br />

stellen sich andere Fragen. Niemand würde<br />

auf die Idee kommen, Politik für Männer<br />

unter dem Sammelbegriff „Männerpolitik“<br />

zu denken und einen 18-jährigen Auszubildenden<br />

in einen Topf mit dem 60-jährigen<br />

Vorstandsvorsitzenden, der sich kurz<br />

vor der Rente befindet, zu stecken.<br />

Junge Frauen haben andere Ansprüche<br />

und Erwartungen an Politik als Frauen in<br />

der Familienphase oder als Frauen, die mit<br />

beiden Beinen in der Berufstätigkeit stehen.<br />

Eine junge Studentin interessiert sich<br />

vielleicht mehr für ihre reproduktiven<br />

Rechte – z. B. den rezeptfreien Zugang zur<br />

Pille danach oder die Streichung des § 218<br />

StGB – als für eine Reform der Minijobs.<br />

Frauen in der Familienphase stellen sich<br />

Vereinbarkeitsfragen, die für Frauen, die<br />

bereits in Rente sind, so nicht mehr aufkommen.<br />

Das sind also völlig unterschiedliche<br />

Zielgruppen.<br />

6 Erarbeitet durch die Arbeitseinheit „Zielgruppe<br />

Frauen“ des WBH.<br />

74 It’s the women’s vote, honey. Argumente 2/<strong>2013</strong>


Argumente_02_<strong>2013</strong>_Inhalt 13.08.13 11:39 Seite 75<br />

Frauen einbinden<br />

Frauen wollen Frauen sehen. Die Entscheidung<br />

des Kanzlerkandidaten, dass die<br />

Hälfte des Kompetenzteams Frauen sind,<br />

ist gut. Entscheidend wird sein, wie stark<br />

die benannten Personen es schaffen, eigene<br />

Akzente zu setzen. Eine Frau, die für ein<br />

Thema Mitglied des Kompetenzteams geworden<br />

ist, sollte auch die volle Kompetenz<br />

inklusive der Beinfreiheit für das Thema<br />

erhalten.<br />

Wir wissen aus der Team-Forschung,<br />

dass bei einem Geschlechteranteil von unter<br />

20 % die Produktivität und Kreativität<br />

von Einzelpersonen und die Innovationskraft<br />

des gesamten Teams stark ausgebremst<br />

wird. Erst bei einem Frauenanteil<br />

von mindestens 30 % wird die Schwelle<br />

überschritten, wo die weibliche Perspektive<br />

objektive und subjektive Wirkung entfalten<br />

kann.<br />

Die richtige Sprache<br />

Geschlechtergerechte Sprache ist anstrengend,<br />

aber alternativlos. Wollen wir<br />

Frauen und Männer erreichen, müssen wir<br />

Frauen UND Männer ansprechen. Generalklauseln<br />

sind billige Ausreden. Frauen<br />

(aber auch Männer) sind nicht zu gewinnen<br />

mit komplizierten, trockenen und toten<br />

Satzkonstruktionen. Frauen wünschen<br />

eine lebendige Sprache. Die Sprache der<br />

Politik wirkt oftmals abgehoben und distanzierend.<br />

Nicht die wohlfeile Formulierung<br />

reizt, sondern echte Gefühle, Leidenschaft<br />

und Einsatz.<br />

Lieber eine kantige Formulierung als<br />

eine zur Unkenntlichkeit geschliffene Abfassung.<br />

Die richtige Haltung<br />

Authentisch sein. Eine harte Linie fahren.<br />

Gerade in der Geschlechterpolitik.<br />

Nicht nachgeben und Haltung bewahren.<br />

Mindestens eine der Autorinnen dieses<br />

Textes hatte ihre Zweifel, was Peer und<br />

sein Verhältnis zu Gleichstellungspolitik<br />

angeht. Doch seit dem Auftritt von Getrud<br />

Steinbrück auf dem Parteikonvent sind<br />

diese verflogen. Ein Mann mit dieser Frau<br />

– der hat die richtige Haltung und möchte<br />

in dieser Gesellschaft etwas verändern.<br />

Peer Steinbrück hat die Frauen angesprochen.<br />

Er hat sich festgelegt, eine verbindliche<br />

Quote einzuführen, das Ehegattensplitting<br />

zu reformieren, ein Gesetz zur<br />

Entgeltgleichheit durchzusetzen. Die Erwartungen<br />

sind hoch – doch wir sind uns<br />

sicher, dass er diese Erwartungen erfüllen<br />

wird. Peer Steinbrück geht es um eine gerechtere<br />

Gesellschaft.<br />

Viele Politiker und auch Politikerinnen<br />

sehen Frauen als die Erwerbsreserve für die<br />

Beseitigung des Fachkräftemangels oder<br />

als Gebärmaschinen, um den demografischen<br />

Wandel mit einer Armee Babys zu<br />

stoppen. Das darf nicht der Ansatz der<br />

SPD sein. Wählerinnen haben ein feines<br />

Gespür dafür, wann jemand ehrlich ist und<br />

wann sie angelogen werden. Für die weibliche<br />

Zielgruppe bedeutet das: durch innere<br />

Haltung die richtigen Inhalte nach außen<br />

kommunizieren, um bei Frauen<br />

Vertrauen zu erzeugen, damit sie ihr Kreuz<br />

wieder bei der SPD machen.<br />

Schlusswort<br />

Wir als Frauen, vor allem aber als junge<br />

Menschen, wünschen uns einen Kandidaten,<br />

der es schafft, den Tonfall unserer Ge-<br />

75


Argumente_02_<strong>2013</strong>_Inhalt 13.08.13 11:39 Seite 76<br />

neration zu treffen und der unsere Sorgen,<br />

Ängste, Träume und Wünsche verstehen<br />

kann und vielleicht sogar weiß, wie es sich<br />

anfühlt, manchmal machtlos vor den gesellschaftlichen,<br />

ökonomischen und sozialen<br />

Herausforderungen unserer Zeit zu<br />

stehen.<br />

Wir wünschen uns von unserem Kandidaten<br />

visionäres und progressives Denken<br />

und Handeln. Barack Obama hat es<br />

geschafft, 2012 genau das zu verkörpern<br />

und damit das Vertrauen junger Frauen zu<br />

gewinnen. Peer Steinbrück hat das Potential<br />

das auch zu schaffen. l<br />

76 It’s the women’s vote, honey. Argumente 2/<strong>2013</strong>


Argumente_02_<strong>2013</strong>_Inhalt 13.08.13 11:39 Seite 77<br />

DIE SPD AUF DEM WEG<br />

ZU EINEM PROGRESSI-<br />

VEN SELBSTVERSTÄND-<br />

NIS IM PLURALEN<br />

DEUTSCHLAND?<br />

von Daniela Kaya, Mitglied im Bundesvorstand der SPD-AG Migration und Vielfalt,<br />

Autorin 7 7 u. a. (<strong>2013</strong>): Deutschland neu erfinden. Impulse<br />

1. Ausgangslage<br />

In aller Regelmäßigkeit verkünden<br />

konservative Kräfte in Deutschland: „Der<br />

Ansatz für Multikulti ist gescheitert, absolut<br />

gescheitert!“ Zuletzt erklärte dies Bundeskanzlerin<br />

Angela Merkel im Oktober<br />

2010, fünf Jahre nach Inkrafttreten des rotgrünen<br />

Zuwanderungsgesetzes. Jenes markiert<br />

einen Paradigmenwechsel in der<br />

deutschen Politik. Die Abkehr vom deutschen<br />

Gastarbeiter-Modell. „Das deutsche<br />

Gastarbeiter-Modell ist gescheitert, absolut<br />

gescheitert“ kann Angela Merkel also<br />

nur gemeint haben. Denn eine Politik des<br />

Multikulturalismus hat es bis dato in<br />

Deutschland nicht gegeben. Eine multikulturelle<br />

Gesellschaft sehr wohl. Viel zu<br />

lange war Deutschland ein Einwanderungsland<br />

wider Willen. Heute sind wir<br />

eine Einwanderungsgesellschaft. Dennoch<br />

ist die Behauptung des gescheiterten Multikulturalismus<br />

ein wiederkehrendes Motiv<br />

in der politischen Auseinandersetzung.<br />

Heute finden wir eine Mischform von<br />

multikultureller und integrationsgeleiteter<br />

Politik in Deutschland vor – so wie in vielen<br />

anderen Einwanderungsgesellschaften.<br />

Das Merkel-Zitat macht deutlich: Es<br />

geht um die Deutungshoheit. Um sie zu<br />

erlangen und (neue) Wählermilieus (wieder)<br />

zu erreichen, ist es für die Sozialdemokratie<br />

unumgänglich, das Versprechen der<br />

sozialen Gerechtigkeit für die Einwanderungsgesellschaft<br />

zu erneuern. Inwiefern<br />

ihr das im Wahlprogramm gelingt, wird<br />

hier untersucht.<br />

für die Neuausrichtung sozialdemokratischer Integrationspolitik.<br />

Rotation Vorwärts Verlag.<br />

77


Argumente_02_<strong>2013</strong>_Inhalt 13.08.13 11:39 Seite 78<br />

2. Quo vadis SPD?<br />

Für sozialdemokratische Diversitätspolitik<br />

wird im Wahlprogramm wie folgt erklärt:<br />

„Deutschland ist ein offenes Land.<br />

Wir setzen uns für ein gleichberechtigtes<br />

gesellschaftliches Miteinander in Vielfalt<br />

ein. Integrationspolitik neu zu denken<br />

heißt letztlich auch, den Begriff der Integration<br />

zu überwinden und durch den selbstverständlichen<br />

gesellschaftlichen Anspruch auf<br />

Teilhabe und Partizipation zu ersetzen.“ (58)<br />

Die Überwindung des Integrationsbegriffs<br />

ist zukunftsweisend. Er verkörpert eine<br />

rückwärtsgewandte Perspektive. Mit ihm<br />

ist der Imperativ der Anpassung und der<br />

individuellen Bringschuld von Einwanderern<br />

verbunden. Er hat einen paternalistischen<br />

Anstrich. Progressive Politik hingegen<br />

nimmt Gesellschaftsstrukturen in den<br />

Blick: Welche Gelegenheitsstrukturen bietet<br />

eine Gesellschaft, damit jede/r unabhängig<br />

von sozialer Herkunft, Ethnizität<br />

und Geschlecht gleichberechtigt teilhaben<br />

kann? Welche Barrieren bestehen? Wie kön -<br />

nen sie abgebaut werden? Sozialdemokratische<br />

Gesellschaftspolitik, die sich an den<br />

eigenen Grundwerten der Freiheit, Gerechtigkeit<br />

und Solidarität orientiert, muss<br />

ein kohärentes Konzept der sozialen Gerechtigkeit<br />

im Sinne von Lebenschancengleichheit<br />

8 entwickeln. Der Wille zur Über -<br />

windung der Integrations-Perspektive ist<br />

hierfür die Voraussetzung. Neben dem As -<br />

pekt der Teilhabe muss die SPD hierfür auch<br />

das Feld der Anerkennungspolitik gestalten.<br />

Anerkennung und Teilhabe –<br />

Leitgedanken sozialdemokratischer<br />

Gesellschaftspolitik<br />

Die politische, rechtliche und gesellschaftliche<br />

Anerkennung heterogener<br />

Iden titäten aller Gesellschaftsmitglieder<br />

als Gleiche ist Voraussetzung für die Schaffung<br />

von Teilhabegerechtigkeit. In diesem<br />

Sinne hat Anerkennungspolitik weitgehende<br />

politische und rechtliche Implikationen.<br />

Soziale Ungleichheit wird auch diskursiv<br />

hergestellt. Dabei dienen Selbst- und<br />

Fremdbilder der normativen Legitimierung<br />

und Begründung sozialer Hierarchien.<br />

Politische Akteure bedienen die<br />

Klaviatur immer wieder kehrender Motive,<br />

scheinbarer Alltagsgewissheiten, und formen<br />

so Diskurse der Ungleichheit. In ihnen<br />

zeigt sich eine Kontinuität vorherrschender<br />

Deutungsmuster seit den 1950er<br />

Jahren. Für Deutschland werden die Bilder<br />

des kriminellen Ausländers, der vollständig<br />

anderen und unvereinbaren Kultur von<br />

Einwanderern und damit einer Überfremdung<br />

sowie die des integrationsunwilligen<br />

Ausländers diskursiv behandelt. Hinzu<br />

kommen Bilder der Belastung durch Einwanderung<br />

gepaart mit der Forderung nach<br />

Begrenzung von Einwanderung und der<br />

Topos des Missbrauchs von Sozialleistungen.<br />

Ebenso wie die Bewertung nach Nützlichkeit<br />

von ausländischen Arbeitskräften<br />

(Mikler 2006: 568).<br />

Die Forderung nach Überwindung des<br />

Integrationsbegriffs kann die SPD nur<br />

selbst einlösen, indem sie ihre Politik narrativ<br />

begleitet. Dafür muss sie die Stellvertreter-Debatten<br />

um angebliche Integrationsverweigerer<br />

oder die deutsche Leit kultur<br />

entschlüsseln. Unsere Gesellschaft verhandelt<br />

darin die Kernfrage, was wir heute als<br />

Deutschsein verstehen wollen, wer dazu<br />

8 Zum Begriff der Lebenschancengleichheit: Wolfang<br />

Merkel et. al. (2006).<br />

78 Die SPD auf dem Weg zu einem progressiven Selbstverständnis im pluralen Deutschland? Argumente 2/<strong>2013</strong>


Argumente_02_<strong>2013</strong>_Inhalt 13.08.13 11:39 Seite 79<br />

gehören soll und wer nicht. Anders ausgedrückt:<br />

Sind Fatma und Luigi ebenso typisch<br />

deutsch wie Peter und Silke? Aufgabe<br />

der SPD ist es, klar zu machen, dass<br />

solche Versuche der Grenzziehung nicht<br />

Schritt halten mit der vielfältigen Realität<br />

in Deutschland. Daher muss die SPD neue<br />

Erzählungen entwickeln, vom Deutschsein,<br />

von der deutschen Geschichte als<br />

Einwanderungsland. Hierfür sollte die<br />

SPD im Jahr ihres 150. Jubiläums beispielsweise<br />

die Rolle der Pluralität in ihrer<br />

Geschichte sichtbarer machen. Um die<br />

Köpfe und Herzen zu erreichen, wird es<br />

beispielsweise nicht ausreichen, die Öffnung<br />

der Mehrstaatigkeit für alle zu fordern.<br />

Die SPD muss ihre Forderung in ein<br />

modernes Selbstbild einbetten. Identifikationsräume<br />

für Ein- und Mehrfachzugehörigkeiten<br />

anbieten. Dafür muss die SPD<br />

eine Großerzählung entwickeln, die Zutrauen<br />

und Mut in die Einwanderungsgesellschaft<br />

schafft. Nur so kann die doppelte<br />

Staatsbürgerschaft konsequent heraus aus<br />

der konservativen „Schmuddelecke“ der Sicherheits-<br />

und Ordnungspolitik gehievt<br />

werden und dort ankommen, wo sie hingehört:<br />

im Selbstverständnis eines multikulturellen<br />

Deutschlands.<br />

Ausgehend von dem Postulat gleicher<br />

Chancen der Teilhabe an allen materiellen<br />

wie immateriellen Ressourcen müssen sich<br />

politische Maßnahmen daran messen lassen,<br />

inwiefern sie zu einer am Ergebnis orientierten<br />

tatsächlichen Chancengleichheit<br />

für Menschen mit und ohne Migrationsbiographie<br />

beitragen. Teilhabe sollte als<br />

Zielvorstellung also ungeachtet von Gruppenzugehörigkeiten,<br />

Geschlecht, Alter<br />

oder anderer Merkmale auf die Herstellung<br />

von Lebenschancengleichheit ausgerichtet<br />

sein. Hierzu zählen allgemeine Politiken<br />

für gute Bildung, Ausbildung und<br />

Arbeit. Hinzukommen spezifische Maßnahmen,<br />

die darauf abzielen, strukturelle<br />

Hürden abzubauen.<br />

Wie ist das Programm vor diesem Hintergrund<br />

nun einzuordnen? Welche Fortoder<br />

Rückschritte haben sich vollzogen?<br />

Hierzu folgt zunächst eine Skizzierung<br />

einschlägiger Beschlüsse. 9<br />

3. Programm Genese – vom Berliner<br />

Programm bis zur Zukunftswerkstatt<br />

Integration 10<br />

Das Verhältnis der SPD zur Rolle der<br />

Nation ist programmatisch komplex. Seit<br />

ihrer Gründung verstand sich die SPD als<br />

Teil einer internationalen ArbeiterInnenbewegung,<br />

die sich im Spannungsverhältnis<br />

von Partikularismus und Universalismus<br />

bewegt. In der Programmatik der<br />

SPD findet sich kontinuierlich das republikanische<br />

Nationenverständnis wider. Allerdings<br />

zeigt die Nachzeichnung der Beschlüsse,<br />

dass sich die SPD noch in einer<br />

Suchbewegung befindet hinsichtlich der<br />

Frage, wie der Staat mit Diversität umgehen<br />

sollte.<br />

Bereits im Berliner Grundsatzprogramm<br />

von 1989 findet sich unter der<br />

Überschrift: „Solidarität zwischen Kulturen“<br />

eine erste programmatische Positio-<br />

9 Quellen: Berliner Grundsatzprogramm, Berliner<br />

Rede von Bundespräsident Johannes Rau, Wahlmaifest<br />

2005, Hamburger Grundsatzprogramm,<br />

Regierungsprogramm 2009, Deutschlandplan,<br />

Beschlüsse des Bundesparteitages 2010 und 2012,<br />

Positionspapier der SPD-Bundestagsfraktion, Beschluss<br />

des Parteivorstandes von 05/2011, Bericht<br />

der Zukunftswerkstatt Integration 2009 – 2011.<br />

10 Vgl. Kaya <strong>2013</strong>.<br />

79


Argumente_02_<strong>2013</strong>_Inhalt 13.08.13 11:39 Seite 80<br />

nierung. Vielfalt wird bejaht und die Realität<br />

multikultureller Gesellschaften in ganz<br />

Europa anerkannt: „In der Bundesrepublik<br />

leben Menschen unterschiedlicher Nationalität,<br />

Kultur und Religion zusammen; die<br />

Länder Europas sind multikulturell geworden.“<br />

(ebd. 24). Fehlende Zugänge zur gesellschaftlichen<br />

Partizipation werden kritisiert<br />

(ebd.). Gleichwohl hatte die<br />

Perspektive auf Einwanderer und ihrer<br />

Kinder einen eher paternalistischen Anstrich.<br />

18 Jahre später ist ein programmatischer<br />

Wandel im Hamburger Programm<br />

(2007) nachzulesen. Darin vollzieht sich<br />

ein eindeutiger Perspektivwechsel auf Einwanderer<br />

und Neudeutsche. Anders als zuvor<br />

im Berliner Programm fällt die Sicht<br />

auf Einwanderer unter der Überschrift „Integration<br />

und Einwanderung“ nunmehr<br />

ambivalent aus. Besondere Betonung findet<br />

der ökonomische Nutzen durch Einwanderung<br />

für Deutschland. Die Einsicht<br />

in „gemeinsame Anstrengungen“ wird explizit<br />

mit Forderungen nach individuellen<br />

Integrationsleistungen verbunden. Wobei<br />

unklar bleibt, was die sozialdemokratische<br />

Deutung des Begriffs Integration ist. Die<br />

Ausführungen sind vom Zeitgeist des Forderns<br />

und Förderns geprägt, wobei das<br />

Fordern überwiegt (ebd. 36). Insgesamt<br />

findet sich hier der Mainstream-Diskurs<br />

einer Defizit-Perspektive auf Einwanderer<br />

und Bindestrich-Deutsche wieder.<br />

Bereits im Wahlprogramm „Vertrauen<br />

in Deutschland – das Wahlmanifest der<br />

SPD“, zwei Jahre zuvor (2005), kündigte<br />

sich die tendenzielle Problemperspektive<br />

auf die Einwanderungsgesellschaft an. Das<br />

Augenmerk lag in diesem Programm auf<br />

Restriktionen und die Defizite der „Personen<br />

ausländischer Herkunft“ (sic!). Die<br />

Kernforderungen beziehen sich auf die<br />

Ablehnung von Parallelgesellschaften und<br />

Zwangsverheiratung sowie Bekenntnissen<br />

zur Gleichberechtigung von Mann und<br />

Frau, zur Sprachförderung und der Einführung<br />

staatlichen Islam-Unterrichts.<br />

Für die folgende <strong>Bundestagswahl</strong><br />

(2009) legte die SPD sowohl das Wahlprogramm<br />

„Sozial und demokratisch. Anpa -<br />

cken für Deutschland“ als auch den so genannten<br />

Deutschlandplan des Spit zen kan -<br />

didaten Frank-Walter Steinmeier vor. Anders<br />

als im vorangegangenen Wahlprogramm<br />

wurde hier eine positive Perspektive<br />

auf die deutsche Einwanderungsgesellschaft<br />

eingenommen. Integration wurde<br />

hierin erstmals als Politik der Chancengleichheit<br />

verstanden, bei der es um die<br />

Förderung von Potenzialen und um eine<br />

Kultur der Anerkennung geht. Kernforderungen<br />

waren die interkulturelle Öffnung<br />

der Verwaltung sowie eine proaktive Einbürgerungspolitik.<br />

Anders als zuvor wurde<br />

nun der Gestaltungsauftrag der Politik angenommen.<br />

„Gelingende Integration“<br />

wurde nicht mehr ausschließlich als zu erbringende<br />

Individualleistung von EinwanderInnen<br />

und PostmigrantInnen gesehen.<br />

Gleichzeitig fand wieder ein Rekurs<br />

statt: Integration wird mit Sicherheitspolitik<br />

verknüpft. Im Deutschlandplan des<br />

Kanzlerkandidaten Steinmeier wird der<br />

Ansatz Integration durch Bildung aufgegriffen<br />

und mit Blick auf den volkwirtschaftlichen<br />

Nutzen argumentativ untermauert.<br />

Institutionell wird ein<br />

Bundesministerium für Bildung und Integration<br />

vorgeschlagen. Dieser bemerkenswerte<br />

Vorschlag findet sich in keinem späteren<br />

Programmtext wieder.<br />

80 Die SPD auf dem Weg zu einem progressiven Selbstverständnis im pluralen Deutschland? Argumente 2/<strong>2013</strong>


Argumente_02_<strong>2013</strong>_Inhalt 13.08.13 11:39 Seite 81<br />

Seit dem Jahr 2010 11 unternimmt die<br />

SPD merklich große Anstrengungen, um<br />

sich programmatisch neu aufzustellen.<br />

Jüngst gründete sich auf Beschluss des<br />

Bundesparteitages 2011 die Bundes-AG<br />

Migration und Vielfalt.<br />

Unter dem Eindruck der Sarrazin-Debatte<br />

beschloss der Bundesparteitag 2010<br />

die Resolution „Ohne Angst und Träumereien.<br />

Gemeinsam in Deutschland leben.“<br />

Sie verkörpert den inhaltlichen Widerspruch<br />

zwischen einem Bekenntnis zur<br />

Einwanderungsgesellschaft und dem Verständnis<br />

von Integration als vornehmlich<br />

soziale Frage (Aufstiegsversprechen) einerseits<br />

und der Defizit-geleiteten Sichtweise<br />

auf Einwanderung mit Augenmerk auf die<br />

Integrationspflicht von „Zuwanderern“ andererseits.<br />

Bemerkenswerterweise hat man<br />

für die Resolution auf die gleichnamige<br />

Berliner Rede des damaligen Bundespräsidenten<br />

Johannes Rau aus dem Jahr 2000<br />

zurückgegriffen. Sie lieferte kaum zukunftsweisende<br />

Impulse: „Zuwanderungspolitik“<br />

wurde darin ausschließlich über ihren<br />

volkswirtschaftlichen Nutzen legitimiert.<br />

Einwanderer und Neudeutsche wurden<br />

problembehaftet konnotiert. 12 Integration<br />

vornehmlich mit Anstrengung assoziiert.<br />

Im Jahr 2011 wurde eine Reihe von<br />

programmatischen Beiträgen veröffentlicht.<br />

Im Februar 2011 setzte das Positionspapier<br />

Integration der Bundestagsfraktion<br />

einen programmatischen Kontrapunkt<br />

zur vorangegangenen Resolution. Indem<br />

Integration als Frage von Zugehörigkeit<br />

und als sozialpolitische Aufgabe definiert,<br />

sowie der Querschnittscharakter des Politikfeldes<br />

durchdekliniert wurde, fand eine<br />

Abkehr vom 2010 begonnen negativen<br />

Mainstreamdiskurs statt. Das Positionspapier<br />

markiert die Fortsetzung der 2009er<br />

Papiere um Frank-Walter Steinmeier.<br />

Nach dem gescheiterten Ausschlussverfahren<br />

von Thilo Sarrazin (April 2011)<br />

fasste der Parteivorstand im Mai 2011 den<br />

Beschluss „Für Gleichberechtigung und<br />

eine Kultur der Anerkennung“. Hierin<br />

wurde die SPD als Partei der sozialen Gerechtigkeit<br />

proklamiert, die sich zu einer<br />

Kultur der Anerkennung und Teilhabe bekennt.<br />

Darüber hinaus wurde darin eine<br />

aktive Hinwendung zur interkulturellen<br />

Öffnung der SPD formuliert. Damit nahm<br />

der Parteivorstand eine inhaltliche Abkehr<br />

von der im Dezember 2010 auf dem Bundesparteitag<br />

beschlossenen Resolution vor.<br />

Im Frühjahr 2012 legte schließlich die<br />

Steuerungsgruppe der Zukunftswerkstatt<br />

Integration das Ergebnis ihrer 2-jährigen<br />

Arbeit unter dem Titel „Auf dem Weg zu<br />

einer modernen Integrationspolitik. Anregungen<br />

zur programmatischen Positionsbestimmung<br />

aus der Zukunftswerkstatt Integration<br />

2009 – 2011“ vor. Der 50-seitige<br />

Bericht umfasste programmatische Impulse<br />

zu den folgenden Schwerpunkten: Bildung,<br />

Wirtschaft und Arbeit, Kommune<br />

und soziale Stadt, Migrationsrecht und<br />

Verwaltung, Politik und Partei sowie Religion<br />

– Schwerpunkt Islam. Besonders her-<br />

11 Am 30.08.2010 veröffentlichte der SPD-Politiker<br />

Thilo Sarrazin das Buch „Deutschland schafft<br />

sich ab: Wie wir unser Land aufs Spiel setzen“<br />

Deutsche-Verlags-Anstalt. Laut Media Control<br />

wurden bis Januar 2012 1,5 Mio. gebundene Exemplare<br />

verkauft.<br />

12 Beispielsweise: „Ich kann verstehen, wenn nicht<br />

nur Mädchen und junge Frauen Angst vor der<br />

Anmache oder Einschüchterung durch Cliquen<br />

von ausländischen Jugendlichen haben.“ (ebd.).<br />

81


Argumente_02_<strong>2013</strong>_Inhalt 13.08.13 11:39 Seite 82<br />

vorzuheben sind die Kernelemente in den<br />

Feldern Bildung, Migrationsrecht und<br />

Verwaltung sowie Politik und Partei. Bildung<br />

als soziale Frage in der Einwanderungsgesellschaft.<br />

Zudem wird ein Leitbild<br />

einer serviceorientierten Verwaltung im<br />

Migrationsrecht skizziert. Denn die integrationsorientierte<br />

Servicefunktion, also<br />

der Dienstleistungscharakter der Behörden,<br />

steht „mitunter noch in der Tradition<br />

des Fremdenrechts.“ (SVR 2011: 77 f.).<br />

4. Wahlprogramm <strong>2013</strong>:<br />

Gleichberechtigte Teilhabe –<br />

Für eine moderne Integrationspolitik<br />

Das Wahlprogramm reiht sich ein in<br />

die Linie des Steinmeier-Papiers (Chancenpolitik,<br />

Interkulturelle Öffnung, proaktive<br />

Einbürgerungspolitik), der Positionierung<br />

der Bundestagsfraktion (Zugehörigkeit<br />

und Sozialpolitik stehen im Fokus;<br />

der Querschnittscharakter des Politikfeldes<br />

wird angepeilt) und der Steuerungsgruppe<br />

(u. a. Bildung als soziale Frage,<br />

serviceorientierte Verwaltung). Im Wahlprogramm<br />

fehlen ein konsequenter Querschnittscharakter<br />

und eine progressive Begriffspraxis.<br />

Außerdem bleibt es teilweise<br />

zurück hinter weitergehenden Beschlüssen.<br />

Die Forderungen für eine moderne<br />

Teilhabepolitik im Einzelnen, exemplarisch<br />

kommentiert (58 – 60):<br />

• „Gemeinsam mit den Ländern wollen<br />

wir deshalb die Ausländerbehörden zu<br />

Willkommensbehörden, zu Anlaufund<br />

Leitstellen für Integration und<br />

Einbürgerung weiterentwickeln.“ (58)<br />

Bereits die Steuerungsgruppe der Integrationswerkstatt<br />

schlug einen Organisationswandel<br />

der Ausländerbehörden vor,<br />

hin zu einer serviceorientierten Verwaltung.<br />

Wie die Willkommensbehörden ausgestaltet<br />

werden sollen, bleibt im Wahlprogramm<br />

unklar: Orientiert sich die SPD<br />

damit am kanadischen Modell der Welcome<br />

Center, die in Trägerschaft von MigrantInnenorganisationen<br />

liegen, oder am<br />

Hamburger Modell? Auch die Frage nach<br />

einer generellen Umstrukturierung bleibt<br />

offen: Möchte die SPD das Politikfeld aufwerten,<br />

indem es an ein Bundesministerium<br />

angegliedert oder in die Funktion der<br />

Staatsministerien aufgewertet wird?<br />

• Die SPD möchte „den Öffentlichen<br />

Dienst weiter für Menschen mit Migrationshintergrund<br />

öffnen und ihren<br />

Anteil an der Gesamtbeschäftigtenzahl<br />

signifikant erhöhen. Mit weiteren Modellversuchen<br />

werden wir prüfen, ob<br />

auch die anonymisierte Bewerbung geeignet<br />

ist, dieses Ziel zu erreichen.“<br />

(59)<br />

Bereits im Steinmeier-Papier bekannte<br />

sich die SPD zu einer interkulturellen<br />

Öffnung des öffentlichen Dienstes. Die<br />

SPD-Bundestagsfraktion fasste danach<br />

einen weitergehenden Beschluss hierzu:<br />

„Bewerbungsverfahren sind entsprechend<br />

der Zielrichtung des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes<br />

anonymisiert durchzuführen,<br />

damit Bewerberinnen und Bewerber<br />

mit Migrationshintergrund bei<br />

Bewerbungen nicht von vornherein von<br />

Vorstellungsgesprächen ausgeschlossen<br />

werden. Es sind die notwendigen gesetzlichen<br />

Anpassungen vorzunehmen.“ Und:<br />

„Um Diskriminierung zu beseitigen, sollten<br />

im öffentlichen Dienst und in der Privatwirtschaft<br />

verbindliche Zielvereinbarungen,<br />

die zum Inhalt haben, den Anteil<br />

82<br />

Die SPD auf dem Weg zu einem progressiven Selbstverständnis im pluralen Deutschland? Argumente 2/<strong>2013</strong>


Argumente_02_<strong>2013</strong>_Inhalt 13.08.13 11:39 Seite 83<br />

von Menschen mit Migrationshintergrund<br />

an den Beschäftigten zu erhöhen,<br />

getroffen werden. Der öffentliche Dienst<br />

sollte hierbei eine Vorreiterrolle übernehmen“.<br />

13 Insofern bleibt das Wahlprogramm<br />

hinter aktuellen Positionierungen zurück.<br />

• Das Programm Soziale Stadt soll wieder<br />

umfänglich wirken und unter Einbeziehung<br />

der MigrantInnenorganisationen<br />

sollen die lokalen Bündnisse für<br />

Teilhabe und sozialen Zusammenhalt<br />

wieder gestärkt werden.<br />

MigrantInnenorganisationen können<br />

über die kommunale Arbeit hinaus eine<br />

Brückenfunktion einnehmen und einen<br />

Beitrag zur politischen und sozialen Partizipation<br />

von Personen mit Migrationsbiographie<br />

leisten. MigrantInnenorganisationen<br />

sind in Zeiten von<br />

Islamkonferenz, Integrationsgipfel und<br />

nationalen Aktionsplänen gefragt wie nie.<br />

Sie sollen und wollen als professioneller<br />

Akteur an der Gestaltung der deutschen<br />

Einwanderungsgesellschaft mitarbeiten.<br />

Daher positionierte sich die SPD-Bundestagsfraktion<br />

im Herbst 2012 für tragfähige<br />

Förderstrukturen bundesweiter MigrantInnenorganisationen.<br />

14 Dieser Aspekt<br />

bleibt im Wahlprogramm unberührt.<br />

• Deutschland soll vom Einwanderungsland<br />

zum Einbürgerungsland werden.<br />

• Die doppelte Staatsbürgerschaft soll im<br />

Regelfall akzeptiert und die Optionspflicht<br />

abgeschafft werden.<br />

• Ausländische Studierende, die in<br />

Deutschland einen Hochschulabschluss<br />

oder eine vergleichbare Qualifikation<br />

(z. B. Meisterprüfung) erwerben,<br />

soll ermöglicht werden, ohne Einschränkungen<br />

in Deutschland zu arbeiten.<br />

• Die SPD möchte das kommunale<br />

Wahlrecht nach einem fünfjährigen legalen<br />

Aufenthalt einführen.<br />

• Die Qualität der Integrationskurse soll<br />

– die Arbeitsbedingungen der Lehrkräfte<br />

eingeschlossen – weiter verbessert<br />

werden.<br />

• Der Familiennachzug soll erleichtert<br />

werden.<br />

5. Fazit<br />

Die Bewertung des Wahlprogramms<br />

<strong>2013</strong> fällt ambivalent aus: Die Hinwendung<br />

zu einer Gesellschaftspolitik, die sich<br />

dem Anspruch auf Teilhabe verpflichtet, ist<br />

ein begrüßenswerter Fortschritt. Sie passt<br />

sich hervorragend in das Leitmotiv eines<br />

neuen Miteinanders ein. In diesem Sinne<br />

beschreitet die SPD den richtigen Weg.<br />

Der Perspektivwechsel weg vom Integrationsbegriff<br />

hin zu einer kohärenten Gesellschaftspolitik<br />

muss aber noch normativ<br />

aufgeladen werden. Bislang fehlt es an einer<br />

überzeugenden Diversitätspolitik aus<br />

einem Guss. Noch fehlt es an einer Gesellschaftsvision.<br />

l<br />

13 Drucksache 17/9974: Neue Chancen für Menschen<br />

mit Migrationshintergrund am Arbeitsmarkt.<br />

14 Drucksache 17/10200: Änderungsantrag der<br />

Fraktion der SPD im Innenausschuss des Deutschen<br />

Bundestages zum Entwurf eines Gesetzes<br />

über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans<br />

für das Jahr 2012.<br />

83


Argumente_02_<strong>2013</strong>_Inhalt 13.08.13 11:39 Seite 84<br />

Literatur<br />

Kaya, Daniela (<strong>2013</strong>): Deutschland neu erfinden.<br />

Impulse für die Neuausrichtung sozialdemokratischer<br />

Integrationspolitik. Rotation Vorwärts Verlag<br />

Merkel, Wolfang et. al. (2006): Die Reformfähigkeit<br />

der Sozialdemokratie. Herausforderungen und<br />

Bilanz der Regierungspolitik in Westeuropa.<br />

Wiesbaden.<br />

Mikler, Anja (2006): Migrationsdiskurse politischer<br />

Eliten: Identitätspolitik durch einen Diskurs der<br />

Ungleichheit? Eine diskursanalytische Untersuchung<br />

von Migrationsdiskursen in der Bundesrepublik<br />

Deutschland 1999 – 2002. Dissertation, Universität<br />

Dortmund.<br />

Rau, Johannes (2000): Ohne Angst und Träumereien:<br />

Gemeinsam in Deutschland leben. Berliner Rede<br />

des Bundespräsidenten.<br />

Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für<br />

Integration und Migration (SVR) (2011):<br />

Einwanderungsgesellschaft 2010. Jahresgutachten<br />

mit Integrationsbarometer.<br />

Sozialdemokratische Partei Deutschlands (1989):<br />

Grundsatzprogramm der Sozialdemokratischen<br />

Partei Deutschlands. Beschlossen vom Programm-<br />

Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands<br />

am 20. Dezember 1989 in Berlin („Berliner<br />

Programm“).<br />

Sozialdemokratische Partei Deutschlands (2005):<br />

Vertrauen in Deutschland – das Wahlmanifest der<br />

SPD.<br />

Sozialdemokratische Partei Deutschlands (2011):<br />

Beschlüsse des ordentlichen Bundesparteitages der<br />

SPD in Berlin, 4.-6. Dezember 2011.<br />

Sozialdemokratische Partei Deutschlands, Grundwertekommission<br />

beim Parteivorstand (2011):<br />

Gleichberechtigt zusammenleben Grundwerte<br />

sozial demokratischer Integrationspolitik:<br />

demokratisch, pluralistisch und sozial.<br />

Sozialdemokratische Partei Deutschlands, Partei -<br />

vorstand (2011): Für Gleichberechtigung und eine<br />

Kultur der Anerkennung.<br />

Sozialdemokratische Partei Deutschlands, Partei -<br />

vorstand (2012): Auf dem Weg zu einer modernen<br />

Integrationspolitik. Anregungen zur programma -<br />

tischen Positionsbestimmung aus der Zukunfts -<br />

werkstatt Integration 2009 – 2011. Ergebnisbericht<br />

der Steuerungsgruppe.<br />

SPD-Bundestagsfraktion (2011): Gleichberechtigt<br />

miteinander leben. Positionspapier Integration.<br />

Themenreihe, Februar 2011.<br />

SPD-Bundestagsfraktion (13.06.2012). Neue<br />

Chancen für Menschen mit Migrationshintergrund<br />

am Arbeitsmarkt, Drucksache 17/9974, 17. Wahl -<br />

periode, Deutscher Bundestag.<br />

SPD-Bundestagsfraktion (2012): Änderungsantrag<br />

der Fraktion der SPD im Innenausschuss des Deutschen<br />

Bundestages zum Entwurf eines Gesetzes über<br />

die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das<br />

Jahr 2012, Drucksache 17/10200, 17. Wahlperiode,<br />

Deutscher Bundestag.<br />

Sozialdemokratische Partei Deutschlands (2007):<br />

Hamburger Programm. Grundsatzprogramm der<br />

Sozialdemokratischen Partei Deutschlands.<br />

Beschlossen auf dem Hamburger Bundesparteitag<br />

der SPD am 28. Oktober 2007.<br />

Sozialdemokratische Partei Deutschlands (2009):<br />

Sozial und Demokratisch. Anpacken. Für Deutschland.<br />

Das Regierungsprogramm der SPD.<br />

Sozialdemokratische Partei Deutschlands (2010):<br />

Ohne Angst und Träumereien. Gemeinsam in<br />

Deutschland leben. Resolution des Bundespartei -<br />

tages.<br />

84 Die SPD auf dem Weg zu einem progressiven Selbstverständnis im pluralen Deutschland? Argumente 2/<strong>2013</strong>


Argumente_02_<strong>2013</strong>_Inhalt 13.08.13 11:39 Seite 85<br />

DIE WÜRDE DER ARBEIT<br />

– SPD-POLITIK<br />

FÜR BESCHÄFTIGTE<br />

von Klaus Wiesehügel, Vorsitzender der Gewerkschaft IG BAU und zuständig für den<br />

Bereich Arbeit und Soziales im Kompetenzteam von Peer Steinbrück<br />

In den deutschen Medien ist ein Stimmungswandel<br />

zu beobachten. Über<br />

viele Jahre beschäftigten sich Print-,<br />

Rundfunk- und Fernsehbeiträge mit<br />

„faulen“ Arbeitslosen, „Sozialabzocke“,<br />

„überhöhten“ tariflichen Leistungen<br />

und vielem mehr. Die Grundtendenz<br />

bei vielen Beiträgen war klar: Die Errungenschaften,<br />

für die Generationen<br />

von Gewerkschaftern und Sozial -<br />

demokraten durchaus erfolgreich gekämpft<br />

hatten, waren mitschuldig an<br />

hoher Arbeitslosigkeit und mangelnder<br />

Wettbewerbsfähigkeit.<br />

Seit einiger Zeit hat sich das Bild gewandelt.<br />

Berichte über unzumutbare Arbeitsbedingungen<br />

beim größten Versandhändler<br />

Amazon, die Ausbeutung von<br />

Menschen über (Schein-) Werkverträge<br />

bei einem Hersteller deutscher Luxusautos<br />

oder zuletzt die unwürdige Beschäftigung<br />

in der Fleischzerlegung zeigen, dass der radikale<br />

Wandel der Arbeitswelt dramatische<br />

Folgen im deutschen Sozialgefüge hat und<br />

dass diese Entwicklung auch vielen zu denken<br />

gibt, von denen man es früher nicht<br />

unbedingt erwartet hätte. Die Berichterstattung<br />

macht nun einer breiten Öffentlichkeit<br />

deutlich: Wir haben es mit einer<br />

tiefgreifenden Entwertung von Erwerbsarbeit<br />

zu tun. Und diese Entwertung hat verschiedene<br />

Facetten.<br />

Erwerbsarbeit wird entwertet, weil sie<br />

immer schlechter bezahlt wird. Das WSI<br />

der Hans-Böckler-Stiftung hat unlängst<br />

bekanntgegeben, dass Deutschland den<br />

siebtgrößten Niedriglohnsektor in der Europäischen<br />

Union hat. Vor uns liegen Litauen,<br />

Lettland, Estland, Rumänien, Polen<br />

und Zypern. Und dann kommt unser<br />

Land, ein Land, das sich gleichzeitig mit<br />

dem Titel des Exportweltmeisters schmückt.<br />

Mittlerweile arbeiten rund 23 % der Beschäftigten<br />

im Niedriglohnbereich. 6,8<br />

Mil lionen Menschen verdienen weniger als<br />

8,50 Euro. Rund 1,3 Millionen Menschen<br />

müssen sich trotz Arbeit staatliche Unterstützung<br />

holen.<br />

85


Argumente_02_<strong>2013</strong>_Inhalt 13.08.13 11:39 Seite 86<br />

Im Berliner Stadtbezirk Schöneberg<br />

wirbt ein Friseurgeschäft mit einem Preis<br />

für den Haarschnitt von 6,95 Euro. Wohlgemerkt:<br />

Der Friseurberuf erfordert eine<br />

Ausbildung von drei Jahren. Bei einem<br />

Haarschnitt für 6,95 Euro kann man nur<br />

vermuten, wie viel Lohn für den Friseur<br />

oder die Friseurin übrigbleibt.<br />

Wie muss sich ein Mensch fühlen, der<br />

eine lange Ausbildung absolviert hat und<br />

jeden Tag hart arbeitet, wenn sein Fachwissen<br />

und Können derart verramscht<br />

wird?<br />

Deswegen brauchen wir den gesetzlichen<br />

Mindestlohn von mindestens 8,50<br />

Euro, einheitlich, in allen Branchen, in Ost<br />

und West. Die Union will das nicht, die<br />

FDP schon gar nicht. Sie wollen differenzieren,<br />

nach Branchen und nach Regionen.<br />

Sie vergessen dabei einen ganz entscheidenden<br />

Punkt: Der Mindestlohn muss gewährleisten,<br />

dass Arbeit zum Leben reicht.<br />

Dabei geht es um die Würde des Menschen<br />

und seiner Arbeit. Und die Würde<br />

des Menschen und seiner Arbeit kann man<br />

nicht differenzieren, nicht nach Branchen<br />

und nicht nach Regionen. Diesen Grundzusammenhang<br />

haben Merkel und von der<br />

Leyen nicht verstanden, oder schlimmer,<br />

wahrscheinlich ist es ihnen egal.<br />

Vor kurzem wurde ein tariflicher Mindestlohn<br />

für das Friseurhandwerk vereinbart,<br />

der stufenweise eingeführt wird. Ab<br />

2015 soll ein einheitlicher Mindestlohn von<br />

8,50 Euro gelten. Dieser tarifliche Mindestlohn<br />

gilt aber erst einmal nur in den Betrieben,<br />

die Mitglied des Innungsverbandes<br />

sind. Im Saarland beispielsweise sind aber<br />

nur 190 der 1.000 Friseurbetriebe Mitglied<br />

der Innung. Deswegen wird die Allgemein -<br />

verbindlichkeit des Tarifabschlusses angestrebt.<br />

Dafür gibt es aber derzeit noch zu<br />

hohe Hürden.<br />

Niedriglöhne sind in den Betrieben<br />

weit häufiger, in denen es keine Tarifbindung<br />

gibt. Und die Tarifbindung befindet<br />

sich seit vielen Jahren im Sinkflug. Derzeit<br />

arbeiten noch 61 % der westdeutschen Beschäftigten<br />

und nur noch 49 % der ostdeutschen<br />

Beschäftigten in einem tarifgebundenen<br />

Betrieb. Das ist ein Grund,<br />

warum insgesamt der Druck auf die Löhne<br />

massiv zugenommen hat und warum wir<br />

über viele Jahre eine schlechtere Reallohnentwicklung<br />

hatten, als in allen anderen<br />

unserer Nachbarländer. Aufgrund dieser<br />

Entwicklung ist die Behauptung von Konservativen<br />

und Liberalen auch Unsinn, der<br />

gesetzliche Mindestlohn sei ein Eingriff in<br />

die Tarifautonomie. Die massive Tarifflucht<br />

vieler Betriebe macht den Mindestlohn<br />

notwendig und stellt eine Ergänzung<br />

des Tarifvertragssystems dar. Tarifflucht<br />

darf sich nicht lohnen. Deshalb werden wir<br />

die Bedingungen erleichtern, unter denen<br />

ein Tarifvertrag allgemeinverbindlich werden<br />

kann und damit für alle Arbeitgeber<br />

und Beschäftigten einer Branche gilt. Derzeit<br />

müssen als Voraussetzung 50 % der<br />

Beschäftigten einer Branche in einem tarifgebundenen<br />

Betrieb arbeiten. Dieses<br />

Quorum wird immer seltener erreicht. Nur<br />

etwas mehr als 500 von insgesamt rund<br />

68.000 gültigen Tarifverträgen sind heute<br />

allgemeinverbindlich, eine größere Zahl<br />

darunter übrigens im Baugewerbe. Die<br />

SPD wird deshalb das 50 %-Quorum<br />

durch Kriterien ersetzen, die das öffentliche<br />

Interesse an der Allgemeinverbindlichkeit<br />

konkretisieren. Wenn wir die Zahl allgemeinverbindlicher<br />

Tarifverträge steigern,<br />

stärken wir damit auch die Tarifautonomie.<br />

86 Die Würde der Arbeit – SPD-Politik für Beschäftigte Argumente 2/<strong>2013</strong>


Argumente_02_<strong>2013</strong>_Inhalt 13.08.13 11:39 Seite 87<br />

Erwerbsarbeit wird aber auch entwertet,<br />

weil sie unsicherer geworden ist. Diese<br />

Entwicklung geht über alle Branchen. Im<br />

produzierenden Gewerbe ebenso wie im<br />

Handwerk und im Dienstleistungsbereich.<br />

Es geht einerseits um die massive Ausweitung<br />

von Leiharbeit. Die Deregulierung<br />

des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes im<br />

Rahmen der Hartz-Reformen hat nicht<br />

zum erhofften Ziel geführt, Arbeitslose<br />

schneller in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren.<br />

Der so genannte Klebeeffekt<br />

liegt unter 15 % der Leiharbeitsverhältnisse.<br />

Stattdessen wurden größere Teile der<br />

Stammbelegschaften durch unsichere,<br />

schlechter bezahlte Leiharbeit ersetzt.<br />

Dem Lohndumping wurde Tür und Tor<br />

geöffnet. Die tariflich vereinbarten Zuschläge<br />

für Leiharbeit sind zwar ein Schritt<br />

in die richtige Richtung, die gesetzliche<br />

Durchsetzung von equal pay und equal<br />

treatment ersetzen sie aber nicht. Sie ist<br />

überfällig.<br />

Und dann geht es um den Missbrauch<br />

von Werkverträgen: die alte Masche in<br />

Branchen, in denen Leiharbeit verboten<br />

ist, die neue Masche der Arbeitgeber, denen<br />

selbst Leiharbeit zu teuer geworden<br />

ist. Wir brauchen eine klarere, einfacher<br />

nachweisbare gesetzliche Regelung, wo ein<br />

Werkvertrag aufhört und illegale Arbeitnehmerüberlassung<br />

beginnt. Vor allem<br />

muss der Missbrauch einfacher und stärker<br />

kontrolliert und durch Staatsanwälte verfolgt<br />

werden, die sich in der Materie auskennen.<br />

Und es geht um die Millionen Menschen,<br />

die nur einen befristeten Vertrag bekommen.<br />

Jeder zweite neue Arbeitsvertrag<br />

wird nur noch befristet abgeschlossen. Vor<br />

kurzem hat die IG Metall die Ergebnisse<br />

ihrer Beschäftigtenbefragung veröffentlicht,<br />

an der sich mehr als eine halbe Million<br />

Beschäftigte beteiligt haben. Auf die<br />

Frage, was sie mit guter Arbeit verbinden,<br />

antworteten die meisten nicht „ein gutes<br />

Betriebsklima“ oder „eine interessante Arbeit“.<br />

99 % halten einen unbefristeten Arbeitsvertrag<br />

für entscheidend. Ich bin sicher,<br />

vor 20 Jahren sah die Priorität noch<br />

anders aus, weil sich dieses Problem für die<br />

meisten überhaupt nicht stellte. Es geht für<br />

viele heute schlicht um Planungssicherheit,<br />

ohne die Sorge, wie es in einem Jahr weitergeht.<br />

Gerade von jungen Menschen<br />

wird verlangt, sie sollten vorsorgen, Wohneigentum<br />

schaffen, eine Familie gründen<br />

und sich am besten auch noch ehrenamtlich<br />

engagieren. Gleichzeitig sind es gerade<br />

junge Menschen, die von einem befristeten<br />

Vertrag in den anderen geschoben werden.<br />

Das passt nicht zusammen. Und deswegen<br />

werden wir die sachgrundlose Befristung<br />

abschaffen. Sie hat nicht mehr Beschäftigung<br />

gebracht, sondern mehr unsichere<br />

Beschäftigung.<br />

Und letztlich wird Erwerbsarbeit oft<br />

nachträglich entwertet, wenn man sie unverschuldet<br />

verliert. Ein Viertel der Menschen,<br />

die arbeitslos werden, bekommt gar<br />

kein Arbeitslosengeld mehr, sondern<br />

rutscht direkt in Hartz IV. Sie zahlen zwar<br />

Beiträge in die Arbeitslosenversicherung,<br />

schaffen es aber nicht, die notwendige Zeit<br />

in Arbeit zu bleiben, die einen Anspruch<br />

auf Arbeitslosengeld begründet. Eine Folge<br />

von zunehmender prekärer Beschäftigung,<br />

von Leiharbeit, Niedriglohn und Befristungen.<br />

Darum müssen wir uns<br />

kümmern. Indem wir prekäre Beschäftigung<br />

zurückdrängen; und indem wir die<br />

Anspruchsvoraussetzungen der Arbeitslosenversicherung<br />

wieder verbessern. Das<br />

87


Argumente_02_<strong>2013</strong>_Inhalt 13.08.13 11:39 Seite 88<br />

steht in unserem Wahlprogramm. Für<br />

manche mag das ein Detail sein, für sehr<br />

viele Menschen bedeutet es mehr Schutz<br />

gegen Abstieg und Existenzangst.<br />

Das sind wichtige Maßnahmen, um<br />

zentrale Sicherungsversprechen unserer<br />

Arbeitsgesellschaft und unseres Sozialstaates<br />

wieder mit Leben zu füllen. Leistung<br />

lohnt sich und wenn Du unverschuldet in<br />

Not gerätst, wird Dir geholfen und Du<br />

musst Dir keine Sorgen um Deine Existenz<br />

machen.<br />

Die Würde des Menschen und die<br />

Würde der Arbeit ist für die Sozialdemokratie<br />

immer unverzichtbar und auch<br />

durch eine starke Mitbestimmung der Arbeitnehmerinnen<br />

und Arbeitnehmer in<br />

den Betrieben gewährleistet worden. Die<br />

Würde des Menschen und seiner Arbeit<br />

verlangt die Demokratisierung der Wirtschaft.<br />

Die Interessen der Menschen müssen<br />

im Vordergrund sozial verantwortbaren<br />

Wirtschaftens stehen, nicht kurzfristige<br />

Gewinninteressen. Mehr Demokratie im<br />

Betrieb zu wagen ist deshalb eine zentrale<br />

Herausforderung der nächsten Jahre. Das<br />

betrifft mehrere Ebenen: die Mitbestimmung<br />

der Arbeitnehmerbank in den Aufsichtsräten,<br />

die Rechte der Betriebsräte sowie<br />

Dialog- und Beteiligungs möglichkeiten<br />

der Beschäftigten.<br />

Uns allen ist die Hilflosigkeit der Betroffenen<br />

und der Politik in schlechter Erinnerung,<br />

als etwa Nokia in Bochum oder<br />

AEG in Nürnberg die Tore schlossen und<br />

die Produktion ins Ausland verlagerten,<br />

weil sich dort noch etwas billiger – aber<br />

nicht besser – produzieren ließ. Wir müssen<br />

die Rechte der Betriebsräte und Gewerkschaften<br />

in den Aufsichtsräten stärken,<br />

indem wir einen gesetzlichen Mindestkatalog<br />

zustimmungsbedürftiger Geschäfte<br />

festlegen. Dazu muss die Entscheidung<br />

über Einrichtung, Schließung oder<br />

Verlagerung von Produktionsstandorten<br />

gehören. Zugleich wollen wir den Schwellenwert<br />

für die Geltung der paritätischen<br />

Mitbestimmung von derzeit 2.000 auf<br />

1.000 Beschäftigte senken. Und wir müssen<br />

endlich unterbinden, dass Unternehmen<br />

mit Sitz in Deutschland eine ausländische<br />

Rechtsform wie die „Limited“<br />

wählen, um das hiesige Mitbestimmungsrecht<br />

zu umgehen.<br />

Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer<br />

erleben Mitbestimmung und Teilhabe<br />

in erster Linie über die Interessenvertretung<br />

im Betrieb. Betriebsräte helfen und<br />

unterstützen in vielen konkreten Fragen<br />

oder Problemen. Sie sind Ansprechpartner<br />

und Vertrauenspersonen und übernehmen<br />

häufig auch Managementaufgaben. Die<br />

Betriebsräte leisten einen unverzichtbaren<br />

Beitrag für mehr Demokratie und Ausgleich<br />

im Betrieb. Die Rechte der Betriebsräte<br />

zu stärken, hilft damit auch den<br />

Unternehmen, denn ein erfolgreiches Unternehmen<br />

lebt von seinen gut ausgebildeten<br />

und motivierten Beschäftigten.<br />

Die massive Ausweitung atypischer<br />

und prekärer Beschäftigungsformen setzt<br />

die Stammbelegschaften und die Betriebsräte<br />

zunehmend unter Druck. Der günstigere<br />

Mitarbeiter nebenan, der die gleiche<br />

Arbeit macht, aber nur die Hälfte bekommt,<br />

stellt immer auch ein Drohpotential<br />

dar. Es ist deshalb dringend notwendig,<br />

die Mitbestimmungsrechte der Betriebsräte<br />

bei Fremdbeschäftigung im Betrieb<br />

deutlich zu stärken. Das betrifft Umfang<br />

und Dauer von Leiharbeit ebenso wie das<br />

88 Die Würde der Arbeit – SPD-Politik für Beschäftigte Argumente 2/<strong>2013</strong>


Argumente_02_<strong>2013</strong>_Inhalt 13.08.13 11:39 Seite 89<br />

Zustimmungsverweigerungsrecht beim<br />

Einsatz von Werkverträgen. Und natürlich<br />

müssen Leiharbeitsbeschäftigte bei der Bestimmung<br />

der zu wählenden Betriebsratsgröße<br />

mitzählen.<br />

Die zentrale Aufgabe der nächsten Jahre<br />

wird sein, den Wert der Arbeit wiederherzustellen.<br />

Denn in den letzten 20 Jahren<br />

hat sich ein massiver Kultur- und<br />

Wertewandel in unserer Arbeitsgesellschaft<br />

vollzogen. Grundprinzipien der sozialen<br />

Marktwirtschaft wie die gerechte<br />

Beteiligung der Arbeitnehmerinnen und<br />

Arbeitnehmer am wirtschaftlichen Erfolg,<br />

Teilhabe und Mitbestimmung werden zunehmend<br />

außer Kraft gesetzt und durch<br />

das Recht des Stärkeren ersetzt. Das ist in<br />

einer kapitalistischen Wirtschaftsweise<br />

nicht überraschend, aber die Bundesrepublik<br />

war mit dem Prinzip der sozialen<br />

Marktwirtschaft, den so genannten „weichen“<br />

Standortvorteilen, immer auch wirtschaftlich<br />

erfolgreich. Dieser Erfolg ist gefährdet.<br />

Auch deshalb müssen wir das, was<br />

in den letzten Jahren aus dem Ruder gelaufen<br />

ist, wieder in geordnete Bahnen lenken.<br />

Ordnung auf dem Arbeitsmarkt ist Ausdruck<br />

politischer Verantwortung im Interesse<br />

der Menschen, aber auch der vielen<br />

Unternehmen, die sich an die Regeln halten.<br />

Das war früher einmal politischer<br />

Konsens. Heute entziehen sich Union und<br />

FDP mit ihrer schon grotesken Tatenlosigkeit<br />

jeglicher Verantwortung für die Gestaltung<br />

politischer Rahmenbedingungen.<br />

Das ist auch eine Chance. Denn die<br />

Sozialdemokratie hat klare politische Alternativen<br />

benannt, für die ich als Person<br />

stehe. Wir brauchen Taten, die die Würde<br />

der Arbeit wiederherstellt! l<br />

89


Argumente_02_<strong>2013</strong>_Inhalt 13.08.13 11:39 Seite 90<br />

VON DER LEISTUNGS-<br />

ZUR ERBENGESELL-<br />

SCHAFT?<br />

von Anita Tiefensee, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hertie School<br />

of Governance*<br />

Wer sich anstrengt wird belohnt. Dieses<br />

Mantra wird nun schon seit Jahrzehnten<br />

ins Feld geführt, wenn es um<br />

das Thema (Um-)Verteilung geht. Das<br />

heißt, wer sich (weiter-)bildet und fleißig<br />

arbeitet erhält ein adäquates Einkommen<br />

und gesellschaftliches Ansehen.<br />

All jene, die ihren<br />

Lebensunterhalt nicht selbst bestreiten<br />

können und auf Unterstützung<br />

vom Staat angewiesen sind, haben<br />

sich nach dieser Logik also nicht genug<br />

angestrengt, werden im Zweifel<br />

sogar als faul gebrandmarkt.<br />

Einflussfaktor Elternhaus<br />

Mal ganz abgesehen davon, dass starke<br />

Schultern mehr tragen können als Schwache,<br />

und dies gerade in einem Sozialstaat<br />

auch praktisch gelebt werden sollte, ist spätestens<br />

seit PISA bekannt, dass (schulischer)<br />

Erfolg nicht nur vom Leistungswillen<br />

oder gar der Begabung des Kindes<br />

abhängt. Ausschlaggebend ist, in welchem<br />

Elternhaus es groß geworden ist. Bereits<br />

bei der Empfehlung für die weiterführende<br />

Schule werden Kinder aus sogenannten<br />

bildungsfernen Haushalten bei gleicher<br />

Leistung benachteiligt (Bos et al. 2012).<br />

An die Uni/Hochschule schaffen es dann<br />

aktuell von 100 Kindern mit AkademikerInneneltern<br />

77, von 100 Kindern mit<br />

Nicht-AkademikerInneneltern sind es 23<br />

(Middendorff et al. <strong>2013</strong>). Dies hat natürlich<br />

Auswirkungen auf den beruflichen<br />

Werdegang und das damit verbundene<br />

Einkommen. Für Kinder aus AkademikerInnenhaushalten<br />

kommen neben der geistigen<br />

und finanziellen Unterstützung in<br />

der Schulzeit bei der Jobsuche weitere fördernde<br />

Aspekte hinzu, wie ein erlernter<br />

Habitus oder gute Kontakte der Eltern, die<br />

häufig türöffnend wirken. Eine Person aus<br />

einer bildungsfernen Familie hat somit bei<br />

gleichem Einkommen in der Regel (relativ<br />

gesehen) mehr dafür leisten müssen.<br />

Das Elternhaus bestimmt aber nicht<br />

nur das eigene Einkommen sondern, gerade<br />

auch das Vermögen. Dessen Besitz kann<br />

neben erweiterten Konsummöglichkeiten<br />

* Der Artikel gibt die persönliche Meinung der<br />

Autorin wieder und nicht die der Institution.<br />

90 Von der Leistungs- zur Erbengesellschaft? Argumente 2/<strong>2013</strong>


Argumente_02_<strong>2013</strong>_Inhalt 13.08.13 11:39 Seite 91<br />

u. a. auch Einkommensausfälle stabilisieren<br />

und der Alterssicherung, der (Aus-<br />

)Bildung von Kindern und der intergenerationalen<br />

Übertragung dienen. Der Besitz<br />

von Vermögen schafft somit eine finanzielle<br />

Unabhängigkeit, und das Vorhandensein<br />

von hohen Vermögen geht häufig mit einer<br />

wirtschaftlichen und politischen Machtposition<br />

einher (Grabka und Frick 2007 und<br />

Hauser 2009). Im Jahr 2007 belief sich das<br />

Nettogesamtvermögen der Personen in<br />

privaten Haushalten in Deutschland auf<br />

rund 6,1 Billionen Euro. 15 Die Konzentration<br />

des Vermögens nahm in den vergangenen<br />

Jahren zu. Zwischen 2002 und 2007<br />

stieg der Gini-Koeffizient 16 des individuellen<br />

Nettovermögens von 0,777 auf 0,799.<br />

Die oberen 10 Prozent der Bevölkerung<br />

hielten im Jahr 2002 57,9 Prozent am Gesamtvermögen,<br />

fünf Jahre später waren es<br />

bereits 61,1 Prozent. Die unteren 70 Prozent<br />

verfügten hingegen 2002 über 10,3<br />

Prozent und 2007 sogar nur noch über 8,8<br />

Prozent. Die unteren 30 Prozent besitzen<br />

nach wie vor kein bzw. ein negatives Nettovermögen<br />

(Frick, Grabka und Hauser 2010<br />

und Abbildung 1). Das verfügbare Ein-<br />

kommen ist hingegen wesentlich weniger<br />

konzentriert (vgl. Grabka, Goebel, Schupp<br />

2012).<br />

Materielles Vermögen erwirbt man<br />

entweder durch Sparen des eigenen Einkommens<br />

oder durch Schenkungen und<br />

Erbschaften. Diese werden in den nächsten<br />

Jahren gerade in Westdeutschland aus<br />

den seit den 1950er Jahren akkumulierten<br />

Vermögen bestehen. Braun, Pfeiffer und<br />

Thomschke (2011) prognostizieren die generationenübergreifenden<br />

Übertragungen<br />

zwischen 2011 und 2020 auf 1,7 Billionen<br />

Euro oder 174 Milliarden Euro jährlich.<br />

Immobilienbesitz wird den größten Anteil<br />

(ca. 50 Prozent) am Erbe ausmachen. Die<br />

Höhe der Erbschaft steigt laut der Prognose<br />

mit dem Einkommen. Geringverdiener<br />

erben zudem seltener. Es erben also vor allem<br />

diejenigen hohe Beträge, die es sich finanziell<br />

leisten konnten bereits überdurchschnittliche<br />

Vermögen aus ihrem lau fenden<br />

Einkommen anzusparen. Mit einer abnehmenden<br />

Kinderzahl wird das Erbschaftsvolumen<br />

zudem auf einen kleineren<br />

Teil der Bevölkerung verteilt, so dass davon<br />

ausgegangen werden kann, dass die Vermögensungleichheit<br />

weiter zunehmen<br />

dürfte.<br />

Vor dem Hintergrund dieser Fakten<br />

stellt sich nun natürlich die Frage, wie sie<br />

Abbildung 1<br />

Quellen: SOEP, Berechnungen des DIW Berlin<br />

15 Grundlage dieser Berechnung (sowie der folgenden<br />

in diesem Absatz) ist das Sozio-oekonomische<br />

Panel des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung.<br />

Das dort erhobene Vermögen<br />

enthält keine PKWs oder Hausrat. Zudem wird<br />

der obere Rand der Verteilung trotz Hocheinkommensstichprobe<br />

immer noch untererfasst.<br />

16 Ein Wert von 0 bedeutet, dass das Vermögen auf<br />

alle Personen gleich verteilt ist. Ein Wert von 1<br />

heißt, dass das gesamte Vermögen einer einzigen<br />

Person gehört.<br />

91


Argumente_02_<strong>2013</strong>_Inhalt 13.08.13 11:39 Seite 92<br />

mit dem eingangs beschriebenen Mantra<br />

„Wer sich anstrengt wird belohnt“ zu vereinbaren<br />

sind. Der Weg über den vermeintlich<br />

klassischen Bildungsaufstieg ist<br />

mit vielen Hindernissen übersät. Er kann<br />

zwar zu einem hohen Einkommen und sicherlich<br />

auch zu einem gewissen Vermögen<br />

führen, aber die wirklich hohen Vermögen<br />

werden mittlerweile in der Regel<br />

von der vorherigen Generation übernommen.<br />

17 Sowohl Schenkungen als auch Erbschaften<br />

beruhen in der Regel nicht auf<br />

Leistung, sondern auf verwandtschaftlichen<br />

Verhältnissen. Ein Kind hat somit<br />

Glück oder Pech in eine wohlhabende oder<br />

eine arme Familie geboren zu werden. Natürlich<br />

zählen im Leben nicht nur materielle<br />

Dinge, sondern vor allem auch Liebe<br />

und Geborgenheit, die Eltern sowie das<br />

persönliche Umfeld völlig unabhängig von<br />

Einkommen und Vermögen geben können.<br />

Zudem wird in Deutschland eine materielle<br />

Grundsicherung vom Staat gewährleistet.<br />

Gesellschaftliche Teilhabe<br />

bedeutet allerdings weit mehr, sie funktioniert<br />

bei uns aktuell nur bedingt ohne materielle<br />

Ressourcen. Zudem gehen, wie bereits<br />

erwähnt, hohe Vermögen häufig mit<br />

einer wirtschaftlichen und politischen<br />

Machtposition einher, die über demokratische<br />

Wahlen hinausgehen.<br />

Was macht die SPD?<br />

Für die SPD steht „bei der Besteuerung<br />

von Erbschaften […] die Steuergerechtigkeit<br />

im Vordergrund“. Sie will deshalb „die<br />

missbräuchliche Ausnutzung von steuerlichen<br />

Gestaltungsmöglichkeiten zugunsten<br />

einer geringen Zahl reicher Erben nicht<br />

länger hinnehmen“ und „Begünstigungen<br />

bei der Erbschaftsbesteuerung künftig viel<br />

stärker an den dauerhaften Erhalt von Arbeitsplätzen<br />

koppeln“ (SPD <strong>2013</strong>, S. 68).<br />

Sehr begrüßenswerte Forderungen. Die<br />

Union lehnt eine Erhöhung der Erbschaftssteuer<br />

„entschieden ab“ (CDU/CSU<br />

<strong>2013</strong>, S. 27). Genau diese Debatte sollte allerdings,<br />

gerade auch von der SPD, geführt<br />

werden. Der maximale Steuerbetrag für<br />

Ehegatten/LebenspartnerInnen und Kinder<br />

liegt aktuell bei 30 Prozent (§§ 15 und<br />

19 Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuergesetz,<br />

ErbStG). Dieser greift allerdings<br />

erst ab einer Erbsumme von 26 Millionen<br />

Euro pro Person – Freibeträgevon500.000<br />

Euro für Ehegatten/LebenspartnerInnen<br />

bzw. 400.000 Euro für jedes Kind sind<br />

hierbei bereits berücksichtigt (§§ 16 und<br />

19 ErbStG). 18 Ein Beispiel: Liegt die Erbsumme<br />

pro Person bei 500.000 Euro zahlen<br />

Ehegatten/LebenspartnerInnen überhaupt<br />

keine Erbschaftssteuer und Kinder<br />

müssen 11 Prozent von 100.000 Euro abgeben<br />

(also 11.000 Euro). Bei selbst genutzten<br />

Immobilien gibt es für Ehegatten/<br />

LebenspartnerInnen und Kinder zudem<br />

Sonderreglungen, die unabhängig vom<br />

Wert der Immobilie zu Steuerfreiheit führen<br />

können (§ 13 ErbStG). Wird Betriebsvermögen<br />

oder land- und forstwirtschaftliches<br />

Vermögen geerbt, kann die zu<br />

zahlende Erbschafssteuer bereits aktuell<br />

auf bis zu zehn Jahre zinslos gestundet<br />

werden, sofern dies zur Erhaltung des Betriebs<br />

notwendig ist (§ 28 ErbStG).<br />

17 Von den 10 reichsten Deutschen sind bereits über<br />

2/3 Erben (Manager Magazin 2012).<br />

18 Die Erbschaftssteuer kann aktuell maximal 50<br />

Prozent betragen. Dies betrifft alle übrigen Erben,<br />

die nicht in eine der folgenden Kategorien<br />

fallen: Ehegatten/LebenspartnerInnen, Kinder,<br />

EnkelInnen, Eltern, Geschwister. Der Freibetrag<br />

liegt für diese Gruppe bei 20.000 Euro (§§ 15, 16<br />

und 19 ErbStG).<br />

92 Von der Leistungs- zur Erbengesellschaft? Argumente 2/<strong>2013</strong>


Argumente_02_<strong>2013</strong>_Inhalt 13.08.13 11:39 Seite 93<br />

Die Steuereinnahmen aus der Erbschaftssteuer,<br />

die den Ländern zugute<br />

kommen, beliefen sich im Jahr 2012 auf 4,3<br />

Milliarden Euro. Die Kraftfahrzeugsteuer<br />

brachte im Vergleich fast doppelt so viel<br />

ein – 8,4 Milliarden Euro (Bundesministerium<br />

der Finanzen <strong>2013</strong>). Im Jahr 2010<br />

(das ähnliche Steuereinnahmen verzeichnete)<br />

waren lediglich etwa 10 Prozent der<br />

Erbfälle erbschaftssteuerpflichtig. Dies<br />

liegt an den hohen Freibeträgen innerhalb<br />

des familiären Bereichs (Braun, Pfeiffer<br />

und Thomschke 2011). Auch hierüber<br />

sollte die SPD eine ehrliche Debatte führen.<br />

Zwar machen gewisse Freibeträge mit<br />

Sicherheit Sinn, da gerade Haushalte, die<br />

über keinerlei Vermögen verfügen, erst<br />

durch eine Erbschaft in die Lage versetzt<br />

werden, Vermögen aufzubauen (Künemund<br />

und Vogel 2011). Aber über die<br />

Höhe der Freibeträge sollte die SPD noch<br />

einmal nachdenken und verschiedene Szenarien<br />

und ihre Verteilungswirkungen<br />

durchrechnen. Dabei sollten vor allem<br />

Auswirkungen auf das Immobilien- und<br />

Betriebsvermögen berücksichtigt werden<br />

sowie eventuelle Ausweicheffekte.<br />

In was für einer Gesellschaft wollen wir<br />

leben?<br />

Insgesamt sollte die SPD in der Debatte<br />

um die Erbschaftssteuer viel mehr betonen,<br />

dass es gerecht und zudem ökonomisch<br />

sinnvoll ist, wenn leistungslos<br />

ererbtes Vermögen angemessen besteuert<br />

wird. Chancengleichheit ist bekanntlich<br />

am ehestens gegeben, wenn möglichst alle<br />

Kinder von Anfang an von (frühkindlicher)<br />

Bildung profitieren. Dies kostet Geld. Mal<br />

ganz abgesehen davon, dass Menschen<br />

durch Bildung die Welt und ihre Möglichkeiten<br />

ganz anders wahrnehmen und nutzen<br />

können, ist es zudem ökonomisch<br />

sinnvoller, in Bildung als später dann in<br />

Sozialleistungen zu investieren.<br />

Eine Debatte um die Erbschaftssteuer<br />

hat also nichts mit Neid oder gar Enteignung<br />

zu tun, sondern mit ökonomischer<br />

Vernunft und vor allem mit Gerechtigkeit.<br />

Den Übergang von einer Leistungs- in<br />

eine Erbengesellschaft kann niemand in<br />

der Sozialdemokratie wirklich wollen.<br />

Lasst uns darüber diskutieren, in was für<br />

einer Gesellschaft wir zukünftig leben wollen<br />

und lasst uns dabei nicht nur das ich<br />

(und meine Familie) betonen, sondern das<br />

WIR! l<br />

Literatur<br />

Bos, W., I.Tarelli, A.Bremerich-Vos, K.Schwippert<br />

(2012): IGLU 2011 – Lesekompetenzen von Grundschulkindern<br />

in Deutschland im internationalen<br />

Vergleich. Waxmann. Berlin.<br />

Braun, R., U. Pfeiffer und L. Thomschke (2011):<br />

Erben in Deutschland – Volumen, Verteilung und<br />

Verwendung. Deutsches Institut für Altersvorsorge<br />

GmbH. Köln.<br />

Bundesministerium der Finanzen (<strong>2013</strong>): Steuereinnahmen<br />

nach Steuerarten 2010 – 2012.<br />

http://www.bundesfinanzministerium.de/Content/<br />

DE/Standardartikel/Themen/Steuern/<br />

Steuerschaetzungen_und_Steuereinnahmen/<br />

2-kassenmaessige-steuereinnahmen-nachsteuerarten-1950-bis-2012.html<br />

[27.06.<strong>2013</strong>].<br />

CDU/CSU (<strong>2013</strong>): Gemeinsam erfolgreich für<br />

Deutschland. Regierungsprogramm <strong>2013</strong> – 2017.<br />

Frick, J.R., M.M. Grabka, R. Hauser (2010): Die<br />

Verteilung der Vermögen in Deutschland. Edition<br />

Sigma. Berlin.<br />

Grabka, M.M. und J.R. Frick (2007): Vermögen in<br />

Deutschland wesentlich ungleicher verteilt als Einkommen.<br />

In: DIW Wochenbericht LXXVII (45),<br />

665 – 672.<br />

93


Argumente_02_<strong>2013</strong>_Inhalt 13.08.13 11:39 Seite 94<br />

Grabka, M.M., J. Goebel, J. Schupp (2012): Höhepunkt<br />

der Einkommensungleichheit in Deutschland<br />

überschritten? DIW-Wochenbericht. 79(43). 3 – 15.<br />

Hauser, Richard (2009): Die Entwicklung der Einkommens-<br />

und Vermögensverteilung in Deutschland<br />

in den letzten Dekaden. In: Druyen, Thomas; Lauterbach,<br />

Wolfgang; Grundmann, Matthias (Hg.).<br />

Reichtum und Vermögen. Zur gesellschaftlichen<br />

Bedeutung der Reichtums- und Vermögens -<br />

forschung. VS-Verlag, Wiesbaden. S. 54 – 68.<br />

Künemund, H. und C. Vogel (2011): Erbschaften<br />

und Vermögensungleichheit. Vortrag zur Frühjahrstagung<br />

2011 der Sektion Wirtschaftssoziologie<br />

(MS).<br />

Manager Magazin (2012): Die 500 reichsten<br />

Deutschen. Manager Magazin spezial.<br />

Middendorff, E., B. Apolinarski, J. Poskowsky,<br />

M. Kandulla, N. Netz (<strong>2013</strong>): Die wirtschaftliche<br />

und soziale Lage der Studierenden in Deutschland<br />

<strong>2013</strong>. Bundesministerium für Bildung und<br />

Forschung. Bonn, Berlin.<br />

SPD (<strong>2013</strong>): Das WIR entscheidet. Das Regierungsprogramm<br />

<strong>2013</strong> – 2017.<br />

94 Von der Leistungs- zur Erbengesellschaft? Argumente 2/<strong>2013</strong>


Argumente_02_<strong>2013</strong>_Inhalt 13.08.13 11:39 Seite 95<br />

EIN ANDERES DEUTSCH-<br />

LAND IN EINEM ANDE-<br />

REN EUROPA: WAS<br />

EUROPÄERINNEN VON<br />

DER BUNDESTAGSWAHL<br />

ERWARTEN<br />

von Daniel Cornalba, Vizepräsident der Young European Socialists, Nationalsekretär<br />

für den Arbeitsbereich Europa des MJS France<br />

Vor einem Jahr im Juni 2012 gewannen<br />

die SozialistInnen mit François<br />

Hollande die Präsidentschaftswahl.<br />

Dieser erste Schritt in Richtung eines<br />

Wandels in Frankreich und einer Umorientierung<br />

Europas, so wichtig er<br />

sein mag, bedeutet noch kein Sieg unserer<br />

Ideen für ein anderes, soziales<br />

und ökologisches Europa.<br />

Soziale Gerechtigkeit, nachhaltiges<br />

Wachstum, Umverteilung, ständige<br />

Demokratisierung: All diese Ziele sind<br />

nur dann in Europa zu erreichen, wenn<br />

im September <strong>2013</strong> in Deutschland<br />

und kurz danach im Juni 2014 in ganz<br />

Europa wir SozialdemokratInnen und<br />

SozialistInnen eine Mehrheit zusammen<br />

mit unseren linken KoalitionspartnerInnen<br />

gewinnen.<br />

Europa braucht eine Alternative<br />

Wenn 57 % der Jugendlichen in Griechenland<br />

arbeitslos sind, mehr als 50 % in<br />

Spanien, 30 % in Irland, 26 % in Frankreich<br />

und allgemein 26,5 Millionen Menschen<br />

in Europa keine Arbeit finden; wenn<br />

tausende von ArbeiterInnen dazu gezwungen<br />

sind, im Ausland eine bessere Zukunft<br />

zu suchen; wenn Gehälter in Portugal oder<br />

Griechenland wegen Sparmaßnahmen um<br />

50 % reduziert werden; wenn im Namen<br />

der „Konsolidierungspolitik“ – sagen wir es<br />

einfach: der Sozialabbaupolitik – Grundbestandteile<br />

der Demokratie, wie Medien,<br />

Sozialversicherungen, Bildung, Kultur,<br />

Zukunftsinvestitionen, schlicht und einfach<br />

gestrichen werden, wie soll dann<br />

Europa auf irgendeiner Weise noch eine Hoffnung<br />

darstellen?<br />

95


Argumente_02_<strong>2013</strong>_Inhalt 13.08.13 11:39 Seite 96<br />

Wenn man Merkel oder Schäuble zuhört<br />

(das mag ab und zu vorkommen), gäbe<br />

es gegenüber dieser heutigen Lage keine<br />

andere mögliche Politik.<br />

Sparpolitik oder Chaos. „Politik für<br />

Wettbewerbsfähigkeit“ oder Niedergang.<br />

Mit Merkel erhält die berühmte Parole von<br />

Thatcher ein neues Leben: „There is no Alternative.“<br />

Keine Alternative.<br />

Diese Ansicht ist besonders in der Europapolitik<br />

durch ihre Institutionalisierung<br />

in den europäischen Verträgen mit der Unterstützung<br />

der heutigen europäischen<br />

Kommission unter Barroso zu beobachten:<br />

Es gäbe keine andere Möglichkeit als von<br />

der griechischen Regierung Massenentlassungen<br />

im öffentlichen Sektor zu verlangen,<br />

Gehälter zu kürzen und soziale Hilfen<br />

zu streichen. Schulen, Universitäten, Krankenhäuser,<br />

Museen werden geschlossen<br />

oder wenn möglich privatisiert. Es gibt<br />

keine Alternative!<br />

1600 Milliarden konnte man für Banken<br />

finden, um „Europa zu retten“. Ein<br />

„Marschallplan“ aber gegen Jugendarbeitslosigkeit<br />

und für nachhaltiges Wachstum,<br />

wie es Hollande oder Steinbrück vertreten,<br />

das ist völlig unmöglich. Höchstens 6 Milliarden<br />

für die nächsten zwei Jahre.<br />

Dabei handelt es sich hier nicht nur um<br />

eine Frage der internationalen Solidarität.<br />

Die Zukunft der europäischen und insbesondere<br />

der deutschen Wirtschaft hängt<br />

von der Nachfrage der anderen europäischen<br />

Länder ab. Drastische Kürzungen,<br />

massive Entlassungen und weniger Investitionen<br />

bedeuten auch weniger Konsum,<br />

weniger Importe, weniger Nachfrage und<br />

damit die allgemeine Verschlechterung der<br />

wirtschaftlichen Lage. Ist das wirtschaftliche<br />

Kompetenz? Wo Konservative dauerhafte<br />

Rezession bieten, wollen wir nachhaltiges<br />

Wachstum.<br />

Wozu sollten wir denn überhaupt noch<br />

wählen, wenn es nur eine einzige Politik<br />

gibt?<br />

Wo bleibt die Demokratie, wenn nicht<br />

gewählte Institutionen wie die Troika (Internationaler<br />

Währungsfonds, Europäische<br />

Kommission und Europäische Zentralbank),<br />

aufgrund einer vermeintlichen<br />

„Expertise“ einer demokratisch gewählten<br />

Regierung ihre Politik diktieren?<br />

Wo bleibt denn die Demokratie, wenn die<br />

Europäische Zentralbank (EZB) ohne jegliche<br />

demokratische Legitimität oder Kontrolle<br />

die Währungspolitik Europas entscheidet?<br />

Die „Stabilität“ der Preise kann<br />

nicht das einzige Ziel darstellen und die<br />

letzten Entscheidungen gegen die angebotsorientierte<br />

Politik der Konservativen<br />

haben es auch gezeigt. Nachhaltiges<br />

Wachstum und Arbeitslosigkeitsbekämpfung<br />

dürfen in den Statuten der EZB nicht<br />

vergessen werden.<br />

Wo bleibt die Demokratie, wenn das europäische<br />

Parlament entmachtet bleibt?<br />

Wie können wir uns noch wundern, dass<br />

die Beteiligung an Europawahlen und das<br />

Vertrauen in die EU ständig sinken?<br />

Wir SozialdemokratInnen und SozialistInnen<br />

stehen für Demokratie. Es<br />

ist unsere Aufgabe, eine Alternative zu<br />

verkörpern: Eine Auswahl soll es bei einer<br />

Wahl immer geben!<br />

Ein anderes Deutschland in einem anderen Europa:<br />

96 Was EuropäerInnen von der <strong>Bundestagswahl</strong> erwarten Argumente 2/<strong>2013</strong>


Argumente_02_<strong>2013</strong>_Inhalt 13.08.13 11:39 Seite 97<br />

Willy Brandt hat es bereits in seiner<br />

Regierungserklärung 1969 erörtert: „Wir<br />

wollen mehr Demokratie wagen“, „wir<br />

brauchen Menschen, die kritisch mitdenken,<br />

mitentscheiden und mitverantworten“.<br />

Er fügte hinzu: „Demokratie ist ein<br />

Prozess.“ Den wollen wir heute weiterführen.<br />

Wie Sigmar Gabriel vor kurzem in<br />

Madrid auf einer Pressekonferenz mit Alfredo<br />

Rubalcaba (PSOE) klarmachte, ist es<br />

diese Jugend, die wir heute ausbeuten, zertreten,<br />

missachten, die morgen Europa<br />

weiterentwickeln soll. Wie soll sie es tun,<br />

wenn für sie Europa nur noch Sparpolitik,<br />

soziale Unsicherheit und alternativlose<br />

Entscheidungen bedeutet?<br />

Die Gefahr für die Demokratie ist groß<br />

18 % der Jugendlichen wählten 2012<br />

bei der Präsidentschaftswahl in Frankreich<br />

Marine Le Pen (Front National). Neonazis<br />

sind seit den letzten landesweiten Wahlen<br />

im griechischen Parlament vertreten. Antieuropäische,<br />

ausländerfeindliche, rechtsextreme<br />

Parteien gewinnen nach und nach<br />

in den meisten europäischen Staaten an<br />

Einfluss, besonders in den Staaten, wo Sparpakete<br />

oktroyiert worden sind. In Ungarn<br />

ist diese Ideologie bereits an der Macht.<br />

Wenn Zukunftsperspektiven und Solidarität<br />

nicht mehr auf der Agenda stehen,<br />

und wenn Konservative und Liberale als<br />

Antwort zur heutigen wirtschaftlichen, sozialen<br />

und ökologischen Krise nur noch<br />

Sparmaßnahmen bieten, wie können wir<br />

uns noch wundern, dass Menschen langsam<br />

keine Hoffnung mehr in die Politik setzen und<br />

sogar den etablierten Parteien den Rücken<br />

kehren?<br />

Die Rechtsextremen nutzen das aus:<br />

Wir SozialdemokratInnen und Sozialis -<br />

tInnen müssen eine politische Alternative<br />

auf nationaler und europäischer Ebene<br />

darstellen, die Reichtümer umverteilt und<br />

nachhaltiges Wachstum ermöglicht. So<br />

können wir diesen rechtsextremen Parteien<br />

die Wurzeln herausreißen.<br />

Vor dem Hintergrund der heutigen<br />

Lage (soziale Krise, konservative Mehrheit<br />

in Europa, Aufstieg von rechtsextremen<br />

Bewegungen) ist unsere völlige Mobilisierung<br />

und unerschütterliche Entschlossenheit<br />

für die kommenden Wahlen in<br />

Deutschland und Europa notwendig.<br />

Wahlen <strong>2013</strong> und 2014:<br />

Zeit für einen Wandel<br />

Die deutschen SozialdemokratInnen<br />

stehen seit 150 Jahren für soziale Gerechtigkeit.<br />

Für Bildung. Für Umverteilung.<br />

Für Nachhaltigkeit. Das SPD-Regierungsprogramm<br />

<strong>2013</strong> – 2017 zeigt, dass diese<br />

Grundziele der Sozialdemokratie nicht<br />

vergessen wurden. Macht euch bewusst,<br />

dass der Wandel, den ihr erkämpft, für<br />

ganz Europa Konsequenzen haben wird.<br />

Mindestlohn<br />

Die Entscheidung in Deutschland einen<br />

Mindestlohn von 8,50 Euro einzuführen,<br />

ist nicht nur eine gute Nachricht für<br />

alle ArbeiterInnen in Deutschland, die<br />

demnächst von einer besseren Verteilung<br />

der Gewinne profitieren werden. Es ist<br />

auch ein Schritt in Richtung eines sozialen<br />

Europa, ein Beispiel für andere Nachbarn<br />

und ein Weg, um die europäische Wirtschaft<br />

durch Nachfrage anzukurbeln.<br />

97


Argumente_02_<strong>2013</strong>_Inhalt 13.08.13 11:39 Seite 98<br />

Steuerpolitik<br />

Die Vorschläge der SPD im Bereich<br />

Steuerpolitik bilden einen Fortschritt für<br />

eine gerechtere Umverteilung des Wohlstands.<br />

Die Erhöhung des Spitzensteuersatzes<br />

„von 42 bzw. 45 Prozent auf 49 Prozent<br />

für zu versteuernde Einkommen ab<br />

100.000 Euro bzw. 200.000 Euro bei Eheleuten“<br />

(SPD-Regierungsprogramm <strong>2013</strong><br />

– 2017, S. 67) illustriert die Rehabilitierung<br />

der Idee, dass Steuern nur progressiv<br />

erhoben werden dürfen. Kurzgefasst: Je<br />

reicher man ist, desto mehr soll man auch<br />

für die Gemeinschaft beitragen. Eine gerechtere<br />

Besteuerung der Erbschaften sowie<br />

die Abschaffung der steuerlichen Privilegien,<br />

die CDU und FDP in Deutschland<br />

und die UMP unter Nicolas Sarkozy<br />

in Frankreich geschaffen haben, gehören<br />

auch zu einer sozialdemokratischen Politik,<br />

die Ungleichheiten nicht toleriert.<br />

Diese Umorientierung der Steuerpolitik<br />

auf mehr Gleichheit und Gerechtigkeit<br />

soll in Europa weitergeführt werden. Sie<br />

öffnet Perspektiven für eine wahre Steuerharmonisierung<br />

in der EU etwa durch eine<br />

europaweite Vermögenabgabe, wie sie das<br />

Europaparlament im Juni 2012 empfahl,<br />

und die ständige Bekämpfung jeglicher Art<br />

von Steuerdumping, die in manchen Mitgliedstaaten<br />

leider noch der Fall ist. Die<br />

Implementierung von „einheitliche(n)<br />

Mindeststeuersätzen und Mindestbemessungsgrößen<br />

bei Ertrags- und Unternehmenssteuern“<br />

(Idem, S.71) werden wir gemeinsam<br />

gegen Konservative und<br />

Neoliberale verteidigen, Steueroasen restlos<br />

trockenlegen. Wir SozialdemokratInnen<br />

müssen immer wieder sagen, dass Solidarität,<br />

Wohlfahrt, Daseinsvorsorge,<br />

Beschäftigungspolitik oder Bildung finanziert<br />

werden müssen, und dass dafür jede<br />

und jeder je nach Reichtum ihren/seinen<br />

Beitrag leisten muss.<br />

Energiewende<br />

Nach dem Atomausstieg 2010 schauen<br />

viele Staaten in Europa und in der Welt auf<br />

Deutschland. Diese Energiewende, falls sie<br />

erfolgreich ist, könnte zu einem Modellbeispiel<br />

für weitere Länder werden. Der<br />

Wille der SPD, eine sozialverträgliche<br />

Energiewende ohne ständige wahltaktische<br />

Änderungen voranzutreiben, indem<br />

zum Beispiel bis 2020 40 bis 45 Prozent<br />

und bis 2030 75 Prozent des Stromanteils<br />

aus erneuerbaren Quellen stammen, könnte<br />

die notwendige europäische Energiewende<br />

dynamisieren. Die von François<br />

Hollande und Peer Steinbrück gewollte<br />

gemeinsame Europäische Energiepolitik<br />

könnte somit kurzfristig verwirklicht werden.<br />

Die Entwicklung von gemeinsamen<br />

Infrastrukturen und Netzen sowie die europaweite<br />

Gebäudesanierung würden die<br />

öffentlichen und privaten Energiekosten<br />

reduzieren, zudem weitere Investitionen<br />

ermöglichen und im Endeffekt kohlenstoffarmes<br />

Wachstum und viele Arbeitsstellen<br />

in ganz Europa schaffen.<br />

Bändigung des Finanzkapitalismus<br />

Die Bändigung des Finanzkapitalismus<br />

und klare Regeln für Finanzmärkte stehen<br />

in diesem Programm im Vordergrund:<br />

durch strenge Regulierung der Märkte,<br />

Transparenz, Finanztransaktionssteuer,<br />

Trennung von Investment- und Geschäftsbanken<br />

oder darüber hinaus durch die<br />

Stärkung des Genossenschaftswesens.<br />

Auch hier soll Deutschland mit einer linken<br />

Mehrheit ab September <strong>2013</strong> gemein-<br />

Ein anderes Deutschland in einem anderen Europa:<br />

98 Was EuropäerInnen von der <strong>Bundestagswahl</strong> erwarten Argumente 2/<strong>2013</strong>


Argumente_02_<strong>2013</strong>_Inhalt 13.08.13 11:39 Seite 99<br />

sam mit Frankreich für eine Kultur der<br />

Nachhaltigkeit und eine Rückkehr zur Realwirtschaft<br />

im Interesse der Menschen in<br />

Europa arbeiten.<br />

Diese Beispiele – es gäbe noch andere –<br />

zeigen, welche konkreten Folgen ein Sieg<br />

der SPD in den nächsten <strong>Bundestagswahl</strong>en<br />

in ganz Europa hätte. Währenddessen<br />

scheint Angela Merkel jegliche progressive<br />

Vorschläge – sei es der französischen Sozialisten,<br />

des Europaparlamentes oder der<br />

SPD – für ein anderes Europa bremsen zu<br />

wollen. Das heißt zwar nicht, dass durch<br />

dieses Programm die Idealgesellschaft, die<br />

wir uns erträumen, auf einmal Wirklichkeit<br />

werden wird. Weitere politische Kämp fe<br />

müssen noch geführt werden, um uns auch<br />

völlig von den neoliberalen Einflüssen zu<br />

befreien, die ab und zu unsere älteren Geschwister<br />

infiziert haben. Dieses Regierungsprogramm<br />

bleibt jedoch eine gute Basis,<br />

um einen Wandel in Deutschland zu<br />

ermöglichen, um eine bessere Umverteilung<br />

des Wohlstands zu implementieren. Es ist<br />

eine Antwort auf die soziale und ökologische<br />

Krise, die wir kennen, und eine Perspektive<br />

für die Jugend: für Bildung, Beschäftigung<br />

und Zukunftsinvestitionen.<br />

Die Europawahlen 2014 geben uns die<br />

Möglichkeit, diesen Wandel auf Europaebene<br />

fortzuführen. Der Sieg der deutschen<br />

SozialdemokratInnen <strong>2013</strong> soll uns<br />

dabei helfen. Aber darüber hinaus stellt<br />

sich die Frage: Welche Europäische Union<br />

wollen wir?<br />

Wir SozialdemokratInnen und SozialistInnen<br />

stehen für eine demokratische EU:<br />

Es ist jetzt Zeit, dem Europaparlament das<br />

Initiativ- und volle Mitentscheidungsrecht<br />

zu eröffnen.<br />

Europa soll die Möglichkeit haben, seine<br />

Politik durchzuführen. Wie können wir<br />

weiterhin akzeptieren, dass das Budget der<br />

Union nicht einmal 1 % des europäischen<br />

BIPs entspricht, verglichen mit 20 % in<br />

den USA? Europa braucht eigene Ressourcen:<br />

durch eine Finanztransaktionssteuer,<br />

durch eine europäische Körperschaftsteuer<br />

und eine sogenannte „Greentax“, die sowohl<br />

das Budget aufstocken als auch unsere<br />

Gesellschaften in Richtung Nachhaltigkeit<br />

orientieren würde. Priorität des<br />

künftigen Budgets muss die Bekämpfung<br />

der Arbeitslosigkeit haben, insbesondere<br />

der Jugendlichen durch eine Garantie auf<br />

Jugendbeschäftigung unter 30 und das<br />

Verbot ausbeuterischer Praktika.<br />

Zudem muss die EU langfristig vom<br />

Einfluss der Finanzmärkte befreit werden.<br />

Darum müssen Bildung und Zukunftsinvestitionen<br />

aus der Berechnung der Staatsschulden<br />

ausgeschlossen werden. Für uns<br />

sind Bildung und Zukunft keine Last, sondern<br />

eine Chance. Für Staaten, die bereits<br />

wegen ihrer Verschuldung unter dem<br />

Druck der Märkte stehen, müssen Eurobonds<br />

entwickelt werden. Die EZB müsste<br />

zuletzt auch dazu beitragen, die Teufelskreise<br />

der Spekulation zu stoppen, indem<br />

sie, wie an Privatbanken, auch an Staaten<br />

direkt Geld verleiht. Es ist inakzeptabel,<br />

dass Privatbanken, die für Wirtschaftskrise<br />

eine besondere Verantwortung tragen, sich<br />

zu Lasten der verschuldeten Staaten bereichern<br />

können. Das können wir moralisch<br />

und wirtschaftlich nicht tolerieren.<br />

Zudem sollten wir uns nicht scheuen,<br />

unsere Werte zu vertreten.<br />

Die Rechte der ArbeiterInnen müssen<br />

wir als SozialdemokratInnen und Sozialis -<br />

99


Argumente_02_<strong>2013</strong>_Inhalt 13.08.13 11:39 Seite 100<br />

tInnen verteidigen und erweitern, während<br />

Konservative und Liberale sie in den letzten<br />

Jahren ständig angegriffen haben. So<br />

ist zum Beispiel die Reduzierung der Arbeitszeit<br />

sowie die Gleichberechtigung von<br />

Frauen und Männern in allen Bereichen<br />

Teil der europäischen sozialdemokratischen<br />

Agenda.<br />

Soziale und ökologische Normen sollten<br />

wir ständig vertreten. Auch und besonders<br />

in unseren Handelsabkommen. Wir<br />

können es nicht weiter dulden, dass europäische<br />

Firmen Produktionsstellen und<br />

ganze Industrien in Europa schließen, um<br />

außerhalb der EU unsere sozialen und<br />

ökologischen Normen zu umgehen. Das<br />

Verbot der Kinderarbeit, Menschenrechte<br />

und Umweltschutz wollen wir als InternationalistInnen<br />

überall entschlossen unterstützen.<br />

Unsere Handelsabkommen sollen<br />

diesen Werten auch entsprechen.<br />

Der ehemalige sozialistische Premier<br />

Minister Léon Blum (1936 – 1938) sagte:<br />

„Links zu sein heißt zunächst empört zu<br />

sein“. Die Gründe unserer Empörung sind<br />

immer noch da: Die Ungleichheiten bestehen<br />

fort, die Ungerechtigkeit steigt. Mehr<br />

denn je brauchen wir einen Wandel; und<br />

GenossInnen, die ihn tragen.<br />

Also: Es ist längst Zeit, dass das „Wir“<br />

entscheidet. Europa und Deutschland<br />

brauchen im September einen Wandel. l<br />

Schließlich hat die Parti Socialiste die<br />

Wahlen 2012 gewonnen, weil sie eine<br />

Hoffnung für die Franzosen verkörpern<br />

konnte. Die heutige Ungeduld, die zu spüren<br />

ist, besteht darin, dass die Mehrheit<br />

unserer MitbürgerInnen auf diesen Wandel<br />

nicht länger warten kann.<br />

Der Sieg der SPD und der SPE (Sozialdemokratische<br />

Partei Europas) in den<br />

nächsten Wahlen und der Erfolg der linken<br />

Parteien allgemein hängen von der Fähigkeit<br />

ab, diese Alternative in ihrem Programm<br />

und in ihrer Politik zu verkörpern.<br />

Gegen den Fatalismus der Rechten, die die<br />

Machtlosigkeit der Politik organisieren,<br />

müssen wir die Rückeroberung der Handlungs-<br />

und Gestaltungsmöglichkeiten für<br />

nachhaltiges Wachstum und gerechtes Zusammenleben<br />

organisieren.<br />

100<br />

Ein anderes Deutschland in einem anderen Europa:<br />

Was EuropäerInnen von der <strong>Bundestagswahl</strong> erwarten Argumente 2/<strong>2013</strong>


Argumente_02_<strong>2013</strong>_Inhalt 13.08.13 11:39 Seite 101<br />

MIT ESSEN SPIELT MAN<br />

NICHT!<br />

von David Hachfeld, Referent für Handelspolitik bei Oxfam Deutschland<br />

Seit einigen Jahren gleicht der Weltmarkt<br />

für Agrarrohstoffe einer Achterbahn.<br />

2008, 2011 und 2012 jagte eine<br />

Preisspitze die andere, binnen Monaten<br />

verdreifachten sich die Kurse von<br />

Weizen und Mais, jeweils gefolgt von<br />

massiven Einbrüchen. Für in Armut<br />

lebende Menschen, die bis zu 80 Prozent<br />

ihres Einkommens für Essen aufwenden<br />

müssen, sind die Folgen katastrophal.<br />

Wenn das Haushalts -<br />

einkommen nicht mehr reicht, sind<br />

Frauen und Kinder meist die Ersten,<br />

die Hunger leiden. Auch kleine bäuerliche<br />

Betriebe sind betroffen, denn angesichts<br />

der massiven Preisschwankungen<br />

werden Investitionen zum<br />

unberechenbaren Risiko. Stürzen die<br />

Preise zum Zeitpunkt der Ernte ab,<br />

droht der Verlust der wirtschaftlichen<br />

Existenzgrundlagen.<br />

Hohe und stark schwankende Preise<br />

haben viele Ursachen. Missernten, Klimawandel,<br />

wachsender Fleischkonsum, Biospritförderung<br />

und andere Faktoren beeinflussen<br />

Angebot und Nachfrage und damit<br />

die Preise. Doch die Preis-Rallye der letzten<br />

Jahre lässt sich nicht alleine aus dem<br />

Verhältnis von Angebot und Nachfrage erklären.<br />

Viele Experten und Organisationen<br />

wie die Welternährungsorganisationen<br />

schreiben der Zunahme von spekulativen<br />

Geschäften eine Mitverantwortung zu. 19<br />

Und selbst interne Studien von Finanzinstituten<br />

wie der deutschen Bank und der<br />

Allianz weisen auf diese Risiken hin. 20<br />

Über Jahrzehnte hinweg wurden die<br />

Agrarterminbörsen vor allem von realen<br />

Händlern von Nahrungsmitteln zur Absicherung<br />

gegen Preisschwankungen genutzt.<br />

Heute hingegen werden mehr als<br />

zwei Drittel der Weizenkontrakte an der<br />

Chicagoer Börse von Finanzspekulanten<br />

gehalten. Das Volumen der Weizen-Kontrakte,<br />

die an den US-Terminbörsen gehandelt<br />

werden, ist 70mal größer als die<br />

gesamte US-Ernte.<br />

19 Für eine Studienübersicht siehe Markus Henn,<br />

WEED (<strong>2013</strong>): Evidence on the Negative Impact<br />

of Commodity Speculation by Academics,<br />

Analysts and Public Institutions, online unter<br />

http://www2.weed-online.org/uploads/<br />

evidence_on_impact_of_commodity_<br />

speculation.pdf [10.07.<strong>2013</strong>].<br />

20 Siehe foodwatch (<strong>2013</strong>): Konzernforscher warnten:<br />

Spekulation treibt Preise, online unter<br />

http://www.foodwatch.org/de/informieren/<br />

agrarspekulation/aktuelle-nachrichten/<br />

konzernforscher-warnten-spekulation-treibtpreise/?sword_list[0]=konzernforscher.[10.07.<strong>2013</strong>].<br />

101


Argumente_02_<strong>2013</strong>_Inhalt 13.08.13 11:39 Seite 102<br />

Die Dominanz von Finanzspekulanten<br />

ist besonders problematisch, weil sich viele<br />

von ihnen bei ihren Geschäften nicht an<br />

Marktdaten, sondern an marktfremden<br />

Impulsen oder am Verhalten anderer<br />

Händler orientieren. Die Preissignale der<br />

Terminmärkte haben immer weniger mit<br />

dem Geschehen auf den realen Märkten zu<br />

tun. Es kommt zur vermehrten Blasenbildung.<br />

Anders als oft behauptet wird, versorgt<br />

diese Form der Spekulation die<br />

Landwirtschaft auch nicht mit neuem Investitionskapital.<br />

Stattdessen treiben sie,<br />

als Folge der zunehmenden Schwankungen,<br />

die Kosten für Absicherungsgeschäfte<br />

in die Höhe.<br />

Seit der Jahrtausendwende wurden die<br />

globalen Finanzmärkte sukzessive dereguliert<br />

– auch auf massiven Druck der Finanzlobby<br />

hin. Die Rohstoffmärkte waren<br />

davon ebenfalls betroffen. Infolge dieser<br />

Entwicklung bildete sich ein neuer, gewaltiger<br />

Geschäftszweig für Banken und Kapitalanlagegesellschaften<br />

heraus: Fonds,<br />

die es großen wie kleinen Anlegern ermöglichen,<br />

auf die Entwicklung von Rohstoffpreisen<br />

zu wetten, schossen wie Pilze aus<br />

dem Boden und wurden als neue Anlageklasse<br />

vermarktet. Und institutionelle und<br />

private Kapitalanleger, stets auf der Suche<br />

nach neuen rentablen Anlagemöglichkeiten,<br />

nahmen diese Chance gerne wahr. Das<br />

in Rohstofffonds angelegte Kapital stieg<br />

von 20 Milliarden Euro im Jahr 2003 auf<br />

321 Milliarden im Jahr 2012 an. Etwa 57<br />

Milliarden Euro entfallen dabei auf Agrarrohstoffe.<br />

Während Investoren, die ihr Geld in<br />

Rohstofffonds stecken, erhebliche Risiken<br />

eingehen und nicht selten auch deutliche<br />

Verluste abschreiben müssen, befinden sich<br />

Banken und Fondsgesellschaften in einer<br />

komfortableren Situation. Als Anbieter<br />

und Verwalter von Rohstofffonds bringen<br />

sie meist kein oder nur wenig eigenes Kapital<br />

in einen Rohstofffonds ein. Deshalb<br />

hängen ihre Einnahmen weniger von den<br />

Preisentwicklungen ab, sondern speisen<br />

sich vor allem aus den Verwaltungsgebühren<br />

der Fonds. Wenn die Fondsgesellschaften<br />

mit Depotbanken und Anlageberatern<br />

zusammenarbeiten, die zur selben Konzerngruppe<br />

gehören, können sie außerdem<br />

noch mit Einnahmen aus Depotbank- und<br />

Beratungsgebühren rechnen.<br />

Diese Gebühren fallen immer an, egal<br />

ob die Preise steigen oder fallen. Sie werden<br />

in den Bilanzen der Fonds als Geschäftsausgaben<br />

ausgewiesen und letztendlich<br />

von den Investoren bezahlt. Die Höhe<br />

dieser Gebühren liegt bei ca. 0,5 bis 2 Prozent<br />

pro Jahr, bezogen auf das Volumen des<br />

von Investoren angelegten Kapitals. Die<br />

Sätze klingen niedrig, doch angesichts der<br />

Größe der Fonds kommen beachtliche<br />

Summen zusammen: 2012 haben die deutschen<br />

Finanzinstitute, die Nahrungsmittelrohstofffonds<br />

anbieten, mindestens 116<br />

Millionen Euro durch verschiedene Formen<br />

von Verwaltungsgebühren eingenommen.<br />

Die höchsten Einnahmen erzielte dabei<br />

mit mindestens 62 Millionen Euro die<br />

Allianz. Zurückzuführen ist dies vor allem<br />

auf die zum Konzern gehöhrende Investmentgesellschaft<br />

PIMCO, die einen der<br />

weltweit größten Rohstofffonds verwaltet:<br />

Der PIMCO Commodity Real Return<br />

Strategy Fund hatte 2012 ein Gesamtvolumen<br />

von 16,31 Milliarden Euro. Die<br />

Deutsche Bank verwaltet mindestens 34<br />

Investmentfonds, die Agrarrohstoffderiva-<br />

102 Mit Essen spielt man nicht! Argumente 2/<strong>2013</strong>


Argumente_02_<strong>2013</strong>_Inhalt 13.08.13 11:39 Seite 103<br />

te halten. Organisiert sind sie über mehrere<br />

Tochtergesellschaften, unter anderem<br />

die DWS und das Bankhaus Sal. Oppenheim.<br />

Darunter befindet sich auch der<br />

größte Fonds, der ausschließlich auf<br />

Agrarrohstoffe setzt: der PowerShares DB<br />

Agriculture Fund. Die Einnahmen aus der<br />

Verwaltung dieser Fonds beliefen sich<br />

2012 auf mindestens 40,84 Millionen<br />

Euro. Die Fondsgesellschaften der anderen<br />

deutschen Finanzinstitute nahmen 2012<br />

zusammen 13,49 Millionen Euro aus der<br />

Verwaltung der Anlagen ein.<br />

Spekulanten in die Schranken!<br />

Wenn Menschen infolge künstlicher<br />

Preissprünge hungern, wird ihr fundamentales<br />

Menschenrecht auf Nahrung verletzt.<br />

Angesichts der vielen fundierten Hinweise<br />

darauf, dass spekulative Anlagen in Agrarrohstoffen<br />

problematische Auswirkungen<br />

auf die Preisentwicklung von Nahrungsmitteln<br />

haben können, sollte ein verantwortungsvolles<br />

Finanzinstitut das Vorsorgeprinzip<br />

ernst nehmen und auf das<br />

Anbieten eben dieser Produkte verzichten.<br />

Oxfam fordert die deutschen Banken und<br />

Versicherungen auf, einen Ausstieg aus der<br />

Spekulation mit Nahrungsmitteln zu beschließen<br />

und schnellstmöglich umzusetzen.<br />

Agrarrohstoffe sollten in keinem Investmentfonds<br />

enthalten sein.<br />

Doch die Vehemenz und Kompromisslosigkeit,<br />

mit denen die Allianz und die<br />

Deutsche Bank als Schwergewichte im<br />

deutschen Markt an dem Geschäft mit der<br />

Nahrungsmittelspekulation festhalten, machen<br />

deutlich, dass auch auf politischer<br />

Ebene gehandelt werden muss. Sowohl in<br />

den USA als auch in der EU wird derzeit,<br />

ausgelöst durch die Fehlentwicklungen auf<br />

den Terminmärkten in den letzten Jahren,<br />

über die Einführung von Positionslimits<br />

diskutiert. Diese würden Obergrenzen für<br />

den Wert der von Händlern gehaltenen<br />

Rohstoffderivate festsetzen. Allianz und<br />

Deutsche Bank sperren sich jedoch gegen<br />

diese Bestrebungen. In den Augen der<br />

Deutschen Bank würden solche Obergrenzen<br />

„die Fähigkeit der Banken einschränken,<br />

auf die Bedürfnisse ihrer Kunden zugeschnittene<br />

Geschäfte anzubieten“, sie<br />

seien daher „kritisch zu sehen“. Angesichts<br />

der Probleme von Menschen in armen<br />

Ländern, die sich bei Preisexplosionen ihr<br />

Essen nicht mehr leisten können, sollten<br />

die Interessen der Anlagekunden der Konzerne<br />

allerdings nachrangig sein. Positionslimits<br />

würden tatsächlich bestimmte<br />

Geschäfte einschränken. Doch sie sind<br />

keineswegs ein neues Instrument. Vielmehr<br />

waren die Terminmärkte in den USA<br />

über viele Jahrzehnte mittels Positionslimits<br />

reguliert, ohne dass dies erkennbare<br />

Probleme für das ordentliche Funktionieren<br />

der Märkte dargestellt hätte.<br />

Erst seit der Jahrtausendwende wurden<br />

diese Positionslimits aufgeweicht und<br />

durch umfangreiche Ausnahmen ausgehöhlt<br />

– mit der Folge, dass Finanzspekulanten<br />

die Märkte dominieren konnten<br />

und die Preisvolatilität bis dahin unbekannte<br />

Ausmaße annahm. Heute geht es<br />

um die Korrektur dieser Fehlentwicklung.<br />

Auch mit Positionslimits könnten Banken<br />

und Finanzdienstleister ihren Kunden<br />

noch verschiedenste Geschäfte anbieten –<br />

nur eben nicht in einem Umfang, der das<br />

Verhältnis der Akteure an den Märkten aus<br />

dem Gleichgewicht bringt.<br />

Oxfam fordert die Bundesregierung,<br />

die EU und die G20-Staaten auf, mit ef-<br />

103


Argumente_02_<strong>2013</strong>_Inhalt 13.08.13 11:39 Seite 104<br />

fektiven Gesetzen und starken Aufsichtsbehörden<br />

gegen Exzesse auf den Agrar-<br />

Terminmärkten sowohl präventiv als auch<br />

reaktiv vorzugehen. So könnten diese<br />

Märkte auch ihre Kernfunktionen der Absicherung<br />

und Preisfindung wieder erfüllen.<br />

Dafür sind Positionslimits, Berichtspflichten<br />

für Händler und eine Einschränkung<br />

des Handels mit fragwürdigen<br />

Finanzprodukten nötig.<br />

Auch Bürgerinnen und Bürger müssen<br />

der Nahrungsmittelspekulation nicht tatenlos<br />

zusehen. Sie können Aktionen und<br />

Kampagnen unterstützen, damit Banken,<br />

Versicherungen und Pensionsfonds ihr<br />

Rohstoff-Portfolio auf den Prüfstand stellen<br />

und zurückfahren. Kundinnen und<br />

Kunden von Banken, Fonds und Versicherungen<br />

sollten sich über die mögliche Beteiligung<br />

ihrer Finanzinstitute an fragwürdigen<br />

Spekulationsgeschäften erkundigen,<br />

von ihren Kundenbetreuer/innen Aufklärung<br />

über Anlagestrategien und Versicherungsrücklagen<br />

einfordern und gegebenenfalls<br />

den Wechsel zu einem anderen<br />

Anbieter prüfen.<br />

l<br />

⇒ www.oxfam.de/gegenspekulation<br />

104 Mit Essen spielt man nicht! Argumente 2/<strong>2013</strong>


Argumente_02_<strong>2013</strong>_Inhalt 13.08.13 11:39 Seite 105<br />

AUCH KEVIN MUSS<br />

KÖNNEN DÜRFEN!<br />

Warum Bildung noch immer von der Herkunft abhängt – und sogar vom Vornamen<br />

von Mareike Strauß und Amina Yousaf, Mitglieder im Bundesvorstand<br />

der Juso-Hochschulgruppen<br />

Vor wenigen Jahren sorgte eine Studie<br />

einer Erziehungswissenschaftlerin aus<br />

Oldenburg für Schlagzeilen: Darin<br />

wurden Grundschullehrer/innen danach<br />

gefragt, welche Erwartungen sie<br />

an Vornamen haben – mit dem Ergebnis,<br />

dass bestimmte Vornamen die Bildungschancen<br />

massiv beeinträchtigen<br />

können. Kinder mit Namen wie Kevin,<br />

Mandy oder Justin werden als weniger<br />

leistungsstark eingeschätzt als Kinder<br />

mit Namen wie Charlotte, Jakob oder<br />

Marie. Denn schon Namen gäben Aufschluss<br />

auf den sozialen Hintergrund<br />

von Kindern, so eine Begründung von<br />

Befragten. Eine Reaktion trifft das<br />

wohl sehr plakativ: „Kevin ist kein<br />

Name, sondern eine Diagnose“, antwortete<br />

eine Befragte (Kaiser).<br />

Vorurteile über Namen und daraus resultierendes<br />

„Schubladendenken“ und Beeinflussung<br />

der Förderung und Bewertung<br />

sind Anzeichen für die ungleichen Chancen<br />

in unserem Bildungssystem. Ein Bildungssystem,<br />

in dem vor allem die Herkunft<br />

über die Bildungschancen entscheidet.<br />

Doch gleiche Bildungschancen sind<br />

Voraussetzung für soziale Gerechtigkeit.<br />

Denn gute Bildung ist Grundstein für ein<br />

selbstbestimmtes Leben, die Entwicklung<br />

von Fähig- und Fertigkeiten und nicht zuletzt<br />

Garant für gute Berufschancen. Deshalb<br />

dürfen sie auch kein romantisches Zukunftsbild<br />

oder gar gesellschaftliches Feindbild<br />

mehr sein! Das bedeutet, dass alle über<br />

ihre individuellen Bildungsbiographien frei<br />

entscheiden können sollten. „Alle müssen<br />

können dürfen“ ist Voraussetzung und Ziel<br />

zugleich. Nur wenn Strukturen geschaffen<br />

werden, die darauf ausgerichtet sind, individuelle<br />

Stärken zu fördern, die Fähig- und<br />

Fertigkeiten junger Menschen zu erkennen<br />

und zu unterstützen, dann kann auch gewährleistet<br />

werden, dass niemand aufgrund<br />

seiner/ihrer Herkunft, aufgrund von<br />

Behinderungen, chronischer Krankheiten<br />

oder aufgrund von Geschlecht diskriminiert,<br />

ausgebremst oder bevorzugt wird.<br />

Die im Juni erschienene 20. Sozialerhebung<br />

des Deutschen Studentenwerks<br />

(DSW) lässt viele Rückschlüsse in Bezug<br />

auf die Durchlässigkeit im Bildungssystem<br />

zu. Der „Bildungstrichter“ ist ein markan-<br />

105


Argumente_02_<strong>2013</strong>_Inhalt 13.08.13 11:39 Seite 106<br />

tes Bild für die soziale Selektivität des Bildungssystems.<br />

Es zeigt besonders anschaulich,<br />

wie unterschiedlich die Bildungschancen<br />

von Kindern aus akademischen<br />

Elternhäusern (mindestens ein Elternteil<br />

hat einen Hochschulabschluss) gegenüber<br />

Kindern aus nicht-akademischen Elternhäusern<br />

sind. Von der Primarstufe bis zur<br />

Studienaufnahme wird der Trichter enger<br />

– vor allem für diejenigen aus nicht-akademischen<br />

Haushalten.<br />

Die Ergebnisse der Sozialerhebung<br />

sind erschreckend: Kinder aus akademischen<br />

Elternhäusern besuchen 1,8-mal so<br />

oft eine gymnasiale Oberstufe wie diejenigen<br />

aus nicht akademischen Elternhäusern,<br />

von denen überhaupt nur 43 Prozent<br />

den Übergang zur Sekundarstufe II schaffen.<br />

Noch deutlicher ist der Unterschied<br />

beim Hochschulzugang: Nur 23 Prozent<br />

der Kinder aus nicht-akademischen Haushalten<br />

nehmen ein Studium auf. Dieser<br />

Anteil ist bei jungen Menschen mit akademischem<br />

Hintergrund 3,3-mal so hoch.<br />

Die Herkunft bestimmt noch immer die<br />

Bildungschancen. Mit Gerechtigkeit hat<br />

das nichts zu tun! Wir wollen, dass alle ihren<br />

Bildungsweg individuell gestalten können<br />

– und zwar unabhängig davon, woher<br />

sie kommen.<br />

Ein gerechtes Bildungssystem kann<br />

nicht von jetzt auf gleich geschaffen werden.<br />

Die Politik muss auf mehreren Ebenen<br />

ansetzen: Es muss deutlich mehr in<br />

Bildung investiert werden und die Rahmenbedingungen<br />

und die soziale Infrastruktur<br />

müssen gestärkt werden. Außerdem<br />

muss ein Wandel stattfinden im<br />

Verständnis dessen, was gutes Lernen und<br />

Lehren bedeuten. Das bedeutet im Einzelnen:<br />

Bildung staatlich ausfinanzieren!<br />

Ein wichtiger Schritt hin zu einem gerechteren<br />

Bildungssystem ist, dass dessen<br />

staatliche Finanzierung deutlich steigt. Die<br />

Bildungsausgaben in Deutschland liegen<br />

noch immer deutlich unter dem, was tatsächlich<br />

für die Ausfinanzierung des Bildungssystems<br />

gebraucht würde. Und auch<br />

unter dem, was andere Länder investieren.<br />

Im OECD-Bericht „Bildung auf einen<br />

Blick“, der im Juni diesen Jahres erschien,<br />

steht es wieder einmal geschrieben: Die<br />

Bildungsausgaben in Deutschland prozentual<br />

gemessen am BIP liegen genau zehn<br />

Prozentpunkte unter dem OECD-Durchschnitt:<br />

2010 wurden in Deutschland 5,8<br />

Prozent des BIP für formale Bildungseinrichtungen<br />

ausgegeben, im OECD-<br />

Durchschnitt waren es 6,8 Prozent, in<br />

Norwegen beispielsweise sogar 7,6 Prozent<br />

(OECD, <strong>2013</strong>). Die SPD will deshalb<br />

jährlich 20 Mrd. Euro mehr in Bildung investieren,<br />

um dem Ziel einer staatlichen<br />

Ausfinanzierung endlich näher zu rücken.<br />

Durch sinkende Geburtenraten wird<br />

die Anzahl der Schüler/-innen in den<br />

nächsten Jahren sinken. Das darf nicht<br />

dazu führen, dass an den Bildungsausgaben<br />

gekürzt wird. Vielmehr muss das Geld im<br />

Sinne der demografischen Rendite genutzt<br />

werden, also im System bleiben und so<br />

dazu beitragen, dass gute Lehre und gute<br />

Infrastruktur und somit auch gute Bildungschancen<br />

geschaffen werden.<br />

Eine Finanzierung von Bildungseinrichtungen<br />

über Bildungsgebühren, seien<br />

es Kindertagesstätten oder Hochschulen,<br />

wirkt nachweislich sozial selektiv und ist<br />

daher keine Alternative. Studiengebühren<br />

wurden in den letzten Jahren sukzessive<br />

106 Auch Kevin muss können dürfen! Argumente 2/<strong>2013</strong>


Argumente_02_<strong>2013</strong>_Inhalt 13.08.13 11:39 Seite 107<br />

abgeschafft und bestehen nur noch in<br />

Form von Studienkonten oder Langzeitgebühren<br />

in einigen Bundesländern. Wo noch<br />

Gebühren existieren, gleich an welcher Stel -<br />

le im Bildungssystem, müssen sie schleunigst<br />

abgeschafft werden. Vor allem im Bereich<br />

der frühkindlichen Bildung ist eine<br />

Selektion aufgrund der finanziellen Möglichkeiten<br />

von Eltern nicht akzeptabel.<br />

Die richtigen Rahmenbedingungen<br />

schaffen!<br />

Für eine solidarische, offene Gesellschaft<br />

und ein gerechtes Bildungssystem,<br />

wie wir sie uns vorstellen, ist es nötig, dass<br />

nicht nur die Institutionen an sich ausfinanziert<br />

werden, sondern auch die soziale<br />

Infrastruktur.<br />

Die Sozialdemokratie hat in den<br />

1970er Jahren eine Öffnung der Bildungslandschaft<br />

vorangetrieben. Durch das<br />

BAföG als Vollzuschuss hat sie dafür gesorgt,<br />

dass Hochschulen für die breite Gesellschaft<br />

zugänglich wurden. Das BAföG<br />

ist das zentrale Element für einen Aufstieg<br />

durch Bildung. Doch es ist längst nicht<br />

mehr das Studienfinanzierungsinstrument<br />

Nummer eins, sondern liegt hinter Unterstützungen<br />

durch die Eltern und dem eigenen<br />

Verdienst. Nur rund ein Drittel der<br />

Studierenden erhält BAföG – ein BAföG,<br />

was nach der Regelstudienzeit ausläuft, das<br />

Studierende verschuldet ins Leben starten<br />

lässt und dadurch zusätzlichen Druck verursacht.<br />

Die 20. Sozialerhebung des DSW<br />

zeigt aber, dass für über 80 Prozent der<br />

Studierenden gerade aus bildungsfernen<br />

oder sozial benachteiligten Familien ein<br />

Studium ohne den Bezug von BAföG<br />

nicht möglich ist. Um weiterhin den Aufstieg<br />

durch Bildung zu gewährleisten,<br />

braucht es eine umfassende Reform des<br />

BAföG, die auch die Struktur neu ordnet.<br />

Dabei muss auch das BAföG für Schüler/<br />

-innen wiederbelebt und wieder zu einem<br />

Instrument für mehr soziale Gerechtigkeit<br />

werden!<br />

Um jungen Menschen ein unabhängiges<br />

Leben zu ermöglichen, welches sich an<br />

ihren Bedürfnissen orientiert, muss sichergestellt<br />

sein, dass sie auf eigenen Beinen<br />

stehen und in ihren eigenen vier Wänden<br />

leben können! Wohnungsnot ist vielerorts<br />

ein reales Problem, steigende Mieten und<br />

teure Courtagen für Makler/-innen übersteigen<br />

häufig das Budget junger Menschen.<br />

Studierende stehen immer wieder<br />

spätestens zum Start des Wintersemesters<br />

vor dramatischen Engpässen, was nicht sel -<br />

ten in Turnhallen-Notunterkünften gipfelt.<br />

Dabei ist die Wohnraumsituation kein<br />

alleiniges Problem der sogenannten Metro -<br />

polen. Auch in kleineren Städten wird bezahlbarer<br />

Wohnraum immer weiter aus<br />

den Zentren in weniger attraktive äußere<br />

Stadtteile oder Vororte verdrängt. Wir<br />

wollen, dass mehr in den Bau von Studierendenwohnheimen<br />

und sozialen Wohnungsbau<br />

investiert wird. Ein Bund-Länder-Programm<br />

zum Bau von 250.000 zusätzlichen<br />

Wohnheimplätzen, wie die SPD<br />

es umsetzen will, wäre dafür ein guter Anfang.<br />

Ebenso setzt sich die SPD dafür ein,<br />

dass steigende Mietpreise durch eine Obergrenze<br />

gedeckelt werden und dass die Courtage<br />

für Makler/-innen von denen gezahlt<br />

wird, die die Makler/-innen engagieren.<br />

Ein neues Verständnis von Lernen und<br />

Lehren!<br />

Die Ökonomisierung der Bildung, die<br />

Einengung des Bildungsbegriffs auf Be-<br />

107


Argumente_02_<strong>2013</strong>_Inhalt 13.08.13 11:39 Seite 108<br />

schäftigungsfähigkeit, die Fokussierung<br />

auf Abschlüsse und internationalen Wettbewerb<br />

ist tief verwurzelt im politischen<br />

Handeln und dies spiegelt sich auch in den<br />

Reformen der letzten Jahre wider. Wir<br />

wollen ein anderes, ein besseres und gerechteres<br />

Bildungssystem, das den Menschen<br />

in den Mittelpunkt stellt. In unserer<br />

Vorstellung soll Bildung vor allem dazu befähigen,<br />

kritisch zu hinterfragen, solidarisch<br />

zu handeln und sich unabhängig von<br />

Herkunft frei zu entfalten.<br />

Doch junge Menschen stehen ständig<br />

unter Strom, sind gestresst, nicht selten<br />

folgen gesundheitliche Probleme. Und das<br />

beginnt schon in der frühen Kindheit: Bereits<br />

in der Grundschule leiden Schüler/-<br />

innen unter Stress und Leistungsdruck.<br />

Rund zwei Drittel der Zweit- und Drittklässler/-innen<br />

fühlen sich laut einer Studie<br />

des Kinderschutzbundes durch die<br />

Schule gestresst. Zu viele Tests, zu viele<br />

Hausaufgaben überfordern Kinder im jungen<br />

Alter und lassen die Schulzeit zur Belastungsprobe<br />

werden. Zudem werden in<br />

der Grundschule die Weichen für den zukünftigen<br />

Bildungsweg gestellt, was zusätzlichen<br />

Leistungs- und Erwartungsdruck<br />

bei den Schüler/-innen, aber vor<br />

allem auch bei Eltern erzeugt. Durch die<br />

Einteilung in drei Schularten wird schon<br />

früh über die Bildungsbiographien von<br />

Kindern entschieden. Und einmal entschieden,<br />

sind die Chancen gering, zwischen<br />

den Schulformen zu wechseln. Denn<br />

nur drei Prozent der Schüler/-innen wechseln<br />

überhaupt während der Sekundarschulzeit<br />

die Schulform, vor allem in niedrigere<br />

Schulformen. Die Durchlässigkeit<br />

ist im Endeffekt nur nach unten gegeben<br />

(Dombrowski/Solga, 2009). Um ein wirklich<br />

gerechtes System zu schaffen, muss die<br />

Gemeinschaftsschule wieder zentral in die<br />

bildungspolitische Debatte gerückt und als<br />

einzige Schulform etabliert werden.<br />

Und auch Hochschulen sind zu Orten<br />

des „Bulimie-Lernens“ geworden, zu Orten,<br />

in denen junge Menschen einem Abschluss<br />

hinterherhetzen und wo kritisches<br />

Denken und eigene Interessen kaum noch<br />

eine Rolle spielen.<br />

Wir wollen, dass individuelle Förderung<br />

und gute Lehre in den Fokus bildungspolitischer<br />

Anstrengungen gerückt<br />

werden. Die Bildungsforschung hat viel<br />

dazu geforscht, wie besseres Lernen und<br />

Lehren funktionieren kann. Fächerübergreifendes<br />

Lernen, Lernen anhand konkreter<br />

Projekte oder problembasiertes Lernen<br />

sind keine neuen Erfindungen. 21 Beispielsweise<br />

wurde problemorientiertes<br />

Lernen als Form des entdeckenden und interdisziplinären<br />

Lernens bereits 1976 an<br />

der Medizinischen Fakultät der Universität<br />

Maastricht, in den letzten Jahren auch an<br />

Hochschulen wie der Universität Bochum<br />

oder der Charité Berlin im Bereich Medizin<br />

eingeführt. Konzepte liegen auf dem<br />

Tisch, allein der politische Wille, sie umzusetzen,<br />

fehlt bislang. Die SPD will laut<br />

Regierungsprogramm mehr Ganztagsschulen<br />

schaffen, die es ermöglichen,<br />

Schule nicht nur als Unterricht, sondern<br />

auch als Ort sozialen Zusammenlebens,<br />

der Förderung eigener Schwerpunkte und<br />

der Gestaltung von Freizeit durch breite<br />

Angebote zu fördern. Außerdem legt sie<br />

einen Schwerpunkt auf gute Lehre: Sie will<br />

21 Ausführliche Gedanken dazu finden sich im Buch<br />

„Lernen neu lernen: Alternativen zur Ökono -<br />

misierung“ von Marie-Christine Reinert und<br />

Kerstin Rothe.<br />

108 Auch Kevin muss können dürfen! Argumente 2/<strong>2013</strong>


Argumente_02_<strong>2013</strong>_Inhalt 13.08.13 11:39 Seite 109<br />

im Bereich der Lehre an Hochschulen den<br />

Qualitätspakt Lehre deutlich stärken.<br />

Ein gutes Bildungssystem versetzt junge<br />

Menschen in die Lage, ihre eigenen<br />

Stärken und Schwächen kennen zu lernen<br />

und sich einen Überblick über Möglichkeiten<br />

zur weiteren (Aus-)Bildung zu verschaffen.<br />

Es soll Schüler/-innen ermutigen,<br />

ihren Weg zu gehen, ihren Interessen<br />

zu folgen, und gleichzeitig aber auch (finanzielle)<br />

Sicherheit geben und die entsprechenden<br />

Kapazitäten zur Verfügung<br />

stellen. Berufliche wie akademische Bildung<br />

bieten auf ihre Art verschiedene<br />

Qualifikationen, die gleichwertig nebeneinander<br />

stehen. Alleine auch aus dieser<br />

Logik heraus muss uneingeschränkte Durchlässigkeit<br />

bestehen! Lebenslanges Lernen,<br />

wie es nicht erst seit der Bologna-Reform<br />

immer wieder propagiert wird, kann nicht<br />

bedeuten, dass irgendwann eine künstliche<br />

Grenze der weiteren Qualifikation erreicht<br />

ist. Vielmehr muss es bedeuten, dass es jederzeit<br />

möglich ist, sich weiter zu bilden,<br />

egal ob im beruflichen oder akademischen<br />

Feld. Das muss auch für Kevin gelten! Und<br />

für Mandy! Und für Marie!<br />

Studien wie PISA, das Engagement<br />

der Bildungsstreikbewegung der letzten<br />

Jahre und nicht zuletzt auch die Diskussion<br />

um die Schulzeitverkürzung von Gymnasien<br />

auf 8 Jahre haben in den letzten Jahren<br />

verschiedene und unterschiedlich zu bewertende<br />

punktuelle Reformen zur Folge<br />

gehabt. Doch was ausbleibt, ist eine breite<br />

Diskussion darüber, was für uns eigentlich<br />

ein gutes Bildungssystem ist. Welche Idee<br />

von Bildung, welche Ziele wir verfolgen<br />

und welche Aufgaben ein Bildungssystem<br />

in unserer Gesellschaft übernehmen sollte.<br />

Was wir brauchen ist eine Vision. Eine Vision<br />

von guter Bildung, eine Vision einer<br />

gerechten Gesellschaft.<br />

In einigen Bereichen findet eine Öffnung<br />

statt: Das Verständnis von inklusiver<br />

Bildung nimmt zu, auch wenn die Mittel<br />

und Maßnahmen zur Umsetzung noch immer<br />

zu wünschen übrig lassen. Außerdem<br />

studieren so viele junge Menschen wie nie<br />

zuvor; erstmals wurde im Wintersemester<br />

2011/2012 die halbe Millionen-Grenze<br />

geknackt.<br />

In einem sozialdemokratischen Verständnis<br />

muss Bildung die höchste Priorität<br />

eingeräumt und Chancengleichheit im<br />

Bildungssystem endlich geschaffen werden.<br />

„Aufstieg durch Bildung“ forderte die<br />

SPD unter Willy Brandt – und schaffte die<br />

Öffnung des Bildungssystems. Dazu gehörte<br />

vor allem eins: Mut! Das Regierungsprogramm<br />

zur <strong>Bundestagswahl</strong> zeigt<br />

viele gute Punkte auf, die ein gerechteres<br />

Bildungssystem schaffen können: Gebührenfreiheit<br />

von der Kita bis zur Hochschule,<br />

mehr Durchlässigkeit, mehr Ganztagsschulen,<br />

inklusive Bildung und eine<br />

Ausbildungsplatzgarantie, ein starkes BAföG<br />

für Schüler/-innen und Studierende – all<br />

das sind viele gute Forderungen, die Voraussetzungen<br />

für mehr soziale Gerechtigkeit<br />

sind. Es braucht vor allem Mut, um<br />

diese Forderungen wirklich umzusetzen –<br />

und noch weiter zu gehen. Schwarz-Gelb<br />

hat in den letzten Jahren das Gegenteil bewiesen.<br />

Die Bundesregierung hat keine<br />

Antworten auf die sozialen Fragen, keine<br />

Vision, das Bildungssystem weiterzuentwickeln,<br />

und ein elitäres Gesellschaftsbild,<br />

das sich mit gleichen Bildungschancen für<br />

alle nicht vereinen lässt. Deshalb ist es an<br />

der Zeit, diese Regierung abzuwählen. Damit<br />

alle können dürfen. l<br />

109


Argumente_02_<strong>2013</strong>_Inhalt 13.08.13 11:39 Seite 110<br />

Literatur<br />

Beisenkamp, Anja et al. (2012). Elefanten-Kinder -<br />

gesundheitsstudie 2011. Im Internet verfügbar:<br />

https://dl.dropbox.com/u/13038373/<br />

ELEFANTEN/Elefanten-<br />

Kindergesundheitsstudie%202012.pdf.<br />

Dombrowski, Rosine, Solga, Heike (2009). Soziale<br />

Ungleichheiten in schulischer und außerschulischer<br />

Bildung, Düsseldorf: Hans Böckler Stiftung,<br />

Online verfügbar:<br />

http://www.boeckler.de/pdf/p_arbp_171.pdf<br />

[10.07.<strong>2013</strong>].<br />

Kaiser, Astrid. Vornamensstudie, im Internet<br />

http://astrid-kaiser.de/forschung/projekte/<br />

vornamensstudien.php [10.07.<strong>2013</strong>].<br />

Middendorff, Elke et al. (<strong>2013</strong>). Die wirtschaftliche<br />

und soziale Lage der Studierenden in Deutschland<br />

2012. 20. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks<br />

durchgeführt durch das HIS-Institut für<br />

Hochschulforschung. Bonn/Berlin: Bundesministerium<br />

für Bildung und Forschung.<br />

OECD (<strong>2013</strong>), Education at a Glance <strong>2013</strong>: OECD<br />

Indicators. OECD Publishing. im Internet verfügbar:<br />

http://dx.doi.org/10.1787/eag-<strong>2013</strong>-en<br />

Reinert, Marie-Christine, Rothe, Kerstin (2011).<br />

Lernen neu lernen: Alternativen zur Ökonomisierung.<br />

Berlin: Vorwärts.<br />

110 Auch Kevin muss können dürfen! Argumente 2/<strong>2013</strong>


Argumente_02_<strong>2013</strong>_Inhalt 13.08.13 11:39 Seite 111<br />

Notizen<br />

111


Argumente_02_<strong>2013</strong>_Inhalt 13.08.13 11:39 Seite 112<br />

Notizen<br />

112 Notizen Argumente 2/<strong>2013</strong>


<strong>ARGUMENTE</strong> 2/<strong>2013</strong> <strong>Bundestagswahl</strong><br />

Bei Unzustellbarkeit wegen Adressänderung erfolgt die Rücksendung an<br />

den Herausgeber unter Angabe der gültigen Empfängeranschrift<br />

Postvertriebsstück G 61797<br />

Gebühr bezahlt<br />

Juso-Bundesverband<br />

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August <strong>2013</strong><br />

ISSN 14399785<br />

Gefördert aus Mitteln des Bundesjugendplanes

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