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Argumente 3 11 Marx heute.pdf - Jusos

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ARGUMENTE<br />

3/20<strong>11</strong><br />

<strong>Marx</strong> <strong>heute</strong><br />

Teil 1


ARGUMENTE<br />

3/20<strong>11</strong><br />

<strong>Marx</strong> <strong>heute</strong><br />

Teil 1<br />

Impressum<br />

Herausgeber Bundesverband der Jungsozialistinnen und Jungsozialisten in der SPD beim<br />

SPD-Parteivorstand<br />

Verantwortlich Sascha Vogt und Jan Böning<br />

Redaktion Simone Burger, Matthias Ecke, Ralf Höschele, Thilo Scholle, Jan Schwarz,<br />

Robert Spönemann<br />

Redaktionsanschrift SPD-Parteivorstand, Juso-Bundesbüro, Willy-Brandt-Haus,<br />

109<strong>11</strong> Berlin<br />

Tel: 030 25991-366, Fax: 030 25991-415, www.jusos.de<br />

Verlag Eigenverlag<br />

Druck braunschweig-druck GmbH<br />

Die Artikel geben nicht in jedem Fall die Meinung der Redaktion oder<br />

des Herausgebers wieder.


INHALT<br />

Intro .......................................................................................................................... 4<br />

Von Matthias Ecke, Thilo Scholle und Jan Schwarz, Mitglieder der Redaktion<br />

Magazin<br />

Regeneriert oder politisch ergraut? Die SPD im Herbst 20<strong>11</strong>............................... 7<br />

Von Franz Walter, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Göttingen<br />

Sozialdemokratische Orientierung in der Wirtschaftspolitik.................................13<br />

Von Jan Schwarz, stellvertretender Juso-Bundesvorsitzender<br />

Schwerpunkt<br />

Das Compagnie-Geschäft <strong>Marx</strong> und Engels….......................................................17<br />

Klaus Körner, Publizist in Hamburg<br />

<strong>Marx</strong> und die Sozialdemokratie – die SPD und <strong>Marx</strong>… ....................................... 23<br />

Von Thilo Scholle und Jan Schwarz, Mitglieder der Redaktion<br />

Care als zentrales Strukturproblem kapitalistischer Vergesellschaftung<br />

und deren feministische Bearbeitung.................................................................... 31<br />

Von Lisa Yashodhara Haller, Universität Kassel<br />

2 Inhalt <strong>Argumente</strong> 3/20<strong>11</strong>


Staat: Herrschaft? Notwendigkeit? Instrument?<br />

Zur Staatstheorie <strong>Marx</strong>’ und marxistischer Staatstheorie .................................... 38<br />

Von Julian Zado, stellvertretender Juso-Bundesvorsitzender<br />

Der Wert des Werts ............................................................................................... 44<br />

Von Björn Brennecke<br />

Die Weiterentwicklung zum Kapital...................................................................... 48<br />

Von Tobias Gombert<br />

3


INTRO: MARX HEUTE<br />

Von Matthias Ecke, Thilo Scholle und Jan Schwarz, Mitglieder der Redaktion<br />

Karl <strong>Marx</strong> wurde 1818 in Trier geboren,<br />

und ist 1883 in London gestorben. Er<br />

war Philosoph, Ökonom, Historiker,<br />

Soziologe, Journalist, Politiker und Revolutionär.<br />

Er ist einer der bekanntesten<br />

Menschen der Welt, bis <strong>heute</strong><br />

werden seine Ideen und Schriften kontrovers<br />

diskutiert und weiterentwickelt.<br />

Die Prophezeiung seines ersten Biographen<br />

Franz Mehring hat sich bewahrheitet:<br />

„Sein Name wird durch<br />

die Jahrhunderte fortleben und so<br />

auch sein Werk.“ Dabei ist sein Werk<br />

so unterschiedlich bewertet, wie wohl<br />

kaum ein anderes. Von seinen GegnerInnen<br />

verhasst, aber auch geachtet,<br />

von seinen AnhängerInnen sowohl<br />

nachgebetet, verschiedentlich interpretiert,<br />

als auch immer wieder verworfen.<br />

Er war der bedeutendste Kopf<br />

der ArbeiterInnenbewegung, bis <strong>heute</strong><br />

bezeichnet die SPD die marxistische<br />

Gesellschaftsanalyse als eine ihrer<br />

Wurzeln. Das Verhältnis der SPD zu<br />

Karl <strong>Marx</strong> hat Willy Brandt treffen beschrieben:<br />

"Die Analysen des großen<br />

Denkers waren vielfach richtig. Teile<br />

seines Instrumentariums und seiner<br />

Methode sind auf faszinierende Weise<br />

modern geblieben. Seine Antworten<br />

erwiesen sich vielfach als falsch, seine<br />

Hoffnungen als trügerisch."<br />

<strong>Marx</strong> gilt <strong>heute</strong> vor allem Autor einer Gesellschaftslehre<br />

und Pionier der Ökonomietheorie.<br />

Er wurde vielfach missbraucht,<br />

um Gewaltherrschaften zu legitimieren.<br />

Ihm wurde und wird viel vorgeworfen.<br />

"<strong>Marx</strong> geht es wie der Bibel: Er wird viel<br />

zitiert und kaum verstanden" (Erich<br />

Fromm). Dabei sind es gerade die unterstellten<br />

Vorwürfe, gegen die er sich selbst<br />

am vehementesten ausgesprochen. <strong>Marx</strong><br />

war weder der Autor eines sozialistischen<br />

Systems, noch der Erschaffer einer neuen<br />

Utopie. "Wer ein Programm für die Zukunft<br />

verfaßt, ist ein Reaktionär" (<strong>Marx</strong>).<br />

Er lehnte gerade geschlossene Welterklärungen<br />

ab und missbilligte dogmatische<br />

Ideologien. So ist auch sein Ausspruch „Je<br />

ne suis pas <strong>Marx</strong>iste“ zu verstehen, mit<br />

dem er sich von sich <strong>Marx</strong>isten nennenden<br />

Gruppen distanzierte. Diejenigen, die nur<br />

versuchten, zu verstehen was er aufgeschrieben<br />

hatte verachtete er. Und zwar<br />

nicht nur weil den meisten nicht einmal<br />

das gelang, sondern weil es auch seinen<br />

Überzeugungen im tiefsten widersprach.<br />

Georg Lukács beschrieb dies so: „<strong>Marx</strong>isten<br />

in dem Sinne, in dem <strong>Marx</strong> selbst kein<br />

<strong>Marx</strong>ist war, es nicht sein wollte, gibt es<br />

[...] nicht und kann es nicht geben; das<br />

Schwören auf die Worte der Meister ist das<br />

Schicksal jeder Schule, die eine endgültige<br />

Wahrheit letzter Instanz kennt. Irgendeine<br />

Wahrheit dieser Art kennt der <strong>Marx</strong>ismus<br />

aber nicht. Er ist kein unfehlbares Dogma,<br />

sondern eine wissenschaftliche Methode.<br />

Er ist nicht die Theorie eines Individuums,<br />

der ein anderes Individuum eine andere<br />

und höhere Theorie entgegenstellen könnte;<br />

er ist vielmehr der proletarische Kassen-<br />

4<br />

Intro <strong>Argumente</strong> 3/20<strong>11</strong>


kampf, in Gedanken gefaßt; er ist aus den<br />

Dingen selbst, aus der historischen Entwicklung<br />

emporgewachsen und wandelt<br />

sich mit ihr; deshalb ist er so wenig ein leerer<br />

Trug wie eine ewige Wahrheit. Dem<br />

entspricht es durchaus, daß es gerade die<br />

»orthodoxen« <strong>Marx</strong>isten gewesen sind,<br />

welche die wissenschaftlichen Resultate,<br />

die einst von <strong>Marx</strong> und Engels gewonnen<br />

worden sind, nach der wissenschaftlichen<br />

Methode dieser Männer zu revidieren verstanden<br />

haben.“<br />

<strong>Marx</strong> wichtigstes Instrument war die<br />

Kritik, aber nicht nur als Selbstzweck, sondern<br />

um die Gesellschaft zu verändern.<br />

Dafür ist es notwendig zu Verstehen, was<br />

die entscheidenden Funktionen und Hebel<br />

der Gesellschaft sind. Ohne die Erkenntnis<br />

über die eigene Rolle in der Gesellschaft<br />

und das Wissen um die Funktionsmechanismen<br />

der Gesellschaft ist keine Emanzipation<br />

möglichen. „Die Menschen machen<br />

ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie<br />

nicht aus freien Stücken, nicht unter<br />

selbstgewählten, sondern unter unmittelbar<br />

vorgefundenen, gegebenen und überlieferten<br />

Umständen.“(<strong>Marx</strong>). In diesem Sinne<br />

ist er auch <strong>heute</strong> noch hoch aktuell. Das<br />

Verständnis über seine Theorien hilft die<br />

Welt zu verstehen. Es geht nicht darum zu<br />

begründen warum <strong>Marx</strong> Recht hatte oder<br />

ihn so zu interpretieren, dass er Recht hat,<br />

sondern seine Methode der Kritik anzuwenden<br />

und die passenden Teile seines Instrumentenkastens<br />

der Erklärungsansetze<br />

zu nutzen um die Verhältnisse unserer Zeit<br />

zu erfassen.<br />

Auch für die <strong>Jusos</strong> war und ist der Bezug<br />

auf <strong>Marx</strong> und seine theoretischen Erben<br />

von Bedeutung. Die <strong>Jusos</strong> verstehen<br />

sich <strong>heute</strong> als sozialistischer, feministischer<br />

und internationalistischer Richtungsverband.<br />

Dies ist das Ergebnis vieler Diskussionen<br />

und Auseinandersetzungen seit der<br />

Linkswende 1969. Dabei waren <strong>Jusos</strong> nie<br />

ein einheitlicher Block, sondern immer bestimmt<br />

von unterschiedlichen analytischen<br />

und strategischen Positionen. Diese schlugen<br />

sich in Strömungen nieder, die auch<br />

auf die Traditionen und Denkansätze der<br />

drei marxistischen theoretischen Stränge<br />

der Sozialdemokratie zu Beginn des Jahrhunderts<br />

aufgriffen. Die Refos bezogen<br />

sich auf Eduard Bernstein, die Antirevisionisten<br />

auf Rosa Luxemburg und die Juso-<br />

Linke auf Karl Kautsky und Rudolf Hilferding.<br />

Diese entwickelten sich weiter und<br />

nahmen auch immer wieder neue Theorieentwicklung<br />

in ihre Programmatik mit auf.<br />

Wer sozialistische Politik gestalten will<br />

kann auf <strong>Marx</strong> nicht verzichten. Dies ist<br />

der Anspruch der <strong>Jusos</strong>. Was dies für <strong>Jusos</strong><br />

bedeutet steht in Potsdamer Grundsatzerklärung<br />

von 1991: „Sozialismus bedeutet<br />

für uns die Befreiung aller Menschen von<br />

Ausbeutung und Unterdrückung, die<br />

Durchsetzung von Freiheit und Gleichheit,<br />

die uneingeschränkte Garantie aller<br />

Menschenrechte und Demokratie in allen<br />

Lebensbereichen. Dieser Sozialismus ist<br />

eine Gesellschaft der Selbstbestimmung in<br />

Solidarität, deren Voraussetzung es ist, "die<br />

freie Entfaltung eines jeden als Bedingung<br />

für die freie Entfaltung aller" (Karl <strong>Marx</strong>)<br />

zu begreifen.“<br />

In diesem Doppelheft der <strong>Argumente</strong><br />

möchten wir euch einen Einblick in die<br />

Ideen von Karl <strong>Marx</strong>, seine historische Bedeutung,<br />

die Weiterentwicklung seiner<br />

Schriften und die Debatten über seine Aktualität<br />

in verschiedenen Politikfeldern<br />

bieten. Die hier versammelten Beiträge<br />

spiegeln eine ganze Bandbreite der an<br />

<strong>Marx</strong>‘ Denken anknüpfenden Theoriestränge<br />

wieder, naturgemäß nicht alle. Der<br />

Pluralismus marxistischer Theoriebildung<br />

5


ist Denkanstoß und Herausforderung zugleich.<br />

Nicht alle hier vertretenen Ansätze<br />

sind zueinander widerspruchsfrei, nicht<br />

alle werden im Juso-Verband vollends geteilt.<br />

Doch gerade diese Fähigkeit, die vielfältigen<br />

Herrschaftsverhältnisse zu analysieren<br />

und durch kritische Theorie der<br />

Gesellschaft zu erklären, ist eine der unverzichtbaren<br />

Stärken des <strong>Marx</strong>‘schen Denkens.<br />

Eine Größe, die die Reichweite seines<br />

Werkes über die historischen<br />

Bedingungen der Entstehungszeit hinauswachsen<br />

lässt. Kritische Gesellschaftstheorie<br />

als Voraussetzung für sozialistische Politik,<br />

das war <strong>Marx</strong> gestern, das ist <strong>Marx</strong><br />

<strong>heute</strong>.<br />

Zu den einzelnen Beiträgen<br />

Klaus Körner gibt einen Einblick in das<br />

bewegte Leben von Karl <strong>Marx</strong>. Er geht<br />

durch die verschiedenen Stationen und<br />

Schaffensphasen in den verschiedenen<br />

Städten Europas. Dabei war sein Leben<br />

geprägt von ständiger Geldknappheit. Einen<br />

Schwerpunkt setzt er auf die Beziehung<br />

zu seinem Partner Fridrich Engels.<br />

Thilo Scholle und Jan Schwarz setzen<br />

sich mit dem Verhältnis zwischen der deutschen<br />

Sozialdemokratie und Karl <strong>Marx</strong><br />

und dem Wiederhall seiner Theorien in<br />

der Partei auseinander. Dabei war die Beziehung<br />

hoch kompliziert. Zeit seines Lebens<br />

begleitete <strong>Marx</strong> die Entwicklung der<br />

deutschen Arbeiterpartei kritisch und<br />

mischte sich ein. In der SPD kam es immer<br />

wieder zu Auseinandersetzungen um die<br />

Interpretation der marxschen Schriften.<br />

Lisa Y. Haller widmet sich den Leerstellen<br />

marxistischer Werttheorien aus Sicht einer<br />

feministischen Ökonomiekritik. Ihr Beitrag<br />

stellt heraus, wie die marxistische<br />

Theorie die Betreuungs-, Erziehungs- und<br />

Fürsorgearbeit vernachlässigt, die Voraussetzung<br />

für kapitalistische Akkumulation<br />

ist. Sie fordert eine Weiterentwicklung<br />

marxistischer Theorie durch einen feministischen<br />

Materialismus, um gerade Fragen<br />

der Vermarktung von Familienarbeit besser<br />

analysieren zu können.<br />

Julian Zado betrachtet die Rolle des Staates<br />

in der Theorie von <strong>Marx</strong> und die Entwicklung<br />

marxistischer Staatstheorie. Er<br />

bearbeitet die Frage, inwieweit Staatlichkeit<br />

eine Notwendigkeit ist und welche<br />

Rolle er als Machtinstrument hat. Er versteht<br />

Staat als Verdichtung von Kräfteverhältnissen<br />

ohne den Kapitalismus nicht<br />

möglich wäre.<br />

Björn Brennecke konzentriert sich auf die<br />

Streitfrage, inwieweit die marxsche Werttheorie<br />

zur Gesellschaftsanalyse überhaupt<br />

geeignet ist. Er stellt die verschiedenen Positionen<br />

dar und kommt zu dem Ergebnis,<br />

dass ein <strong>Marx</strong>ismus ohne Werttheorie seine<br />

schärfste Klinge verliert und alleine<br />

denjenigen dienen würde, die ihre Augen<br />

verschlossen halten wollen, um sich gemütlich<br />

im kapitalistischen System einzurichten.<br />

Tobias Gombert erklärt im ersten Teil seines<br />

Beitrages die Grundlagen der politischen<br />

Ökonomie, wie er sie im „Kapital“<br />

dargestellt hat. Er gibt damit einen Text,<br />

der sowohl Einsteigern die Möglichkeit<br />

bietet erste Verständnisse über die marxistische<br />

Denkweise zu gewinnen, aber auch<br />

<strong>Marx</strong>kennern noch neue Einblicke bieten<br />

kann. Der zweite Teil beschäftigt sich mit<br />

der marxschen Krisentheorie und deren<br />

Weiterentwicklung. <br />

6 Intro <strong>Argumente</strong> 3/20<strong>11</strong>


REGENERIERT ODER<br />

POLITISCH ERGRAUT?<br />

DIE SPD IM HERBST 20<strong>11</strong><br />

Von Franz Walter, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Göttingen<br />

Magazin<br />

Hat sie sich erholt – die SPD? Schauen<br />

wir auf die Wahlen, die seit dem großen<br />

Desaster Ende September 2009 in<br />

Deutschland stattgefunden haben. In<br />

fünf Bundesländern konnte die SPD<br />

ihre Regierungsposition behaupten. In<br />

drei Bundesländern (Nordrhein-Westfalen,<br />

Hamburg und Baden-Württemberg)<br />

gelangte die SPD aus der Opposition<br />

heraus in das Kabinett. Aus<br />

sozialdemokratischer Sicht eine unzweifelhaft<br />

erfreuliche Bilanz. Indes:<br />

Mit einem kräftigen Ausbau des Wählerfundaments<br />

konnten sich die Sozialdemokraten,<br />

sieht man von den Wahlgängen<br />

in Hamburg und<br />

Mecklenburg-Vorpommern ab, keineswegs<br />

hervortun. Die SPD hielt in Sachsen-Anhalt<br />

und Bremen in etwa ihr<br />

vorangegangenes Ergebnis. Dagegen<br />

hatte sie einen weiteren Rückgang in<br />

Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz<br />

(-9,9 Prozentpunkte) Baden-Württemberg<br />

und Berlin zu verkraften.<br />

Sehen wir einmal genauer auf die Bundesländern<br />

Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen,<br />

da hier einige Spezifika<br />

der sozialdemokratischen Wähleranatomie<br />

gut deutlich werden. Die Sozialdemokraten<br />

in NRW verschlechterten sich 2010<br />

gegenüber 2005 um weitere 2,6 Prozentpunkte<br />

auf 34,5 Prozent. Die Anteile der<br />

baden-württembergischen Sozialdemokraten<br />

schmolzen 20<strong>11</strong> um zwei Prozentpunkte<br />

auf 23,1 Prozent ab. Die SPD in<br />

NRW steht damit wieder auf den Stand<br />

von 1954. Die Sozialdemokraten im Südwesten<br />

verbuchten 20<strong>11</strong> das schlechteste<br />

Resultat in ihrer Landesgeschichte. Zuwächse<br />

verzeichnet die SPD in beiden<br />

Ländern allein bei den über 60-Jährigen,<br />

einzig bei den Rentnern. Bei den Wählern,<br />

die einen Erwerb nachgingen, fiel die<br />

SPD um knapp vier Prozent zurück. In<br />

der Altersgruppe der 18-44Jährigen war<br />

die Abwendung von der SPD mit einem<br />

Minus von über sechs Prozent am stärksten.<br />

7


Im Kern gilt dieser Entwicklungszug<br />

allgemein, für fast alle Bundesländer. Die<br />

SPD reüssiert bei den Rentner, und sie<br />

stürzt nach 2009 weiter forciert bei den<br />

jungen Wählern, die noch in der Ausbildung<br />

stecken, ab. Im Westen zogen zuletzt<br />

die Grünen daraus ihren Nektar, im Osten<br />

bei denjenigen, die als jung, männlich, gering<br />

gebildet bezeichnet werden, durchaus<br />

die NPD. Und bekanntlich spielt im Wettbewerb<br />

um das junge Elektorat mit den Piraten<br />

nun noch ein weiter, derzeit besonders<br />

attraktiver Anbieter mit. Verändert hat<br />

sich seit 2009 die strukturelle Zusammensetzung<br />

der Wählerwanderungsflüsse. Am<br />

Ende der Großen Koalition verlor die SPD<br />

über drei Millionen Wähler von 2005 an<br />

die Linke und an das Lager der Nichtwähler.<br />

Diese Bewegung hat sich in den letzten<br />

beiden Jahren nicht fortgesetzt. Statt dessen<br />

hat es einen kräftigen Aderlass in<br />

Richtung Grüne gegeben. Kompensieren<br />

konnte dies die SPD durch bemerkenswerte<br />

Zuwächse aus dem altbürgerlichen Lager,<br />

also aus dem Spektrum von CDU und<br />

FDP. Natürlich hat sich dadurch die sozialdemokratische<br />

Wählerschaft im Jahr 20<strong>11</strong><br />

– gerade im Vergleich zu 1998 oder 2002 –<br />

signifikant verändert. Linke und ökologisch-postmaterialistische<br />

Einstellungen<br />

dürften hier deutlich geschwunden sein;<br />

konservative Stabilitäts- und Sicherheitserwartungen<br />

an Resonanz im SPD-Elektorat<br />

gewonnen haben.<br />

Viel Erfreuliches lässt sich auch nicht<br />

auf der Ebene der Mitgliedschaft entdekken.<br />

20<strong>11</strong> fiel die SPD nun auch noch unter<br />

die 500.000-Mitglieder-Marke. Seit<br />

2008 hat die CDU gar einen knappen Vorsprung<br />

bei den Parteizugehörigen. Das<br />

Durchschnittsalter der Sozialdemokraten<br />

liegt 20<strong>11</strong> bei 58 Jahren, diejenigen unter<br />

36 Jahren bilden nicht einmal 10 Prozent<br />

der SPD-Mitgliedschaft. Wie bei den<br />

Wählern so dominieren in der SPD auch<br />

bei den Mitgliedern nunmehr die Rentner<br />

und Pensionäre. Die stärkste Gruppe unter<br />

den aktiv erwerbstätigen Mitgliedern bilden<br />

die Beamten mit 23 %. Arbeiter kommen<br />

nur noch marginal, zumindest unterproportional<br />

vor in der Partei, die lange auf<br />

ihre proletarischen Wurzeln stolz war.<br />

Denkbar ernüchternd fiel bekanntlich<br />

eine Mitgliederbefragung des Willy-<br />

Brandt-Hauses im Frühjahr 2010 aus. Die<br />

Zahl der Ortsvereine war in den vorangegangenen<br />

Jahren erheblich zurückgegangen.<br />

In den verbliebenen lokalen Sektionen<br />

fanden offensive, nach außen gewandte<br />

Aktivitäten kaum noch statt. Die Drähte<br />

zur programmatisch gerne belobigten<br />

Zivilgesellschaft waren weithin gekappt;<br />

regelmäßige Kontakte zu Gewerkschaften<br />

und Umweltverbänden fanden in über<br />

90 % der Ortsvereine nicht mehr statt.<br />

Nun darf man natürlich nicht jede Veränderung<br />

gleich als Krise oder gar Menetekel<br />

brandmarken. Selbst die Mitgliederverluste<br />

und die Organisationserosion der<br />

SPD lassen sich aus einer anderen Perspektive<br />

auch milder bewerten. Derartige<br />

Rückgänge, die in anderen Partei ganz<br />

ähnlich zu beobachten sind, werden vielleicht<br />

zu pauschal für den unvermeidlichen<br />

Niedergang der Volksparteien und aller<br />

Großorganisationen schlechthin in postmodernen,<br />

individualisierten Gesellschaften<br />

gedeutet. Doch sind derartige Interpretationen<br />

zweifelsohne zu stark orientiert an<br />

den extrem hohen Mitgliederzahlen aus<br />

den Zeiten der Überpolitisierung der<br />

1970er und frühen 1980er Jahre. Seither<br />

tragen die Parteien im Grunde ab, was<br />

auch in historischer Perspektive ungewöhnlich<br />

stark akkumuliert worden war.<br />

Jedenfalls haben die Sozialdemokraten<br />

8 Regeneriert oder politisch ergraut? Die SPD im Herbst 20<strong>11</strong> <strong>Argumente</strong> 3/20<strong>11</strong>


auch gegenwärtig noch in etwa so viele<br />

Mitglieder wie in den Ausgangsjahren des<br />

Kaiserreichs oder zu Beginn der 1950er<br />

Jahre - in Zeiten mithin, als die Klassengesellschaft<br />

noch stabil, die sozialmoralischen<br />

Milieus intakt, das kollektive Organisationsverhalten<br />

weit verbreitet war.<br />

Zumal: In der Größe von Organisation<br />

vermittelte sich nicht nur die Stärke, sondern<br />

historisch oft genug auch das Dilemma<br />

der Sozialdemokratie. Auf der einen<br />

Seite sicherte die Organisation zwar die<br />

sozialdemokratische Existenz in Kriegsund<br />

Krisenzeiten. Denn Organisationen<br />

verschwinden nicht so einfach, tragen Beharrungskräfte<br />

in sich, unterscheiden sich<br />

auf diese Weise von spontanen Bürgerbegehren<br />

oder Initiativen, die oft mit großem<br />

Schwung und weitgesteckten Zielen entstehen,<br />

nach Enttäuschungen und Misserfolgen<br />

dann aber ebenso rasch wieder zerfallen.<br />

Auf der anderen Seite aber scheuen<br />

große Organisationen das Risiko, sind vorwiegend<br />

am Selbsterhalt interessiert -<br />

nicht an schwer kalkulierbaren Veränderungen<br />

oder stürmischen Aktivitäten. So<br />

hat zwar die Organisation zu den fast 150<br />

langen sozialdemokratischen Jahren beigetragen,<br />

hat die elementaren Weltbilder und<br />

Zielsetzungen generationenübergreifend<br />

aufbewahrt und weitervermittelt, hat aber<br />

ebenfalls auch die politischen Erstarrungen<br />

und Unbeweglichkeiten der Partei in weichenstellenden<br />

historischen Momenten<br />

mitverursacht. Der Mitglieder- und Organisationsschwund<br />

der letzten Jahre stellt<br />

infolgedessen nicht unbedingt ein Menetekel<br />

für die Sozialdemokraten dar. Nicht<br />

wenige Sozialwissenschaftler und Historiker<br />

haben sogar darauf aufmerksam gemacht,<br />

dass an Mitgliedern kleine Organisationen<br />

oft effizienter und stringenter<br />

agieren als große. „In kleinen, zentripetal<br />

organisierten Gruppen“, so etwa der große<br />

Soziologe Georg Simmel, „werden im Allgemeinen<br />

alle Kräfte aufgeboten und genutzt,<br />

während in großen Gruppen Energien<br />

oft ungenutzt bleiben.“<br />

Bislang allerdings hat sich die SPD<br />

noch nicht mit dem Gedanken angefreundet,<br />

eine kleinere Partei zu werden. Stattdessen<br />

setzt sie in regelmäßigen Intervallen<br />

unverdrossen auf Mitgliederwerbung.<br />

Doch alle verzweifelten Bemühungen, wieder<br />

große Volkspartei zu werden, jede Anstrengung,<br />

Mitgliederscharen - koste es<br />

was es wolle - zu akquirieren, scheinen in<br />

Wirklichkeit wie ziellose Donquichotterien.<br />

Die Sozialdemokraten sollten sich<br />

vielleicht intensiver Gedanken darüber<br />

machen, wo ihr Ort in der postindustriellen<br />

Gesellschaft und im Vielparteiensystem<br />

des 21. Jahrhunderts noch liegen<br />

könnte - diesseits der final beendeten Ära<br />

von weit ausgreifenden Volks- und Mitgliederparteien.<br />

In einer solchen neuen<br />

Konstellation vielfacher Heterogenitäten<br />

und komplexer Allianzen kommt es mehr<br />

denn je auf intelligente und bewegliche<br />

Parteizugehörige an, vor allem: auf politische<br />

Kunst, taktische Beweglichkeit, strategische<br />

Raffinesse - bei einem harten<br />

Kern grundsätzlicher Überzeugungen.<br />

Überhaupt tun sich in der sozialdemokratischen<br />

Debatte zur Organisationsreform<br />

einige Widersprüche auf. Die sozialdemokratische<br />

Parteiführung will und<br />

exekutiert - natürlich - die moderne Wählerpartei,<br />

aber sie will auch die partizipationsgeprägte<br />

Mitmachpartei unterhalb der<br />

Berliner Zentralität. Doch beides geht<br />

schwer zusammen. In der modernen, im<br />

Prinzip medial getakteten Wählerpartei<br />

geht es hochzentralistisch zu; hier beherrschen<br />

die PR-Experten, die Consultants,<br />

Werbefachleute und Politikprofis das Feld,<br />

9


die in kleinen Stäben blitzschnell handeln<br />

müssen, immer den aktuellen demoskopischen<br />

Befund als orientierenden Maßstab<br />

im Auge behalten, die Events inszenieren<br />

und alle Politik personalisieren. Dem partizipationsfreudigen<br />

Mitmachprojekt aber<br />

geht es stärker um Inhalte, um langfristig<br />

angelegte Konzeptionen, an denen geduldig<br />

und argumentativ gearbeitet wird. Die<br />

Partizipationspartei, kurzum, ist also „an<br />

der Sache“ orientiert, dezentral verfasst<br />

und eigensinnig; die moderne Medienpartei<br />

dagegen bewegt sich vorwiegend in den<br />

zyklischen Trends je gegenwärtiger Aufgeregtheiten,<br />

wird zentral dirigiert und kann<br />

sich Widersprüchlichkeiten und Vielstimmigkeiten<br />

nicht leisten. Zumal in Wahlkampfzeiten<br />

- und wann gibt es sie einmal<br />

nicht in Deutschland - haben sich die<br />

Oberkommandierenden der SPD dann<br />

doch bis dato mehr für die leichter kalkulierbare<br />

Medienpartei als für das schwierigere<br />

Partizipationsprojekt entschieden.<br />

Aber wahrscheinlich ist es sowieso ganz<br />

trivial: Zwar wird in schöner Regelmäßigkeit<br />

der Charme der Basisdemokratie entdeckt,<br />

aber natürlich nie ganz freiwillig.<br />

Der Ruf nach mehr Beteiligung ist immer<br />

Ausfluss schlimmer Krisen, schwerer<br />

Wahlniederlagen, deftiger Mitgliederverluste,<br />

vor allem aber Reaktion auf den demoskopisch<br />

akkurat ermittelten Anstieg<br />

der Parteienverdrossenheit im Volke. Und<br />

seit 25 bis 30 Jahren werden die immer<br />

gleichen Rezepte feilgeboten. Partizipation,<br />

mehr innerparteiliche Debatten, Vorwahlen,<br />

offene Listen, größeren Raum für<br />

Quereinsteiger. Zumeist endet der Reformimpetus<br />

allerdings ziemlich rasch, sei es,<br />

weil die jeweils neuen SPD-Eliten letztlich<br />

wie i9hre Vorgänger an mehr Debatten<br />

und größerer Transparenz in Wirklichkeit<br />

ebenfalls kein elementares Interesse hatten,<br />

sei es, weil der Mittelbau und die Mitgliederbasis<br />

die neuen Möglichkeiten keineswegs<br />

so freudig nutzten, wie man erwartet<br />

hatte. Und überhaupt: Im föderalen<br />

Deutschland hält die innerparteiliche Depression<br />

und Selbstkritikdiskussion nach<br />

schlimmen Bundestagswahlniederlagen<br />

nie sonderlich lange an, denn meist steht<br />

schon nach wenigen Monaten ein „kleiner<br />

Machtwechsel“ in den Bundesländern vor<br />

der Tür. Für die SPD geschah dies 2010 in<br />

NRW, 20<strong>11</strong> in Hamburg und BaWü. Dort<br />

verflüchtigt sich dann das Interesse an parteiendogenen<br />

Veränderungen unmittelbar.<br />

Man hat schließlich staatliche Macht, man<br />

muss regieren; alles scheint schließlich bestens.<br />

Die Reform der Organisation stößt<br />

in diesen Bundesländern dann nicht mehr<br />

auf tatkräftige Anhänger, sondern auf pures<br />

Desinteresse.<br />

Überdies: Basisdemokratie birgt Tükken<br />

wie Chancen. Ur- und Vorwahlen<br />

etwa, meist Kernstück und Zauberformel<br />

sozialdemokratischen Reformvorschläge,<br />

sind gewiss nicht gerade der letzte Schrei<br />

innerparteilicher Reformkreationen. Aber<br />

sie mögen doch zu wirksamen Erfahrungen<br />

führen, wenn die Kandidaten der Sozialdemokratie<br />

künftig einen großen demokratischen<br />

Nominierungsprozess durchstehen<br />

müssen. Bei diesen Plebisziten müssen<br />

die Kandidaten früh Profil zeigen -<br />

und nicht erst, wie im Falle von Steinmeier<br />

2009, als plötzliche Spitzenkandidaten im<br />

Bundestagswahlkampf selbst.<br />

Indes, Wählerbindungen lassen sich dadurch<br />

nicht revitalisieren. Und auch das:<br />

Die offene Feldschlacht verschiedener<br />

Kandidaten kann Parteien polarisieren, gar<br />

lähmen. Im Übrigen bringen basisdemokratische<br />

Wahlen das wohlorganisierte System<br />

von Quoten und Proporz durcheinander<br />

- und darin besteht der wirkliche<br />

10 Regeneriert oder politisch ergraut? Die SPD im Herbst 20<strong>11</strong> <strong>Argumente</strong> 3/20<strong>11</strong>


Widerspruch im Auftritt von Sigmar Gabriel.<br />

Er will auf der einen Seite Quotierungen<br />

durchsetzen und auf der anderen<br />

Seite die freie Wahl der Basis (plus Nichtmitglieder)<br />

erreichen. Doch beides passt<br />

nicht zusammen, da die Quotierung - man<br />

hat ausreichend Migranten zu berücksichtigen,<br />

natürlich viele Frauen; real existierende<br />

Arbeitnehmer sollen auch nicht unter<br />

den Mandatsträgern fehlen, junge<br />

Leute haben auf der Liste genügend Plätze<br />

zu bekommen, der ein oder andere Seiteneinsteiger<br />

wäre fürs Image sicher auch<br />

nicht schlecht - die Mitsprache massiv einschränkt,<br />

einschränken muss.<br />

Und gerade das Kraftpaket Sigmar Gabriel<br />

wird sich nicht gerne an die kurze<br />

Leine von Basispartizipatoren legen lassen.<br />

Schließlich will er führen, die Sozialdemokraten<br />

aus alten Stellungen treiben, neue<br />

Themen finden und Projekte schaffen. Er<br />

wird nicht einfach als Reflex der gegenwärtigen<br />

SPD-Mentalität mit all ihren riesigen<br />

Defiziten agieren mögen. Mit einigem<br />

Recht. Allein ein aufregendes Thema und<br />

substantielles Anliegen bewegt Bürger, sich<br />

zu aktivieren. Nicht Organisationsreformen<br />

als solche, nicht Schnuppermitgliedschaften,<br />

nicht Service-Cards oder dergleichen.<br />

Kurzum: Die SPD muss klären, was<br />

sie eigentlich will. Sämtliche Organisationsreformen,<br />

alle neuen Leute an der Spitze<br />

allein werden nicht das Geringste bewegen,<br />

wenn die Partei nicht zu der<br />

Erkenntnis darüber gelangt, wer sie ist, für<br />

wen sie Politik machen will, auf welchem<br />

Wege, zu welchem Ziel - und mit welchen<br />

Weggenossen. Und in dieser Frage ist die<br />

SPD seit 2009 nicht recht vorangekommen.<br />

Nun sollte man die mittlere Zukunft<br />

der Sozialdemokraten natürlich nicht ausschließlich<br />

düster sehen. Schließlich<br />

schleppt auch der Gegner, die andere große<br />

Volkspartei, eine Menge vergleichbarer<br />

und besonderer Probleme mit sich herum.<br />

Auch und gerade bei der Union sind die<br />

über lange Jahrzehnte stabilen und integrierenden<br />

Identitäten - Religion, Heimat,<br />

Brauchtum, Nation, lebenslange Familie,<br />

Antikommunismus - brüchig bzw. unzeitgemäß<br />

geworden. Auch die CDU hat noch<br />

keinen Sinnersatz für ihren Sinnverlust gefunden,<br />

kennt nicht das Programm und<br />

Projekt einer christdemokratischen Politik<br />

in nachchristlichen Gesellschaften. Auch<br />

der Union fehlt der Nachwuchs. Zusammen:<br />

Auch das christdemokratisch-liberale<br />

Lager wird in den nächsten Jahren einen<br />

vergleichbaren Verschleiß an traditionsgestützten<br />

Reserven erleben. Die SPD wird<br />

währenddessen nicht unbedingt ihre Baisse<br />

in der zweiten Hälfte des letzten Jahrzehnts<br />

linienförmig fortsetzen. Renate<br />

Köcher hatte unlängst in einer ihrer monatlichen<br />

Analysen für die FAZ deutlich<br />

gemacht, dass das Anliegen der sozialen<br />

Gerechtigkeit, angemessen Löhne, solide<br />

Renten, Chancengleichheit, eine ordentliche<br />

Gesundheitsversorgung ohne Zwei-<br />

Klassen-Medizin ganz oben in der Erwartung<br />

der Bundesbürger stehen. Das mag<br />

der SPD wieder nutzen.<br />

Im Übrigen ist die SPD in gewisser<br />

Weise tatsächlich Partei der Mitte der bundesdeutschen<br />

Gesellschaft. Nun ist die<br />

Mitte ein durchaus prekärer, politisch keineswegs<br />

unproblematischer Ort. Aber<br />

machtpolitisch birgt er doch unzweifelhafte<br />

Vorzüge. Die Union hat bündnispolitisch<br />

nahezu allein die Freien Demokratenverfügt<br />

(oder eben mangels Masse der<br />

FDP auch nicht), was sie für die Mehrheitund<br />

Machtbildung derzeit auf Länderebene<br />

schon erheblich zurückwirft und ihre<br />

Perspektiven für 2013 verdüstert. Die Sozi-<br />

<strong>11</strong>


aldemokraten haben in dieser Hinsicht einige<br />

Pfeiler mehr im Köcher. Im Übrigen<br />

sind sie in der Tat eine kongeniale Repräsentanz<br />

des fortgeschrittenen mittleren<br />

Lebensdrittels, der 45- bis 60-Jährigen, der<br />

Eltern, Berufstätigen und Steuerzahler<br />

dieser Republik, der geburtenstarken Jahrgänge<br />

der bundesdeutschen Gesellschaft.<br />

Es ist schon bemerkenswert, wie sich das in<br />

höchst konfliktreichen Jahren erlernte<br />

Wahlverhalten dieser Generation für Rot-<br />

Grün biographisch erhalten hat. Nun ist<br />

diese geburtenstarke Kohorte ins Alter gekommen.<br />

Aber in einer massiv ergrauenden<br />

Gesellschaft wie die der Bundesrepublik<br />

wird die Partei der neuen Alten - und<br />

das könnte die SPD gut werden - im Parteienwettbewerb<br />

im Vorteil sein, was allerdings<br />

nicht jeder <strong>Jusos</strong> als rundum beglükkende<br />

Zukunftsaussicht empfinden dürfte.<br />

Und auf eine alternde Gesellschaft passen<br />

auch die sozialdemokratischen Dialektikslogans<br />

von gesellschaftlich-ökonomischen<br />

Fortschritt bei sozialer Sicherheit.<br />

Diese Kombination aus Veränderungszuspruch<br />

und Schutzversprechen missfiel<br />

zwar lange - seit 2008 allerdings mit zunehmend<br />

schwächer werdender Tendenz -<br />

den Meinungs- und Wirtschaftseliten der<br />

Republik, aber sie deckt sich stark mit einer<br />

bemerkenswert schichtübergreifenden Alltagsmentalität<br />

eines Gros der Deutschen<br />

auch im Jahr 20<strong>11</strong>. Die ergrauende deutsche<br />

Gesellschaft dürfte infolgedessen<br />

durchaus einige sozialdemokratische Züge<br />

tragen. Jedoch: Der Zauber des ursprünglichen<br />

sozialdemokratischen Emanzipationsimpetus<br />

wird dort nicht zurückkehren.<br />

l<br />

12<br />

Regeneriert oder politisch ergraut? Die SPD im Herbst 20<strong>11</strong> <strong>Argumente</strong> 3/20<strong>11</strong>


SOZIALDEMOKRATISCHE<br />

ORIENTIERUNG IN DER<br />

WIRTSCHAFTSPOLITIK<br />

Von Jan Schwarz, stellvertretender Juso-Bundesvorsitzender<br />

Früher war es eine oft wiederholte<br />

Phrase, dass die SPD für soziale Gerechtigkeit<br />

und die CDU für Wirtschaftskompetenz<br />

steht. Beides wurde<br />

und wird durch Umfragen, Wahlergebnisse<br />

und natürlich auch durch Regierungshandeln<br />

immer weiter in Zweifel<br />

gezogen. In der Regierungszeit von<br />

Rot-Grün und später in der Großen<br />

Koalition hat die SPD durch ihre Arbeitsmarkt-<br />

und Sozialreformen das<br />

Vertrauen breiter Wählergruppen verloren,<br />

weil ihr eben die Kompetenz<br />

abgesprochen wurde für soziale Gerechtigkeit<br />

zu sorgen. Die Hilflosigkeit<br />

und Orientierungslosigkeit der CDU<br />

unter Merkel in den Krisen haben eine<br />

ähnliche Auswirkung auf ihre Wählergruppen<br />

- Vertrauensverlust. Ergebnis<br />

dieser Entwicklung ist nicht zuletzt<br />

auch der allgemeine Verlust des Vertrauens<br />

in die Politik, Lösungen zu finden.<br />

Seit der katastrophalen Wahlniederlage<br />

bei der Bundestagswahl 2009<br />

bemüht sich die SPD ihre Kompetenz<br />

im Bereich des Sozialen zurückzuerobern,<br />

auch wenn es immer wieder<br />

kleine Schritte in die richtige Richtung<br />

gegeben hat, ist dies noch nicht gelungen.<br />

Es bleibt abzuwarten, welche<br />

Beschlüsse auf dem Parteitag 20<strong>11</strong> getroffen<br />

werden und wie die Parteispitze<br />

den Positionswandel in der Öffentlichkeit<br />

vertritt.<br />

Für eine erfolgreiche Bundestagswahl<br />

2013 wird aber auch die Rückeroberung<br />

der Deutungshoheit über die soziale Gerechtigkeit<br />

nicht genügen. Es ist absehbar,<br />

dass die Krisen an den Finanzmärkten und<br />

im Euroraum die politische Debatte der<br />

nächsten Jahre bestimmen wird. Und bei<br />

dem derzeitigen planlosen und unverantwortlichen<br />

Handeln der Bundesregierung<br />

ist es eher wahrscheinlicher, dass sich die<br />

Krisen auch wieder auf die Realwirtschaft<br />

ausweiten, als dass es besser wird. Folglich<br />

wird mitentscheidend sein, dass die SPD<br />

Lösungswege aus der Krise aufzeigt und<br />

ihr auch zugetraut wird, diese umzusetzen.<br />

13


In der Vergangenheit wurde Wirtschaftskompetenz<br />

der SPD nicht zugesprochen.<br />

In der Öffentlichkeit wurden lediglich<br />

einzelne Sozialdemokraten, wie<br />

Karl Schiller, Helmut Schmidt, Wolfgang<br />

Clement oder neuerdings auch Peer Steinbrück<br />

als Wirtschaftsfachleute dargestellt.<br />

Der Nachsatz hinter solchen Feststellungen<br />

war dann nicht selten, „aber er ist in der<br />

falschen Partei“. Nun würde ich gerade diesen<br />

Nachsatz nicht uneingeschränkt teilen<br />

und man muss auch bei den unterschiedlichen<br />

Personen sehr stark unterscheiden. So<br />

ist es natürlich ein riesengroßer Unterschied,<br />

ob man aus der Partei austritt und<br />

offen Werbung für CDU und Atomlobby<br />

macht, oder innerhalb der Regierung und<br />

seiner Partei eine bestimmte Politik durchsetzt.<br />

Gemein ist ihnen aber, dass sie mit<br />

ihrer Wirtschaftspolitik immer wieder auf<br />

starken Widerspruch in der SPD gestoßen<br />

sind. Wenn es nun darum geht Vertrauen<br />

in die sozialdemokratische Wirtschaftspolitik<br />

zu gewinnen muss erst einmal geklärt<br />

werden, was darunter verstanden wird,<br />

denn es wird leider immer wieder Wirtschaftskompetenz<br />

mit Wirtschaftsnähe<br />

verwechselt.<br />

Ein Satz von Gerhard Schröder beschreibt<br />

sehr gut das Verständnis von<br />

Wirtschaftspolitik unter neoliberaler Hegemonie:<br />

„Es gibt keine linke oder rechte,<br />

sondern nur gute oder schlechte Wirtschaftspolitik.“<br />

Da bleibt natürlich noch<br />

eine Frage offen, wer denn nach welchen<br />

Maßstäben eine Beurteilung abgibt. Und<br />

das waren vor allem die Wirtschaftsbosse<br />

selber, wenn sie zufrieden waren, handelte<br />

es sich um eine gute Wirtschaftspolitik<br />

und die beiden wichtigsten Kennzahlen<br />

waren und sind der Verlauf des DAX, egal<br />

wodurch Kurssteigerungen ausgelöst wurden<br />

und die Arbeitslosenzahl, egal welche<br />

neuen Jobs entstanden sind. Dies spiegelte<br />

sich auch immer wieder im Regierungshandeln<br />

der SPD wieder: Massive Steuersenkungen,<br />

gerade für Unternehmen, Deregulierung<br />

der Finanzmärkte,<br />

Privatisierung, Liberalisierung des Arbeitsmarktes<br />

und Sozialabbau sind nur einige<br />

Beispiele dafür. Damit wird deutlich, dass<br />

es sich nicht um eine Aufhebung der Möglichkeit<br />

handelte, in linke und rechte Wirtschaftspolitik<br />

zu unterscheiden, sondern<br />

dass es eine politische Entscheidung war,<br />

sich einzig und allein auf Angebotspolitik<br />

zu beschränken. Als einzige Begründung<br />

wurde nur immer wiederholt, dass es dazu<br />

keine Alternative gäbe. Die Politik der<br />

SPD hat sich damit dem neoliberalen<br />

Zeitgeist untergeordnet und die Phase der<br />

Entstaatlichung mitbestimmt. Dies war<br />

vor allem dem Glauben geschuldet, dass<br />

Politik keine Handlungsmöglichkeiten<br />

mehr habe. Mit der Politik die daraus resultierte<br />

wurde die Handlungsfähigkeit der<br />

Staaten dann auch tatsächlich immer weiter<br />

eingeschränkt und die Macht der<br />

Märkte gestärkt.<br />

Erst mit der Finanzkrise 2008 und der<br />

folgenden Wirtschaftskrise ist dieser Zeitgeist<br />

aufgebrochen. Auf einmal drohte das<br />

Chaos an den Finanzmärkten die komplette<br />

Weltwirtschaft in den Abgrund zu reißen<br />

und selbst den fundamentalsten<br />

Marktfetischisten blieb nichts anderes<br />

mehr übrig, als nach der Hilfe der Staaten<br />

zu rufen und plötzlich war die Verstaatlichung<br />

von Banken der Weg. Es wurde intensiv<br />

über die Regulierung der Finanzmärkte<br />

und das Ende des Neoliberalismus<br />

gesprochen. Doch viel ist davon nicht übrig<br />

geblieben, es ist bis <strong>heute</strong> bei Lippenbekenntnissen<br />

geblieben. Obwohl es für viele<br />

Forderungen mittlerweile breite Mehrheiten<br />

in der Gesellschaft gibt, kamen sie<br />

14<br />

Sozialdemokratische Orientierung in der Wirtschaftspolitik <strong>Argumente</strong> 3/20<strong>11</strong>


nicht durch. Dies zeigt, dass die neoliberale<br />

Ideologie nicht überwunden ist, sondern<br />

lediglich ihr Erscheinungsbild geändert<br />

hat. Ihr Kern ist und bleibt die Zurückdrängung<br />

des Staates. Bis zur Krise war der<br />

Hebel dafür das Versprechen, dass der freie<br />

Markt zu besseren Ergebnissen führt, als<br />

wenn der Staat sich einmischt. Nun ist daraus<br />

ein anderes Argument geworden, die<br />

Staaten müssen sich einschränken, weil sie<br />

aufgrund ihrer Verschuldung keine andere<br />

Möglichkeit mehr hätten, als zu sparen und<br />

sich dem Diktat der Rating-Agenturen zu<br />

unterwerfen. Damit wird die Rettung der<br />

Banken und dem Vermögen ihrer Eigentümer<br />

zum wichtigsten Argument, die bestehenden<br />

Verhältnisse zu erhalten.<br />

Es ist nun die Aufgabe der SPD, deutlich<br />

zu machen, dass es doch eine Alternative<br />

gibt. Wirtschaftspolitik darf sich eben<br />

nicht darauf beschränken, nur einen Rahmen<br />

zu setzen und den Weg für private<br />

Profite freizuräumen. Denn auch in der<br />

Wirtschaftspolitik ist die entscheidende<br />

Frage, für wen und für welche Interessen<br />

man etwas erreichen will.<br />

Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität<br />

sind die Ziele, die wir mit unserer Wirtschaftspolitik<br />

verwirklichen wollen. Wir<br />

wollen eine Gesellschaft, in der alle am<br />

Wohlstand und dessen Produktion gerecht<br />

und selbstbestimmt beteiligt sind. Die<br />

Herausforderungen unserer Zeit kann<br />

nicht mit Stückwerk begegnet werden. Finanz-,<br />

Wirtschafts- und Eurokrise, zunehmende<br />

Verteilungsungerechtigkeit innerhalb<br />

einzelner Länder, aber auch global,<br />

Prekarisierung der Arbeitswelt und der<br />

Klimawandel können nur bewältigt werden,<br />

wenn bei den Lösungsansätzen alle<br />

Ebenen, von der Kommune bis hin zu den<br />

internationalen Institutionen, einbezogen<br />

werden. Wenn wir wirklich etwas bewegen<br />

wollen, hilft uns das Ausmalen einer<br />

Wunschgesellschaft nicht weiter. Wir setzen<br />

auf kollektive Lösungen und ein solidarisches<br />

Miteinander bei der Bewältigung<br />

der Probleme, Individuen können alleine<br />

die Gesellschaft nicht verändern, uns geht<br />

es gerade um die gemeinsame Lösung der<br />

Probleme, um damit die Voraussetzung für<br />

eine solidarischere Gesellschaft zu schaffen.<br />

Die Bedingungen dafür sind ein Bekenntnis<br />

zur Zentralität der Erwerbsarbeit,<br />

dem Primat der Politik und der staatlichen<br />

Handlungsfähigkeit, sowie der Wille, alle<br />

Lebensbereiche und damit auch die Wirtschaft<br />

zu demokratisieren und umzuverteilen.<br />

Im Antragspaket zum diesjährigen Parteitag<br />

finden sich Ansätze, die in diese<br />

Richtung gehen. Aber alles steht und fällt<br />

mit der Entscheidung darüber, wie ernsthaft<br />

das Bekenntnis zur Handlungsfähigkeit<br />

des Staates verfolgt wird. Der Wille,<br />

die Finanzlage der Kommunen zu verbessern,<br />

Bildungschancen zu eröffnen, in Infrastruktur<br />

zu investieren, Nachhaltigkeit<br />

zu fördern und die Energiewende zu gestalten,<br />

alleine reicht nicht aus, wenn alle<br />

Vorhaben auf Grund der fehlenden Finanzen<br />

verschoben oder zur Symbolpolitik<br />

verkommen.<br />

Die Probleme, vor denen wir <strong>heute</strong> stehen,<br />

sind leider auch das Ergebnis von der<br />

Politik sozialdemokratischer Regierungen,<br />

nicht nur in Deutschland. Mit den Rezepten<br />

der vergangenen Jahre werden die Krisen<br />

nicht gelöst, sondern nur verschlimmert.<br />

Ziel einer sozialdemokratischen<br />

Wirtschaftspolitik muss es sein, die Kräfteverhältnisse<br />

wieder so zu verschieben, dass<br />

das Primat der Politik greift und zum Vorteil<br />

der großen Mehrheit der Menschen<br />

eingesetzt wird. Mit den Beschlüssen auf<br />

dem Parteitag hat die SPD große Schritte<br />

15


in diese Richtung gemacht. Noch vor einem<br />

Jahr wäre nicht daran zu denken, dass<br />

relevante Steuererhöhungen zur Finanzierung<br />

der Bildung und Kommunen beschlossen<br />

sowie die Riesterrente infrage<br />

gestellt wird. Um als SPD Wirtschaftskompetenz<br />

glaubhaft zu besetzen, muss sie<br />

dies auch mit dem richtigen Personal verbinden.<br />

Endscheidend ist eben nicht, wer<br />

das Lob der Spitzen aus den Wirtschaftsverbänden<br />

bekommt, sondern wer bereit<br />

ist, dieser einseitigen Interessenpolitik entgegenzutreten<br />

und wirklich etwas zu verändern.<br />

l<br />

16<br />

Sozialdemokratische Orientierung in der Wirtschaftspolitik <strong>Argumente</strong> 3/20<strong>11</strong>


DAS COMPAGNIE-<br />

GESCHÄFT MARX UND<br />

ENGELS<br />

Von Klaus Körner, Publizist in Hamburg<br />

Schwerpunkt<br />

Im August 1844 hatten sich der 26-jährige<br />

Karl <strong>Marx</strong> und der zwei Jahre jüngere<br />

Friedrich Engels in einem Pariser<br />

Café verabredet, um über gemeinsame<br />

journalistische Projekte zu sprechen.<br />

In Paris traf sich in jener Zeit die<br />

europäische intellektuelle Szene, die<br />

in der Revolution von 1848/49 eine<br />

Rolle spielte. Engels hat über das Treffen<br />

später im Kommuniqué-Stil berichtet:<br />

„Dabei stellte sich unsere vollständige<br />

Übereinstimmung auf allen<br />

theoretischen Gebieten heraus, und<br />

von da an datiert unsere gemeinsame<br />

Arbeit.“ Daraus entstand eine<br />

über fast 40-jährige Zusammenarbeit,<br />

wie es sie in der deutschen Geistesgeschichte<br />

kein zweites Mal gibt. Soweit<br />

daraus allerdings gefolgert wurde, zwischen<br />

beiden hätte ein vollständiger<br />

Gleichklang bestanden, ist das so<br />

nicht zutreffend.<br />

<strong>Marx</strong>, Sohn eines jüdischen Rechtsanwalts<br />

aus Trier, hatte schlechteste Erfahrungen<br />

mit dem preußischen Staat gemacht. Für<br />

viele Rheinländer, die die Zeit der napoleonischen<br />

Herrschaft als Aufbruch in eine<br />

modernere Welt, Gleichberechtigung der<br />

Juden, einem modernen Zivilrecht und<br />

Geschworenengerichten empfunden hatten,<br />

war der Anschluss an Preußen ein<br />

Rückschritt.<br />

<strong>Marx</strong> hatte in Bonn und Berlin Rechtswissenschaft<br />

und Philosophie studiert und<br />

war in diesem Fach 1841 promoviert worden.<br />

Doch sein erstes Vorhaben, sich zu habilitieren<br />

war daran gescheitert, dass die<br />

Regierung seinem Förderer Bruno Bauer<br />

1842 die Lehrbefugnis entzogen hatte. Als<br />

Chefredakteur der liberalen Tageszeitung<br />

„Rheinische Zeitung“ musste er 1843 erneut<br />

die Segel streichen, weil die Regierung<br />

das Blatt verboten hatte. „In Deutschland<br />

kann ich nichts mehr anfangen“, hatte<br />

er seinem Berliner Freund Arnold Ruge<br />

geschrieben.<br />

In Paris gab er gemeinsam mit Ruge<br />

1844 die Zeitschrift „Deutsch-Französi-<br />

17


sche Jahrbücher“ heraus. In seinen Beiträgen<br />

arbeitete <strong>Marx</strong> sich noch an den Themen<br />

ab, die ihn Berlin beschäftigt hatten,<br />

Religionskritik und Auseinandersetzung<br />

mit Hegel. Als sogenannter Linksheglianer<br />

fasste <strong>Marx</strong> seine Religionskritik in dem<br />

berühmten Satz zusammen: „Religion ist<br />

das Opium des Volkes.“ Und seine „Kritik<br />

der Hegelschen Rechtsphilosophie“ endete<br />

mit der Feststellung, nur eine Revolution<br />

könne Deutschland auf die Höhe der Zeit<br />

bringen.<br />

Schon von seiner Herkunft war Engels<br />

sehr viel positiver auf den preußischen<br />

Staat eingestimmt. Er stammte aus einer<br />

wohlhabenden protestantischen Unternehmerfamilie.<br />

Sein Vater besaß eine Bauwollspinnerei<br />

in Barmen mit einer Zweigstelle<br />

in Manchester. Ein Jahr vor dem Abitur<br />

hatte Vater Engels seinen Sohn aus der<br />

Schule genommen. Nach einer kaufmännischen<br />

Lehre in Bremen schickte er ihn<br />

nach Manchester. Zwischen diesen Stationen<br />

lag der einjährige Militärdienst in Berlin.<br />

Schon als Kaufmannsgehilfe in Bremen<br />

hatte Engels sich, durch Bücherstudium<br />

zum Atheisten gewandelt, als kritischer<br />

Feierabendjournalist bestätigt. Während<br />

des Militärdienstes in Berlin hatte er Kontakt<br />

zu den Linksheglianern bekommen<br />

und schrieb für <strong>Marx</strong>’ Jahrbücher den Beitrag<br />

„Umrisse der Kritik der Nationalökonomie“.<br />

Ökonomie war für <strong>Marx</strong> das neue<br />

große Thema. Aus seiner Pariser Zeit<br />

stammen die später entdeckten „Ökonomisch-philosophischen<br />

Manuskripte“. Einer<br />

der Zentralbegriffe ist die Entfremdung<br />

des Arbeiters durch die<br />

Arbeitsteilung in der Industrie.<br />

Wie die angestrebte Zusammenarbeit<br />

zwischen <strong>Marx</strong> und Engels aussehen sollte,<br />

blieb etwas im Unklaren, denn Engels war<br />

noch bei der väterlichen Firma in der<br />

Pflicht und die „Deutsch-Französischen<br />

Jahrbücher“ wurden nach einem Doppelheft<br />

eingestellt. Es war den beiden Herausgebern<br />

nicht gelungen, neben Heinrich<br />

Heine französische Autoren für die Mitarbeit<br />

zu gewinnen. In Frankreich war die erste<br />

Ausgabe unverkäuflich und die für<br />

Deutschland bestimmten Exemplare wurden<br />

an der Grenze beschlagnahmt. Gegen<br />

<strong>Marx</strong> erging in Preußen ein Haftbefehl<br />

wegen Aufrufs zum Hochverrat. Einen gewissen<br />

Ersatz bot die Mitarbeit an der Pariser<br />

Emigrantenzeitung „Vorwärts“, für<br />

die auch Engels aus Barmen schrieb. Doch<br />

der preußischen Regierung war auch das<br />

ein Dorn im Auge. Auf ihren Antrag verbot<br />

die französische Regierung 1845 die<br />

Zeitung und wies die Mitarbeiter aus.<br />

Familie <strong>Marx</strong> - Karl <strong>Marx</strong> hatte seine<br />

langjährige Verlobte aus Trier Jenny von<br />

Westphalen vor der Ausreise nach Paris geheiratet<br />

- floh nach Brüssel, der damals liberalsten<br />

Stadt in Europa. Die folgenden<br />

drei Jahre waren ihre glücklichste Zeit. Sie<br />

hatten noch Geld aus der Mitgift von Jenny<br />

und einen Verlagsvorschuss für ein geplantes<br />

wissenschaftliches Ökonomie-<br />

Buch. Sie meinten, in einer großen Zeit<br />

unmittelbar vor einer Revolution zu leben.<br />

In Brüssel erwartete Jenny ihr zweites Kind<br />

und ihre Mutter hatte ihr die Haushaltsgehilfin<br />

Helene Demuth nach Brüssel geschickt.<br />

Engels gelang es, seinen Vater davon<br />

zu überzeugen, dass er vor seiner<br />

kaufmännischen Arbeit noch eine Sozialgeschichte<br />

Englands schreiben müsse,<br />

nachdem sein Buch „Die Lage der arbeitenden<br />

Klasse in England“, in dem er seine<br />

Manchester-Erfahrungen zu Papier gebracht<br />

hatte, auch bei der preußischen Regierung<br />

gut aufgenommen worden war. Er<br />

konnte daher <strong>Marx</strong> nach Brüssel folgen.<br />

18<br />

Das Compagnie-Geschäft <strong>Marx</strong> und Engels <strong>Argumente</strong> 3/20<strong>11</strong>


Beide engagierten sich in linken Arbeiterund<br />

Handwerkervereinen - und schoben<br />

ihre Buchprojekte bald beiseite. Wichtiger<br />

schien ihnen noch eine Abrechnung mit<br />

den deutschen Philosophen der Gegenwart<br />

zu sein, „Die deutsche Ideologie“. Heraus<br />

kam ein umfangreiches Manuskript, das<br />

kein Verleger drucken wollte. In der „Deutschen<br />

Ideologie“ findet sich im Kapitel<br />

über den Materialisten Feuerbach die umfassendste<br />

Darstellung der <strong>Marx</strong>’schen Geschichtsphilosophie<br />

und Ideologiekritik,<br />

die er je geschrieben hat: Treibende Kraft<br />

der Geschichte ist nicht die Kritik, sondern<br />

die Revolution. Die Gedanken der herrschenden<br />

Klasse einer Epoche sind die<br />

herrschenden Gedanken. Die Existenz revolutionärer<br />

Gedanken setzt die Existenz<br />

einer revolutionären Klasse voraus.<br />

Engels veröffentlichte später aus <strong>Marx</strong>’<br />

Nachlass die Thesen über Feuerbach, die<br />

mit der berühmten <strong>11</strong>. These enden: „Die<br />

Philosophen haben die Welt nur verschieden<br />

interpretiert, es kommt aber darauf an,<br />

sie zu verändern.“<br />

Um die Welt zu verändern engagierten<br />

sich <strong>Marx</strong> und Engels im Bund der Gerechten,<br />

einem linken Handwerkerbund,<br />

zu dessen Zentrale in London sie schon<br />

vorher Kontakt hatten. Sie setzten die Umbenennung<br />

in Bund der Kommunisten<br />

durch. Als die Zentrale in London <strong>Marx</strong><br />

dazu aufforderte, aus den vorliegenden<br />

Entwürfen ein Programm zu verfassen, erklärte<br />

er sich sofort bereit. Binnen weniger<br />

Tage schrieb der das „Kommunistische<br />

Manifest“ nieder. Als das Manifest Ende<br />

Februar oder Anfang März 1848 in London<br />

gedruckt wurde, war in Paris und<br />

Wien bereits die Revolution ausgebrochen<br />

und nur wenige Exemplare erreichten den<br />

Kontinent. Dennoch wurde es später zum<br />

wichtigsten politischen Pamphlet der Arbeiterbewegung.<br />

Es zeigt die Sprachgewalt<br />

des Verfassers Karl <strong>Marx</strong>. Der Text beginnt<br />

mit der Eröffnungspassage „Ein Gespenst<br />

geht um in Europa ...“ und endet mit dem<br />

Aufruf zur Revolution: „Die Proletarier<br />

haben nichts zu verlieren als ihre Ketten.<br />

Sie haben eine Welt zu gewinnen. Proletarier<br />

aller Länder vereinigt euch!“<br />

Anfang März 1848 wurde <strong>Marx</strong> aus<br />

Brüssel ausgewiesen und reiste über Paris<br />

nach Köln. Unverzüglich machte er sich<br />

daran, Geldgeber für die Gründung einer<br />

Zeitung („Neue Rheinische Zeitung“) zu<br />

gewinnen. Die neue Zeitung sollte keine<br />

kommunistischen Ziele propagieren, sondern<br />

für den Erfolg der bürgerlichen Revolution<br />

in Deutschland kämpfen. Die Auflage<br />

der Zeitung mit <strong>Marx</strong> als<br />

Chefredakteur und Engels als seinem<br />

Stellvertreter erreichte schnell ein Mehrfaches<br />

der alten „Rheinischen Zeitung“.<br />

Hauptthemen waren die Halbheiten der<br />

Frankfurter Nationalversammlung. Die<br />

Vertreter sc<strong>heute</strong>n vor dem Griff nach der<br />

politischen Macht zurück. Zuerst wurde in<br />

Wien die Revolution niederschlagen, dann<br />

gewann auch in Preußen die Reaktion<br />

die Oberhand. <strong>Marx</strong> wurde am 16. Mai<br />

1848 aus Preußen ausgewiesen. Engels<br />

hatte sich noch als Soldat in der badischen<br />

Aufstandsarmee engagiert, doch die wurde<br />

vom preußischen Heer vernichtend geschlagen.<br />

Als einziger Zufluchtsort stand den europäischen<br />

Emigranten London offen.<br />

Hier trafen sich <strong>Marx</strong> und Engels wieder.<br />

Wie viele andere sahen sie zunächst den<br />

Aufenthalt in London nur als kurze Zwischenstation<br />

an, bis die Revolution auf dem<br />

Kontinent weitergehe. Doch dann erkannten<br />

sie, dass die Revolution zu Ende war.<br />

Eine neue Revolution könne es nur geben,<br />

wenn die ökonomischen Verhältnisse dafür<br />

19


eif seien, eine große Krise ausbreche. Engels<br />

wurde von seinem Vater als dessen Repräsentant<br />

nach Manchester in die Firma<br />

Ermen und Engels geschickt. Von dort<br />

wollte er <strong>Marx</strong> in London unterstützen.<br />

„Wir zwei betreiben ein Compagniegeschäft“<br />

beschrieb <strong>Marx</strong> später die Zusammenarbeit<br />

mit Engels. <strong>Marx</strong> Hauptarbeitsplatz<br />

war in den nächsten 15 Jahren der<br />

Lesesaal des British Museum. Hier fand<br />

nicht nur ökonomische Theorieliteratur,<br />

sondern auch wirtschafts- und sozialgeschichtliche<br />

Abhandlungen und die Blaubücher<br />

der Fabrikinspektoren, in denen sie<br />

über die Zustände in britischen Fabriken<br />

berichteten. Der Lesesaal war für ihn nicht<br />

nur Forschungsstätte, sondern zugleich<br />

Fluchtort vor der Misere daheim. Die Familie<br />

lebte in einer schäbigen Zweizimmerwohnung<br />

im Stadtteil Soho und litt<br />

unter ständiger Geldnot. Jenny <strong>Marx</strong> hatte<br />

sich von der Heirat einen gehobenen bürgerlichen<br />

Lebenszuschnitt erwartet, wie sie<br />

ihn von Trier her kannte. Jetzt musste sie<br />

bei den Kaufleuten „anschreiben“ lassen<br />

und warten, bis von Engels neues Geld<br />

kam, meist per Post in Form von halben<br />

Banknoten. Manchmal landet alles Verwertbare,<br />

sogar Kleidungsstücke, im<br />

Pfandhaus, so dass <strong>Marx</strong> das Haus nicht<br />

verlassen konnte. Zu einer schweren Ehekrise<br />

kam es als die Hausgehilfin Helene<br />

Demuth von <strong>Marx</strong> schwanger wurde. Als<br />

Helfer in der Not sprang wieder Engels<br />

ein, der bereit war, als Vater des Sohnes zu<br />

gelten, der nach der Geburt zu Pflegeeltern<br />

gegeben wurde.<br />

Eine Möglichkeit für <strong>Marx</strong>, Geld zu<br />

verdienen, bot das Angebot des Chefredakteurs<br />

der damals größten Zeitung der<br />

Welt „New York Daily Tribune“, freier<br />

Mitarbeiter für Europa zu werden. Unter<br />

<strong>Marx</strong>’ Namen sind in den 1850er Jahren<br />

Hunderte von Artikeln erschienen. Anfangs<br />

mussten die Texte wegen <strong>Marx</strong>’<br />

schlechter Englischkenntnisse erst zum<br />

Übersetzen nach Manchester geschickt<br />

werden, bis sie dann von <strong>Marx</strong>’ Ehefrau<br />

Jenny abgeschrieben und versandt werden<br />

konnten. Einen Teil der Aufträge gab<br />

<strong>Marx</strong> einfach an Engels weiter.<br />

Im Gegensatz zu <strong>Marx</strong> in London war<br />

Engels in Manchester voll in die britische<br />

Gesellschaft integriert. Er war als Geschäftsmann<br />

erfolgreich und teilte die Vorlieben<br />

des Bürgertums für Reiten, Fuchsjagden<br />

und den Besuch von Klubs. Nach<br />

Feierabend schrieb er Artikel für <strong>Marx</strong>.<br />

Außerdem wechselte er während seines<br />

fast 20-jährigen Manchesteraufenthalts<br />

mehrfach wöchentlich Briefe mit <strong>Marx</strong>.<br />

Darin ging es um alle möglichen Themen,<br />

von Familienproblemen über Fabrikationsabläufe<br />

und theoretische Fragen bis zu den<br />

ständigen Geldbitten von <strong>Marx</strong>. Wie ein<br />

roter Faden zieht sich die Ermahnung von<br />

Engels, <strong>Marx</strong> möge doch endlich mit „dem<br />

Buch“ also der Analyse des Kapitalismus<br />

fertig werden. Hoffnungsvoll hatte <strong>Marx</strong><br />

am 2. April 1851 geschrieben: „Ich bin soweit,<br />

dass ich in fünf Wochen mit der ganzen<br />

ökonomischen Scheiße fertig bin.“<br />

Tatsächlich dauerte es noch 16 Jahre bis<br />

der erste Band des „Kapital“ 1867 erschien.<br />

Dass <strong>Marx</strong> mit seinem Werk nicht vorankam,<br />

hing mit drei Faktoren zusammen.<br />

„Das Wahre ist das Ganze“ hatte Hegel gelehrt.<br />

Und <strong>Marx</strong> wollte ein Werk aus einem<br />

Guss abliefern. Er konnte sich nicht an die<br />

Ausarbeitung setzen, bevor er nicht alles<br />

relevante Material ausgewertet hatte. Er<br />

glaubte, in der Endzeit des Kapitalismus zu<br />

leben und wollte mit seinem Buch die Revolution<br />

beschleunigen. Als sich 1857 zuerst<br />

in den USA und dann auch in England<br />

20<br />

Das Compagnie-Geschäft <strong>Marx</strong> und Engels <strong>Argumente</strong> 3/20<strong>11</strong>


der Beginn einer großen Krise abzeichnete,<br />

befürchtete <strong>Marx</strong>, mit seinem Buch zu spät<br />

zu kommen. In Tag-und-Nacht-Arbeit<br />

brachte er seine bisherigen Erkenntnisse zu<br />

Papier. Am 2. April 1867 war es endlich<br />

soweit, dass er seinem Freund Engels, die<br />

Botschaft übermitteln konnte, das 25 Bogen<br />

umfassende Manuskript des ersten<br />

Bandes sei fertig. Er werde es nächste Woche<br />

zum Verleger Otto Meißner nach<br />

Hamburg bringen, es fehle nur noch das<br />

Geld für die Überfahrt. Am 2. September<br />

1867 erschien „Das Kapital. Kritik der politischen<br />

Ökonomie. Erster Band“ in einer<br />

Auflage von 1000 Exemplaren. <strong>Marx</strong> untersucht<br />

im „Kapital“, wie sich seit dem<br />

Mittelalter die Produktivkräfte („Basis“)<br />

entwickelten und sich zugleich Wirtschaftsverfassung,<br />

Staat, Recht und Ideologien<br />

veränderten („Überbau“). Er beschreibt<br />

den großen Widerspruch<br />

zwischen der Ausbeutung und Verelendung<br />

der Arbeiter auf der einen Seite und<br />

der Kapitalakkumulation auf der anderen<br />

Seite, dem gesellschaftlichen Charakter der<br />

Produktion und dem privaten Charakter<br />

der Aneignung. Im berühmten apokalyptischen<br />

24. Kapitel prognostiziert er den revolutionären<br />

Umschlag hin zu einer klassenlosen<br />

Gesellschaft. Man kann das Buch<br />

als historisches, philosophisches oder ökonomisches<br />

Werk deuten, wie es wohl <strong>Marx</strong><br />

getan hätte. Doch die Welt der Wissenschaft<br />

nahm das Buch kaum zur Kenntnis.<br />

In den ersten zwei Jahren wurden gerade<br />

200 Exemplare verkauft. Jenny <strong>Marx</strong> klagte,<br />

wenn die Arbeiter eine Ahnung davon<br />

hätten, wie viel Aufopferung dieses Buch<br />

gekostet hätte, würden sie ihm mehr Beachtung<br />

schenken. Doch auch viele Arbeiterführer<br />

kamen mit der Lektüre nicht<br />

weit. Für sie reichte es zu wissen, dass es ein<br />

wissenschaftliches Buch gab, das den unausweichlichen<br />

Sieg der Arbeiterklasse<br />

nachwies.<br />

Trotz dieser Enttäuschung war <strong>Marx</strong><br />

Ende der 1860er Jahre auf dem Höhepunkt<br />

seines öffentlichen Einflusses. 1864<br />

hatten sich die europäischen Arbeiterorganisationen<br />

zur Internationalen Arbeiterassoziation<br />

zusammengeschlossen (1. Internationale).<br />

<strong>Marx</strong> gehörte ihr nur als<br />

korrespondierendes Mitglied „für<br />

Deutschland“, einen Staat, den es noch gar<br />

nicht gab, an. Er durfte aber das Programm<br />

entwerfen und er verstand es auch mit viel<br />

taktischem Geschick, die Verhandlungen<br />

zwischen den verschiedenen, meist nicht<br />

„marxistisch“ orientierten Fraktionen zu<br />

lenken. 1872 zerbrach die Internationale,<br />

als die Anarchisten eine feindliche Übernahme<br />

versuchten. <strong>Marx</strong> war jetzt Privatmann.<br />

Er hatte keine finanziellen Sorgen<br />

mehr, denn Engels hatte sich 1869 in<br />

Manchester auszahlen lassen und eine<br />

Rente für <strong>Marx</strong> ausgesetzt. Ab 1870 konnten<br />

sich die Freunde fast täglich sehen,<br />

nachdem Engels sich in London eine<br />

Wohnung genommen hatte. Dennoch<br />

zeichnete sich bei <strong>Marx</strong> ein Kreativitätsbruch<br />

ab. Er las und exzerpierte weiterhin<br />

Bücher, schrieb ab nichts Neues, sondern<br />

beschränkte sich auf die Bearbeitung oder<br />

Neuherausgabe alter Texte. Ein britischer<br />

Zeitgenosse beschrieb ihn als einen kultivierten<br />

Gentleman, den man gut für einen<br />

Professor für vergleichende Grammatik<br />

oder Altslawisch halten könne. Die Aufgabe,<br />

<strong>Marx</strong> Ideen zu interpretieren und die<br />

Führer der Sozialdemokratie zu beraten,<br />

ging immer stärker auf Friedrich Engels<br />

über. Als seine geliebte Ehefrau Jenny 1881<br />

starb, verließ auch <strong>Marx</strong> der Lebensmut, er<br />

starb am 14. März 1883. Engels fand sich<br />

nach dem Tode seines Freundes bereit, aus<br />

den Manuskripten die „Kapital“-Bände 2<br />

21


und 3 herauszugeben. Mit seiner Kurzfassung<br />

der <strong>Marx</strong>’schen Ideen in „Die Entwicklung<br />

des Sozialismus von der Utopie<br />

zur Wissenschaft“ schuf Engels eine populäre<br />

Schrift, die der Arbeiterbewegung<br />

Selbstbewusstsein und Siegeszuversicht<br />

vermittelte. Der Beginn der Massenwirksamkeit<br />

von <strong>Marx</strong> lässt sich auf die Begräbnisrede<br />

am 17. März 1883 datieren, in<br />

der Engels verkündete: „Sein Name wird<br />

durch die Jahrhunderte fortleben und so<br />

auch sein Werk!“ l<br />

Werner Blumenberg: Karl <strong>Marx</strong>, rm 76, Reinbek b.<br />

Hamburg 1972<br />

Vincent Barnett: <strong>Marx</strong>, London u. New York 2009<br />

Mary Gabriel: Love and Capital. Karl and Jenny<br />

<strong>Marx</strong> and the Birth of a Revolution, New York<br />

u. London 20<strong>11</strong><br />

Klaus Körner: „Wir zwei betreiben ein Compagniegeschäft“.<br />

Karl <strong>Marx</strong> u. Friedrich Engels, Hamburg<br />

2009<br />

Karl <strong>Marx</strong> Lesebuch, hrsg. v. Klaus Körner, Mmünchen<br />

2008<br />

Karl <strong>Marx</strong>. Friedrich Engels. Studienausgabe in 5<br />

Bänden, hrsg. v. Iring Fetscher, Berlin 2004<br />

Gustav Mayer: Friedrich Engels. Eine Biographie, 2<br />

Bde. Ullstein Buch 3<strong>11</strong>3/4. Frankfurt a. M. u.<br />

Berlin 1975<br />

David McLellan: Karl <strong>Marx</strong>. Leben und Werk,<br />

München 1974<br />

Francis Wheen: Karl <strong>Marx</strong>, München 1999<br />

22<br />

Das Compagnie-Geschäft <strong>Marx</strong> und Engels <strong>Argumente</strong> 3/20<strong>11</strong>


MARX UND DIE SOZIAL-<br />

DEMOKRATIE – DIE SPD<br />

UND MARX<br />

Von Thilo Scholle und Jan Schwarz, Mitglieder der Redaktion<br />

„Der Demokratische Sozialismus in<br />

Europa hat seine geistigen Wurzeln im<br />

Christentum und in der humanistischen<br />

Philosophie, in der Aufklärung,<br />

in <strong>Marx</strong>scher Geschichts- und Gesellschaftslehre<br />

und in den Erfahrungen<br />

der Arbeiterbewegung.“ 1<br />

„Wir sind durch die Türe getreten, die<br />

auch der Denker <strong>Marx</strong> geöffnet hat.<br />

Für uns bleibt die Freiheit, was sie<br />

auch für ihn war: der kritische Maßstab,<br />

an dem sich jede Ordnung zu<br />

rechtfertigen hat.“ 2<br />

Die Geschichte der Sozialdemokratie ist<br />

ohne die Auseinandersetzungen um die Interpretation<br />

der Ideen von Karl <strong>Marx</strong> und<br />

Friedrich Engels nicht zu verstehen, aber<br />

auch die marxschen Theorien hätte ohne<br />

1 Berliner Programm der SPD, in: Dowe/ Klotzbach,<br />

S. 346 (354).<br />

2 Willy Brandt, Rede anlässlich des 30. Jahrestags<br />

der Eröffnung des Karl-<strong>Marx</strong>-Hauses in Trier,<br />

4. Mai 1977, in: ders., Berliner Ausgabe Band 5,<br />

Die Partei der Freiheit, S. 257 (265).<br />

3 Siehe z.B. die „Herforder Thesen“ von 1980.<br />

4 Siehe Hamburger Programm.<br />

das Aufgreifen in der SPD nie ihre Bedeutung<br />

erlangt. Karl <strong>Marx</strong> war von den Anfängen<br />

der deutschen Sozialdemokratie bis<br />

zu seinem Tode ihr kritischer Begleiter und<br />

Kommentator. Er und Engels standen zu<br />

vielen Parteiführern in regem Briefkontakt<br />

und ließen kaum einen Vorgang unkommentiert.<br />

Gerade in den Briefen von <strong>Marx</strong><br />

und Engels untereinander wird deutlich,<br />

dass sie zumeist unzufrieden mit der Entwicklung<br />

der deutschen Arbeiterpartei waren<br />

und auch von vielen Parteifunktionären<br />

nicht allzu viel hielten.<br />

Bis in die Zeit der Bundesrepublik war<br />

fast jede innerparteiliche Debatte davon<br />

geprägt, wie die marxschen Schriften ausgelegt<br />

werden müssten und inwieweit ihnen<br />

gefolgt werden sollte - von den Auseinandersetzung<br />

der „Lassallianer“ des<br />

Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins<br />

mit den „Eisenachern“ der Sozialdemokratischen<br />

Arbeiterpartei (August Bebel und<br />

Wilhelm Liebknecht), der Massenstreikdebatte,<br />

dem „Revisionismusstreit“ an der<br />

Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, den<br />

Diskussionen über die (Koalitions-) Politik<br />

der SPD in der Weimarer Republik bis hin<br />

zum Godesberger Programm von 1959.<br />

23


Diese Auseinandersetzungen führten immer<br />

wieder zu Spaltungen der Partei. Aber<br />

auch noch nach dem Wandel von der marxistischen<br />

Klassenpartei zur linken Volkspartei<br />

in den 1950er und 1960er Jahren<br />

blieben viele Ergebnisse der früheren Auseinandersetzungen<br />

wichtig für das Selbstverständnis<br />

der SPD. Gerade bei den <strong>Jusos</strong><br />

spielen die Ideen von <strong>Marx</strong> und deren<br />

Weiterentwicklung seit der Linkswende<br />

von 1969 eine wichtige Rolle. 3<br />

Die SPD sieht in ihrem Parteiprogramm<br />

noch <strong>heute</strong> die marxistische Gesellschaftsanalyse<br />

als eine ihrer Wurzeln<br />

an. 4 Dementgegen gibt es bei vielen Mitgliedern<br />

und in der Öffentlichkeit große<br />

Abwehrreflexe, wenn auch nur der Name<br />

<strong>Marx</strong> in die Debatte geworfen wird. Dabei<br />

wird oft der Bezug auf marxistische Analyseansätze<br />

mit der Befürwortung der osteuropäischen<br />

Gewaltregime gleichgesetzt.<br />

Dies mag aus der Geschichte der deutschen<br />

Teilung und der Ost-West-Konfrontation<br />

heraus zu erklären sein, aber weder<br />

die Leugnung der eigenen Geschichte<br />

noch der Verzicht auf diesen Teil der Identität<br />

als Arbeiterpartei wird dem Anspruch<br />

sozialer Demokratie gerecht. Franz Müntefering<br />

sagte bei der Eröffnung der neuen<br />

Ausstellung des Karl <strong>Marx</strong> Hauses im Juni<br />

2005 in Trier: „Zwischen Karl <strong>Marx</strong> und<br />

der SPD stehen <strong>heute</strong> das Godesberger<br />

Programm und 142 Jahre praktischer Politik.<br />

Das Verhältnis der Partei zum einstigen<br />

Vordenker der Arbeiterbewegung war<br />

immer schwierig, auch anregend, aber nicht<br />

prägend, wenigstens nicht in den Jahren, in<br />

denen wir hier Sozialdemokratie miterleben.“<br />

Nun ist es für die SPD sicherlich<br />

nicht erfolgsversprechend, wieder eine ausschließlich<br />

an <strong>Marx</strong> orientierte Partei zu<br />

werden, aber ebenso wenig ist es zielführend,<br />

die von Müntefering angesprochenen<br />

anregenden Elemente zu verdrängen. Die<br />

Kritik der bestehenden Verhältnisse, die<br />

Frage nach den tatsächlichen Machtstrukturen<br />

in Wirtschaft und Gesellschaft sowie<br />

die Orientierung von Politik auf die Interessen<br />

der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer<br />

sind gerade in der heutigen Zeit<br />

aktuell.<br />

<strong>Marx</strong> und die frühe Sozialdemokratie<br />

Mit der Industriellen Revolution auf dem<br />

europäischen Kontinent entwickelte sich<br />

auch die deutsche Arbeiterbewegung weiter.<br />

In diese Zeit (1848) fällt auch das bekannteste<br />

Werk von <strong>Marx</strong> und Engels - das<br />

„Manifest der kommunistischen Partei“. 5<br />

Wenige politische Texte haben größere<br />

Wirkung erzielt als dieses „Kommunistische<br />

Manifest“. Für tatsächliches politisches<br />

Handeln der Arbeiterbewegung war<br />

das Manifest aber immer eher ideeller Bezugspunkt<br />

denn praktische Handlungsanleitung.<br />

In Deutschland blieb die Verbreitung<br />

bis zur Jahrhundertwende zudem eher<br />

gering. Wirkliche Massenverbreitung erreichte<br />

es dann nach der Oktoberrevolution<br />

1917 durch die kommunistischen Parteien.<br />

Einflussreich war das Manifest in der<br />

sozialdemokratischen Arbeiterbewegung<br />

daher vor allem im theoretisch interessierten<br />

Teil. Hier hat es auf Grund seiner prägnanten<br />

Sprache und inhaltlichen Struktur<br />

Einfluss erlangt. Festzuhalten ist: Auch<br />

wenn im Manifest noch lange nicht die<br />

Abgedruckt zum Beispiel in Dowe/ Klotzbach,<br />

S. 55ff.Abgedruckt zum Beispiel in<br />

Dowe/ Klotzbach, S. 55ff.marxsche Theorie<br />

zu vollen Entfaltung gekommen ist -<br />

4 Siehe Hamburger Programm.<br />

5 ‘Abgedruckt zum Beispiel in Dowe/ Klotzbach,<br />

S. 55ff.<br />

24<br />

<strong>Marx</strong> und die Sozialdemokratie – Die SPD und <strong>Marx</strong> <strong>Argumente</strong> 3/20<strong>11</strong>


<strong>Marx</strong> und Engels befanden sich ja noch am<br />

Anfang ihrer Schaffenszeit - so ist es doch<br />

ein beeindruckendes Zeugnis, wie sich eine<br />

materialistische Analyse der bestehenden<br />

Verhältnisse in einer außerordentlich prägnanten<br />

Sprache beschreiben lassen. Der<br />

Standard-Sammelband zur Programmgeschichte<br />

der Sozialdemokratie führt das<br />

Manifest denn auch als ersten Text in der<br />

Sammlung auf.<br />

Mit der Gründung des Allgemeinen<br />

Deutschen Arbeiterverein (ADAV) durch<br />

Ferdinand Lassalle 1863 war die Geburtsstunde<br />

der Sozialdemokratie gekommen.<br />

Dieser war vor allem genossenschaftlich<br />

geprägt und bezog sich nicht wie die von<br />

August Bebel und Wilhelm Liebknecht<br />

1869 gegründete Sozialdemokratische Arbeiterpartei<br />

(SDAP) auf marxistische<br />

Theorie. Beide Vereinigungen standen in<br />

Konkurrenz zueinander, die auch noch lange<br />

nach der Vereinigung auf dem Gothaer<br />

Parteitag 1875 anhielt. In dem dort beschlossenen<br />

„Gothaer Programm“ 6 bestimmten<br />

noch die Positionen der Lassallianer,<br />

dementsprechend verheerend fiel die<br />

Kommentierung von <strong>Marx</strong> und Engels<br />

aus. „Ich höre auf, obwohl fast jedes Wort<br />

in diesem dabei saft- und kraftlos redigierten<br />

Programm zu kritisieren wäre. Es ist<br />

derart, daß, falls es angenommen wird,<br />

<strong>Marx</strong> und ich uns nie zu der auf dieser<br />

Grundlage errichteten neuen Partei bekennen<br />

können und uns sehr ernstlich werden<br />

überlegen müssen, welche Stellung wir -<br />

auch öffentlich - ihr gegenüber zu nehmen<br />

haben. Bedenken Sie, daß man uns im<br />

Auslande für alle und jede Äußerungen<br />

und Handlungen der deutschen Sozialdemokratischen<br />

Arbeiterpartei verantwortlich<br />

macht. ... Im Allgemeinen kommt es<br />

weniger auf das offizielle Programm einer<br />

Partei an, als auf das, was sie tut. Aber ein<br />

neues Programm ist doch immer eine öffentlich<br />

aufgepflanzte Fahne, und die Außenwelt<br />

beurteilt danach die Partei. Es<br />

sollte daher keinesfalls einen Rückschritt<br />

enthalten, wie dies gegenüber dem Eisenacher.<br />

Man sollte doch auch bedenken, was<br />

die Arbeiter anderer Länder zu diesem<br />

Programm sagen werden; welchen Eindruck<br />

diese Kniebeugung des gesamten<br />

deutschen sozialistischen Proletariats vor<br />

dem Lassalleanismus machen wird.“ 7<br />

Aber trotzdem begrüßten <strong>Marx</strong> und<br />

Engels die Vereinigung zu einer Partei. So<br />

schrieb <strong>Marx</strong> in einem Brief an Wilhelm<br />

Bracke, der später als „Kritik des Gothaer<br />

Programms“ auch öffentlich bekannt wurde,<br />

neben einer Einzelkritik an fast jedem<br />

Satz des Programms: „Jeder Schritt wirklicher<br />

Bewegung ist wichtiger als ein Dutzend<br />

Programme. Konnte man also nicht -<br />

und die Zeitumstände ließen das nicht zu -<br />

über das Eisenacher Programm hinausgehn,<br />

so hätte man einfach eine Übereinkunft<br />

für Aktionen gegen den gemeinsamen<br />

Feind abschließen sollen. Macht man<br />

aber Prinzipienprogramme..., so errichtet<br />

man vor aller Welt Marksteine, an denen<br />

sie die Höhe der Parteibewegung mißt.“ 8<br />

Erfurter Programm<br />

Am Gothaer Programm wird deutlich, dass<br />

die Eisenacher um Bebel und Liebknecht<br />

6 Siehe Dowe/ Klotzbach, S. 164ff.<br />

7 Aus einem Brief Engels an August Bebel im<br />

März 1875. MEW. Band 19, 4. Auflage 1973, unveränderter<br />

Nachdruck der 1. Auflage 1962, Berlin/DDR.<br />

S. 3-9.<br />

8 MEW Band 19, 4. Auflage 1973, unveränderter<br />

Nachdruck der 1. Auflage 1962, Berlin/DDR. S.<br />

13-32.<br />

25


mit ihren marxistischen Ansätzen entgegen<br />

der Annahme von <strong>Marx</strong> und Engels<br />

nicht die Mehrheit in der neuen Partei<br />

stellten. Noch waren die Schriften von<br />

<strong>Marx</strong> und Engels in weiten Teilen der Sozialdemokratie<br />

unbekannt. Die änderte<br />

sich erst nach und nach, erste Popularität<br />

bekamen sie mit der Veröffentlichung von<br />

Friedrich Engels „Antidüring“ 9 und August<br />

Bebels „Die Frau und der Sozialismus“<br />

sowie durch die Gründung der Zeitungen<br />

„Der Sozialdemokrat“ unter Eduard Bernstein<br />

und „Die Neue Zeit“ unter Karl<br />

Kautsky.<br />

Daraus resultierte die Entwicklung zur<br />

marxistischen Klassenpartei, die dann trotz<br />

der Sozialistengesetze auch zur Massenpartei<br />

wurde. Dies schlug sich dann auch<br />

im marxistisch geprägten „Erfurter Programm“<br />

10 von 1891 nieder, das überwiegend<br />

von Karl Kautsky und Eduard Bernstein<br />

verfasst wurde. Zwar stieß auch das<br />

„Erfurter Programm“ nicht auf die bedingungslose<br />

Unterstützung Friedrich Engels,<br />

die Kritik fiel nun aber wohlwollender aus:<br />

„Der jetzige Entwurf unterscheidet sich<br />

sehr vorteilhaft vom bisherigen Programm.<br />

Die starken Überreste von überlebter Tradition<br />

- spezifisch lassallischer wie vulgärsozialistischer<br />

- sind im wesentlichen beseitigt,<br />

der Entwurf steht nach seiner<br />

theoretischen Seite im ganzen auf dem Boden<br />

der heutigen Wissenschaft und läßt<br />

sich von diesem Boden aus diskutieren. ...<br />

Wenn etwas feststeht, so ist es dies, daß<br />

unsre Partei und die Arbeiterklasse nur zur<br />

Herrschaft kommen kann unter der Form<br />

der demokratischen Republik. Diese ist sogar<br />

die spezifische Form für die Diktatur<br />

des Proletariats, wie schon die große französische<br />

Revolution gezeigt hat. Es ist<br />

doch undenkbar, daß unsre besten Leute<br />

unter einem Kaiser Minister werden sollten<br />

wie Miquel.“ <strong>11</strong> Es wurde zur Grundlage<br />

der theoretischen Diskussionen und politischen<br />

Bildung in der Sozialdemokratie<br />

bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges.<br />

In dieser Zeit war die Theorie der SPD<br />

durch ein sehr starres Verständnis der marxischen<br />

Theorie geprägt, in dem kaum<br />

Raum für Kritik und Weiterentwicklung<br />

war. Kern dieser Dogmatik war die Annahme,<br />

dass die Krisenhaftigkeit des Kapitalismus<br />

unweigerlich zu seinem Ende führen<br />

würde. Auch wenn dies der Differenziertheit<br />

der Debatten innerhalb Führungsebene<br />

der Partei nicht gerecht wird, war dies<br />

doch das Leitmotiv der großen Mehrheit<br />

der Mitglieder. Dem gegenüber stand eine<br />

politische Praxis, die durchaus auf reale<br />

Verbesserung der Situation der Arbeiter<br />

und Verhandlung mit den herrschenden<br />

Eliten setzte. Dies wird auch in den großen<br />

Auseinandersetzungen innerhalb der<br />

Sozialdemokratie deutlich, die sich um die<br />

Strategie und Rolle der Partei drehten.<br />

Diese Diskussionen waren durch drei<br />

Theoriestränge geprägt, die auch in Zukunft<br />

die Debatten der Linken prägten.<br />

Für diese stehen insbesondere drei Personen<br />

- Karl Kautsky als Vertreter des marxistischen<br />

Parteizentrums, Eduard Bernstein<br />

als Revisionist und Rosa Luxemburg als<br />

Vertreterin des revolutionären Flügels -<br />

wieder.<br />

Der Revisionismussstreit<br />

Bevor diese Differenzen offen im „Revisionismusstreit“<br />

ausgetragen wurden stritt<br />

9 Abgedruckt z. B. in: MEW, Band 20.<br />

10 Dowe/ Klotzbach, S. 171ff.<br />

<strong>11</strong> MEW Band 22, 3. Auflage 1972, unveränderter<br />

Nachdruck der 1. Auflage 1963, Berlin/DDR. S.<br />

225-240.<br />

26<br />

<strong>Marx</strong> und die Sozialdemokratie – Die SPD und <strong>Marx</strong> <strong>Argumente</strong> 3/20<strong>11</strong>


man um die Rolle der Partei. 12 Kautsky sah<br />

alleine die Existenz der Partei und deren<br />

Wachstum als Wert an sich an, die er nicht<br />

durch offensive Aktionen gefährden wollte<br />

und stattdessen auf das Hineintragen des<br />

Klassenbewusstseins in das Proletariat<br />

setzte. Bernstein wollte die Partei nutzen,<br />

um das Proletariat zu bündeln und es zu<br />

Erfolgen auf dem parlamentarischen Weg<br />

führen, während Luxemburg vor allem auf<br />

die praktischen Erfahrungen der Massen<br />

in der Revolution setzte.<br />

Der „Revisionismusstreit“ hatte seinen<br />

Ausgangspunkt in Eduard Bernsteins<br />

Schrift „Die Voraussetzungen des Sozialismus<br />

und die Aufgaben der Sozialdemokratie“,<br />

in der er die Abschaffung des Kapitalismus<br />

durch Klassenkampf als durch die<br />

Realität als überholt sah, da dieser sich als<br />

krisenfest und anpassungsfähig erwiesen,<br />

so dass die SPD nur im Rahmen der bestehenden<br />

Produktionsweise durch Sozialreformen<br />

Verbesserungen für die Arbeiter<br />

und eine allmähliche Angleichung des Lebensstandards<br />

erreichen könne. Diese Ansicht<br />

mündete in seinem Ausspruch: „der<br />

Weg ist mir alles, das Ziel ist mir nichts.“<br />

Dem stellte sich sowohl die Parteilinke unter<br />

Luxemburg entgegen, die an der revolutionären<br />

Überwindung des Kapitalismus<br />

durch die Massen festhielt, als auch das<br />

marxistische Zentrum um August Bebel<br />

und Karl Kautsky entgegen.<br />

Der Streit zwischen den Freunden<br />

Bernstein und Kautsky drehte sich vor allem<br />

um die unterschiedliche Bewertung<br />

des Zustandes des Kapitalismus aus der<br />

dann auch verschiedenen Strategien folgten.<br />

So stellte Kautsky fest, es sei „jeder ein<br />

Revolutionär, der dahin strebt, dass eine<br />

bisher unterdrückte Klasse die Staatsgewalt<br />

erobert. Er verliert diesen Charakter<br />

nicht, wenn er diese Eroberung durch soziale<br />

Reformen, die er den herrschenden<br />

Klassen abzuringen versucht, vorbereiten<br />

und beschleunigen will. Nicht das Streben<br />

nach sozialen Reformen, sondern die ausgesprochene<br />

Beschränkung auf sie unterscheidet<br />

den Sozialreformer vom Sozialrevolutionär.“<br />

Dieser Streit loderte bis zur Verabschiedung<br />

des Godesberger Programms<br />

nicht nur weiter, sondern brach auch immer<br />

wieder offen aus und führte zur Spaltung<br />

der deutschen Sozialdemokratie.<br />

Während die Gründung der USPD noch<br />

Folge der Politik des „Burgfriedens“ im Ersten<br />

Weltkrieg war und alle drei Hauptakteure<br />

der theoretischen Auseinandersetzungen<br />

innerhalb der SPD zu ihr<br />

wechselten, wurde in den ersten Jahren der<br />

Weimarer Republik die endgültige Spaltung<br />

der deutschen Arbeiterbewegung in<br />

unversöhnliche Parteien besiegelt. Teile<br />

kehrten nach und nach in die SPD zurück,<br />

während die KPD sich immer schneller an<br />

die sowjetische KPDSU annäherte und<br />

Sozialdemokratie und Republik bekämpfte.<br />

Das „Görlitzer Programm“ 13 von 1921<br />

war ausgesprochen revisionistisch ausgerichtet.<br />

Allerdings verließ es nicht grundsätzlich<br />

die alten marxistischen Grundlagen.<br />

Das Ziel der neuen Programmatik<br />

war, Wählerinnen und Wähler auch außerhalb<br />

der bisherigen proletarischen Stammwählerschaft<br />

anzusprechen. Die SPD wollte<br />

nunmehr „Partei des arbeitenden Volkes<br />

in Stadt und Land“ sein. Fortan wurden<br />

die Debatten in der SPD durch die Alltagspolitik<br />

und die Frage, wie schnell der<br />

12 Siehe dazu die Dokumente in: Peter Friedemann<br />

(Hrsg.), Materialien zum politischen Richtungsstreit<br />

in der deutschen Sozialdemokratie 1890 –<br />

1917.<br />

13 Dowe/ Klotzbach, S. 187ff.<br />

27


Sozialismus erreicht werden könne geprägt.<br />

In dieser Phase fand aber auch ein<br />

Wandel im Umgang mit den Texten von<br />

<strong>Marx</strong> statt. Zum einen wurden vor allem<br />

auf Initiative sowjetischer Wissenschaftler<br />

viele Schriften von <strong>Marx</strong> und Engels überhaupt<br />

erstmals veröffentlich und zum anderen<br />

wurde nun nicht mehr hauptsächlich<br />

um die Interpretation von <strong>Marx</strong> gestritten,<br />

sondern seine Ansätze weiterentwickelt.<br />

Gerade innerhalb der Weimarer <strong>Jusos</strong> begann<br />

innerhalb des „Hannoveraner Kreises“<br />

wieder eine verstärkte Auseinandersetzungen<br />

mit den Werken von <strong>Marx</strong> und<br />

Engels.<br />

Die Sozialdemokratie in Österreich<br />

hatte im Unterschied zur deutschen Sozialdemokratie<br />

keine ernsthafte Konkurrenz<br />

durch eine weitere Arbeiterpartei zu befürchten.<br />

Ein Grund dafür lag auch im<br />

stärkeren Zusammenhalt von grundsätzlich<br />

revolutionärer Programmatik und tagespolitischen<br />

Initiativen, wie es im „Linzer<br />

Programm“ 14 von 1926 zum einen und<br />

der sozialdemokratischen Reformpolitik<br />

beispielsweise im „Roten Wien“ andererseits<br />

deutlich wurde. Der „Austromarxismus“<br />

war so auch in der deutschen Sozialdemokratie<br />

einflussreich, einzelne<br />

Personen wie beispielsweise Rudolf Hilferding<br />

machten in der Weimarer Republik<br />

auch in der SPD Karriere.<br />

Dieser Einfluss ist auch im Heidelberger<br />

Programm 15 von 1925 zu finden. Es<br />

war eine Rückkehr zu den marxistischen<br />

Grundpositionen des Erfurter Programms<br />

und ist insbesondere wegen seiner internationalen<br />

Politik und der Forderung nach<br />

den vereinigten Staaten von Europa bedeutend.<br />

Die SPD nach dem 2. Weltkrieg<br />

Nach den Schrecken des zweiten Weltkrieges<br />

wurde die SPD wiedergegründet, bestand<br />

aber nur in der BRD weiter, da sie in<br />

der sowjetisch Besatzungszone mit der<br />

KPD zur SED Zwangsvereinigt wurde. In<br />

der DDR gab es kaum ernsthafte Diskussionen<br />

über marxsche Theorie, sondern nur<br />

Ausarbeitungen zur Analyse des Kapitalismus<br />

im Rahmen der der Vorgaben der jeweiligen<br />

sowjetischen und ostdeutschen<br />

Parteiführung. Der „realexistierende Sozialismus“<br />

ist in diesem Sinne nicht die Umsetzung<br />

marxistischer Ideen, sondern vor<br />

allem dessen Missbrauch zur Legitimierung<br />

von Gewaltherrschaft.<br />

In den ersten Jahren nach der Gründung<br />

der BRD bezog sich die Sozialdemokratie<br />

auf ihre bisherigen theoretischen<br />

Grundlagen in marxistischer Tradition und<br />

stellte in den Mittelpunkt ihrer Forderungen<br />

die Verstaatlichung verschiedener Industriezweige.<br />

Sie stand der Politik Adenauers<br />

mehr als skeptisch gegenüber und<br />

kämpfte gegen die konservative und kapitalistische<br />

Restauration der Bundesrepublik.<br />

Nachdem sich aber keine Wahlerfolge<br />

einstellen wollten, kam es zu einer Diskussion<br />

über die Neuausrichtung der Partei.<br />

Diese wurde mit dem „Godesberger Programm“<br />

16 im Jahr 1959 vollzogen. Zwar<br />

gab es noch Versuche beispielsweise von<br />

Wolfgang Abendroth und Peter von Oertzen,<br />

den marxistischen Analyseapparat für<br />

die Programmatik zu erhalten, diese fan-<br />

14 Auszüge in: Pfabigan, Vision und Wirklichkeit,<br />

S. <strong>11</strong>5ff.<br />

15 Dowe/ Klotzbach, S. 194ff.<br />

16 Dowe/ Klotzbach S. 324ff.<br />

28<br />

<strong>Marx</strong> und die Sozialdemokratie – Die SPD und <strong>Marx</strong> <strong>Argumente</strong> 3/20<strong>11</strong>


den aber kaum Wiederhall auf dem Parteitag.<br />

Die SPD wandelte sich von der marxistischen<br />

Klassenpartei zur linken Volkspartei.<br />

Ironischer Weise kann dies aber nicht<br />

als absolute Abkehr von allen marxschen<br />

Ideen und deren Weiterentwicklung gesehen<br />

werden, sondern stellt in gewisser Weise<br />

eine konsequente Fortschreibung der sozialdemokratischen<br />

Strategie unter den<br />

Voraussetzungen einer demokratischen<br />

Republik dar. So heißt es im Abschlusskapitel<br />

des „Godesberger Programms“: „Die<br />

sozialistische Bewegung erfüllt eine geschichtliche<br />

Aufgabe. Sie begann als ein<br />

natürlicher und sittlicher Protest der<br />

Lohnarbeiter gegen das kapitalistische System.<br />

Die gewaltige Entfaltung der Produktivkräfte<br />

durch Wissenschaft und<br />

Technik brachte einer kleinen Schicht<br />

Reichtum und Macht, den Lohnarbeitern<br />

zunächst nur Not und Elend. Die Vorrechte<br />

der herrschenden Klassen zu beseitigen<br />

und allen Menschen Freiheit, Gerechtigkeit<br />

und Wohlstand zu bringen das war<br />

und das ist der Sinn des Sozialismus. ...<br />

Darum ist die Hoffnung der Welt eine<br />

Ordnung, die auf den Grundwerten des<br />

demokratischen Sozialismus aufbaut, der<br />

eine menschenwürdige Gesellschaft, frei<br />

von Not und Furcht, frei von Krieg und<br />

Unterdrückung schaffen will, in Gemeinschaft<br />

mit allen, die guten Willens sind.“<br />

Mit der APO kamen in den 60er-Jahren<br />

auch wieder marxistische Diskussionen<br />

in die SPD und vor allem in die <strong>Jusos</strong>. 17<br />

Dabei kamen auch wieder die drei grundsätzlichen<br />

Theoriestränge aus den Anfängen<br />

des Jahrhunderts zum Tragen. Diese<br />

entwickelten sich mit den neueren <strong>Marx</strong>interpretationen<br />

und -Fortschreibungen<br />

bis <strong>heute</strong> weiter. 18<br />

Mit dem „Berliner Programm“ von<br />

1989 fand die Bezugnahme auf den <strong>Marx</strong>ismus<br />

auch wieder offiziell Einzug in die<br />

Programmatik der Sozialdemokratie. Dies<br />

galt dabei nicht nur deklaratorisch, sondern,<br />

wie sich in den Kapiteln zur Gesellschaftsanalyse<br />

mit der Bezugnahme auf<br />

den Antagonismus von Kapital und Arbeit<br />

zeigte, auch in den Grundlagen der Analyse.<br />

Die SPD und <strong>Marx</strong> – <strong>heute</strong><br />

Bis <strong>heute</strong> spielen in der Programmatik der<br />

SPD viele theoretische Versatzstücke eine<br />

wichtige Rolle, die sich auch auf <strong>Marx</strong> begründen.<br />

Dieses gilt insbesondere für die<br />

Betonung der Bedeutung der Arbeit und<br />

den Fokus auf die Interessenvertretung der<br />

arbeitenden Menschen. Die Ideen von Karl<br />

<strong>Marx</strong> haben daher auch weiterhin ihren<br />

Platz in der Sozialdemokratie. Die SPD ist<br />

keine marxistische Partei, sie hat viele<br />

Wurzeln und setzt sich aus unterschiedlichsten<br />

Traditionslinien zusammen. Im<br />

aktuellen „Hamburger Programm“ von<br />

2007 heißt es daher, „Sie (die Sozialdemokratinnen<br />

und Sozialdemokraten) verstehen<br />

sich seit dem Godesberger Programm<br />

von 1959 als linke Volkspartei, die ihre<br />

Wurzeln in Judentum und Christentum,<br />

Humanismus und Aufklärung, marxistischer<br />

Gesellschaftsanalyse und den Erfahrungen<br />

der Arbeiterbewegung hat.“ 19<br />

Deswegen bleibt – unabhängig vom<br />

Bezug auf <strong>Marx</strong> - richtig was Wolfgang<br />

Abendroth 1964 über die Ausrichtung der<br />

17 Siehe dazu zum Beispiel das „Hamburger Strategiepapier“<br />

von 1971.<br />

18 Näheres dazu in: Vogt, Juso Linke – 40 Jahre<br />

theoretische Orientierung der <strong>Jusos</strong>.<br />

19 Hamburger Programm der SPD.<br />

29


SPD schrieb: „In Wirklichkeit ist noch<br />

niemals eine bedeutende Reform durch<br />

herrschende Schichten den durch sie beherrschten<br />

Schichten konzediert worden,<br />

wenn sie nicht die Entschlossenheit der<br />

Unterklassen zur Auseinandersetzung mit<br />

den bestehenden Verhältnissen zu befürchten<br />

hatten, wie andererseits die Erzielung<br />

von bedeutenden Reformen auf längere<br />

Sicht den Willen zur Macht in derjenigen<br />

Klasse, die diese Reformen erkämpft hat,<br />

für die Zukunft (und häufig auch aktuell)<br />

nicht schwächt, sondern stärkt, wenn ihr<br />

nur bewußt bleibt, daß sie diese Konzessionen<br />

ihrer Gegner ihrem Kampfwillen zu<br />

verdanken hat. Deshalb lassen sich also<br />

durchaus Reformkämpfe und Reformwillen<br />

in eine auf Umwälzung der gesamten<br />

Gesellschaftsform und ihrer Machtstruktur<br />

gerichtete Bewegung einordnen und<br />

gehören notwendig zu ihrer Strategie,<br />

wenn sie sich ihrer Zielsetzung permanent<br />

bewußt ist. Andererseits wird aber ebenso<br />

notwendig die demokratische Befreiungsbewegung<br />

einer unterdrückten Klasse ihren<br />

Schwung verlieren, wenn sie auf die<br />

Einordnung ihrer einzelnen Teilziele in die<br />

große Konzeption einer geschlossenen, auf<br />

Umwandlung der gesamten Gesellschaft<br />

gerichteten Zielsetzung verzichtet.“ 20 l<br />

20 Abendroth, Aufstieg und Krise der deutschen<br />

Sozialdemokratie, S. 16.<br />

Literatur:<br />

Wolfgang Abendroth, Aufstieg und Krise der deutschen<br />

Sozialdemokratie, Frankfurt/ Main 1964<br />

Ders., Ein Leben in der Arbeiterbewegung. Gespräche,<br />

aufgezeichnet und herausgegeben von B.<br />

Dietrich und J. Perels, Frankfurt/ Main 1976<br />

Max Adler, Ausgewählter Schriften, Herausgeben von<br />

Norbert Leser und Alfred Pfabigan, Wien 1981<br />

Otto Bauer, Eine Auswahl aus seinem Lebenswerk,<br />

Wien 1961<br />

August Bebel, Die Frau und der Sozialismus, Erstausgabe<br />

1879<br />

Eduard Bernstein, Die Voraussetzungen des Sozialismus<br />

und die Aufgaben der Sozialdemokratie, Erstausgabe<br />

1899<br />

Christoph Butterwegge, SPD und Staat - <strong>heute</strong>,<br />

Berlin 1979<br />

Dieter Dowe/ Kurt Klotzbach (Hg.), Programmatische<br />

Dokumente der deutschen Sozialdemokratie,<br />

Bonn 2004<br />

Georg Eckert, 100 Jahre Braunschweiger Sozialdemokratie,<br />

Hannover 1965<br />

Iring Fetscher, Der <strong>Marx</strong>ismus - Seine Geschichte in<br />

Dokumenten, München/Zürich 1983<br />

Peter Friedemann (Hrsg.), Materialien zum politischen<br />

Richtungsstreit in der deutschen Sozialdemokratie<br />

1890 - 1917, 2 Bände, Frankfurt/ Main<br />

1977<br />

Horst Heimann/ Thomas Meyer (Hrsg.), Reformsozialismus<br />

und Sozialdemokratie, Bonn 1982<br />

Jungsozialisten in der SPD, Bezirk OWL (Hrsg.),<br />

Herforder Thesen. Zur Arbeit von <strong>Marx</strong>isten in<br />

der SPD, Berlin 1980<br />

Karl Kautsky, Karl <strong>Marx</strong>’s ökonomische Lehren,<br />

Erstauflage 1886<br />

Ders., Die materialistische Geschichtsauffassung,<br />

2 Bände, Erstauflage 1927<br />

Paul Levi, Zwischen Spartakus und Sozialdemokratie.<br />

Schriften, Aufsätze, Reden und Briefe, Frankfurt/<br />

Main 1969<br />

Rosa Luxemburg, Sozialreform oder Revolution, in:<br />

Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, 6 Bände,<br />

Berlin 1970<br />

Karl <strong>Marx</strong> /Friedrich Engels, Werke (MEW)<br />

Franz Mehring, Geschichte der deutschen Sozialdemokratie.<br />

2 Teile, Erstauflage 1897/98<br />

Susanne Miller/Heinrich Potthoff, Kleine Geschichte<br />

der SPD, Bonn 2002<br />

Peter von Oertzen, Demokratie und Sozialismus zwischen<br />

Politik und Wissenschaft, Hannover 2004<br />

Alfred Pfabigan (Hg.), Vision und Wirklichkeit. Ein<br />

Lesebuch zum Austromarxismus, Wien 1989<br />

Sascha Vogt (Hrsg.), Juso Linke - 40 Jahre theoretische<br />

Orientierung der <strong>Jusos</strong>, Dortmund 20<strong>11</strong><br />

30<br />

<strong>Marx</strong> und die Sozialdemokratie – Die SPD und <strong>Marx</strong> <strong>Argumente</strong> 3/20<strong>11</strong>


CARE ALS ZENTRALES<br />

STRUKTURPROBLEM<br />

KAPITALISTISCHER<br />

VERGESELLSCHAFTUNG<br />

UND DEREN FEMINIS-<br />

TISCHE BEARBEITUNG<br />

Von Lisa Yashodhara Haller, Universität Kassel<br />

1 Einleitung<br />

Der Arbeitsbereich der Betreuung, Erziehung<br />

und Fürsorge, der in der aktuellen<br />

Auseinandersetzung mehrheitlich mit dem<br />

englischen Oberbegriff Care umschrieben<br />

wird, ist unabdingbar für ökonomische<br />

Prozesse, denn Heranwachsende müssen<br />

zunächst betreut, erzogen und umsorgt<br />

werden, bevor sie als Erwachsene an Arbeitprozessen<br />

teilnehmen können. Insofern<br />

ist die Versorgung von Menschen Ausgangspunkt<br />

für jede Form des Arbeitens<br />

und Wirtschaftens. Dieser Umstand wurde<br />

von <strong>Marx</strong> und Engels in ihren Analysen<br />

kapitalistischer Verhältnisse sowie in den<br />

sich daraus entwickelnden Klassenkämpfen<br />

nur unzureichend berücksichtigt. Der<br />

vorliegende Beitrag will auf diese Leerstelle<br />

des <strong>Marx</strong>ismus aufmerksam machen und<br />

darüber hinaus feministische Weiterentwicklungen<br />

marxistischer Theorie aufzeigen,<br />

die dazu beitragen, tagespolitische<br />

Herausforderungen zu erkennen.<br />

2 Die Entstehung divergierender<br />

Ökonomien<br />

Mit dem Wechsel vom 18. zum 19. Jahrhundert<br />

ist die zunehmende Aufspaltung<br />

eines bis dato einheitlichen Wirtschaftsbereiches<br />

in divergierende Ökonomien einhergegangen,<br />

die zwar Erleichterungen im<br />

Arbeitsprozess mit sich brachte, deren Organisation<br />

jedoch bis in die Gegenwart<br />

hinein eine Vielzahl von strukturellen Problemen<br />

verursacht hat. Signifikant für die<br />

sich neu formierende kapitalistische Ökonomie<br />

ist, dass nicht nur Land und Produktionsmittel,<br />

sondern überdies auch die<br />

Arbeitskraft in Warenform getauscht wird.<br />

Die Zerstörung bisheriger Arbeits- und<br />

31


Subsistenzformen sowie die Befreiung der<br />

Bevölkerung von feudaler Leibeigenschaft<br />

führt <strong>Marx</strong> als die zwei zentralen Voraussetzungen<br />

zum freien Tausch der Ware Arbeitskraft<br />

an. Das Subjekt marxistischer<br />

Theorie, der doppelt freie Lohnarbeiter, ist<br />

insofern „frei im Doppelsinn, dass er als<br />

freie Person über seine Arbeitskraft als seine<br />

Ware verfügt, dass er andererseits andere<br />

Waren nicht zu verkaufen hat...“ 1 . Dass<br />

<strong>Marx</strong> den doppelt freien Lohnarbeiter<br />

auch frei von der Betreuung, Erziehung<br />

und Fürsorge neuer Arbeitskräfte wägt,<br />

kommt erst im zweiten Halbsatz zum Ausdruck,<br />

„...los und ledig, frei ist [er] von allen<br />

zur Verwirklichung seiner Arbeitskraft<br />

nötigen Sachen“ 2 . Die Wahl eines Subjektes,<br />

das von zwischenmenschlicher Fürsorgeverantwortung<br />

losgelöst agiert, verwehrt<br />

uns bei der ansonsten aufschlussreichen<br />

Kapitallektüre ausgerechnet die spannende<br />

Auseinandersetzung mit den Grundlagen<br />

kapitalistischer Gesellschaftsformation<br />

und insofern der eigentlichen Voraussetzung<br />

kapitalistischer Produktion. Die Suche<br />

nach diesen Grundlagen nimmt bei der<br />

marxistischen Werttheorie ihren Ausgang.<br />

3 Woher kommt der Wert der Ware<br />

Arbeitskraft?<br />

Im Zuge der doppelten Befreiung des<br />

marxistischen Subjekts durch die Auflösung<br />

feudaler Leibeigenschaft und der<br />

Subsistenzproduktion wurde der Umstand,<br />

dass durch die Aufwendung menschlicher<br />

Arbeitskraft mehr produziert wird, als der<br />

arbeitende Mensch verbraucht, dem<br />

Zweck der Mehrwertgewinnung unterstellt.<br />

Das Mehrprodukt wird zum Mehrwert,<br />

indem die Arbeitszeit, in der die<br />

Lohnarbeitenden ihre Arbeitskraft verausgaben,<br />

diejenige Arbeitszeit überschreitet,<br />

die notwendig wäre, um ihre Reproduktionskosten<br />

3 zu sichern. Die Produktionsmittelbesitzenden<br />

eignen sich diesen<br />

Mehrwert an und akkumulieren ihn. Die<br />

Abschöpfung des Mehrwertes der Arbeitskraft<br />

der Lohnarbeitenden durch die Produktionsmittelbesitzenden,<br />

die bis <strong>heute</strong><br />

jedem abhängigen Lohnarbeitsverhältnis<br />

in der freien Marktwirtschaft zu Grunde<br />

liegt, bezeichnet <strong>Marx</strong> als Ausbeutung. Die<br />

ausgebeuteten Lohnabhängigen haben die<br />

Möglichkeit, gegen die ausbeutenden Produktionsmittelbesitzenden<br />

einen kollektiven<br />

Arbeitskampf zu führen. Solidarisieren<br />

sie sich erfolgreich zum Zweck des Arbeitskampfes,<br />

gewinnen sie die Vormachtstellung<br />

im Arbeitsprozess. 4 Insofern suggeriert<br />

die Kapitallektüre, die Erzeugung<br />

von Mehrwert sei einzig der Aufwendung<br />

der doppelt freien Arbeitskraft der Lohnabhängigen<br />

sowie der Bereitstellung von<br />

Produktionsmitteln von Seiten der Produktionsmittelbesitzenden<br />

zu verdanken.<br />

Die kritische Leserin fragt jedoch, wie<br />

denn der Wert menschlicher Arbeitskraft<br />

entsteht, ohne die doch kein Mehrwert zustande<br />

käme? <strong>Marx</strong> beantwortet diese Frage<br />

kurz und bündig. Den Wert der Ware<br />

Arbeitskraft bestimmt er, wie den Wert an-<br />

1 <strong>Marx</strong>, K., Das Kapital. Kritik der politischen<br />

Ökonomie. Bd.23, Berlin 1980, S. 183<br />

2 <strong>Marx</strong>, K., Das Kapital. Kritik der politischen<br />

Ökonomie. Bd.23, Berlin 1980, S. 183.<br />

3 Unter Reproduktionskosten wird die Gesamtheit<br />

aller Kosten verstanden, die benötigt werden, die<br />

Lebens- und Arbeitskraft von Subjekten zu erhalten<br />

sowie ihre Bedürfnisse zu befriedigen.<br />

Menschliche Bedürfnisse, ebenso wie die Produktionsbedingungen<br />

zu ihrer Befriedigung variieren<br />

historisch-kontextuell vgl. MEW 23: 185.<br />

4 Wegen der Schwierigkeiten bei der Verwandlung<br />

der Warenwerte in Produktionspreise ist von<br />

werttheoretischen Schlüssen auf Lohnhöhen ohne<br />

eine Berücksichtigung der historischen Gesellschaftsformation<br />

abzuraten.<br />

32<br />

Care als zentrales Strukturproblem kapitalistischer Vergesellschaftung und deren feministische Bearbeitung <strong>Argumente</strong> 3/20<strong>11</strong>


derer Ware auch, „durch die zur Produktion,<br />

als auch Reproduktion, dieses spezifischen<br />

Artikels notwendigen Arbeitszeit.“ 5<br />

Auf die Frage, welche Arbeitszeit denn<br />

notwendig sei, um menschliche Arbeitskraft<br />

zu (re)produzieren, findet die Leserin<br />

im Kapital lediglich einen Verweis auf die<br />

Arbeitszeit, die notwendig sei, um die Reproduktionskosten<br />

zu bestreiten. 6 Eine<br />

konkrete Klärung erhofft sie sich daher von<br />

feministischen Ökonominnen.<br />

4 Wertschöpfungsschwache Arbeit<br />

als Gegenstand der Care Ökonomie<br />

Feministische Ökonominnen haben bezugnehmend<br />

auf Karl Polanyi (1978) herausgearbeitet,<br />

dass die menschliche Arbeitskraft<br />

zwar ähnlich wie die Güter, die<br />

sie produziert, in Warenform getauscht<br />

wird, sich die Herstellung von menschlicher<br />

Arbeitskraft aber dennoch signifikant<br />

von der Herstellung stofflicher Güter unterscheidet,<br />

da sie vornehmlich auf Betreuungs-,<br />

Erziehungs- und Fürsorgeleistungen<br />

beruht. 7 Die Besonderheit der<br />

Betreuungs-, Erziehungs- und Fürsorgearbeit<br />

besteht wesentlich aus der Entwicklung<br />

einer Beziehung zwischen dem Betreuenden<br />

und dem Kind, das betreut,<br />

erzogen und im besten Fall umsorgt wird.<br />

Während bei der Produktion stofflicher<br />

Güter neben der Steigerung des absoluten<br />

Mehrwerts mittels der Verlängerung des<br />

Arbeittages mit Hilfe von effizienzsteigernden<br />

Maßnahmen überdies ein relativer<br />

Mehrwert 8 generiert werden kann, muss<br />

bei der Betreuungsarbeit von der Gewinnung<br />

eines relativen Mehrwertes weitestgehend<br />

abgesehen werden. Denn der relative<br />

Mehrwert wird durch eine<br />

Optimierung erzeugt, zu deren Zweck Arbeitsgegenstände<br />

zunächst in zergliederte<br />

Arbeitsbereiche aufgeteilt und sodann<br />

durch detaillierte Zielvorgaben und eine<br />

exakte zeitliche Begrenzung rationalisiert<br />

werden. Weil der Betreuung jedoch eine<br />

Zeitdimension inhärent ist, kann eine auf<br />

Effizienzsteigerung basierende Rationalisierung<br />

und damit die Gewinnung eines<br />

relativen Mehrwertes nicht uneingeschränkt<br />

gelingen, ohne dass sich der Charakter<br />

der Betreuung und ab einem gewissen<br />

Punkt ihre Qualität verändert. Eine<br />

Stunde Kindesbetreuung bleibt eine Stunde<br />

Kindesbetreuung, auch wenn die Betreuungsperson<br />

die Zeit mit dem Kind unterschiedlich<br />

intensiv nutzen kann. 9<br />

Während die Erziehungsleistung, die im<br />

Rahmen der Betreuung erfolgt, durchaus<br />

durch Zielvorgaben strukturiert und optimiert<br />

werden kann, sind zweitens detaillierte<br />

Zielvorgaben mit einer zeitlichen Begrenzung<br />

der Fürsorge um ein Kind kaum<br />

förderlich, da sich die Fürsorgeleistung in<br />

dem Erziehungsprozess entwickelt. Insofern<br />

ist drittens der Arbeitsbereich der Betreuung,<br />

Erziehung und Fürsorge durch<br />

eine asymmetrische Beziehung zwischen<br />

5 <strong>Marx</strong>, K., Das Kapital. Kritik der politischen<br />

Ökonomie. Bd.23, Berlin 1980, S. 184<br />

6 Bei <strong>Marx</strong> löst sich die zur Produktion der Arbeitskraft<br />

notwendige Arbeitszeit auf in die zur<br />

Produktion dieser Lebensmittel notwendigen Arbeitszeit,<br />

damit ist der Wert der Arbeitskraft bestimmt<br />

durch die zur Erhaltung ihres Besitzers<br />

notwendigen Lebensmittel. MEW 23, S.185.<br />

7 Da die Ware Arbeitskraft niemals vollständig<br />

durch Lebensmittel produziert werden kann,<br />

übersteigt die Arbeit, die nötig ist, um Arbeitskraft<br />

als Ware tauschbar zu machen, grundsätzlich<br />

die durch den Einkauf von Lebensmitteln erzeugten<br />

Reproduktionskosten.<br />

8 <strong>Marx</strong>, K., Das Kapital. Kritik der politischen<br />

Ökonomie. Bd.23, Berlin 1980, S. 334.<br />

9 So kommt eine Beschleunigung der Kindererziehung<br />

zum Zweck der zeitlichen Optimierung der<br />

Betreuung einer Verkürzung der Kindheits- und<br />

Adoleszenzphase gleich.<br />

33


dem Betreuenden und dem Kind gekennzeichnet.<br />

Das Kind ist elementar von der<br />

Fürsorge des Betreuenden abhängig, mit<br />

einer Solidarisierung zwischen den Betreuenden<br />

zum Zweck eines Arbeitskampfes<br />

gegen das zu betreuende Kind ist insofern<br />

nicht zu rechnen, da ein solcher mit der<br />

fürsorglichen Haltung gegenüber den Betreuten<br />

nicht zu vereinbaren wäre. Weil Betreuung<br />

und Fürsorge im Gegensatz zur<br />

stofflichen Warenproduktion die Mehrwertproduktion<br />

und insbesondere die relative<br />

Mehrwertsteigerung kaum ermöglichen,<br />

wird der Wirtschaftsbereich der<br />

Versorgungsleistungen im Gegensatz zum<br />

Wirtschaftsbereich der Güterproduktion<br />

als wertschöpfungsschwach bezeichnet.<br />

Auf Grund der Besonderheit des Arbeitsbereiches<br />

der Betreuung, Erziehung und<br />

Fürsorge sowie der divergierenden Wertschöpfungsstärke<br />

der beiden Wirtschaftsbereiche<br />

können Kinderbetreuung, Erziehung<br />

und Fürsorge nicht vollständig im<br />

Rahmen einer Zeit- und Verwertungsökonomie<br />

funktionieren, wie sie für Lohnarbeit<br />

inzwischen in nahezu allen Branchen<br />

vorauszusetzen ist.<br />

5 Care als zentrales Strukturproblem<br />

kapitalistischer Vergesellschaftung<br />

Hieraus folgt, dass sich Fürsorgearbeit<br />

zwar nicht wertschöpfend im Rahmen kapitalistischer<br />

Produktionsweise organisieren<br />

lässt, und folgend weder angeeignet<br />

noch akkumuliert werden kann, die kapitalistische<br />

Produktionsweise aber gleichwohl<br />

auf die Betreuung, Erziehung und Fürsorge<br />

von Kindern als zukünftige Arbeitskräfte<br />

angewiesen ist. Gesellschaften, die nach<br />

dem Prinzip freier Lohnarbeit organisiert<br />

sind, stehen deshalb vor dem zentralen<br />

Strukturproblem, zum Zweck der Kapitalakkumulation<br />

die Betreuung, Erziehung<br />

und Fürsorge arbeitsfähiger Subjekte jenseits<br />

der kapitalistischen Produktionssphäre<br />

zu gewährleisten. 10<br />

Da Arbeiten der Betreuung, Erziehung<br />

und Fürsorge jenseits des marxistischen<br />

Erkenntnisinteresses lagen, sucht die kritische<br />

Leserin bei der Kapitallektüre vergeblich<br />

nach Kategorien zur Bearbeitung dieses<br />

zentralen Strukturproblems. Klärung<br />

erhofft sie sich daher von feministischen<br />

Wohlfahrtsstaatsforscherinnen.<br />

6 Bearbeitung des Strukturproblems<br />

durch den Wohlfahrtsstaat<br />

Feministische Wohlfahrtsstaatsforscherinnen<br />

haben herausgearbeitet, dass Sozialund<br />

Familienpolitik durch eine partielle<br />

Umverteilung des Lohneinkommens diejenigen<br />

zeitintensiven Arbeiten ermöglichen,<br />

die eine unabdingbare Voraussetzung<br />

für den kapitalistischen Produktionsprozess<br />

darstellen, ohne dass diese profitgenerierend<br />

organisiert werden müssten. Die<br />

Umverteilung von Lohneinkommen bildet<br />

damit die eigentliche Voraussetzung zur<br />

Überführung von Arbeitskraft in freie<br />

Lohnarbeit. Ohne eine Umverteilung von<br />

Lohneinkommen kann die Sicherstellung<br />

der Betreuung, Erziehung und Fürsorge<br />

neuer Arbeitskräfte nicht gewährleistet<br />

werden, ohne neue Arbeitskräfte ist eine<br />

Aneignung von Arbeitskraft nicht möglich,<br />

insofern kann ohne vorausgehende<br />

Fürsorgeleistungen weder Mehrwert generiert<br />

noch vom Kapital akkumuliert wer-<br />

10 Lenhard, G./Offe, C., Staatstheorie und Sozialpolitik.<br />

Politisch-soziologische Erklärungsansätze<br />

für Funktionen und Innovationsprozesse der<br />

Sozialpolitik, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie<br />

und Sozialpsychologie SH 19, 1977, S.106.<br />

34<br />

Care als zentrales Strukturproblem kapitalistischer Vergesellschaftung und deren feministische Bearbeitung <strong>Argumente</strong> 3/20<strong>11</strong>


den. Die den kapitalistischen Akkumulationsprozess<br />

ermöglichenden Einkommensübertragungen<br />

werden meist privat im<br />

Rahmen von Partnerschaften, Ehe- und<br />

Verwandtschaftsverhältnissen getätigt.<br />

Einkommensübertragungen im familialen<br />

Bereich sind zu einem erheblichen Anteil<br />

über das Unterhaltsrecht reguliert und<br />

werden von staatlicher Seite in Form von<br />

Einkommenssteuerrückzahlungen anerkannt.<br />

Zusätzlich reguliert der Staat das<br />

Wechselverhältnis zwischen unbezahlter<br />

Fürsorge auf der einen und freier Lohnarbeit<br />

auf der anderen Seite durch staatliche<br />

Transferleistungen. Werden diese Transferleistungen<br />

beispielsweise zur außerhäuslichen<br />

Kindesbetreuung eingesetzt, resultieren<br />

die Gewinne der Kindesbetreuungseinrichtung<br />

nicht wie von <strong>Marx</strong><br />

beschrieben allein aus der Ausnutzung der<br />

Arbeitskraft der Erzieherinnen und Erzieher,<br />

sondern überdies aus der sozialstaatlichen<br />

Umverteilung eines bereits produzierten<br />

Mehrproduktes. Die sozialstaatliche<br />

Umverteilung ist damit materielle Voraussetzung<br />

für die Gewährleistung der wertschöpfungsschwachen<br />

Erziehungsarbeit. <strong>11</strong><br />

Da der sozialhistorisch den Frauen zugeschriebene<br />

Arbeitsbereich der Betreuung,<br />

Erziehung und Fürsorge die freie<br />

Lohnarbeit erst in größerem Maßstab berechenbar<br />

und insofern plan- und organisierbar<br />

macht und die hier anfallenden Arbeiten<br />

weiterhin mehrheitlich von Frauen<br />

geleistet werden, bleibt die Analyse des Kapitalverhältnisses<br />

ohne eine Untersuchung<br />

von Geschlechterverhältnissen als zentrale<br />

Produktionsgröße stark verkürzt. Dass diese<br />

Arbeit bei der Erörterung von Lohn,<br />

Preis und Profit dennoch nicht vorkommt,<br />

ärgert nicht nur die Kapitalleserin zunehmend,<br />

sondern führt auch dazu, dass aktuelle<br />

ökonomische und gesellschaftliche<br />

Problemstellungen, die mit den krisenhaften<br />

Entwicklungen im Fürsorge-, Erziehungs-<br />

und Betreuungssektor verbunden<br />

sind, nicht angemessen verstanden werden<br />

können.<br />

7 Die Notwendigkeit einer Weiterentwicklung<br />

marxistischer Theorie angesichts<br />

der tagespolitischen Herausforderungen<br />

Während aus der Perspektive klassischer<br />

Ökonomen einzig die Erzeugung eines<br />

Produktes Mehrwert schafft, setzt sich<br />

in der bürgerlichen Ökonomie die marxistische<br />

Sichtweise, der Entlohnung als<br />

Voraussetzungzur Erzeugung eines Mehrwertes<br />

durch. Durch den grundsätzlich expansiven<br />

Charakter der kapitalistischen<br />

Akkumulationsdynamik 12 sind sowohl Kapitalisten<br />

Als auch Lohnabgängige infolge<br />

ihrer Abhängigkeit von der Reproduktionskostendeckung<br />

unentwegt damit befasst,<br />

beue Verwertungs- und Entlohnungsmöglichkeiten<br />

für ihre Arbeitskraft<br />

zu generieren. Die hiermit erklärbare Tendenz<br />

zur Vermarktung von Familienarbeit<br />

in der jüngsten Vergangenheit ging Hand<br />

in Hand mit den sozialen Kämpfen der<br />

Frauenbewegung um eine Steigerung der<br />

Frauenerwerbstätigkeit, mit Hilfe derer<br />

ihre Arbeit endlich als wertschaffend sichtbar<br />

werden sollte. Das marxistische Credo,<br />

<strong>11</strong> Vgl. Chorus, S. (20<strong>11</strong>): Care-Seiten in der politischen<br />

Ökonomie, in: Das Argument 292:<br />

Care – eine feministische Kritik der politischen<br />

Ökonomie? Reihe DAS ARGUMENT 53. Jg.<br />

Heft 3/20<strong>11</strong>, S. 398.<br />

12 Luxemburg, Rosa (1981):.Die Akkumulation des<br />

Kapitals. Ein Beitrag zur ökonomischen Erklärung<br />

des Imperialismus. In: Gesammelte Werke,<br />

Berlin 1981, Bd. 5.<br />

35


dass nur Wert schafft was entlohnt wird,<br />

hatte sich bis zu den amtierenden Familienministerinnen<br />

durchgesetzt, die raumgreifende<br />

Reformen im familienpolitischen<br />

Bereich verabschiedeten. Nicht zuletzt unter<br />

den Aspekten europäischer Strukturanpassung<br />

schien es weitblickend, die unentlohnte<br />

Fürsorgearbeit in den Arbeitsmarkt<br />

zu überführen, um hierüber das Bruttoinlandprodukt<br />

zu steigern und die qualifizierte<br />

weibliche Arbeitskraft für wertschöpfungsstarke<br />

Arbeiten freizusetzten.<br />

Da Fürsorgearbeit jedoch nicht vollständig<br />

im Rahmen einer kapitalistischen Produktionsweise<br />

verwertbar ist, steigt angesichts<br />

der Reduzierungen familienpolitischer<br />

Leistungen gesamtwirtschaftlich diejenige<br />

Zeit, in der Frauen Fürsorgearbeiten jenseits<br />

eines wohlfahrtstaatlichen Ausgleichs<br />

nachgehen, um den Fürsorgestandard unserer<br />

Gesellschaft wenigstens zu halten.<br />

Kennzeichnend für tagespolitische Entwicklungen<br />

ist die Inanspruchnahme von<br />

Frauen als freie Lohnarbeiterinnen, ohne<br />

dass diese frei von der Betreuungs-, Erziehungs-<br />

und Fürsorgearbeit wären. Eine<br />

Konsequenz hieraus ist die Mehrbelastung<br />

von Frauen und insgesamt eine Verknappung<br />

und Prekarisierung der gesellschaftlichen<br />

Fürsorgezeit.<br />

8 Fehlende Begriffe für soziale<br />

Kämpfe<br />

Ein zentrales Strukturproblem kapitalistischer<br />

Vergesellschaftung wandelt sich damit<br />

in ein strukturelles Problem von Elternschaft.<br />

Der Versuch einer<br />

marxistischen Erörterung der tiefgreifenden<br />

Veränderungen, denen der bisher unbeachtete,<br />

nicht entlohnte und vornehmlich<br />

von Frauen ausgeführte Tätigkeitsbereich<br />

der Fürsorge unterliegt, scheitert<br />

jedoch immer wieder an den Grenzen<br />

des <strong>Marx</strong>schen Arbeitsbegriffes. Da aufgrund<br />

der Besonderheit der Fürsorgebeziehung<br />

sich die Betreuenden ihrer Fürsorgeverantwortung<br />

gegenüber dem Kind nicht<br />

im Rahmen eines Arbeitskampfes entziehen<br />

können, fragt sich die kritische Leserin,<br />

in welcher Weise Betreuende, Erziehende<br />

und Fürsorgeleistende sich gegen<br />

Kürzungen und Streichungen von Lohnersatzleistungen<br />

zur Kindespflege wehren<br />

können. Bezugnehmend auf die Kapitallektüre<br />

fehlen unserer Leserin allerdings<br />

Begriffe, mit deren Hilfe es ihr möglich<br />

wäre, Betreuungs-, Erziehungs- und Fürsorgearbeit<br />

als „Ausbeutung“ vorwiegend<br />

weiblicher Arbeitskraft anzuprangern. Klärung<br />

erhofft sie sich daher von feministischen<br />

Materialistinnen.<br />

9 Der feministische Materialismus<br />

und die Ausbeutung weiblicher<br />

Arbeitskraft<br />

Feministische Materialistinnen haben darauf<br />

hingewiesen, dass in kapitalistischen<br />

Gesellschaftsformationen unterschiedliche<br />

Ausbeutungs-, Aneignungs- und Abhängigkeitsverhältnisse<br />

bestehen. Die grundsätzlich<br />

unvollständige kapitalistische<br />

Produktionsweise beruht ihrer Konzeptionalisierung<br />

nach keineswegs lediglich auf<br />

abstrakten Tauschvorgängen, sondern setzt<br />

Produktionsweisen jenseits der kapitalistischen<br />

voraus. Während der traditionelle<br />

<strong>Marx</strong>ismus - nach Abschluss der primären<br />

Akkumulation - lediglich die Mehrwertakkumulation<br />

in der freien Lohnarbeit<br />

kennt, existieren nach Auffassung feministischer<br />

Materialistinnen weitere Formen<br />

der ‚primären’ Akkumulation. Die Betreuung,<br />

Erziehung und Fürsorge ist in ihrer<br />

unbezahlten Form in der Regel eine häus-<br />

36<br />

Care als zentrales Strukturproblem kapitalistischer Vergesellschaftung und deren feministische Bearbeitung <strong>Argumente</strong> 3/20<strong>11</strong>


liche Produktionsweise und in ihrer bezahlten<br />

als wertschöpfungsschwache Form<br />

häufig einem öffentlichen Sektor zugewiesen,<br />

während die als wertschöpfungsstark<br />

geltende, freie Lohnarbeit in der freien<br />

Marktwirtschaft verortet wird. Gegenwärtig<br />

betonen Materialistinnen die historische<br />

Varianz des wechselseitigen Austausch-<br />

und Abhängigkeitsverhältnisses<br />

zwischen den Produktionsbereichen.<br />

Deutlich wird in den Konzeptionalisierungen<br />

feministischer Materialistinnen, dass<br />

Geschlechterverhältnisse einen prägenden<br />

Einfluss auf die Formen der Kapitalakkumulation<br />

besitzen. Die unterschiedlichen<br />

Ausbeutungs-, Aneignungs- und Abhängigkeitsverhältnisse<br />

erfordern insofern verschiedene<br />

Überwindungsstrategien.<br />

10 Ausblick: Viel Platz zum Weiterdenken<br />

- und handeln<br />

Die tagespolitische Herausforderung besteht<br />

insofern in einer Zusammenführung<br />

der interdisziplinären Ansätze einer feministischen<br />

Weiterentwicklung marxistischer<br />

Theorie. Eine derartige Zusammenführung<br />

würde den Raum für die<br />

Konzeptionalisierung verschiedener Strategien<br />

zur Überwindung kapitalistischer<br />

Vergesellschaftung eröffnen. Diese ist angewiesen<br />

auf breite Bündnisse, in denen<br />

sich Abhängige von Lohnersatzleistungen<br />

und Transferleistungsempfangende ebenso<br />

wiederfinden wie freie Lohnabhängige.<br />

Denn nicht zuletzt war, trotz der marxistischen<br />

Schaffung eines bürgerlichen Wertbegriffes,<br />

die Überwindung kapitalistischer<br />

Vergesellschaftung auch das Anliegen von<br />

<strong>Marx</strong> und Engels. l<br />

37


STAAT: HERRSCHAFT?<br />

NOTWENDIGKEIT?<br />

INSTRUMENT?<br />

ZUR STAATSTHEORIE<br />

MARX’ UND MARXISTI-<br />

SCHER STAATSTHEORIE<br />

Von Julian Zado, stellvertretender Juso-Bundesvorsitzender<br />

Wenn wir <strong>Jusos</strong> Anträge schreiben,<br />

dann enthalten diese meistens Forderungen.<br />

Häufigster Adressat dieser<br />

Forderungen ist der Staat. Das zu<br />

recht, denn der Staat ist einflussreicher<br />

und effektiver Akteur, der zugleich<br />

noch am ehesten zu beeinflussen<br />

ist. Die Bezugnahme auf den Staat<br />

erfolgt dabei überwiegend positiv - so<br />

lehnen wir z.B. Privatisierungen bzw.<br />

Entstaatlichungen ab. Ab der Staat ist<br />

auch für die Bedienung von Lobby-Interessen,<br />

Kriege und Sozialabbau verantwortlich.<br />

Und wollte nicht Karl <strong>Marx</strong><br />

den Staat überwinden? Warum wollen<br />

die <strong>Jusos</strong> ihn dann stärken?<br />

Die „herrschende Meinung“<br />

In der juristischen Literatur zur Staatstheorie<br />

wird der Staat meistens nach der<br />

von Georg Jellinek begründeten sog.<br />

„Drei-Elemente-Lehre“ definiert, nach der<br />

ein Staat durch die Kriterien Staatsgebiet,<br />

Staatsvolk und Staatsgewalt bestimmt<br />

wird. Zentrales Element ist dabei die<br />

Staatsgewalt, unter der eine Form organisierter,<br />

dauerhaft ausgeübter Herrschaft<br />

verstanden wird. 1 Die Gewalt ist es dann<br />

auch, die nach verbreiteter Sichtweise den<br />

Staat ausmacht. Wird nämlich danach gefragt,<br />

wie der Staat mit all seinen Gewaltund<br />

Zwangsmitteln (also Polizeiapparat,<br />

Gefängnisse usw.) gerechtfertigt wird, wird<br />

dies auch <strong>heute</strong> noch häufig auf der Basis<br />

des von Thomas Hobbes propagierten Gewaltmonopols<br />

des Staates beantwortet.<br />

Danach bestehe ohne den Staat ein „Naturzustand“,<br />

in dem alle Menschen nur<br />

egoistisch und rücksichtslos ihre Ziele<br />

durchsetzen wollen - also ein „Krieg aller<br />

gegen alle“. Dieser Zustand soll durch die<br />

Monopolisierung der Gewalt beim Staat -<br />

dem „Leviathan“ - überwunden werden.<br />

Nur der Staat hat das Recht zur Anwen-<br />

1 Schöbener/Knauff, Allgemeine Staatslehre, 2009,<br />

§ 3 Rdnr. 20.<br />

38


dung von Gewalt (Gewaltmonopol) und<br />

sichert auf diese Weise ein friedliches Zusammenleben.<br />

Dieser Grundgedanke prägt<br />

- trotz zahlreicher Weiterentwicklunge<br />

und Einschränkungen - im Kern bis <strong>heute</strong><br />

das juristische Verständnis vom Staat -<br />

welches nur eines von Verschiedenen sein<br />

kann. Das ist zunächst verständlich, weil in<br />

unserer Gesellschaft tatsächlich ein breiter<br />

Konsens darüber herrscht, dass private Gewalt<br />

grundsätzlich verboten sein soll und<br />

nur der Staat Zwangsmittel einsetzen darf.<br />

Doch diese Definition bleibt trotz eines<br />

richtigen Ansatzes zu verkürzt. Erstens<br />

gibt es begründete Zweifel an der Vorstellung<br />

eines Naturzustands der Gewalt.<br />

Neuere anthropologische und psychologische<br />

Forschungen weisen darauf hin, dass<br />

der sog. „Naturzustand“ eher von Kooperation<br />

und Zusammenhalt geprägt ist, während<br />

Gewalt immer nur die Folge von Ausgrenzung<br />

und Isolation ist. 2 Das macht<br />

deutlich, dass der Blick auf staatliche Institutionen<br />

gelenkt werden muss, die Gewalt<br />

und Ausgrenzung (re)produzieren. Das<br />

führt zweitens dazu, dass die normativ unterstellte<br />

„Friedlichkeit“ des Staates hinterfragt<br />

werden muss. Drittens unterstellt die<br />

Rechtfertigung des Staates über das Gewaltmonopol<br />

eine prinzipielle Gleichheit<br />

der Menschen. Tatsächlich unterscheiden<br />

sich die Menschen aber gravierend voneinander<br />

durch die materiellen Voraussetzungen,<br />

die ihnen zur Verfügung stehen. Zwischen<br />

den Menschen bestehen erhebliche<br />

Machtunterschiede. Der Staat verhindert<br />

durch das Gewaltmonopol möglicherweise<br />

- im Grundsatz - die private Anwendung<br />

von Gewalt, ändert aber nichts an Macht-,<br />

Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnissen.<br />

Dies spricht insofern nicht gegen das<br />

„Gewaltmonopol“ im Sinne eines empirischen<br />

Definitionsmerkmals, wohl aber dagegen,<br />

allein aufgrund des Gewaltmonopols<br />

dem Staat positive Eigenschaften zuzuschreiben.<br />

Materielle Betrachtung des Staates<br />

Was hat das alles mit marxistischer Staatstheorie<br />

zu tun? Es zeigt, warum es notwendig<br />

ist, den Staat kritisch zu hinterfragen.<br />

Wenn allein die Existenz des Gewaltmonopols<br />

den Staat rechtfertigen kann, dann<br />

sind polizeiliche Eingriffsbefugnisse, Gefängnisse<br />

und staatliche Überwachung aus<br />

sich selbst heraus gerechtfertigt. Ist es aber<br />

wirklich so, dass der Staat per se „gut“ ist?<br />

Genau dies hinterfragt marxistische<br />

Staatstheorie.<br />

Karl <strong>Marx</strong> hat selbst keine zusammenhängende<br />

Staatstheorie entwickelt. Bei der<br />

Analyse der kapitalistischen Produktionsweise<br />

hat er aber auch immer wieder Bezug<br />

auf den Staat genommen, aus dem die<br />

Grundzüge <strong>Marx</strong>’ Verständnisses des Staates<br />

gefolgert werden können. <strong>Marx</strong> interpretiert<br />

dabei ausdrücklich nur den kapitalistischen<br />

Staat, der durch die<br />

kapitalistische Produktionsweise geprägt<br />

ist. Vor der Industrialisierung war im Staat<br />

durch das sog. „Lehnswesen“ die politische<br />

und ökonomische Macht nicht getrennt.<br />

Über Lehen und „Frondienste“ 3 wurden<br />

sowohl die landwirtschaftliche Produktion<br />

als auch die politische Macht vermittelt.<br />

Mit dem Beginn der kapitalistischen Produktionsweise<br />

änderte sich dies grundlegend.<br />

4<br />

2 Vgl. Hierzu Bauer, Schmerzgrenze - Vom Ursprung<br />

alltäglicher und globaler Gewalt<br />

3 Persönliche Dienstleistungen von Bauern für ihre<br />

Grundherren (http://de.wikipedia.org/wiki/Frondienste).<br />

4 Hirsch, Materialistische Staatstheorie, 2005,<br />

S. 18 f.<br />

39


Staat als Notwendigkeit<br />

Kennzeichnend für die kapitalistische Produktionsweise<br />

ist das Ausbeutungsverhältnis<br />

zwischen Kapital und Arbeit. Die Ausbeutung<br />

besteht darin, dass sich<br />

Kapitaleigentümer den Mehrwert aneignen,<br />

den ArbeiterInnen durch ihre Arbeit<br />

produzieren. Diese haben mangels Kapital<br />

keine andere Wahl als ihre Arbeitskraft zu<br />

verkaufen. Nach <strong>Marx</strong> setzt dabei der Staat<br />

seine Gewaltmittel ein, „um den Arbeitstag<br />

zu verlängern und den Arbeiter selbst in<br />

normalem Abhängigkeitsgrad zu erhalten.“<br />

5 Der Staat verhindert also, dass sich<br />

die ArbeiterInnen das Eigentum an den<br />

von ihnen produzierten Gütern selbst aneignen.<br />

Dazu schafft er eine Eigentumsordnung,<br />

die er ggf. auch unter Einsatz von<br />

Gewalt (z.B. durch gewaltsame Zwangsvollstreckung)<br />

durchsetzt. Diese Eigentumsordnung<br />

ist deshalb - aus Sicht des<br />

Kapitals - notwendig, weil die kapitalistische<br />

Produktionsweise durch Konkurrenz<br />

funktioniert. Kapitalisten beuten ihre ArbeiterInnen<br />

nicht durch unmittelbare Gewaltanwendung<br />

als Leibeigene aus. Wenn<br />

die ArbeiterInnen aber gegenüber den Kapitalisten<br />

formal frei sind, dann bedarf es<br />

einer dritten Partei, die dafür sorgt, dass die<br />

produzierten Güter den Kapitalisten gehören<br />

- der Staat. Der Staat ist aber auch notwendig,<br />

weil die kapitalistische Produktionsweise<br />

eine Infrastruktur, z.B.<br />

Verkehrswege, Zahlungsmittel usw. erfordert.<br />

Für einen einzelnen Kapitalisten ist es<br />

unwirtschaftlich, diese Infrastruktur zu<br />

schaffen. So existieren formal freie Arbeits-<br />

und Austauschverhältnisse. Nach<br />

<strong>Marx</strong>’ Analyse ist es der Staat, der sicherstellt,<br />

dass sich trotzdem die Kapitalisten<br />

das Eigentum an produzierten Gütern aneignen<br />

können. Er sichert auf diese Weise<br />

den strukturellen Widerspruch zwischen<br />

Kapital und Arbeit ab. Infolgedessen steigt<br />

der Druck auf die Arbeitskräfte. Andreas<br />

Fisahn fasst dies so zusammen: „Die<br />

(Staats)-Gewalt schafft die materiellen Bedingungen<br />

der kapitalistischen Produktion<br />

wie die ideologischen und psychologischen,<br />

sie erzwingt die Disziplinierung der<br />

Arbeit unter die Regelmäßigkeiten der fabrikmäßigen<br />

Produktion.“ 6 Ebenso ist es<br />

Bedingung der kapitalistischen Produktionsweise,<br />

dass die ‘Spielregeln’ des Marktes<br />

eingehalten werden, also zum Beispiel Verträge<br />

auch erfüllt werden. Dass diese<br />

‘Spielregeln’, also der gesetzliche Rahmen<br />

für die Bedingungen des Marktes, eingehalten<br />

werden, ist nicht im Interesse des<br />

einzelnen Kapitalisten, der in ständiger<br />

Konkurrenz zu anderen Kapialisten steht.<br />

Es ist das Interesse der Kapital-Klasse als<br />

ganzes, die aber nicht selbstständig handlungsfähig<br />

ist. Sie braucht eine von ihr unabhängige<br />

Instanz (den Staat), die dafür<br />

sorgt, dass alle die ‘Spielregeln’ einhalten.<br />

Nach dieser Analyse ist der Staat eine Notwendigkeit<br />

zur Absicherung eines gesellschaftlichen<br />

Verhältnisses. Sie kann jedoch<br />

nicht erklären, warum der Staat dieses Verhältnis<br />

absichert.<br />

Staat als Instrument<br />

<strong>Marx</strong> sieht den Staat als Instrument der<br />

herrschenden Klasse. Die herrschende<br />

Klasse, also die Kapitaleigentümer, benötigen<br />

den Staat als neutrale Instanz. Deshalb<br />

schaffen sie diese neutrale Instanz und setzen<br />

ihn nach ihrem Belieben ein: „In dem<br />

Maß, wie der Fortschritt der modernen In-<br />

5 <strong>Marx</strong>, Das Kapital, in: <strong>Marx</strong> Engels Werke<br />

(MEW), Bd. 23, S. 766<br />

6 Fisahn, Herrschaft im Wandel, 2008, S. 95.<br />

40<br />

Staat: Herrschaft? Notwendigkeit? Instrument? Zur Staatstheorie <strong>Marx</strong>’ und marxistischer Staatstheorie <strong>Argumente</strong> 3/20<strong>11</strong>


dustrie des Klassengegensatz zwischen Kapital<br />

und Arbeit entwickelte, erweiterte,<br />

vertiefte, in dem selben Maß erhielt die<br />

Staatsmacht mehr und mehr den Charakter<br />

einer öffentlichen Gewalt zur Unterdrückung<br />

der Arbeiterklasse, einer Maschine<br />

der Klassenherrschaft.“ 7 Staatsgewalt<br />

wird bei <strong>Marx</strong> also ausschließlich<br />

als Mittel der Repression beschrieben. Diese<br />

Analyse erscheint vor dem Hintergrund<br />

der Realität im 19. Jahrhundert auch plausibel.<br />

Aus heutiger Perspektive ist aber die<br />

Ansicht, der Staat arbeite ausschließlich<br />

wie ein Instrument im Interesse der herrschenden<br />

Klasse, deutlich verkürzt. Dass in<br />

einer Demokratie zum Beispiel durchaus<br />

auch Lohnabhängige Einfluss auf die Gestaltung<br />

der Politik haben, kann kaum bestritten<br />

werden. Zudem gibt es zwar - auch<br />

<strong>heute</strong> - zahlreiche repressive Instrumente,<br />

die Herrschaft sichern, der Staat ist jedoch<br />

keinesfalls auf diese Funktion beschränkt. 8<br />

Zudem erscheint es zweifelhaft, den Staat<br />

als Maschine anzusehen und ihm damit<br />

eine Willenlosigkeit zu unterstellen. Vielmehr<br />

zeigt sich immer wieder, dass der<br />

Staat auch durchaus einen ‘eigenen Willen’<br />

entwickelt, also eine Politik im Eigeninteresse,<br />

zum eigenen Machterhalt oder -ausbau<br />

erfolgt. Ausgehend von <strong>Marx</strong>’ Kritik<br />

des Staates haben verschiedene AutorInnen<br />

die Analyse des Staates deshalb weiterentwickelt.<br />

Staat als Kräfteverhältnis<br />

So wendet sich Nicos Poulantzas gegen<br />

die Vorstellung vom Staat als Instrument.<br />

Er sieht den Staat als Organisator eines<br />

Kompromisses zwischen Herrschenden<br />

und Beherrschten: „Der Staat organisiert<br />

und reproduziert die Klassenhegemonie,<br />

indem er einen variablen Kompromißbereich<br />

zwischen herrschenden und beherrschenden<br />

Klassen absteckt, und dabei den<br />

herrschenden Klassen häufig sogar gewisse<br />

kurzfristige materielle Opfer aufzwingt,<br />

um langfristig die Reproduktion ihrer<br />

Herrschaft zu sichern.“ 9 Der Staat sichert<br />

danach durch sozialpolitische Maßnahmen<br />

die Reproduktion der Arbeitskraft ab.<br />

Auch Poulantzas unterscheidet damit auf<br />

Seiten der Kapitalisten zwischen kurzfristigen<br />

Individual- und langfristigen Klasseninteressen<br />

und weist zudem darauf hin,<br />

dass der Staat auch bestimmte Aufgaben<br />

übernimmt, die für einzelne Kapitalisten<br />

zu risikoreich oder mit zu hohen Investitionskosten<br />

verbunden wären. Erst dadurch<br />

(zum Beispiel durch die Organisation der<br />

Energieversorgung) werde die kapitalistische<br />

Produktionsweise vollständig gesichert.<br />

Da er damit also auch gegen die<br />

kurzfristigen Interessen einzelner Kapitalisten<br />

agieren müsse, bedürfe er einer relativen<br />

Autonomie gegenüber diesen Einzelinteressen.<br />

10 Deshalb kann er also gerade<br />

nicht als Instrument betrachtet werden.<br />

Die Autonomie bleibt aber relativ, weil<br />

Kompromisse nur soweit möglich sind, wie<br />

die Interessen der Kapitalklasse noch gewahrt<br />

werden. Der Staat organisiert nach<br />

Poulantzas folglich durch die Schaffung<br />

von Recht und dessen Durchsetzung die<br />

unterschiedlichen Interessen der einzelnen<br />

Kapitalisten. Gleichzeitig schwächt er die<br />

Mitglieder der beherrschten Klassen. Materielle<br />

Zugeständnisse gegenüber der ArbeiterInnen-Klasse<br />

verstärken diesen Prozess,<br />

der schließlich zu einer Normali-<br />

7 <strong>Marx</strong>, Der Bürgerkrieg in Frankreich, in: MEW,<br />

Bd. 17, S. 336<br />

8 Siehe hierzu auch näher Fisahn, Herrschaft im<br />

Wandel, 2008, S. 101 f..<br />

9 Poulantzas, Staatstheorie, 1978, S. 170.<br />

10 Poulantzas, Staatstheorie, 1978, S. 167 ff.<br />

41


sierung und zu bewusster oder unbewusster<br />

Akzeptanz führt. Ebenfalls fördert nach<br />

dieser Sichtweise der Staat durch das von<br />

ihm organisierte Bildungssystem unterschiedliche<br />

Qualifikationsniveaus der Arbeitskräfte,<br />

was ebenfalls zu einer Isolierung<br />

und zu weiteren Interessensgegensätzen<br />

innerhalb der ArbeiterInnen-<br />

Klasse führt. <strong>11</strong><br />

Damit müssen wir aber wieder zur<br />

Ausgangsfrage zurückkommen: Warum sichert<br />

der Staat gerade die Interessen der<br />

herrschenden Klassen ab? Wer den ökonomischen<br />

Produktionsprozess dominiert,<br />

indem er über die Ressourcen, die Arbeitskraft,<br />

die produzierten Gütern und letztlich<br />

den Profit verfügt, hat mehr finanzielle<br />

Ressourcen und mehr Macht. Die<br />

Hierarchie innerhalb staatlicher Strukturen<br />

bewirkt, dass die Besetzung weniger<br />

Posten an der Spitze einen relativ großen<br />

Einfluss bewirkt. Zudem können staatliche<br />

Akteure, also die politischen und exekutiven<br />

Spitzen der Verwaltung, ihr Personal<br />

weitgehend selbstständig, also ohne etwa<br />

den Einfluss des Parlaments, auswählen. So<br />

können sie bewirken, dass die einflussreichen<br />

Positionen von denjenigen besetzt<br />

werden, die die bestehenden Kräfteverhältnisse<br />

nicht grundsätzlich in Frage stellen.<br />

Die Kräfte verfügen über unterschiedliche<br />

Machtpotentiale, die Strukturen reproduzieren<br />

sich dabei immer wieder neu, sodass<br />

Verhältnisse tendenziell fortgeschrieben<br />

werden - aber eben nicht unverändert. Abhängig<br />

von der Organisationsform der<br />

Herrschaft können sie damit relativ mehr<br />

Einfluss auf den - im Prinzip autonomen -<br />

Staat ausüben als die beherrschte ArbeiterInnen-Klasse.<br />

Diese sind aber nicht völlig<br />

ohne Einfluss, insbesondere nicht in der<br />

Staatsform der Demokratie. Auf diese<br />

Weise entstehen auch innerhalb des staatlichen<br />

Apparats Interessengegensätze. Zwischen<br />

den spezialisierten Zweigen des<br />

Staatsapparats, aber auch innerhalb jeder<br />

staatlichen Einheit bestehen widersprüchliche<br />

Interessen. In diesem Sinne bezeichnet<br />

Poulantzas den Staat „[...] als die materielle<br />

Verdichtung eines Kräfteverhältnisses<br />

zwischen Klassen und Klassenfraktionen,<br />

das sich im Staat immer in spezifischer<br />

Form ausdrückt.“ 12 Auf welche<br />

Weise ein Ausgleich zwischen den Interessengegensätzen<br />

vorgenommen wird, hängt<br />

dann von den gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen<br />

ab.<br />

Kräfteverhältnis im Staat<br />

Skepsis gegenüber dem Staat ist also berechtigt.<br />

Aber gerade die Politik eröffnet<br />

Einflussmöglichkeiten für die Gesellschaft.<br />

Hier können - in einer Demokratie<br />

- auch andere Interessen als die des Kapitals<br />

vertreten werden. Der Staat ist also<br />

nicht unabhängig und verselbstständigt<br />

sich von der Gesellschaft. Vielmehr nehmen<br />

Politik und Ökonomie nicht nur<br />

wechselseitig aufeinander Einfluss, sie sind<br />

sogar strukturell verwoben. So werden beispielsweise<br />

die ökonomischen Verhältnisse<br />

durch politische Festlegungen determiniert<br />

(Stichwort: Eigentumsordnung). Gewissermaßen<br />

prägen sich Staat und Ökonomie<br />

dadurch gegenseitig..<br />

Hier konnten nun nicht ansatzweise<br />

alle relevanten Facetten der marxistisch geprägten<br />

Staatstheoriediskussion skizziert<br />

werden. Hierfür muss auf die weiterführende<br />

Literatur verwiesen werden. Es kann<br />

<strong>11</strong> Hirsch, Der Sicherheitsstaat, 1986, S. 81.<br />

12 Poulantzas, Staatstheorie, 1978, S. <strong>11</strong>9.<br />

42<br />

Staat: Herrschaft? Notwendigkeit? Instrument? Zur Staatstheorie <strong>Marx</strong>’ und marxistischer Staatstheorie <strong>Argumente</strong> 3/20<strong>11</strong>


aber nun die Frage beantwortet werden, inwiefern<br />

eine marxistische Kritik des Staates<br />

mit den Forderungen nach einer Stärkung<br />

des Staates zusammenpassen. Der<br />

Staat organisiert Herrschaft und sichert<br />

gesellschaftliche Unterschiede ab. Diese<br />

Funktion des Staates wird deshalb auch<br />

von neoliberaler Seite nicht in Frage gestellt.<br />

Der Staat soll - bitteschön - durchaus<br />

dafür Sorgen, dass Kapital im Eigentum<br />

der Kapitalisten bleibt, dass Schuldner ihren<br />

Zahlungsverpflichtungen nachkommen<br />

usw. Abgebaut werden soll nur, was<br />

nicht dem Kapital, sondern den Menschen<br />

dient. Sozialversicherungen, öffentliche<br />

Daseinsvorsorge, ein öffentliches Bildungssystem<br />

u.v.a.m. sind Errungenschaften,<br />

die den Menschen dienen. Wenn also<br />

über „Sozialabbau“ oder „Privatisierungen“<br />

gestritten wird, dann geht es Verschiebungen<br />

im Kräfteverhältnis des Staates. Es<br />

lohnt sich also, um solche Verschiebungen<br />

zu kämpfen. l<br />

Verwendete, zugleich empfohlene Literatur:<br />

Schöbener/Knauff, Allgemeine Staatslehre, 2009<br />

Bauer, Schmerzgrenze - Vom Ursprung alltäglicher<br />

und globaler Gewalt, 20<strong>11</strong><br />

Hirsch, Materialistische Staatstheorie, 2005<br />

Fisahn, Herrschaft im Wandel, 2008<br />

Poulantzas, Staatstheorie, 1978 und<br />

<strong>Marx</strong>-Engels-Werke.<br />

43


DER WERT DES WERTS<br />

Von Björn Brennecke<br />

Die Aktualität einer politischen Theorie<br />

bemisst sich nach der Fähigkeit<br />

dieser Theorie, Funktionsmechanismen<br />

der Gesellschaft zu erklären und<br />

somit „soziales Handeln deutend verstehen<br />

und dadurch in seinem Ablauf<br />

und seinen Wirkungen ursächlich erklären“<br />

1 zu können. Dabei sollte sich<br />

jede Theorie des Umstandes bewusst<br />

sein, dass sie Funktionsweisen beschreibt,<br />

indem sie Strukturen und<br />

Mechanismen der Gesellschaft operationalisierbar<br />

und dadurch verständlich<br />

macht, um Tiefenstrukturen der<br />

Gesellschaft zu erklären und nicht um<br />

nur ein Abbild der Realität zu schaffen.<br />

Diese Abbildung der Realität könnte<br />

nur erklären, was direkt an der Oberfläche<br />

erscheint und direkt sichtbar ist.<br />

Aufgabe von Gesellschaftstheorie ist<br />

es hingegen, zu erklären, wie die Erscheinung<br />

an der Oberfläche entstanden<br />

ist und in welchem Verhältnis sie<br />

zur Gesellschaft steht.<br />

It’s the economy, stupid!<br />

Die Krise wohlfahrtsstaatlicher Gesellschaftskonzepte<br />

seit den 1990er Jahren hat<br />

- wieder einmal - deutlich gemacht, wie<br />

sehr die Ökonomie unser Leben beeinflusst<br />

und die Gesellschaft beherrscht.<br />

Zwei Jahrzehnte hindurch war der Neoliberalismus<br />

mit seinen Glaubensdogmen<br />

Privatisierung und Deregulierung die einflussreichste<br />

politische Theorie, der nur<br />

Ewiggestrige widersprochen haben, die die<br />

Zeichen der Zeit nicht verstehen wollten.<br />

Mit dem Ende der Geschichte und dem<br />

Sieg des Kapitalismus sollte die Armut von<br />

der Bildfläche der Welt verschwinden und<br />

ein neues Zeitalter anbrechen. Der Kapitalismus<br />

hat - genau wie die liberalen Theoretiker<br />

seit zwei Jahrhunderten versprochen<br />

haben - unvorstellbare Mengen an<br />

Reichtum produziert. Inmitten dieses<br />

Reichtums ist die Armut jedoch geblieben;<br />

sie hat sich sogar ausgeweitet. Der Neoliberalismus<br />

hat stets ein zu viel an staatlicher<br />

Regulierung dafür verantwortlich gemacht.<br />

Auch die aktuelle Wirtschafts- und Finanzkrise<br />

wird den Chor der Neoliberalen<br />

nicht verstummen lassen, die immer noch<br />

Privatisierung und Deregulierung fordern.<br />

Die Glaubwürdigkeit dieser Apologeten<br />

des freien Marktes mag - zusammen mit<br />

dem Wert griechischer Staatsanleihen -<br />

dahingeschmolzen sein; an der politischen<br />

und gesellschaftlichen Praxis hat sich<br />

nichts geändert. Die Finanzkrise zeigt nur<br />

um so deutlicher die Abhängigkeit ganzer<br />

Staaten von den Transaktionen an den Finanzmärkten.<br />

Die Folge ist, dass - wie aktuell<br />

in Griechenland - allein die Ankündigung<br />

von Volksabstimmungen von „den<br />

Märkten“ derart abgestraft wird, dass man<br />

sich fragen kann, ob sich unsere Marktwirtschaft<br />

die Demokratie noch leisten<br />

kann.<br />

1 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen<br />

1922, S. 1.<br />

44


Auf der anderen Seite fürchten sich<br />

ganze Konzerne davor, die Konsumenten<br />

könnten realisieren, unter welchen Bedingungen<br />

die Waren produziert wurden, mit<br />

denen sich der postpolitische Mensch seine<br />

Identität zusammenkauft. Die Kunden<br />

würden sich angewidert der Konkurrenz<br />

zuwenden. Schnell wird in so einem Fall<br />

der politisch korrekte Starbucks-Kaffee geboren,<br />

von dessen Kaufpreis ein geringer<br />

Betrag dafür abgezweigt wird, die Folgen<br />

ausufernden, kapitalistischen Wirtschaftens<br />

zu beseitigen. Selbstverständlich ist jeder<br />

Cent, den Kaffeebäuerinnen und Kaffebauern<br />

zusätzlich einnehmen, zu<br />

begrüßen. Niemand sollte aber glauben,<br />

damit würde sich irgendetwas substantiell<br />

ändern. Mit marktwirtschaftlichen Mitteln<br />

können die Folgen der Marktwirtschaft<br />

nicht ausgeglichen, mit Bio-Bananen das<br />

Klima nicht gerettet, mit dem Belzebub<br />

der Teufel nicht ausgetrieben werden. Einen<br />

Kapitalismus mit menschlichem Antlitz<br />

wird es nicht geben - auch wenn versucht<br />

wird, die Menschlichkeit in die<br />

Verpackung der Ware zu integrieren.<br />

Zurück zu <strong>Marx</strong><br />

Alle diese Beschreibungen - so zutreffend<br />

sie sein mögen - begnügen sich jedoch damit,<br />

an der Oberfläche zu kratzen. Sie stellen<br />

fest, dass die Ökonomie unser Leben<br />

beeinflusst, sagen jedoch nicht warum. Sie<br />

stellen fest, dass wirtschaftliche Erwägungen<br />

wichtiger erscheinen als demokratische<br />

Entscheidungsprozesse, sagen jedoch<br />

nicht, wie es dazu kommen kann. Dabei ist<br />

eigentlich klar, dass der Reichtum - genau<br />

wie die Armut, die Ungerechtigkeit und<br />

die Krisen - bevor er überhaupt privat angeeignet<br />

werden kann, vorher gesellschaftlich<br />

produziert werden muss.<br />

Um diesen Schleier zu lüften, gilt es<br />

hinab zu steigen in den gesellschaftlichen<br />

Keller der Produktion, indem uns die von<br />

John Locke und William Petty entdeckte,<br />

von Adam Smith und David Ricardo formulierte<br />

und von Karl <strong>Marx</strong> zum zentralen<br />

Analyseinstrument verfeinerte und weiterentwickelte<br />

Arbeitswerttheorie erwartet. 2<br />

Erst hiermit ist es möglich, die Arbeit und<br />

die Produktion in den Mittelpunkt der<br />

Analyse und Kritik zu stellen und die Tiefenstrukturen<br />

kapitalistischer Herrschaft<br />

zu entwirren.<br />

Die Kritik an der marxistischen Werttheorie<br />

- dass Marktpreise letztlich durch<br />

Arbeitswerte bestimmt werden - besteht<br />

wiederum darin, die Werttheorie sei an der<br />

Realität nicht überprüfbar. Diese Kritik hat<br />

sich an der Umwandlung der von <strong>Marx</strong><br />

verwendeten „Werte“, die sich über die gesellschaftlich<br />

notwendige Arbeitszeit begründen,<br />

in „Preise“, die am Markt gehandelt<br />

werden, entzündet. <strong>Marx</strong> selbst hat im<br />

Kapital versucht, diese Wert-Preis-Transformation<br />

zu errechnen, konnte dies jedoch<br />

nicht erfolgreich zu Ende führen. Auf diesen<br />

Umstand kann man nun auf vier Wegen<br />

reagieren.<br />

Zentralität des Marktes<br />

Erstens kann man sich dogmatisch an den<br />

Wortlaut der marxschen Texte klammern<br />

und die Differenzen bei einer Transformation<br />

der Werte in Preise - genau wie die<br />

neoliberale Theorie - mit marktverzerrenden<br />

Effekten und komplizierten gesellschaftlichen<br />

Strukturen erklären, um so die<br />

2 Die Arbeitswerttheorie soll hier nicht im Einzelnen<br />

erklärt werden. Eine Suche bei Wikipedia<br />

sollte jeder/jedem Interessierten genug Material<br />

zum nach- und weiterlesen bringen.<br />

45


marxsche Theorie zu retten, obwohl sie einer<br />

Überprüfung an der Realität nicht<br />

stand hält. Dieser Weg würde jedoch der<br />

von <strong>Marx</strong> selbst aufgestellten Definition<br />

von Ideologie entsprechen - der eines notwendig<br />

falschen Bewusstseins. Gibt man<br />

den Wertbegriff hingegen auf, so bleibt die<br />

Bedeutung der Arbeit in der marxschen<br />

Analyse zwar anscheinend ein zentrales<br />

Element, weil die Arbeit die gesellschaftliche<br />

Welt konstituiert und die Quelle allen<br />

Reichtums bleibt, als zentraler Anknüpfungspunkt<br />

für Kritik wird sie allerdings<br />

aufgegeben. Kritisiert werden dann noch<br />

die konkrete Ausgestaltung der Arbeit -<br />

die Ausbeutung - und die private Aneignung<br />

des erwirtschafteten Gewinns - die<br />

Verteilung des Reichtums. Eine derartige<br />

Kritik, die sich auf moralische Kategorien<br />

(ungerechte Ausbeutung) oder reine Verteilungsfragen<br />

(private Aneignung gesellschaftlich<br />

erwirtschafteten Gewinns) begrenzt,<br />

kann wiederum die Tiefenstrukturen<br />

kapitalistischer Herrschaft nicht mehr<br />

erfassen und muss sich auf das Konstatieren<br />

von Ungerechtigkeiten beschränken.<br />

Ging es den liberalen Klassikern noch<br />

darum, die Ursachen der Wertschöpfung<br />

und Kapitalakkumulation zu erklären, um<br />

die Vorteile kapitalistischer gegenüber feudaler<br />

Produktionsweise darzustellen, ändert<br />

sich dieses Paradigma in den Neoklassischen<br />

Darstellungen. Der Bezugspunkt<br />

der Theorie wandelt sich von der Produktionsspähre<br />

und einer daraus folgenden objektiv<br />

orientierten Arbeitswerttheorie hin<br />

zur Zirkulationssphäre als Bezugspunkt<br />

und einer am subjektiven Nutzen orientierten<br />

Theorie der Preisbildung. Ging es den<br />

Klassikern darum, progressiv die Vorteile<br />

bürgerlicher Gesellschaften gegenüber feudalen<br />

Strukturen darzustellen, geht es der<br />

konservativen Neoklassik um die Verteidigung<br />

der bürgerlichen Gesellschaft gegen<br />

die Macht und Einfluss gewinnende organisierte<br />

Arbeiterbewegung. Für die Neoricardianer<br />

3 hingegen ist die Verwendung<br />

gesellschaftlich bestimmter Werte ein unnötiger<br />

Umweg. Sie gehen direkt von den<br />

Produktionspreisen aus, um das Transformationsproblem<br />

zu umgehen, die Produktion<br />

des Profits nachzuvollziehen und die<br />

marxistische Werttheorie samt aller normativen,<br />

gesellschaftskritischen Implikationen<br />

somit für überflüssig zu erklären.<br />

Diesen zweiten Weg sind weite Teile der<br />

Wissenschaft und Politik gegangen.<br />

Zentralität der Arbeit<br />

Nils Fröhlich 4 hingegen geht, als Reaktion<br />

auf die Neoricardianer und zur Kritik derselben,<br />

nicht von der Frage aus, ob man aus<br />

den Werten die Preise ableiten kann. Er<br />

geht den umgekehrten Weg. Hierbei wird<br />

die Werttheorie in aktualisierter Fassung<br />

auf konkretes statistisches Material angewendet,<br />

um zu sehen, ob sich ein signifikanter<br />

Unterschied zu den Ergebnissen der<br />

Neoricardianer ergibt, die mit Produktionspreisen<br />

rechnen. Somit soll geklärt werden,<br />

welche Relevanz das theoretische<br />

Transformationsproblem empirisch überhaupt<br />

hat. Fröhlich weist nach, dass der<br />

Unterschied im Ergebnis vernachlässigbar<br />

ist. Geht es also nur um das Errechnen der<br />

wirtschaftlichen Vorgänge, kommen beide<br />

Theorien zu einem vergleichbaren Ergebnis.<br />

Die Arbeitswerttheorie ist aber - wie<br />

Fröhlich nachweist - weniger komplex und<br />

3 Eine Übersicht zu diesem Ansatz findet sich bei<br />

H.D. Kurz und N. Salvadori, Theory of Production,<br />

Cambridge 1997.<br />

4 Nils Fröhlich, Die Aktualität der Arbeitswerttheorie,<br />

Theoretische und empirische Aspekte,<br />

Marburg 2009.<br />

46<br />

Der Wert des Werts <strong>Argumente</strong> 3/20<strong>11</strong>


leichter zu berechnen. Die Beschränktheit<br />

unpolitischer Ökonomie kann somit einerseits<br />

empirisch überwunden werden; andererseits<br />

können mit einer kritischen Gesellschaftstheorie<br />

weiterhin gesamtgesellschaftliche<br />

Strukturen in den Blick<br />

genommen werden. Der Anspruch, den<br />

<strong>Marx</strong> schon in seinen berühmten Thesen<br />

über Feuerbach formuliert hat, die Welt<br />

nicht nur zu erklären sondern sie zu verändern,<br />

kann nur eine kritische Theorie der<br />

Gesellschaft aufrechterhalten.<br />

Zur Darstellung der vierten Variante<br />

soll hier die Neuinterpretation der<br />

marxschen Theorie von Moishe Postone<br />

herangezogen werden. Postone geht vom<br />

marxschen Spätwerk aus und beschreibt<br />

den <strong>Marx</strong>ismus als eine Kritik der Arbeit<br />

im Kapitalismus. 5 Entscheidend für Postone<br />

ist der Doppelcharakter der warenproduzierenden<br />

Arbeit - die Unterscheidung<br />

zwischen konkreter Arbeit, die stofflichen<br />

Reichtum produziert und abstrakter Arbeit,<br />

die Wert produziert. Konkrete, stofflichen<br />

Reichtum produzierende Arbeit kann<br />

gemessen und errechnet werden. Abstrakte<br />

Arbeit hingegen bezieht sich auf die gesellschaftlich<br />

notwendige Arbeitszeit und beschreibt<br />

die Abhängigkeit des Individuums<br />

von gesellschaftlichen Verhältnissen - von<br />

der Tiefenstruktur des Kapitalismus. Die<br />

Bestimmung des Werts soll demnach explizit<br />

keine empirische Kategorie sein, sondern<br />

ein gesellschaftliches Herrschaftsverhältnis<br />

ausdrücken. Das Problem einer<br />

mathematischen Transformation der Werte<br />

in Preise stellt sich somit für Postone nicht<br />

mehr.<br />

In den bürgerlichen Revolutionen ist es<br />

den Menschen gelungen, sich verbriefte<br />

Rechte gegenüber dem Staat zu sichern<br />

und eine Gemeinschaft politisch gleicher<br />

und freier Menschen zu schaffen - einen<br />

Staat, der relativ frei von direkten, persönlichen<br />

Herrschaftsverhältnissen ist. Dieser<br />

Freiheit auf der einen Seite, steht auf der<br />

anderen Seite die Herrschaft durch gesellschaftliche<br />

Verhältnisse gegenüber. Diese<br />

Herrschaft zeigt sich in der wertproduzierenden<br />

abstrakten Arbeit. Die Rolle der<br />

Arbeit im Kapitalismus stellt hier eine historisch<br />

spezifische Form abstrakter Herrschaft<br />

dar, die es nicht nur zu analysieren,<br />

sondern vor allem zu kritisieren gilt. Postone<br />

geht es also um eine Analyse der gesellschaftlichen<br />

Herrschaft durch eine Kritik<br />

der wertproduzierenden abstrakten Arbeit.<br />

Der Markt ist dabei nur das Mittel, um die<br />

produzierten Werte zu realisieren, weil ein<br />

Produkt selbstverständlich verkauft werden<br />

muss, um Profit zu bringen. Die Werttheorie<br />

ist das Mittel, um diese Oberfläche zu<br />

durchdringen und die darunter verborgene<br />

Herrschaftsstruktur offen zu legen. Die<br />

entscheidende Erkenntnis an dieser Kritik<br />

der Arbeit im Kapitalismus ist - gegenüber<br />

einer Kritik, die sich bloß auf den Standpunkt<br />

der Arbeit stellt und die Arbeit<br />

selbst von der Kritik ausnimmt -, dass<br />

Herrschaft im Kapitalismus strukturell<br />

vermittelt wird.<br />

Ein <strong>Marx</strong>ismus ohne Klassentheorie ist<br />

denkbar, teilweise sogar nötig, um die sehr<br />

grobe Einteilung in Klassen zu differenzieren<br />

und die Probleme der modernen Welt<br />

analysieren und erfassen zu können. Ein<br />

<strong>Marx</strong>ismus ohne Werttheorie hingegen<br />

beraubt den <strong>Marx</strong>ismus seiner schärfsten<br />

Klinge und dient allein denjenigen als Beruhigungspille,<br />

die ihre Augen verschlossen<br />

halten wollen, um sich gemütlich im kapitalistischen<br />

System einzurichten. l<br />

5 Moishe Postone, Zeit, Arbeit und gesellschaftliche<br />

Herrschaft, Eine neue Interpretation der kritischen<br />

Theorie von <strong>Marx</strong>, Freiburg 2003.<br />

47


DIE WEITERENTWICK-<br />

LUNG ZUM KAPITAL 1<br />

Von Tobias Gombert<br />

I. Kernpunkte des Kapitals<br />

(MEW 23-25)<br />

Das bekannteste und wohl auch wirksamste<br />

Werk von <strong>Marx</strong> ist weiterhin<br />

das Kapital, das in den Jahren 1867ff.<br />

erstmalig erschienen ist. Es ist eine kritische<br />

Auseinandersetzung mit den<br />

existierenden zeitgenössischen ökonomischen<br />

Theorien, wie sie sich aus<br />

der buürgerlichen Philosophie ergeben<br />

haben. Ich habe mich in diesem<br />

Teil zum Kapital entschlossen, nur einen<br />

kleinen Ausschnitt zu behandeln:<br />

Die historische Herleitung des Kapitals<br />

soll in diesem Skript vernachlässigt<br />

werden. Es geht hier lediglich darum,<br />

einen groben Überblick über die generelle<br />

Systematik und Argumentationslinien<br />

zu geben und vor allem die<br />

Grundzüge des Produktionsprozesses<br />

in den Vordergrund zu stellen. Die<br />

Lektüre des Originals, die sich immer<br />

lohnt, soll dadurch ein wenig erleichtert<br />

werden. Also keine abschließende<br />

Zusammenfassung, sondern eine Hilfe,<br />

in die Lektüre des Originals einzusteigen.<br />

Schon der Titel des 3-bändigen Werkes<br />

spricht Bände: Das Kapital. Kritik der politischen<br />

Ökonomie.<br />

Das Kapital: Es handelt sich um eine<br />

Abhandlung, die nicht generell alle<br />

Wirtschaftsformen klären will, sondern<br />

historisch an einer geschichtlichen Formation<br />

ansetzt, nämlich dem damals<br />

zeitgenössischen Kapitalismus. Ohne<br />

bereits näher auf die <strong>Marx</strong>sche Theorie<br />

einzugehen, könnte man Kapital als das<br />

bezeichnen, was man für die Produktion<br />

von Waren einsetzt und was durch<br />

den Produktions- und Distributions-<br />

/Zirkulationsprozess vergrößert werden<br />

soll. Dieses Kapital scheint die charakteristische<br />

Kategorie dieser Zeit zu<br />

sein.<br />

Ökonomie: Das Wort kommt aus dem<br />

Griechischen und setzt sich aus dem<br />

Wort für »Haus« (oikos) und »Gesetz /<br />

Wort« (nomos) zusammen. Im weitesten<br />

Sinne umfasst es die gesamte Lebenserhaltung<br />

und Form, wie gelebt,<br />

1 Der Text ist ein Nachdruck der Kapitel 5 und 6<br />

aus „Einstieg in die marxistische Denkweise“ von<br />

Tobias Gombert / Juso-Landesverband NRW,<br />

2005<br />

48


gearbeitet und gewirtschaftet wird und<br />

nach welchen »Gesetzen« dies geschieht.<br />

Anders als in unserem heutigen<br />

modernen Denken kann es sich dabei<br />

durchaus um Naturgesetze handeln, das<br />

heißt Regeln, die göttlich oder durch<br />

die Natur festgelegt seien. Drei wesentliche<br />

Aspekte menschlicher Existenz<br />

sind damit aber ebenfalls genannt: Naturaneignung,<br />

Arbeit und Herrschaft.<br />

Der herausragende Theoretiker dieser<br />

»Hauswirtschaft«, die zugleich auf den<br />

Staat als »große Hauswirtschaft«, übertragen<br />

wurde, war in der griechischen Antike<br />

Aristoteles: »Nachdem nun klar geworden<br />

ist, aus welchen Teilen der Staat besteht,<br />

müssen wir nächst über die Hausverwaltung<br />

(oikonomía) sprechen, denn die Häuser<br />

(oikía) sind ja eben jene Bestandteile<br />

des Staates.« (Aristoteles 1994: 48) In der<br />

Folge beschreibt er, dass das Verhältnis von<br />

Herr und Sklave ein »natürliches« Herrschaftsverhältnis<br />

sei, wenn die Versklavung<br />

in einem »gerechten Krieg« zustande gekommen<br />

sei und der Sklave dann nicht<br />

mehr als ein »lebendiges Werkzeug« sei.<br />

Solche »natürlichen Begründungen« für<br />

Herrschaftsverhältnisse und wirtschaftliche<br />

Ausbeutung waren zwar schon in der<br />

griechischen Antik nicht unumstritten, haben<br />

aber in der Folgezeit gewirkt.<br />

Politische Ökonomie: Erst der Zusatz,<br />

dass es sich um eine politische Ökonomie<br />

handele, macht deutlich, dass es um<br />

die gesellschaftliche Organisationsform<br />

des Zusammenlebens geht und eben<br />

nicht um eine einmal vorgegebene<br />

göttliche oder natürliche Ordnung. Zudem<br />

wird der Gegenstandsbereich ausgeweitet:<br />

Während die Hausgemeinschaft<br />

letztendlich eine »Familienwirtschaft«<br />

darstellt, wird diese nun auf die<br />

»große Gemeinschaft« übertragen. Es<br />

wird somit zunächst unterstellt, dass die<br />

Gesellschaft nichts anderes sei als eine<br />

große Familie. Und genau diese Argumentation<br />

haben viele bürgerliche Geschichtsphilosophen<br />

in unterschiedlichen<br />

Formen vertreten. Vor allem unter<br />

den liberalen Philosophen des 18. Jahrhunderts<br />

war diese Argumentationsweise<br />

durchaus verbreitet.<br />

Kritik der politischen Ökonomie: In<br />

der <strong>Marx</strong>schen Interpretation kann es<br />

offensichtlich um diese Form der Lebens-<br />

und Wirtschaftstheorie nicht gehen,<br />

aber sie muss sie dennoch ernst<br />

nehmen und ihr argumentativ etwas<br />

entgegensetzen. Eine einfache Ablehnung<br />

reicht offensichtlich nicht aus,<br />

sondern erst eine dialektische Arbeitsweise,<br />

die liberale Theorie »von dem<br />

Kopf auf die Füße stellt«, kann eine<br />

neue Theorie begründen. <strong>Marx</strong> und<br />

Engels haben dann auch - wie kaum<br />

Wissenschaftler vor ihnen (und wohl<br />

auch nach ihnen) - die Theorien des 18.<br />

und 19. Jahrhunderts gekannt und argumentativ<br />

»gegengehalten«.<br />

A) Der ungewöhnliche Ausgangspunkt:<br />

Der erste Satz des Kapitals<br />

»Der Reichtum der Gesellschaften, in<br />

welchen kapitalistische Produktionsweise<br />

herrscht,<br />

erscheint als eine »ungeheure Warensammlung«,<br />

die einzelne Ware als seine<br />

Elementarform«<br />

(<strong>Marx</strong>/Engels 1998: 49)<br />

<strong>Marx</strong> beginnt ungewöhnlich. Nicht etwa<br />

die Ausbeutung, Not und Elend der Arbei-<br />

49


terinnen, der Arbeiter und ihrer Kinder,<br />

nicht die Beschreibung von Fabriken oder<br />

Bergwerken, von Heizöfen oder Dampfloks,<br />

Werften oder Landwirtschaft sind das<br />

erste Thema und der Ausgangspunkt für<br />

die ökonomische Analyse. Er beginnt mit<br />

etwas, was man für selbstverständlich oder<br />

nebensächlich halten mag: Mit der Ware.<br />

Dabei muss man sich klar machen, dass der<br />

erste Band des Kapitals zu keinem Zeitpunkt<br />

geschrieben worden ist, wo die »ungeheure<br />

Warensammlung« für alle fassbar<br />

gewesen wäre. Heute gehen wir in den Supermarkt<br />

um die Ecke und können einen<br />

verschwindend kleinen Teil dieser ungeheuren<br />

Warensammlung in Augenschein<br />

nehmen. 1867 hingegen war die Lebensrealität<br />

der meisten Menschen zwar von<br />

der ungeheuren Warensammlung mittelbar<br />

bestimmt und gleichzeitig waren die meisten<br />

Menschen von ihr ausgeschlossen.<br />

Dennoch gibt <strong>Marx</strong> eine wesentliche<br />

Stimmung der gesellschaftlichen Prosperität<br />

(Wohlstand; 86 wirtschaftlicher Aufschwung)<br />

wieder: »Die ökonomische Signatur<br />

der zweieinhalb Jahrzehnte<br />

zwischen 1850 und 1873/75 ist eindeutig<br />

zu erkennen: Alle Zeichen standen auf<br />

Hochkonjunktur. Das trifft einmal auf die<br />

Agrarwirtschaft zu, die von 1848 bis 1875<br />

die zweite Phase ihrer »Goldenen Jahre«<br />

seit 1826 durchlief. [...] Das positive Urteil<br />

gilt, zum zweiten, für die Industriewirtschaft,<br />

die - von nur einer ernsthaften Krise<br />

kurz unterbrochen - dank der Hochkonjunktur<br />

der deutschen Industriellen<br />

Revolution einen beispiellosen Aufschwung<br />

erfuhr.« (Wehler 1995: 38) Der<br />

Agrarkapitalismus und die Industrielle Revolution<br />

schienen einen immensen Fortschritt,<br />

einen gesellschaftlichen Reichtum<br />

zu produzieren, der unermesslich und auch<br />

ungefährdet schien. Insofern fängt <strong>Marx</strong><br />

eine Stimmung ein, die sich in den Folgejahren<br />

noch weiter verstärken sollte, erliegt<br />

ihr aber nicht. Denn <strong>Marx</strong> benennt schon<br />

im ersten Band des Kapitals die Krisenhaftigkeit<br />

des Kapitalismus. Und tatsächlich<br />

folgte die Krise auf den Fuß: »Aus dem<br />

trügerischen Gefühl permanenter Prosperität<br />

wurde sie (die Landwirtschaft) jedoch<br />

seit Mitte der siebziger Jahre jäh herausgerissen,<br />

als der Zusammenbruch des europäischen<br />

Agrarmarkts eine im Grunde bis<br />

<strong>heute</strong> anhaltende strukturelle Dauerkrise<br />

auslöste. [...] Die Trendperiode gipfelte in<br />

dem überschäumenden Boom der sogenannten<br />

»Gründerjahre“ von 1866 bis<br />

1873, ehe mit der Weltwirtschaftskrise von<br />

1873 und der sich anschließenden, völlig<br />

unerwarteten sechsjährigen Depression<br />

eine traumatische Zäsur folgte.« (Wehler<br />

1995: 38) Die »ungeheure Warensammlung«,<br />

der Reichtum der Gesellschaft war<br />

also durchaus eine gesellschaftliche Erfahrung.<br />

Aber <strong>Marx</strong> schließt sich der Euphorie<br />

nicht an.<br />

Auch bei diesem ungewöhnlichen Auftakt<br />

der Analyse lohnt es sich nämlich genau zu<br />

lesen: »Der Reichtum der Gesellschaften<br />

[...] erscheint als eine »ungeheure Warensammlung«.<br />

Warum »erscheint« der Reichtum<br />

nur als »ungeheure Warensammlung«,<br />

warum ist er keine? Die Formulierung enthält<br />

bereits zwei wesentliche Argumentationen<br />

der <strong>Marx</strong>schen Konzeption:<br />

1. »Erscheinen« hängt immer von dem<br />

Betrachter ab. Ihm oder ihr »erscheint«<br />

die Anhäufung (Akkumulation) der<br />

Waren als ungeheuer. Mit anderen<br />

Worten: Der Betrachter interpretiert<br />

die Warensammlung und etikettiert sie<br />

als »ungeheuer«. Diese Interpretation<br />

50<br />

Die Weiterentwicklung zum Kapital <strong>Argumente</strong> 3/20<strong>11</strong>


kann man kritisch untersuchen.<br />

2. Das Wort »ungeheuer« zeigt, dass<br />

sich der Betrachter, der interpretiert,<br />

sich einem Phänomen gegenüber sieht,<br />

das über seinen Verstand hinausgeht.<br />

»Ungeheuer« wirkt zumeist etwas auf<br />

den Betrachter, wenn es groß, übernatürlich,<br />

unfassbar und unveränderbar<br />

ist. Der Betrachter wäre der »ungeheuren<br />

Warensammlung« dann einfach<br />

ausgeliefert, die quasi als eine Art eigenständiges<br />

Lebewesen erscheint, das<br />

gefährlich, aber auch sehr hilfreich sein<br />

kann. Die ungeheure Warensammlung<br />

deutet aber auch auf die Macht der<br />

Wirtschaft hin.<br />

Diese Argumentation mag für uns <strong>heute</strong><br />

ungewöhnlich klingen, doch sie ist nicht<br />

aus der Luft gegriffen: Adam Smith, einer<br />

der einflussreichsten Ökonomen des 18.<br />

Jahrhunderts, hatte in seinem bekanntesten<br />

Werk von der »unsichtbaren Hand des<br />

Marktes« gesprochen, die nahezu von selbst<br />

Wohlstand und Reichtum für alle Nationen<br />

bringe. Nun sollte man Smith nicht Unrecht<br />

tun: Seine Konzeption ist durchaus<br />

vielschichtig und weitsichtig. Dennoch war<br />

das »Ungeheure« an der Warensammlung<br />

durchaus eine wirkungsmächtige Argumentation.<br />

Als ein besonders pointiertes<br />

Beispiel, welches Eigenleben der Wirtschaft<br />

und der »ungeheuren« Warensammlung<br />

zugerechnet wurde, lässt sich an einem<br />

Textausschnitt von Immanuel Kant illustrieren:<br />

»Man könnte fragen: Wenn die<br />

Natur gewollt hat, diese Eisküsten sollten<br />

unbewohnt bleiben, was wir aus ihren Bewohnern<br />

wenn sie ihnen dereinst (wie zu<br />

erwarten ist) kein Treibholz mehr zuführte?<br />

Denn es ist zu glauben, daß bei fortrückender<br />

Cultur die Einsassen der temperirten<br />

Erdstriche das Holz, was an den Ufern ihrer<br />

Ströme wächst, besser benutzen, es nicht in<br />

die Ströme fallen und so in die See wegschwemmen<br />

lassen werden. Ich antworte:<br />

Die Anwohner des Obstroms, des Jenissei,<br />

des Lena u.s.w. werden es ihnen durch Handel<br />

zuführen und dafür die Producte aus dem<br />

Thierreich, woran das Meer an den Eisküsten<br />

so reich ist, einhandeln, wenn sie (die<br />

Natur) nur allererst den Frieden unter ihnen<br />

erzwungen haben wird.« (Kant 1968a: 364)<br />

Der Handel werde also den Frieden sichern<br />

und die ungeheure Warensammlung kann<br />

sich weiter entwickeln und ihre ungeheure<br />

gesellschaftliche Wirkung entfalten.<br />

3. Für <strong>Marx</strong> ist entscheidend, dass er<br />

widerspricht, wenn es darum geht, dass<br />

die Warensammlung ungeheuer sei: Sie<br />

ist interpretierbar und sie ist steuerbar<br />

und von Menschen gemacht. Wenn er<br />

im Folgenden eine einzelne Ware herausgreift,<br />

die Elementarform der Warensammlung,<br />

dann soll das zum Verständnis<br />

der gesellschaftlichen<br />

Anhäufung (Akkumulation) der Waren<br />

führen. Er will zunächst die »Elementarform«<br />

untersuchen, wie in der Chemie<br />

kein Chaos herrscht, sondern<br />

Wechselwirkungen von Elementen die<br />

Vielfalt an Stoffen und Stoffreaktionen<br />

erklären kann und es ermöglicht, chemische<br />

Prozesse zu steuern.<br />

4. Die Untersuchung der »ungeheuren<br />

Warensammlung« ist auf eine Phase in<br />

der Geschichte begrenzt: Den Kapitalismus.<br />

Der Kapitalismus ist - das deutet<br />

sich hier schon an - eine Art und<br />

Weise, wie Natur gesellschaftlich organisiert<br />

wird. Sie setzt sich deutlich<br />

von anderen Organisationsformen (wie<br />

z. B. die mittelalterliche Lehenswirtschaft)<br />

ab.<br />

51


Der erste Satz des Kapitals enthält bereits<br />

wesentliche Weichenstellungen für die<br />

Analyse: Die kapitalistische Wirtschaft<br />

scheint von einem unübersichtlichen Warenmarkt<br />

geprägt zu sein, aber er kann analysiert<br />

werden. Dazu muss anhand der<br />

»Elementarform« vorgegangen werden.<br />

B) Wie ist die Ware bestimmt?<br />

Zunächst ist eine Ware ganz einfach zu bestimmen:<br />

Sie ist (zunächst) ein bestimmtes<br />

Ding. Dinge kann man zunächst physikalisch<br />

beschreiben: Sie haben eine Ausdehnung,<br />

besondere Eigenschaften und Beschaffenheiten,<br />

sie haben Qualitäten und<br />

Quantitäten. Dinge sind der Inhalt des gesellschaftlichen<br />

Reichtums. Dinge können<br />

einen Gebrauchswert für den Menschen<br />

haben, dann sind sie nützlich. Soweit handelt<br />

es sich lediglich um Definitionen, denen<br />

kaum jemand widersprechen würde.<br />

Es entspricht unserer Alltagserfahrung.<br />

Doch wie unterscheidet sich ein Ding<br />

von der Ware? Eine Ware ist eine gesellschaftliche<br />

Form nützlicher Dinge. Ein<br />

Ding muss also, um Ware zu sein, noch<br />

weitere Bedingungen erfüllen:<br />

1. Ein Ding kann nur zur Ware werden,<br />

wenn es gesellschaftlich und individuell<br />

zur Bedürfnisbefriedigung<br />

benötigt wird. Ein Ding ohne Gebrauchswert<br />

wäre eine Ware, die man<br />

nicht tauschen könnte. Diese Voraussetzung<br />

kann leicht angegriffen werden:<br />

Denn was ist schon gesellschaftlich<br />

notwendig? Ist eine CD von<br />

Daniel Küblböck wirklich notwendig?<br />

Ist einen Computer zu besitzen wirklich<br />

notwendig? Ist ein modernes<br />

Kunstwerk zu besitzen wirklich notwendig?<br />

Anders als das bei einigen Philosophen<br />

des 18. Jahrhunderts war, ist<br />

diese Form von normativer »Kulturkritik«<br />

nicht gemeint. Ob es sich um natürliche<br />

oder künstlic geschaffene Bedürfnisse<br />

handelt, ist für die<br />

Argumentation, ob ein Ding zur Ware<br />

werden kann gänzlich unerheblich.<br />

Der bekannteste Kritiker künstlicher<br />

Bedürfnisse, die lediglich gesellschaftlich<br />

geschaffen und abzulehnen seien,<br />

war im 18. Jahrhundert Jean-Jacques<br />

Rousseau. Er sieht mit dem Luxus auch<br />

die Unfreiheit der Menschen und die<br />

Ungleichheit unter den Menschen weiter<br />

wachsen: »Es ist leicht zu sehen, daß<br />

der Ackerbau seiner Natur nach die am<br />

wenigsten einträgliche von allen Künsten<br />

sein muß, weil der Gebrauch seines<br />

Erzeugnisses allen Menschen am unentbehrlichsten<br />

ist und dessen Preis daher<br />

nach den Fähigkeiten der Ärmsten<br />

bemessen sein muß. Aus demselben<br />

Prinzip kann man diese Regel herleiten:<br />

Im allgemeinen sind die Künste im<br />

umgekehrten Verhältnis zu ihrer Nützlichkeit<br />

einträglich und die notwendigsten<br />

müssen schließlich zu den am meisten<br />

vernachlässigten werden.«<br />

(Rousseau 1997: 315) Seine Antwort<br />

ist dann auch der Versuch, den Luxus<br />

und die Entwicklung eines industriellen<br />

Sektors und die Anhäufung von<br />

Waren zu verlangsamen oder zu verhindern<br />

und die Menschen so zu erziehen,<br />

dass sie nur ihre natürlichen Bedürfnisse<br />

gesellschaftlich befriedigen.<br />

Rousseau hat so analytisch im 18. Jahrhundert<br />

einige wesentliche Punkte genannt,<br />

die auch <strong>Marx</strong> in seine Konzeption<br />

aufnimmt, bleibt aber mit seiner<br />

wenig am Fortschritt orientierten Position<br />

hinter <strong>Marx</strong> zurück.<br />

52<br />

Die Weiterentwicklung zum Kapital <strong>Argumente</strong> 3/20<strong>11</strong>


2. Waren setzen einen Markt voraus,<br />

auf dem unterschiedliche Waren getauscht<br />

werden. Nur wenn mehrere<br />

Händler jeweils für sie nicht, aber für<br />

andere nützliche Dinge wechselseitig<br />

tauschen wollen, kann man von Dingen<br />

als Waren sprechen.<br />

3. Waren müssen vergleichbar sein,<br />

sonst könnten sie nicht getauscht<br />

werden. Sie müssen also eine Eigenschaft<br />

haben, die sie gemeinsam haben<br />

und die zugleich relativ sein muss. Waren<br />

müssen also bestimmte Werte haben,<br />

durch die sie vergleichbar und dadurch<br />

tauschbar werden.<br />

C) Wie kommt der Wert in die Ware?<br />

Wenn Waren vergleichbar sein müssen,<br />

um getauscht werden zu können, braucht<br />

man etwas, was in der Ware steckt, eine<br />

gemeinsame Eigenschaft aller Waren.<br />

Physikalische Eigenschaften eignen sich<br />

dazu offensichtlich nicht. Wie könnte man<br />

sonst die Küblböck- CD gegen ein Brot<br />

tauschen? In beides - Brot und Küblböck-<br />

CD - ist Arbeit gesteckt worden und das<br />

bezeichnet <strong>Marx</strong> als das Gemeinsame aller<br />

Waren. Die in eine bestimmte Ware hineingesteckte<br />

Arbeit in Form von Arbeitszeit<br />

ist der Maßstab für den Wert einer<br />

Ware. Damit gibt es eine weitere Voraussetzung<br />

dafür, dass ein Ding eine Ware<br />

sein kann: In das Ding muss Arbeit gesteckt<br />

worden sein.<br />

Wirklich?<br />

Ein Stein, den ich vom Spazierweg aufhebe,<br />

um ihn einem mit mir spazierenden<br />

Freund als Ware anzubieten, würde mir<br />

keine besonders gute Verhandlungsposition<br />

bescheren, wenn ich seine Taschenuhr<br />

dafür haben wollte. Die Taschenuhr will er<br />

mir - trotz freundlichster Überzeugungsarbeit<br />

- nicht überlassen. Das kann einmal<br />

damit zusammenhängen, dass der Freund<br />

in diesem Moment keine Verwendung für<br />

den Stein hat, er wird aber vor allem anführen<br />

können, dass der Wert der Uhr viel höher<br />

ist als der des Steins. Näher nachgefragt<br />

wird er irgendwann darauf kommen,<br />

dass in die Uhr bedeutend mehr Arbeit gesteckt<br />

worden ist als in den Stein.<br />

Verändern wir die Situation etwas zu meinen<br />

Gunsten: Ich hebe statt des Steins einen<br />

Rohdiamanten von 24 Karat auf und<br />

biete diesen als Tauschobjekt gegen die Taschenuhr.<br />

Der Freund würde diesem<br />

Tausch wahrscheinlich zustimmen. Widerspricht<br />

dieses Beispiel nicht der Wertbestimmung?<br />

Ist nicht in diesem Fall der<br />

Tauschwert meiner Ware schlichtweg dadurch<br />

bestimmt, wie groß jeweils Angebot<br />

und Nachfrage für Wackersteine einerseits<br />

und für 24-karätige Rohdiamanten andererseits<br />

ist? Wie kann man nun dennoch<br />

<strong>Marx</strong>’ These »retten«?<br />

<strong>Marx</strong> hält einer solchen Argumentation<br />

zwei wesentliche <strong>Argumente</strong> entgegen:<br />

Wert und Tauschwert einer Ware sind<br />

nicht das Gleiche und individueller und<br />

gesellschaftlicher Wert unterscheiden<br />

sich. Was heißt das?<br />

Der Rohdiamant von 24 Karat bestimmt<br />

sich im Wert nicht durch die individuelle<br />

Arbeit, die ich aufwenden musste, um ihn als<br />

Ware anzubieten, sondern der Wert bestimmt<br />

sich durch die Arbeits(zeit), die<br />

durchschnittlich benötigt wird, um die<br />

Ware anzubieten. <strong>Marx</strong> nennt das die<br />

durchschnittlich notwendige gesellschaft-<br />

53


liche Arbeit oder die abstrakte Arbeit.<br />

Wenn ich also weniger Arbeitszeit für das<br />

Finden des Rohdiamanten aufbringen musste,<br />

ist das mein Glück, bedauerlicherweise ist<br />

es mir bisher aber auch noch nicht passiert.<br />

Aus dieser Argumentation leitet sich<br />

bei <strong>Marx</strong> her, dass drei unterschiedliche,<br />

zusammenhängende Wertbegriffe zu unterscheiden<br />

sind:<br />

Der Wert kommt in die Ware durch individuelle<br />

Arbeit, die man in sie steckt. Der<br />

Wert kann durch Arbeitsstunden bestimmt<br />

werden. Als gesellschaftlicher Wert kommt<br />

aber nicht die individuelle benötigte Arbeitszeit<br />

als Wertmaßstab in Frage, sondern<br />

die durchschnittlich gesellschaftlich<br />

benötigte Arbeitszeit für die Produktion<br />

der Ware.<br />

Insofern ist die Arbeitsstunde eines Meisters<br />

gegenüber der eines Lehrlings nicht<br />

wertvoller. Vielmehr wird davon ausgegangen,<br />

dass der Meister in der gleichen Arbeitszeit<br />

mehr schafft. Insofern ist der<br />

Stuhl, den der Meister an einem Tag baut<br />

individuell weniger wert als der des Lehrlings,<br />

der zwei Tage gebraucht hat. Da aber<br />

gesellschaftlich höchstens ein Tag durchschnittlich<br />

zur Stuhlproduktion gebraucht<br />

wird, hat der Lehrling das Nachsehen.<br />

Warum aber ist die Arbeitsstunde des Meisters<br />

teurer als die des Lehrlings?<br />

Dafür gibt es unterschiedliche Gründe:<br />

Zunächst handelt es sich um eine Frage des<br />

gesellschaftlichen Status und der<br />

Konvention, aber darüber hinaus bezahlt<br />

man in der Arbeitsstunde des Meisters<br />

auch noch die Arbeit mit, die er in seine eigene<br />

Ausbildung gesteckt hat. Zudem<br />

kann der Meister sich natürlich - egal wie<br />

kurz er braucht - immer auf die durchschnittliche<br />

gesellschaftliche Arbeitszeit<br />

beziehen.<br />

Probleme bekommt der Meister nur, wenn<br />

die durchschnittliche gesellschaftliche Arbeitszeit<br />

für die Stuhlproduktion durch<br />

Ikea wesentlich gemindert wird. Der<br />

durchschnittliche Wert des Stuhls sinkt<br />

damit und dem wird sich der Meister auf<br />

Dauer kaum entziehen können, es sei denn<br />

die Handfertigung begründet einen höheren<br />

Gebrauchswert (z. B. auch den Status,<br />

individuell gefertigte Stühle zu besitzen).<br />

Diese Argumentation mag etwas ungewohnt<br />

sein; sie erklärt aber mehr als<br />

die simple Behauptung, die Arbeit des<br />

Meisters sei mehr wert als die des Lehrlings.<br />

Der Gebrauchswert der Ware ist nicht gesellschaftlich<br />

bestimmt, sondern lediglich<br />

gesellschaftlich beeinflusst. So kann ein<br />

Gegenstand individuell sehr unterschiedlich<br />

viel wert sein, das ist zunächst nicht<br />

gesellschaftlich messbar. Dennoch ist der<br />

Gebrauchswert nicht gänzlich ohne gesellschaftliche<br />

Komponente: So kann eine Levis-Jeans<br />

individuell für einen Jugendlichen<br />

einen höheren Gebrauchswert haben<br />

als eine Noname-Jeans, wenn er damit zur<br />

Clique gehört.<br />

Der Tauschwert ist eine abgeleitete Größe<br />

aus dem Wert und hat mit dem<br />

Gebrauchswert nichts zu tun. Der<br />

Tauschwert kann differieren: Auf Dauer<br />

wird er sich - allen Schwankungen und<br />

Zufällen zum Trotz - an dem Wert, der in<br />

die Ware gesteckten, abstrakten Arbeit<br />

orientieren. Angebot und Nachfrage<br />

sind lediglich Faktoren, die die konkrete<br />

Höhe des Tauschwertes beeinflussen.<br />

Der Tauschwert kann - wie der Wert<br />

auf Dauer für eine Ware sinken, aus welchem<br />

Grund, wird später noch Thema<br />

sein.<br />

54<br />

Die Weiterentwicklung zum Kapital <strong>Argumente</strong> 3/20<strong>11</strong>


Nur wenn man die drei Wertbegriffe verstanden<br />

hat, wird man auch über die Dynamik<br />

kapitalistischer Gesellschaften sprechen<br />

und sie verstehen können. Der<br />

Wert repräsentiert sich aber bei <strong>Marx</strong> innerhalb<br />

der Geschichte in unterschiedlichen<br />

Wertformen, die sich von der einfachen<br />

Wertform bis zur »Geldform« entwickeln:<br />

• »einfache, einzelne oder zufällige<br />

Wertformen«, bei der frei Ware gegen<br />

Ware getauscht wird.<br />

• »totale oder entfaltete Wertform«<br />

(<strong>Marx</strong> 1998: MEW 23: 77), in der jeweils<br />

vergleichbare Waren getauscht<br />

werden. Der ungeheure Warenmarkt<br />

hat sich bereits entwickelt.<br />

• Die »allgemeine Wertform« (<strong>Marx</strong><br />

1998: MEW 23: 79), in der eine Ware<br />

als allgemeine Wertform angenommen<br />

wird, mit der die Mengen der anderen<br />

Waren ausdrückbar bemessen<br />

und deren Wert damit ausdrückbar<br />

wird.<br />

• Die Geldform - Eine Ware wird nur<br />

als allgemeines Äquivalent gehandelt.<br />

Durch das allgemeine Äquivalent<br />

wird der Gebrauchswert und Tauschwert<br />

getrennt. Der Fetischcharakter<br />

der Ware entsteht, weil die drei Wertformen<br />

sich erst im Tauschwert realisieren<br />

und dieser nun als wertbestimmend<br />

erscheint.<br />

D) Die Crux – Die sich selbst reproduzierende<br />

Ware und die <strong>Marx</strong>sche<br />

Arbeitswertlehre<br />

»Der Reichtum der Gesellschaften, in<br />

welchen kapitalistische Produktionsweise<br />

herrscht, erscheint als eine »ungeheure<br />

Warensammlung«, die einzelne<br />

Ware als seine Elementarform. «<br />

(<strong>Marx</strong>/Engels 1998: 49)<br />

Der Tausch von Waren ist keine Angelegenheit,<br />

die nur in kapitalistischen Gesellschaften<br />

vorkäme. Kehrt man noch einmal<br />

zum ersten Satz des Kapitals zurück, so erklärt<br />

die bisher beschriebene Tauschwirtschaft<br />

noch nicht die »ungeheure Warensammlung«<br />

und auch nicht die Anhäufung<br />

(Akkumulation) von Waren. Bevor man die<br />

Besonderheit kapitalistischer Gesellschaften<br />

systematisch erklären kann, muss allerdings<br />

zunächst noch eine kleine Ergänzung<br />

gemacht werden, die die Definition<br />

von Geld betrifft.<br />

Geld ist die Ware, die als allgemeines<br />

Äquivalent für alle Waren eingesetzt<br />

wird. Der Gebrauchswert der Ware Geld<br />

liegt für gewöhnlich nur darin, allgemeines<br />

Äquivalent zu sein. Die Einführung des<br />

Geldes als allgemeine Ware und Tauschmittel<br />

vermittelt sich dabei schon mit gesundem<br />

Menschenverstand: Müsste ich jedes<br />

Mal für meine Ware einen<br />

Tauschpartner suchen, der gerade meine<br />

Ware benötigt und dessen Ware ich haben<br />

will, so wäre das in komplexen Gesellschaften<br />

ein schwieriges bzw. unmögliches Unterfangen.<br />

Ein allgemeines Äquivalent hilft<br />

diesem Problem ab.<br />

Eine wesentliche Bedingung für Geld ist<br />

dabei, dass es gesellschaftlich limitiert sein<br />

muss, so dass der in dem Geld repräsen-<br />

55


tierte Wert auch halbwegs konstant bleibt.<br />

Dabei haben sich der Wert und der<br />

Tauschwert des Geldes weitgehend entkoppelt:<br />

Ein 100- €-Schein weist wenig<br />

Wert durch die in ihn gesteckte Arbeit aus,<br />

repräsentiert aber einen gesellschaftlich<br />

formal festgelegten Wert.<br />

Stellt man nun die bisher vorgestellte Form<br />

des Tausches dar, so lässt sie sich wie folgt<br />

in einer Formel darstellen:<br />

Ware (W) - Geld (G) - Ware (W)<br />

In dieser einfachen Form wäre aber - und<br />

das ist entscheidend - keine »ungeheure<br />

Warensammlung « und auch keine Akkumulation<br />

von Geld und Waren begründbar:<br />

Jeder bekäme, bis auf Zufälle und Ausnahmen<br />

- den Wert in Waren zurück, den<br />

er selbst auch in die Waren gesteckt hat.<br />

Wie käme aber dann die Anhäufung von<br />

immer mehr Geld und immer mehr Waren<br />

zustande? In einem geschlossenen System<br />

ließe sich zwar alles erklären, was an Arbeit<br />

geleistet wird, um das Überleben zu sichern,<br />

nicht aber, dass auch darüber hinaus<br />

Waren produziert und getauscht werden.<br />

Die Akkumulation der ungeheuren Warensammlung<br />

fasst <strong>Marx</strong> dann auch in eine<br />

sehr ähnliche, aber entscheidend abweichende<br />

Formel:<br />

G(eld) - W(are) - G(eld)’,<br />

wobei Geld’ größer sein muss als Geld.<br />

Diese kurze Formel fasst die wesentliche<br />

Formel des Kapitalismus zusammen: Es<br />

geht um die Anhäufung von Kapital. Es<br />

geht nicht etwa um die Produktion von<br />

Waren, sondern um die Akkumulation von<br />

Geld bzw. Kapital. Der Tausch mit Waren,<br />

die Gebrauchswert haben, ist dort nur ein<br />

Mittel zum Zweck, mehr Kapital zu akkumulieren.<br />

Problem an dieser Formel ist<br />

aber, dass man mit ihr noch nicht begründet<br />

hat, warum es eine beständige Akkumulation,<br />

also Anhäufung von Waren und<br />

vor allem von Geld geben sollte. Wie kann<br />

man - mit anderen Worten - systematisch<br />

voraussetzen, dass G über den Austausch<br />

von Waren zu G’ (also mehr Geld) wird.<br />

Natürlich kann man davon ausgehen, dass<br />

Menschen immer mehr produzieren und<br />

damit auch der jeweilige Gegenwert des<br />

allgemeinen Äquivalents (Geld) steigen<br />

muss. Allerdings würde es sich letztendlich<br />

noch um ein Nullsummenspiel handeln:<br />

Der Produzent bekäme regelmäßig nur<br />

den Gegenwert als Tauschwert, den er auch<br />

in Form von Arbeit(sstunden) in die Ware<br />

gesteckt hat, soweit er nicht ein besonderes<br />

Verkaufstalent entwickelt hat.<br />

Der Warentausch setzt daher schon etwas<br />

Wesentliches voraus: Es müsste also eine<br />

Ware geben, die sich selbst reproduziert,<br />

die sich aus sich selbst heraus wieder<br />

selbst schafft. Und diese Ware - so <strong>Marx</strong> -<br />

ist die menschliche Arbeitskraft. Ein Produzent<br />

kann sein Kapital vermehren, in<br />

dem er geschickt handelt - das ist von Zufällen<br />

und sicherlich auch vom Verhandlungsgeschick<br />

abhängig -, aber systematisch<br />

lässt sich die Akkumulation von<br />

Waren und von Kapital nur über eine »sich<br />

selbst reproduzierende Ware« erklären.<br />

Dann lässt sich die einfache Formel des<br />

G - W - G’ differenzierter darstellen als<br />

G - W - Arbeit/Produktion - W’ - G’.<br />

Diese Formel drückt aus, dass der Kapitalist<br />

zur Vermehrung seines Kapitals das<br />

Kapital durch einen Prozess aus zwei Teil-<br />

56<br />

Die Weiterentwicklung zum Kapital <strong>Argumente</strong> 3/20<strong>11</strong>


prozessen laufen lassen muss: Den Produktionsprozess<br />

und den Zirkulationsprozess.<br />

Für sein Kapital muss der Kapitalist<br />

dazu zunächst Waren ankaufen, die im<br />

Produktionsprozess durch menschliche<br />

Arbeit wertvoller werden. Diese Waren<br />

müssen dann im Folgenden auf dem Markt<br />

angeboten werden und zu mehr Kapital<br />

realisiert werden.<br />

Dieser Prozess bis zu G’ hängt natürlich<br />

von vielen Rahmenbedingungen ab: Ob<br />

die Waren, die der Kapitalist benötigt, zum<br />

entsprechenden Preis angeboten werden,<br />

ob das entsprechende Kapital verfügbar ist<br />

bzw. beschafft werden kann etc. Das erfolgreiche<br />

Durchlaufen des Gesamtprozesses<br />

von G zu G’ ist also kein Selbstläufer,<br />

sondern kann unterbrochen werden. Diese<br />

Formen der Unterbrechung und ihre<br />

Begründungen werden für die Krisenerklärung<br />

des Kapitalismus entscheidend<br />

sein.<br />

E) Die Notwendigkeit des Mehrwerts<br />

für die Kapitalakkumulation<br />

Diese These, dass es notwendig sei, eine<br />

sich selbst reproduzierende Ware zu haben,<br />

damit die Kapitalakkumulation (G-W-G’)<br />

funktionieren und erklärt werden kann, ist<br />

die umstrittene Arbeitswertlehre.<br />

Die Arbeitswertlehre von <strong>Marx</strong> hat allerdings<br />

frühere Quellen. Auch in der bürgerlichen<br />

Philosophie seit den liberalen<br />

Schriften John Lockes hatte die individuelle<br />

Arbeit Eigentum legitimiert: »Obwohl<br />

die Erde und alle niederen Lebewesen allen<br />

Menschen gemeinsam gehören, so hat<br />

doch jeder Mensch ein Eigentum an seiner<br />

eigenen Person. Auf diese hat niemand ein<br />

Recht als nur er allein. Die Arbeit seines<br />

Körpers und das Werk seiner Hände sind,<br />

so können wir sagen, im eigentlichen Sinne<br />

sein Eigentum. Was immer er also dem<br />

Zustand entrückt, den die Natur vorgesehen<br />

und in dem sie es belassen hat, hat er<br />

mit seiner Arbeit gemischt und ihm etwas<br />

eigenes hinzugefügt. Er hat es somit zu seinem<br />

Eigentum gemacht.« (Locke 1977:<br />

216f.) 3 Arbeit legitimiert - in dieser klassisch<br />

bürgerlichen Argumentation - Eigentum.<br />

Für die Zeit in der John Locke die<br />

beiden Abhandlungen über die Regierung<br />

geschrieben hat (1689), war das eine<br />

durchaus moderne und revolutionäre<br />

Sichtweise, richtete sie sich doch gegen geburtsständische<br />

Privilegien. Dabei schrieb<br />

Locke aus der Sichtweise des englischen<br />

Kleinadels, der sich in den Auseinandersetzungen<br />

und den Umverteilungskämpfen<br />

schließlich durchsetzte. Lockes Position<br />

hat aber vor allem als Argumentationszusammenhang<br />

die bürgerlichen Philosophen<br />

nach ihm geprägt.<br />

Die <strong>Marx</strong>sche Arbeitswertlehre hat allerdings<br />

noch eine zweite Quelle. Diese liegt<br />

bei Adam Smith: »Auf der untersten Entwicklungsstufe<br />

gehört der gesamte Ertrag<br />

der Arbeit dem Arbeiter, und die Menge<br />

Arbeit, die gemeinhin geleistet wird, um<br />

ein Gut zu erwerben oder zu erzeugen, ist<br />

das einzige Richtmaß, nach dem man die<br />

Menge Arbeit bestimmen kann, gegen die<br />

üblicherweise gekauft [...] werden sollte.«<br />

(Smith 1978: 42f.; zitiert nach Conert<br />

2002: 65) Schon die bürgerliche Philosophie,<br />

auf die sich noch <strong>heute</strong> liberale Wirtschaftstheoretiker<br />

berufen, kennt also die<br />

Definition, dass der Wert durch menschliche<br />

Arbeit in die Ware komme.<br />

Auch der zweite Schritt der Erklärung findet<br />

sich bereits bei Smith: »Sobald sich<br />

57


aber nun Kapital in den Händen einzelner<br />

gebildet hat, werden es einige von ihnen<br />

natürlich dazu verwenden, um arbeitsame<br />

Leute zu beschäftigen, denen sie Rohmaterialien<br />

und Unterhalt bieten, um einen Gewinn<br />

aus dem Verkauf ihrer Produkte zu<br />

erzielen [...] Der Wert, den ein Arbeiter<br />

dem Rohmaterial hinzufügt, lässt sich daher<br />

in diesem Falle in zwei Teile zerlegen,<br />

mit dem einen wird der Lohn gezahlt mit<br />

dem anderen der Gewinn des Unternehmers.«<br />

(Smith 1978: 43; zitiert nach Conert<br />

2002: 65) Mit anderen Worten: Der<br />

Arbeiter gibt bei Smith mehr Arbeit und<br />

damit Wert an die Ware ab, als er Lohn als<br />

Gegenwert erhält, dadurch kann der »Unternehmer«<br />

Gewinne machen.<br />

Auf beide Quellen (Liberalismus bei Lokke<br />

und bei Adam Smith) bezieht sich <strong>Marx</strong><br />

in seiner Arbeitswertlehre, allerdings entwickelt<br />

er beides weiter. Ausgangspunkt ist<br />

dabei die wesentliche Voraussetzung des<br />

Liberalismus, die <strong>Marx</strong> sarkastisch aufgreift:<br />

»Zur Verwandlung von Geld in Kapital<br />

muß der Geldbesitzer also den freien<br />

Arbeiter auf dem Warenmarkt vorfinden,<br />

frei in dem Doppelsinn, daß er als freie<br />

Person über seine Arbeitskraft als seine<br />

Ware verfügt, daß er andererseits andere<br />

Waren nicht zu verkaufen hat, los und ledig,<br />

frei ist von allen zur Verwirklichung<br />

seiner Arbeitskraft nötigen Sachen.«<br />

(<strong>Marx</strong> 1998: 183; vgl. auch <strong>Marx</strong> 1998:<br />

742)<br />

Der doppelt freie Arbeiter (frei an seiner<br />

Person und frei von Kapital) kann dann einen<br />

Vertrag mit dem Kapitalbesitzer eingehen<br />

und ihm seine Arbeitskraft verkaufen.<br />

Letzteres ist eine wesentliche<br />

Weiterentwicklung der liberalen Theoriebildung:<br />

Der Arbeiter verkauft nicht einfach<br />

seine Arbeit, sondern er ist gezwungen,<br />

sich selbst, seine gesamte Arbeitskraft,<br />

zu verkaufen: »So war die Unterscheidung<br />

zwischen dem Verkauf der Arbeit des Proletariers<br />

an den Kapitalisten und dem Verkauf<br />

seiner Arbeitskraft, die für die<br />

<strong>Marx</strong>sche Theorie des Mehrwerts und der<br />

Ausbeutung grundlegend ist, im Manifest<br />

noch nicht deutlich herausgearbeitet. «<br />

(Hobsbawm 2000: 17)<br />

Was meint diese Differenzierung von Arbeit<br />

und Arbeitskraft? Indem der Kapitalist<br />

mit dem Vertrag die Arbeitskraft kauft,<br />

hat er systematisch die Möglichkeit, den<br />

Arbeiter mehr arbeiten zu lassen, als der<br />

Arbeiter für seinen Lebensunterhalt benötigt.<br />

Er lässt den Arbeiter also nicht nur für<br />

seinen Lebensunterhalt arbeiten, sondern<br />

er lässt ihn länger arbeiten und erreicht dadurch<br />

einen »Mehrwert«, der sich in den<br />

produzierten Waren repräsentiert. Dieser<br />

Mehrwert stellt dem Kapitalisten sicher,<br />

dass er tatsächlich mehr Kapital am Ende<br />

des Produktions- und Tauschprozesses behält,<br />

als er vorher an Kapital hineingesteckt<br />

hat, dass also tatsächlich G-W-G’ gelten<br />

kann. Nur durch dieses Ausbeutungsverhältnis<br />

kann man von der »sich selbst reproduzierenden<br />

Ware« sprechen: die<br />

menschliche Arbeitskraft.<br />

Damit ist das Kapital nicht eine Ansammlung<br />

von Produktionsmitteln, sondern ein<br />

gesellschaftliches Verhältnis: »Durch den<br />

Kauf von Arbeitskraft verwandelt sich<br />

Geld in Kapital. Das Kapital ist nicht - wie<br />

vulgärökonomisch oder alltagssprachlich<br />

angenommen wird - ein Ensemble von<br />

Maschinen, Werkstoffen, Geld usw., sondern<br />

Resultat einer spezifischen Beziehung<br />

von Menschen, von denen die einen über<br />

Eigentum an diesen »Produktionsmitteln«<br />

58<br />

Die Weiterentwicklung zum Kapital <strong>Argumente</strong> 3/20<strong>11</strong>


verfügen, während die anderen allein<br />

ihre eigene Arbeitskraft auf den (Arbeits-)markt<br />

bringen können.«<br />

(Fetscher 1999:107)<br />

Die <strong>Marx</strong>sche Arbeitswertlehre baut damit<br />

auf zwei Abstraktionen auf: Als Grundlage<br />

des Wertes und des abgeleiteten Tauschwertes<br />

liegt nicht die individuelle Arbeit<br />

zugrunde, sondern die abstrakte gesellschaftliche<br />

Arbeit, die zu einem historischen<br />

Zeitpunkt mit technologischen Mitteln<br />

durchschnittlich benötigt wird.<br />

Zweitens wird das Arbeitsprodukt von seinen<br />

Produzenten abgezogen (abstrahiert),<br />

da eine Gesellschaft von Warentauschern<br />

nur bei Arbeitsteilung vorstellbar ist.<br />

Im Folgenden wird <strong>Marx</strong> noch zwei Formen<br />

des Mehrwerts unterscheiden, die mit<br />

der Entwicklung kapitalistischer Gesellschaft<br />

zu tun haben. Dazu aber später<br />

mehr.<br />

F) Die vier P des Kapitalismus<br />

Mit der Arbeitswertlehre verbinden sich in<br />

der <strong>Marx</strong>schen Kritik der politischen Ökonomie<br />

vier wesentliche analytische Begriffe,<br />

die die Grundkonstellation, aber auch<br />

die Entwicklung des Kapitalismus erklärbar<br />

machen sollen:<br />

Die Produktionsmittel: Die zur Erstellung<br />

von Produkten eingesetzten Dinge<br />

und Mittel, Rohstoffe, Hilfsstoffe und Arbeitsmittel,<br />

aber auch die menschliche Arbeitskraft,<br />

die sich selbst immer wieder reproduziert.<br />

Die Produktivkräfte und ihre Entwicklung:<br />

Produktivkraft ist die Form der Leistung<br />

(Arbeit pro Zeiteinheit): »Je größer<br />

die Produktivkraft der Arbeit, desto kleiner<br />

die zur Herstellung eines Artikels erheischte<br />

Arbeitszeit« (<strong>Marx</strong> 1998: 55). Die<br />

Produktivkraftentwicklung hat aber - und<br />

das ist wesentlich - eine dialektische Wirkung:<br />

Einerseits erhöht sie die Arbeit pro<br />

Zeiteinheit (Leistung), andererseits wird<br />

damit auf Dauer die gesellschaftlich benötigte<br />

Arbeitszeit, die für die Produktion eines<br />

bestimmten Produkts benötigt wird,<br />

gesenkt. Damit hat dieser Artikel dann weniger<br />

Wert. Dieser geringere Wert wird<br />

sich in der Konkurrenz zwischen unterschiedlichen<br />

Produzenten einer Ware irgendwann<br />

als Tauschwertminderung ausdrücken.<br />

Die Wirkung und Logik der<br />

Produktivkraftentwicklung ist eine wesentliche<br />

Weiterentwicklung in der<br />

<strong>Marx</strong>schen Geschichtstheorie.<br />

Die Produktionsverhältnisse - Es gibt im<br />

Kapitalismus objektiv zwei Klassen: Kapitalisten<br />

und Arbeiter. Die Akkumulation<br />

von Kapital kann nur funktionieren, wenn<br />

der Kapitalist die Arbeiter ausbeutet. Der<br />

Kapitalist schließt einen Vertrag und kauft<br />

die Ware Arbeitskraft des Arbeiters. Der<br />

Lohn entspricht aber nicht der in der Ware<br />

verdinglichten Arbeit, sondern nur den Lebenserhaltungskosten<br />

(Reproduktionskosten)<br />

des Arbeiters. Der überschüssige<br />

(Mehr-)Wert ermöglicht die Kapitalanhäufung.<br />

Dieser Ausbeutungsvertrag konstituiert<br />

die Produktionsverhältnisse. Die<br />

Produktionsverhältnisse unterliegen dabei<br />

einem historischen Wandel. So hat auch in<br />

der Sklavenhaltergesellschaft der Herr den<br />

Mehrwert des Sklaven vereinnahmt, allerdings<br />

war dem kein Vertrag unter »Freien«<br />

vorausgegangen, sondern ein »Eigentum«<br />

an der fremden Person. Die »doppelte Freiheit«<br />

des Arbeiters (frei an der Person und<br />

59


frei von Kapital) ist somit eine andere<br />

Form der Ausbeutung.<br />

Die Profitrate zu guter Letzt fasst das<br />

Entwicklungsprinzip kapitalistischer Produktion<br />

zusammen und bildet die Grundlage<br />

für die marxistische Krisentheorie, die<br />

nach wie vor in der wissenschaftlichen Diskussion<br />

auch bei <strong>Marx</strong>isten umstritten ist.<br />

Auf die Profitrate muss im Folgenden noch<br />

näher eingegangen werden.<br />

G) Die Profitrate<br />

Die Arbeitswertlehre und Produktivkraft,<br />

Produktionsmittel und Produktionsverhältnisse<br />

im Kapitalismus lassen sich in<br />

eine erklärende Formel zusammenfassen:<br />

M (Mehrwert)<br />

——————––––––––– = P (Profitrate)<br />

V (Variables Kapital/Lohn)<br />

+ C (festes Kapital)<br />

Die Profitrate leitet sich aus der wesentlichen<br />

Frage her, die oben gestellt wurde:<br />

Wie kann man regelmäßig davon ausgehen,<br />

dass G - W - G’ angenommen werden<br />

kann? Die Lösung des Kapitalisten heißt,<br />

den Mehrwert zu nutzen, der durch die<br />

Arbeitskraft der Arbeiter entsteht. Die<br />

Profitrate lässt sich dann durch das Verhältnis<br />

von Produktionskosten und Mehrwert<br />

bestimmen. Alle Kosten der Produktion<br />

(das heißt die Kosten für variables<br />

Kapital (Lohn) und festes Kapital (das<br />

heißt die weiteren Produktionsmittel))<br />

werden ins Verhältnis zum Mehrwert, der<br />

durch die Ausbeutung der Arbeitskraft der<br />

Arbeiter entsteht, gesetzt.<br />

Je höher demnach der Mehrwert, desto<br />

größer der Profit, der zu erzielen ist, das<br />

heißt: Je größer wird (voraussichtlich!)<br />

auch die Differenz zwischen G und G’, die<br />

Kapitalakkumulation, sein.<br />

Mit dieser Formel hat <strong>Marx</strong> einen wesentlichen<br />

wissenschaftlichen Schritt gemacht:<br />

Im Manifest der Kommunistischen Partei<br />

war zwar geschichtlich die Ausbeutung der<br />

Arbeiter entwickelt worden, es handelte<br />

sich aber nicht um eine wissenschaftliche,<br />

empirisch nachvollziehbare Theorie. Mit<br />

der Profitrate ändert sich das.<br />

Doch die Profitrate hat keine »einfache«<br />

Wirkung, sondern sie enthält die Vorstellung<br />

einer dialektischen Entwicklung der<br />

Kapitalakkumulation und das kommt<br />

durch zwei widerstreitende Möglichkeiten<br />

für den Kapitalisten zustande, Mehrwert<br />

zu produzieren: Absoluter und relativer<br />

Mehrwert.<br />

H) Absoluter und relativer Mehrwert<br />

Der Kapitalist kann zwei Methoden wählen,<br />

den Mehrwert und damit die Differenz<br />

zwischen G und G’ weiter zu steigern.<br />

Am besten macht man sich das klar, in dem<br />

man den Profit an einer Strecke darstellt<br />

und sich fragt, wie der Mehrwert (M) verlängert<br />

werden kann:<br />

Relative Mehrwertsteigerung - Bei der<br />

relativen Mehrwertsteigerung wird die Erhöhung<br />

des Mehrwerts durch ein für den<br />

Kapitalisten positiveres Verhältnis von M<br />

zu V+C erreicht. Dazu muss die Ausgangsstrecke<br />

A mit der zweiten verglichen werden.<br />

Er hat einen Extramehrwert produziert.<br />

Wie kann er diesen erreichen: Er<br />

kann zum Beispiel in Maschinen oder die<br />

Ausbildung / Weiterbildung der Arbeiter<br />

60<br />

Die Weiterentwicklung zum Kapital <strong>Argumente</strong> 3/20<strong>11</strong>


investieren. Dadurch wird zwar C größer<br />

werden. Für die gleiche Anzahl von Waren<br />

wird aber damit weniger Arbeit in die<br />

einzelne Ware gesteckt werden müssen:<br />

Sowohl M als auch V sinken. Dadurch<br />

steckt zwar weniger vergegenständlichte<br />

Arbeit in der Ware, die Ware ist somit weniger<br />

wert, aber der Kapitalist hat einen<br />

relativen Vorteil gegenüber einem Kapitalisten,<br />

der noch nach Variante A produziert.<br />

Der Kapitalist B kann nämlich billiger<br />

produzieren und (fast) genauso teuer<br />

verkaufen. Er kann sogar, die Ware etwas<br />

billiger als Konkurrent A anbieten und<br />

damit voraussichtlich insgesamt mehr<br />

Waren absetzen. Dadurch hat er einen relativen<br />

Mehrwert und einen Wettbewerbsvorteil<br />

gegenüber A erzielt.<br />

Die relative Mehrwertproduktion lässt<br />

sich also zusammenfassen: »Senkung des<br />

Werts der Arbeitskraft durch Steigerung<br />

der Produktivkraft der Arbeit.« (Heinrich<br />

2004: 149) Die Erzielung von relativem<br />

Mehrwert ist die wesentliche Ursache für<br />

die gesellschaftliche Produktivkraftentwicklung.<br />

Die relative Mehrwertsteigerung<br />

birgt aber immense gesellschaftliche<br />

Probleme:<br />

1. Problem bei der relativen Mehrwertsteigerung<br />

ist, dass sie nur über begrenzte<br />

Zeit funktionieren wird. Unternehmer<br />

A geht entweder unter oder<br />

wird sich ebenfalls neue Maschinen zulegen,<br />

um »mitzuhalten«, der Vorteil<br />

durch die relative Mehrwertsteigerung<br />

für den Kapitalisten ist damit hinfällig.<br />

Die Ware ist gesellschaftlich weniger<br />

wert.<br />

2. Rationalisierungen oder »Produktivkraftsteigerung«<br />

führen dazu, dass mit<br />

weniger Arbeitskraft die gleiche oder<br />

sogar eine größere Menge einer Ware<br />

produziert wird. Die Leistung, also Arbeit<br />

pro Zeiteinheit, steigt. Geht man<br />

davon aus, dass die gesellschaftliche<br />

Nachfrage nach Produkten nicht unbeschränkt<br />

ist - weder den Bedürfnissen<br />

nach, noch der Kaufkraft nach, so ergeben<br />

sich zwei Gefahren: Die Gefahr<br />

der Überproduktion und die Gefahr<br />

der Arbeitslosigkeit. Sowohl Überproduktion<br />

als auch Arbeitslosigkeit sind<br />

ohne Weiteres in der Geschichte und<br />

der Gegenwart nachweisbar und sie<br />

sind keine Störfaktoren kapitalistischer<br />

Produktion, sondern sie sind<br />

Teil der kapitalistischen Wirtschaftsform.<br />

3. Wenn die Produktivkraftsteigerung<br />

verallgemeinert wird, so wird insgesamt<br />

die spezielle Ware weniger Tauschwert<br />

erzielen. Damit sinkt verhältnismäßig<br />

zum eingesetzten Kapital G das durch<br />

den Produktions- und Tauschprozess<br />

gewonnene Kapital G’ durchschnittlich.<br />

Die Durchschnittsprofitrate müsste<br />

demnach tendenziell in der Branche<br />

sinken, da zwar in festes Kapital investiert<br />

wurde, aber zugleich V und M<br />

nicht steigen müssen. Diese Argumentation<br />

ist - gerade bei »orthodoxen<br />

<strong>Marx</strong>-Interpreten« der Drehund Angelpunkt<br />

für die Krisenanfälligkeit des<br />

Kapitalismus.<br />

Absolute Mehrwertsteigerung - Die absolute<br />

Mehrwertsteigerung setzt bei dem<br />

Verhältnis zwischen V und M an. Diese<br />

Relation drückt sich in der so genannten<br />

Mehrwertrate (M geteilt durch V) aus.<br />

Dabei wird anhand der Arbeitsstunden<br />

verglichen, welcher Anteil der Arbeitszeit<br />

61


der Arbeiter für seine Reproduktion<br />

(Lohn) arbeitet und wie viele Arbeitsstunden<br />

dem Mehrwert des Kapitalisten zuzuschlagen<br />

sind. Wird zum Beispiel die wöchentliche<br />

Arbeitszeit von 35 auf 40<br />

Stunden gesteigert ohne dass der Lohn erhöht<br />

wird, so hat der Kapitalist seine<br />

Mehrwertrate für sich günstiger gestaltet,<br />

da M steigt, V aber gleich bleibt. Auch die<br />

absolute Mehrwertsteigerung birgt immense<br />

gesellschaftliche Probleme:<br />

1. Setzt man einmal voraus, dass der<br />

Kapitalist nicht automatisch mit einer<br />

absoluten Mehrwertsteigerung auch<br />

die Produktion ausweiten wird, weil das<br />

wesentlich davon abhängt, ob die Ware<br />

sich auf dem Warenmarkt entsprechend<br />

behaupten kann, führt die Steigerung<br />

logischerweise zur höheren Arbeitslosigkeit.<br />

Mit weniger Arbeitern<br />

kann so der gleiche Mehrwert geschaffen<br />

werden. Wirtschaftlich bedeutet<br />

das für den einzelnen Kapitalisten einen<br />

Vorteil. Andererseits - und das<br />

zeigt sich auch in der gegenwärtigen<br />

Krise des Kapitalismus - sinkt gesamtgesellschaftlich<br />

natürlich auf Dauer<br />

auch die Massenkaufkraft in der Bevölkerung.<br />

2. Auch bei der absoluten Mehrwertrate<br />

gilt, dass eine Überproduktion oder<br />

Überakkumulation auftreten kann, bei<br />

der die Waren nicht mehr zu G’ verwertet<br />

werden können.<br />

Bevor <strong>Marx</strong> allerdings den tendenziellen<br />

Fall der Profitrate behandelt, wird im<br />

zweiten Band der Zirkulationsprozess, die<br />

Realisierung des Profits näher analysiert.<br />

Darunter zählen vor allem die Bedeutung<br />

der Umlaufzeiten, Zirkulations- und<br />

Transportkosten und die Buchhaltung. Dieser<br />

Band soll hier nicht näher betrachtet<br />

werden. Fakt ist aber, dass er auch <strong>heute</strong><br />

noch interessante und wesentliche Fragen<br />

enthält.<br />

Als Beispiel ist die Frage zu benennen, ob<br />

Transport und Logistik als Wert in die<br />

Ware oder nur als Kostenfaktor eingeht.<br />

Der Komplex der Logistik und Transportkosten,<br />

aber auch der weltweiten Absatzmärkte<br />

hat für eine weltweit vernetzte Produktion<br />

der »Global Player« immense<br />

Bedeutung.<br />

II. Die marxistische Krisenerklärung<br />

A. Die Besonderheit der <strong>Marx</strong>istischen<br />

Wirtschaftstheorie<br />

Anders als liberale Wirtschaftstheorien ist<br />

die <strong>Marx</strong>sche Kritik der politischen Ökonomie<br />

eine Theorie, die von der Krisenhaftigkeit<br />

des Kapitalismus als Normalfall<br />

ausgeht, gleichwohl es Prosperitätsphasen<br />

geben kann.<br />

Mit der <strong>Marx</strong>schen Erklärung von Krisen<br />

befinden wir uns in einer der umstrittensten<br />

und zugleich spannendsten Diskussionen<br />

marxistischer Theoriebildung. Grob<br />

gesagt, kann man dabei zwei wesentliche<br />

»Lager« in der Diskussion ausmachen:<br />

1. »Orthodox« argumentierende <strong>Marx</strong>isten<br />

beziehen sich in der Regel auf<br />

das »Gesetz zum tendenziellen Fall der<br />

Profitrate« als Erklärung für Krisen in<br />

der kapitalistischen Wirtschaft. Dieses<br />

Gesetz entwickelt <strong>Marx</strong> im dritten<br />

Band des Kapitals und soll demnach<br />

der wesentliche Grund sein, weshalb<br />

62<br />

Die Weiterentwicklung zum Kapital <strong>Argumente</strong> 3/20<strong>11</strong>


der Kapitalismus auf Dauer zusammenbrechen<br />

müsse.<br />

2. »Unorthodox« argumentierende<br />

<strong>Marx</strong>isten beziehen sich in der Regel<br />

auf einen weiter gefassten Krisenbegriff.<br />

Dabei werden - so von Michael<br />

Heinrich - einerseits editorische <strong>Argumente</strong><br />

2 geltend gemacht, wie inhaltlich<br />

darauf verwiesen, dass <strong>Marx</strong> im dritten<br />

Band des Kapitals durchaus unterschiedliche<br />

Begründungen für Krisen<br />

gebe. Vor allem der fünfte Abschnitt,<br />

der das zinstragende Kapital betrifft,<br />

gerät damit zusätzlich in den Blick.<br />

Im Folgenden werde ich zunächst die<br />

»klassische Erklärung« und danach die<br />

»modernere« Lesart vorstellen. Im zweiten<br />

Teil zu den marxistischen Grundlagen<br />

wird sich dann zeigen, dass die »modernere«,<br />

»unorthodoxere« Variante für die Erklärung<br />

der heutigen Tendenzen des Kapitalismus<br />

mehr beizutragen hat.<br />

B. Der tendenzielle Fall der Profitrate<br />

und der »Orthodoxe« Erklärung von<br />

Krisen<br />

Anders als liberale Wirtschaftstheorien<br />

oder aber auch die keynesianische Wirtschaftstheorien<br />

baut die marxistische Kritik<br />

an der politischen Ökonomie darauf<br />

auf, dass Krisen keine Ausnahme im kapitalistischen<br />

System sind, sondern logische<br />

Konsequenz. Das setzt eine Erklärung voraus,<br />

wie Krisen im Kapitalismus entstehen.<br />

<strong>Marx</strong> selbst hat dazu das »Gesetz des tendenziellen<br />

Falls der Profitrate« entwickelt,<br />

das jenseits älterer Erklärungsmodelle begründen<br />

soll, warum die Durchschnittsprofitrate<br />

tendenziell sinkt und dies die regelmäßig<br />

eintretenden Krisen bedinge.<br />

Im Kern geht es <strong>Marx</strong> dabei darum, dass<br />

Konkurrenzverhältnisse zwischen den Kapitalisten<br />

die Jagd nach Extraprofiten soweit<br />

antreibt, dass die gesellschaftliche<br />

Produktivkraftentwicklung angeheizt wird<br />

und sich immer aufs Neue verallgemeinert.<br />

Dies führt - wie oben bereits angedeutet -<br />

zu sinkenden Werten, Überproduktion und<br />

auch zu einer gesunkenen Durchschnittsprofitrate.<br />

Arbeitslosigkeit und Verelendung<br />

sind die weiter gehenden Folgen. Zugleich<br />

wird es auf Dauer zu einer<br />

Überakkumulation und -produktion kommen,<br />

weil die produzierten Waren kaum<br />

noch verkauft werden können und damit<br />

der Tauschprozess GW- G’ noch vor der<br />

Realisierung des Profits unterbrochen<br />

wird. Die kapitalistische Produktivkraftentwicklung<br />

und der tendenzielle Fall der<br />

Profitrate sind ohne einander daher nicht<br />

zu denken.<br />

Allerdings ist <strong>Marx</strong> weit davon entfernt,<br />

ein einfaches Gesetz zu formulieren. Es<br />

handelt sich lediglich um einen tendenziellen<br />

Fall der Profitrate, dem im gesellschaftlichen<br />

Gesamtprozess auch Faktoren<br />

entgegen stehen. Überakkumulationskrisen<br />

in einzelnen Branchen lassen<br />

sich nicht unmittelbar auf die gesamte<br />

Wirtschaft übertragen. Die entscheidende<br />

Frage ist vielmehr immer, ob der Tausch-<br />

2 <strong>Marx</strong> konnte selbst nur den ersten Band des Kapitals<br />

selbst herausgegeben. Der zweite und dritte<br />

Band wurde nach <strong>Marx</strong>’ Tod von Friedrich Engels<br />

(in ihrem mehr oder weniger ausgearbeiteten Zustand)<br />

zusammengestellt und geordnet. Im Bezug<br />

auf die Krisentheorie wird dabei deutlich, dass<br />

Engels mit der Anordnung und mit den Überschriften<br />

zu den Textteilen bereits das »Gesetz<br />

vom tendenziellen Fall der Profitrate« in den Vordergrund<br />

stellte, ohne dass das systematisch von<br />

<strong>Marx</strong> so gedacht gewesen sein muss (vgl. Heinrich<br />

2001: 357f.).<br />

63


prozess, der Zirkulationsprozess, G-W-G’<br />

gestört wird.<br />

Um die sinkende Profitrate zu erklären<br />

greift <strong>Marx</strong> auf ein Beispiel zurück. Dazu<br />

setzt er fest, dass der Arbeiter die Hälfte<br />

der Arbeitszeit für den Mehrwert und die<br />

Hälfte für seine Reproduktion arbeite. Er<br />

setzt dann pro Woche 100 Pfd. St. als variables<br />

Kapital an.<br />

Die entscheidende Frage ist nun, wie sich<br />

die Höhe des konstanten Kapitals auswirkt.<br />

Unter dieser Voraussetzung (einer<br />

Mehrwertrate m/v von 100%) ergibt sich<br />

folgende Profitrate:<br />

» Wenn c = 50, v = 100, so ist p’= 100/150<br />

= 66 2/3 %<br />

Wenn c = 100, v = 100, so ist p’= 100/200<br />

= 50 %<br />

Wenn c = 200, v = 100, so ist p’= 100/300<br />

= 33 1/3 %<br />

Wenn c = 300, v = 100, so ist p’= 100/400<br />

= 25 %<br />

Wenn c = 400, v = 100, so ist p’= 100/500<br />

= 20 % «<br />

(MEW 25: 221)<br />

Wenn sich diese Profitrate in allen wesentlichen<br />

Sparten der Wirtschaft so entwikkelt,<br />

könne man dann eben auch von einer<br />

insgesamt sinkenden Durchschnittsprofitrate<br />

ausgehen: »Die im Eingang hypothetisch<br />

aufgestellte Reihe drückt also die<br />

wirkliche Tendenz der kapitalistischen<br />

Produktion aus. Diese erzeugt mit der fortschreitenden<br />

relativen Abnahme des variablen<br />

Kapitals gegen das konstante eine<br />

steigend höhere organische Zusammensetzung<br />

des Gesamtkapitals, deren unmittelbare<br />

Folge ist, daß die Rate des Mehrwerts<br />

bei gleichbleibenden und selbst bei steigendem<br />

Exploitationsgrad der Arbeit sich<br />

in einer beständig sinkenden allgemeinen<br />

Profitrate ausdrückt. (Es wird sich weiter<br />

zeigen, warum dies Sinken nicht in dieser<br />

absoluten Form, sondern mehr in Tendenz<br />

zum progressiven Fall hervortritt.) Die<br />

progressive Tendenz der allgemeinen Profitrate<br />

zum Sinken ist also nur ein der kapitalistischen<br />

Produktionsweise eigentümlicher<br />

Ausdruck für die fortschreitende<br />

Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkraft<br />

der Arbeit.« (MEW 25: 222f.)<br />

Bezieht man die gewöhnlichen konjunkturellen<br />

Wellen mit ein, ergäbe sich bei <strong>Marx</strong>’<br />

Argumentation also folgendes Bild:<br />

Abnehmender Mehrwert, weniger Arbeitsplätze,<br />

steigende gesellschaftliche Produktivkraft.<br />

Entscheidender ist aber, dass die Mehrwertrate<br />

in einer Zusammensetzung noch<br />

nichts über den erzielten Profit aussagen<br />

muss: »In Ländern von verschiedener Entwicklungsstufe<br />

der kapitalistischen Produktion<br />

und daher von verschiedener organischer<br />

Zusammensetzung des Kapitals<br />

kann die Rate des Mehrwerts (der eine<br />

Faktor, der die Profitrate bestimmt) höher<br />

stehen in dem Lande, wo der normale Arbeitstag<br />

kürzer ist, als in dem, wo er länger.<br />

Erstens: Wenn der englische Arbeitstag<br />

von 10 Stunden seiner höhern Intensität<br />

wegen gleich ist einem österreichischen<br />

Arbeitstag von 14 Stunden, können bei<br />

gleicher Teilung des Arbeitstags 5 Stunden<br />

Mehrarbeit [gemeint ist »m«, tg] dort einen<br />

höheren Wert auf dem Weltmarkt dar-<br />

64<br />

Die Weiterentwicklung zum Kapital <strong>Argumente</strong> 3/20<strong>11</strong>


stellen als 7 Stunden hier. Zweitens aber<br />

kann dort ein größrer Teil des Arbeitstags<br />

Mehrarbeit bilden als hier.« (<strong>Marx</strong> 2003:<br />

MEW 25: 225)<br />

Mit anderen Worten: Die billige Polemik<br />

der Kapitalisten, die sich gerade <strong>heute</strong> in<br />

unsäglichen Standortdebatten seitens der<br />

Unternehmerverbände abbilden, greifen zu<br />

kurz: Nicht die Arbeitszeit oder die<br />

»Lohnnebenkosten« sind allein entscheidend,<br />

sondern die Produktivität, die sich in<br />

Lohnstückkosten ausdrücken lässt. Und<br />

dieser Stand gesellschaftlicher Produktivität<br />

hängt von sehr viel mehr ab, als die<br />

Standortdiskussionen behaupten (z. B. vom<br />

Bildungs- und Gesundheitssystem, den<br />

Absatzmärkten etc.).<br />

Allerdings sollte man sich klar machen,<br />

dass diesem tendenziellen Fall der Profitrate<br />

insgesamt sechs Ursachen entgegen wirken<br />

können:<br />

1. Erhöhung des Exploitationsgrades<br />

der Arbeit<br />

2. Herunterdrücken des Arbeitslohns<br />

unter seinen Wert<br />

3. Verwohlfeilerung der Elemente des<br />

konstanten Kapitals<br />

4. Die relative Überbevölkerung<br />

5. Der auswärtige Handel<br />

6. Die Zunahme des Aktienkapitals<br />

<strong>Marx</strong> kehrt diesbezüglich die Blickrichtung<br />

um: »Wenn man die enorme Entwicklung<br />

der Produktivkräfte der gesellschaftlichen<br />

Arbeit selbst nur in den<br />

letzten 30 Jahren, verglichen mit allen früheren<br />

Perioden, betrachtet, wenn man namentlich<br />

die enorme Masse von fixem Kapital<br />

betrachtet, das außer der eigentlichen<br />

Maschinerie in die Gesamtheit des gesellschaftlichen<br />

Produktionsprozesses eingeht,<br />

so tritt an die Stelle der Schwierigkeit, welche<br />

bisher die Ökonomen beschäftigt hat,<br />

nämlich den Fall der Profitrate zu erklären,<br />

die umgekehrte, nämlich zu erklären, warum<br />

dieser Fall nicht größer oder rascher<br />

ist.« (MEW 25: 242) Die sechs entgegen<br />

wirkenden Ursachen, die einen rapiden Fall<br />

der Profitrate verhindern, beschreibt <strong>Marx</strong><br />

näher:<br />

Erhöhung des Exploitationsgrades der<br />

Arbeit (MEW 25: 242-245) - Die Erhöhung<br />

der Mehrarbeit (absolute Mehrwertsteigerung)<br />

und Intensivierung der Arbeit<br />

(relative Mehrwertsteigerung) kann die<br />

Mehrwertrate insgesamt im Verhältnis<br />

zum steigenden konstanten Kapital vermehren.<br />

Sieht man sich die seit den 1980er<br />

Jahren immer wieder geführten Diskussionen<br />

um längere Arbeitszeiten an, so kann<br />

man die Brisanz unmittelbar erkennen.<br />

Herunterdrücken des Arbeitslohnes unter<br />

seinen Wert (MEW 25: 245) - <strong>Marx</strong><br />

führt dieses Argument nicht näher aus,<br />

verweist allerdings auf den Konkurrenzaspekt,<br />

der nicht nur zwischen den Kapitalisten,<br />

sondern auch unter den Arbeitern<br />

(Stichwort: Reservearmee) wirkt. Auch<br />

hier hat die real seit den 1980er Jahren fallende<br />

Lohnentwicklung und die gleichzeitig<br />

steigende Arbeitslosenzahl einen empirischen<br />

Nachweis geliefert.<br />

Verwohlfeilerung der Elemente des konstanten<br />

Kapitals (MEW 25: 245f.) - Bei<br />

dem dritten Aspekt handelt es sich um das<br />

Vehältnis der Masse des konstanten Kapitals<br />

zu seinem Wert. Dabei wird davon ausgegangen,<br />

dass eine starke Erhöhung der<br />

Masse nicht zwangsläufig bedeutet, dass<br />

der Wert dieser Masse im gleichen Maß<br />

65


steigt. Anhand eines Beispiels: Werden<br />

statt 10 CDs 1.000 CDs gepresst, so steigt<br />

der Wert des eingehenden Kapitals nicht<br />

zwangsläufig um das Hundertfache. Auch<br />

die Produktion der 1.000 CD-Rohlinge<br />

unterliegt einem Fall der Profitrate und damit<br />

der Verbilligung der Ware, so dass der<br />

Wert des eingebrachten fixen Kapitals insgesamt<br />

in der CD-Pressung geringer wird,<br />

zumal die Abnutzung der Maschinen bei<br />

höherer Produktion pro CD sinkt. Gerade<br />

in der modernen Massenproduktion, wie<br />

sie sich mit dem Fordismus durchgesetzt<br />

hat, führt dieser Aspekt zu einer günstigeren<br />

Konstellation in der Profitrate.<br />

Die relative Überbevölkerung (MEW 25:<br />

246f.) - In entwickelten kapitalistischen<br />

Gesellschaften werden für die Produktion<br />

immer weniger Arbeiter benötigt. Dies<br />

wirkt sich nicht nur auf die Konkurrenz der<br />

Arbeiter aus (vgl. 2.), sondern auch darauf,<br />

dass neue Produktionszweige (mit anfänglich<br />

günstigerer Profitrate) aufgebaut werden<br />

können. Mit anderen Worten: Der angehäufte<br />

Reichtum und die<br />

gesellschaftliche Produktivkraft sind so<br />

hoch, dass nicht mehr die Arbeit aller notwendig<br />

ist, um die Reproduktion der Gesellschaft<br />

abzusichern. Arbeitslosigkeit ist<br />

insofern ein Anzeichen für (falsch verteilten!!!)<br />

Reichtum der Gesellschaft. Diese<br />

Arbeitslosigkeit kann aber in anderen gesellschaftlichen<br />

Arbeitsbereichen genutzt<br />

werden. Die Diskussionen um ein nachhaltiges<br />

Wachstum und gesellschaftlichen Innovationen<br />

haben in diesem Aspekt ihren<br />

theoretischen Ort. In dem Moment, wo die<br />

Umwelttechnologien und die Hochtechnologie<br />

beispielsweise in Deutschland gefördert<br />

werden, können hoch produktive<br />

Arbeitsplätze mit hohen Qualifizierungsniveaus<br />

geschaffen werden, die zugleich<br />

verhältnismäßig zu anderen Branchen eine<br />

positive Profitrate haben und dadurch insgesamt<br />

positiv wirken und zugleich ein gesellschaftlich<br />

zunehmend wichtiges Feld<br />

abdecken.<br />

Der auswärtige Handel (MEW 25: 247-<br />

250) - Auch der auswärtige Handel kann<br />

für <strong>Marx</strong> ein stabilisierender Faktor sein:<br />

»Kapitale, im auswärtigen Handel angelegt,<br />

können eine höhere Profitrate abwerfen,<br />

weil hier erstens mit Waren konkurriert<br />

wird, die von anderen Ländern mit<br />

minderen Produktionsleichtigkeiten produziert<br />

werden, so daß das fortgeschrittenste<br />

Land seine Waren über ihrem Wert verkauft,<br />

obgleich wohlfeiler als die<br />

Konkurrenzländer. « (MEW 25: 247f.)<br />

Auch dieser Aspekt findet sich in den gegenwärtigen<br />

gesellschaftlichen Diskussionen<br />

wieder. Einfach gesagt: Der »Exportweltmeister<br />

Deutschland« fürchtet um<br />

seine Vorherrschaft, die durch eine höhere<br />

Produktivität zustande kommt. Ein weiterer<br />

Aspekt ist in diesem Zusammenhang in<br />

den Entwicklungstheorien und Handelsabkommen<br />

zu sehen. Dieser Aspekt bleibt<br />

aber hinter dem Blickpunkt der internationalen<br />

Solidarität ein nach wie vor problematischer<br />

Pfad, der hier nicht näher betrachtet<br />

werden kann.<br />

Die Zunahme des Aktienkapitals (MEW<br />

25: 250) - Wenn Kapitalisten mit Aktienkapital<br />

arbeiten, so geht dieses Kapital zwar<br />

vollständig in den Produktionsprozess ein<br />

und wird dadurch für die Mehrwertproduktion<br />

nutzbar. Allerdings wird als Dividende<br />

nicht der Anteil des Profits gezahlt,<br />

sondern nur ein geringerer Anteil. Dadurch<br />

wird das konstante Kapital relativ<br />

zum Mehrwert insgesamt für den Kapitalisten<br />

gedrückt, ohne dass die Profitrate dies<br />

66<br />

Die Weiterentwicklung zum Kapital <strong>Argumente</strong> 3/20<strong>11</strong>


vom tatsächlich eingesetzten Kapital hergibt.<br />

Dieser - gerade für die heutige Zeit -<br />

entscheidende Faktor wird bei <strong>Marx</strong> nicht<br />

näher ausgeführt. Ohne näher darauf einzugehen<br />

lässt sich aber feststellen, dass gerade<br />

das Aktienkapital einen nicht unwesentlichen<br />

Unsicherheitsfaktor darstellt, da<br />

die Aktienbesitzer ihrerseits durch Anund<br />

Verkauf Gewinne steigern wollen.<br />

Selbst bei diesen entgegen wirkenden Ursachen<br />

für eine lediglich progressiv fallende<br />

Profitrate sieht <strong>Marx</strong> allerdings einen tendenziellen<br />

Fall gegeben. Bevor wir eine<br />

vorläufige erste Bilanz für die sozialistische<br />

Strategie ziehen, müssen wir daher noch<br />

kurz auf die Entfaltung der »inneren Widersprüche<br />

des Gesetzes«, das fünfzehnte<br />

Kapitel des dritten Bandes und die Verteilung<br />

des relativen Profits in die Arten des<br />

gesellschaftlichen Reichtums eingehen.<br />

Die Formel der Profitrate enthält - und an<br />

dieser einen Stelle ist der Begriff berechtigt<br />

- eine widersprüchliche Entwicklung mit<br />

weit reichenden gesellschaftlichen Folgen:<br />

Auf der einen Seite wird der Mehrwert<br />

über menschliche Arbeit benötigt, der sich<br />

in Profiten realisieren kann, andererseits<br />

wird - um einen Extraprofit zu realisieren<br />

oder um mitzuhalten - die Produktivkraft<br />

ständig revolutioniert, womit die Arbeit<br />

entwertet wird.<br />

So »verlangsamt« der »Fall die Bildung<br />

neuer selbständiger Kapitale und erscheint<br />

so als bedrohlich für die Entwicklung des<br />

kapitalistischen Produktionsprozesses, er<br />

befördert Überproduktion, Spekulation,<br />

Krisen, überflüssiges Kapital neben überflüssiger<br />

Bevölkerung (...) Das wichtige<br />

aber in ihrem [der Ökonomen, tg] Horror<br />

vor der fallenden Profitrate ist das Gefühl,<br />

daß die kapitalistische Produktionsweise<br />

an der Entwicklung der Produktivkräfte<br />

eine Schranke findet, die nichts mit der<br />

Produktion des Reichtums als solcher zu<br />

tun hat; und diese eigentümliche Schranke<br />

bezeugt die Beschränktheit und den nur<br />

historischen, vorübergehenden Charakter<br />

der kapitalistischen Produktions-weise; bezeugt,<br />

daß sie keine für die Produktion des<br />

Reichtums absolute Produktionsweise ist,<br />

vielmehr mit seiner Fortentwicklung auf<br />

gewisser Stufe in Konflikt tritt.« (MEW<br />

25: 252)<br />

<strong>Marx</strong> hat damit eine Erklärung für eine offensichtlich<br />

paradoxe bzw. zynische gesellschaftliche<br />

Situation hergeleitet: Überakkumulation<br />

von Kapital, brachliegendes<br />

bzw. vernichtetes Kapital, »ungeheure Warensammlung«<br />

einerseits, neben extremer<br />

Armut und gesellschaftlicher Repression<br />

andererseits. Keine andere Wirtschaftstheorie<br />

ist in der Lage, die Gegensätze der<br />

Gesellschaft in ihrem inneren Zusammenhang<br />

so präzise zu beschreiben wie die<br />

marxistische.<br />

Für den Kapitalisten ergibt sich so das Risiko,<br />

zwar den Wert der Arbeitskraft exploitiert<br />

(also in der Ware vergegenständlicht<br />

zu haben), aber den Wert nicht als<br />

Profit realisieren zu können, wenn Waren<br />

nicht mehr zu einem vertretbaren Preis zu<br />

verkaufen sind, bei gleichzeitig vorangetriebener<br />

Produktivkraftentwicklung und<br />

erhöhten Produktionskapazitäten, die zur<br />

Notwendigkeiten führen, »den Markt beständig«<br />

auszudehnen (MEW 25: 253).<br />

Dieser Zwang zum Ausdehnen des Marktes<br />

hat Rosa Luxemburg später in den treffenden<br />

Begriff der »Landnahme des Kapitalismus«<br />

gefasst, der vor allem auf den<br />

Imperialismus bezogen war. Die imperiali-<br />

67


stische Politik im Vorfeld des Ersten Weltkriegs<br />

war demnach vor allem eine Auseinandersetzung<br />

um Absatzmärkte und Rohstoffe,<br />

also Landnahme von vorher<br />

nicht-kapitalistischen Milieus und Bereichen<br />

durch den Kapitalismus, die sein<br />

Überleben sichern.<br />

Allerdings reproduzieren sich Krisenzyklen<br />

selbst, da die Widersprüche eben auch<br />

widerstrebende Faktoren aufweisen. Entscheidend<br />

ist dabei letztendlich eine präzise<br />

Analyse der jeweiligen Krisenfaktoren,<br />

die zu einer Krise geführt haben. Stark verkürzt<br />

lassen sich mögliche Krisenzyklen in<br />

einem Schaubild darstellen, das allerdings<br />

nur die rudimentäre <strong>Marx</strong>sche Argumentation<br />

nachzeichnet. Gerade der volkswirtschaftliche<br />

Gesamtprozess lässt sich nur<br />

andeutungsweise bei <strong>Marx</strong> nachvollziehen,<br />

daher hat gerade die Krisentheorie und die<br />

gesamtwirtschaftliche Perspektive im 20.<br />

Jahrhundert in der marxistischen Theoriebildung<br />

großen Raum eingenommen. Diese<br />

Positionierung ist aber in der marxistischen<br />

Forschung durchaus umstritten.<br />

Auf der folgenden Seite ist die »orthodoxe<br />

Krisenerklärung« nach <strong>Marx</strong> in groben<br />

Zügen in ein Schaubild gefasst. Dabei wird<br />

zwischen der Unternehmens- und Branchenebene<br />

einerseits und der gesamtwirtschaftlichen<br />

Ebene andererseits unterschieden.<br />

Dabei muss man sich klar machen, dass die<br />

<strong>Marx</strong>sche Krisentheorie im Dritten Band<br />

von ihm nicht konsistent durchgehend bearbeitet<br />

werden konnte, sondern der Text<br />

eine nachträgliche Zusammenfassung von<br />

Textteilen durch Friedrich Engels darstellt.<br />

C. Der tendenzielle Fall der Profitrate<br />

auf dem Prüfstand – »Unorthodoxe«<br />

Erklärung von Krisen<br />

Die Profitrate, wie sie von <strong>Marx</strong> entwickelt<br />

wird, ist umstritten, auch was den Stellenwert<br />

in <strong>Marx</strong>’ Kapital angeht. Neben den<br />

Versuchen nachzuweisen, dass der tendenzielle<br />

Fall der Profitrate genauso zutrifft<br />

(wie von ihm beschrieben), gibt es allerdings<br />

auch Positionen, die versuchen, eine<br />

allgemeinere Perspektive zu finden. Eine<br />

gute Argumentation findet sich bei Michael<br />

Heinrich (Heinrich 2004: 148-153;<br />

Heinrich 2001: 327-341).<br />

An dieser Stelle soll nicht in allen Einzelheiten<br />

die wissenschaftlich fundierte Kritik<br />

von Michael Heinrich nachvollzogen, sondern<br />

eine generelle Argumentationslinie<br />

skizziert werden. Wenn die relative Mehrwertproduktion,<br />

der Kampf um Extraprofite<br />

der Grund für den tendenziellen Fall<br />

der Durchschnittsprofitrate sein soll, so<br />

lassen sich drei allgemeine Bedenken und<br />

eine immanente Kritik gegen diese<br />

Schlussweise äußern:<br />

1. Eine Durchschnittsprofitrate setzt an<br />

dem Vergleich einer Warenproduktion,<br />

quasi einer Branche, an. <strong>Marx</strong> Argumentation<br />

versucht also den tendenziellen<br />

Fall der Durchschnittsprofitrate<br />

an einer Kapitalie nachzuweisen und<br />

damit ein allgemeines Gesetz zu begründen.<br />

Man kann an dieser Stelle<br />

fragen, ob diese Verallgemeinerung auf<br />

eine Gesetzlichkeit tatsächlich angenommen<br />

werden kann. Dabei muss beachtet<br />

werden, dass die Krise sich im<br />

Kreislauf zwischen G-W-G’ abspielt<br />

und eine Unterbrechung zwischen Kapitaleinsatz,<br />

Produktion und Kapitalak-<br />

68<br />

Die Weiterentwicklung zum Kapital <strong>Argumente</strong> 3/20<strong>11</strong>


kumulation durch die Distribution der<br />

Ware sein muss. Diese Unterbrechung<br />

kann aber - neben brancheninternen<br />

Gründen der Konkurrenz - durchaus<br />

gerade in der Wechselwirkung zwischen<br />

unterschiedlichen Branchen liegen.<br />

Damit wäre der tendenzielle Fall<br />

der Durchschnittsprofitrate eine<br />

durchaus logische Folgerung, wenn es<br />

um einzelne Branchen und die Konkurrenzverhältnisse<br />

zwischen den Kapitalisten<br />

geht, nicht aber die einzige<br />

Krisenerklärung. Jede Krise müsste<br />

dann gesondert untersucht und geklärt<br />

werden.<br />

2. Eine Krisenerklärung kann nicht allein<br />

aus der Produktionssphäre erklärt<br />

werden, das unterschätzt wesentlich die<br />

Wechselwirkung zwischen den Branchen,<br />

aber auch andere Einflussfaktoren:<br />

Die Sphäre der Distribution (Verteilung<br />

von Waren), die staatliche<br />

Flankierung der wirtschaftlichen Entwicklung<br />

und die Bedeutung des internationalen<br />

Finanzkapitals.<br />

3. Eine weitere wesentliche Einschränkung<br />

ergibt sich durch die Einbeziehung<br />

mehrerer Produktionsbereiche:<br />

Gesellschaftliche Basisinnovationen<br />

(wie es die informationstechnologische<br />

Revolution seit den 1970er Jahren<br />

war), können über einen beschränkten<br />

Zeitraum eine wirtschaftliche Prosperität<br />

erlangen. Das Schaffen neuer<br />

Märkte, die »extensive Akkumulation«,<br />

kann wirtschaftliche Prosperität auch<br />

in anderen Branchen herbeiführen.<br />

Das ändert nichts daran, dass<br />

die beschriebenen Krisenphänomene<br />

Teil kapitalistischer Produktionsweise<br />

sind.<br />

4. Michael Heinrich fügt seiner Erklärung<br />

allerdings auch noch eine immanente<br />

Kritik des tendenziellen Falls der<br />

Profitrate an, die hier - in sehr groben<br />

Zügen - nachvollzogen werden soll.<br />

Betrachtet man sich noch einmal die<br />

Formel der Profitrate, so bleibt eine wesentliche<br />

Relation bei dem tendenziellen<br />

Fall außen vor: Das Verhältnis von<br />

festem Kapital (C) zu variablen Kapital<br />

(V). Es wird nämlich vorausgesetzt,<br />

dass das feste Kapital so stark ansteigt,<br />

dass (V) und damit nachfolgend der<br />

Mehrwert nicht folgen können und dadurch<br />

insgesamt die Profitrate fällt. Das<br />

ist aber nur eine mögliche Entwicklung,<br />

keine zwangsläufige. Michael<br />

Heinrich verdeutlicht das durch eine<br />

mathematische Erweiterung: Er erweitert<br />

den Bruch der Profitrate um V (vgl.<br />

Heinrich 2004: 150):<br />

M M/V M/V<br />

–––––––– = ––––––––– = –––––––<br />

C + V C/V + V/V C/V + 1<br />

Diese mathematisch erweiterte Formel<br />

macht die Bedingung deutlich, unter<br />

der man annehmen kann, dass ein Gesetz<br />

zum tendenziellen Fall der Profitrate<br />

vorliegt. Das Gesetz setzt nämlich<br />

voraus, dass das Verhältnis von festem<br />

Kapital zum Lohn prinzipiell schneller<br />

steigen müsse als die Mehrwertrate und<br />

genau das - so meint Michael Heinrich<br />

- kann, muss aber nicht der Fall sein.<br />

Eine allgemeine Aussage über das Ausmaß<br />

des Steigens von c / v könne es<br />

nicht geben (Heinrich 2004: 151).<br />

Diese Argumentation lässt sich vielleicht<br />

an einem praktischen Beispiel besser nachvollziehen:<br />

69


In einem Unternehmen werden gleichzeitig<br />

neue Maschinen eingesetzt und auch<br />

die wöchentliche Arbeitszeit von 35 auf 40<br />

Stunden ohne Lohnausgleich pro Woche<br />

erhöht. Durch beide Maßnahmen wird das<br />

Verhältnis c/v und das Verhältnis m/v beeinflusst.<br />

Das eingesetzte feste Kapital<br />

steigt, während v sinkt. Allerdings steigt<br />

zugleich auch m an. Daher hängt es für die<br />

Entwicklung der Profitrate davon ab, wie<br />

sich das Verhältnis m / v und c / v+1 gestaltet.<br />

Das kann für den Einzelfall entwickelt<br />

werden, bedeutet aber noch kein allgemeines<br />

Gesetz für den tendenziellen Fall der<br />

durchschnittlichen Profitrate, schon gar<br />

nicht branchenübergreifend. Mit anderen<br />

Worten: Gelingt es dem Kapitalisten, die<br />

absolute Mehrwertsteigerung mit einer relativen<br />

zu verbinden, so kann die Profitrate<br />

trotz Entlassungen wieder steigen. Das ist<br />

allerdings eine Variante, die nicht zuletzt<br />

kulturell beschränkt ist. Das beste Beispiel<br />

für diese Diskussion ist die Wiedereinführung<br />

der 40 Stundenwoche: Diese kann<br />

zwar - wenn sie ohne oder über einen geringen<br />

Lohnausgleich durchgesetzt würde<br />

- kurzfristig eine durchschnittliche Profitrate<br />

in einer Branche stabilisieren, ändert<br />

aber an der Entwicklungsdynamik nur<br />

mittelfristig etwas. Da die Ausweitung des<br />

absoluten Mehrwerts auf natürliche und<br />

kulturelle Grenzen stößt und zudem von<br />

immensen sozialen Folgen und noch stärkerer<br />

Ausbeutung der ArbeiterInnen erkauft<br />

ist, kann es sich bei diesem Weg um<br />

keine wünschenswerte gesellschaftliche<br />

Entwicklung handeln.<br />

Für den weiter gefassten Krisenbegriff wird<br />

die Möglichkeit, dass es zu einem tendenziellen<br />

Fall der durchschnittlichen Profitrate<br />

kommt, nicht ausgeschlossen, nur,<br />

dass das eine nicht-umkehrbare und<br />

zwangsläufige auftretende Entwicklung<br />

sei, wird bestritten. Die Krisenursachen für<br />

(nicht-konjunkturelle, langfristige) Krisen<br />

müssen dann für jede historische Phase neu<br />

geprüft und dargestellt werden - Krisen<br />

sind nicht mehr monokausal zu erklären,<br />

sondern sind differenziert zu begründen,<br />

ohne dass damit die marxistische Argumentation<br />

obsolet geworden wäre. Mit dieser<br />

»Befreiung« von einer monokausalen<br />

Begründung ging auch einher, dass die<br />

weiteren Kapitel des dritten Bandes auf<br />

seine möglichen Krisenmomente überprüft<br />

werden.<br />

Eine zusätzliche Krisenquelle macht dann<br />

vor allem der fünfte Abschnitt zum» zinstragenden<br />

Kapital« deutlich, der vor allem<br />

Grundlagen über das Geldkapital und<br />

Bankenwesen enthält. Gerade für das 21.<br />

Jahrhundert, in dem von einem »finanzgesteuertem<br />

Akkumulationsregime « (Aglietta<br />

2000) die Rede ist, beinhaltet dieses Kapitel<br />

einiges für die Diskussion. Vergleiche<br />

zu den weiteren Ausführungen die sehr<br />

gute Zusammenfassung bei Michael Heinrich<br />

(Heinrich 2004: 154-168).<br />

Der Ausgangspunkt ist dabei simpel und<br />

setzt an der bereits bekannten Formel an<br />

und erweitert diese:<br />

G - G - W - G’ - G«<br />

Ein Geldbesitzer leiht einem Produktionskapitalisten<br />

Geld, das dieser als Kapital in<br />

die Produktion einbringt. Von dem über<br />

die Produktion erzielten Mehrwert bzw.<br />

dem erzielten Profit wird dieser in einen<br />

Zins für den Geldkapitalisten und einen<br />

Unternehmergewinn für den Produktionskapitalisten<br />

aufgeteilt. Ob das verliehene<br />

Kapital danach zurückgezahlt wird oder<br />

70<br />

Die Weiterentwicklung zum Kapital <strong>Argumente</strong> 3/20<strong>11</strong>


nur der Zins ist zunächst unerheblich. Diese<br />

Konstruktion hat wesentliche Folgen auf<br />

das Bewusstsein der beiden Kapitalisten:<br />

Für den Geldkapitalisten stellt sich der<br />

Prozess verkürzt dar als G - G’. Geld wird<br />

hierbei direkt als Kapital eingesetzt. Für<br />

ihn stellt es sich so dar, als »arbeite« sein<br />

Geld. Dies trifft allerdings nicht zu, da sich<br />

der Zins nur aus dem Profit speist, der aus<br />

dem unbezahlten Mehrwert der Arbeiter<br />

stammt. Das Verleihen des Geldes, durch<br />

das es erst zum Kapital wird, belässt das Risiko<br />

jedoch beim Produktionskapitalisten,<br />

denn der Zins kann sich nicht nach dem<br />

tatsächlich realisierten Profit richten, sondern<br />

nach der vor dem Produktionsprozess<br />

abgeschlossenen Vereinbarung.<br />

Der Produktionskapitalist wird selbst den<br />

Eindruck gewinnen, für den Geldkapitalisten<br />

zu arbeiten. Es vollzieht sich also ein<br />

Bewusstseinswandel, den <strong>Marx</strong> drastisch<br />

beschreibt: »Es entwickelt sich daher notwendig<br />

in seinem Hirnkasten die Vorstellung,<br />

daß sein Unternehmergewinn - weit<br />

entfernt, irgendeinen Gegensatz zur Lohnarbeit<br />

zu bilden und nur um bezahlte fremde<br />

Arbeit zu sein - vielmehr selbst Arbeitslohn<br />

ist, Aufsichtslohn, wages of<br />

superintendence of labour, höherer Lohn<br />

als der des gewöhnlichen Lohnarbeiters, 1.<br />

Weil sie kompliziertere Arbeit, 2. weil er<br />

selbst den Arbeitslohn auszahlt. Das seine<br />

Funktion als Kapitalist darin besteht,<br />

Mehrwert, d. h., unbezahlte Arbeit zu produzieren,<br />

und zwar unter den ökonomischsten<br />

Bedingungen, wird vollständig vergessen«.<br />

(MEW 25: 393) Und man könnte<br />

noch für die heutige Zeit ergänzen: Dem<br />

Unternehmer scheint es so, dass der besondere<br />

Arbeitslohn schon dadurch gerechtfertigt<br />

wird, dass er allein das Risiko trägt.<br />

Diese zunächst rein psychologische Beschreibung<br />

ist aber nur eine weniger entscheidende<br />

Folge: Viel wichtiger ist es<br />

<strong>Marx</strong>, die Wirkung des Zinskapitals und<br />

das Zusammenspiel zwischen ihm und<br />

dem Produktionskapital systematisch zu<br />

erklären.<br />

Dabei geht es vordringlich um die Höhe<br />

des Zinsfußes, der - anders als etwa der<br />

durch den Wert vorbestimmte, wenn auch<br />

nicht letztendlich festgelegte Tauschwert -<br />

frei gewählt werden kann. Daher ist auch<br />

die Entwicklung des Zinsfußes sehr viel<br />

mehr an der Frage von Prosperität und<br />

Krise orientiert: »Wenn man die Umschlagszeiten<br />

betrachtet, worin sich die<br />

moderne Industrie bewegt - Zustand der<br />

Ruhe, wachsende Belebung, Prosperität,<br />

Überproduktion, Krach, Stagnation, Zustand<br />

der Ruhe etc., Zyklen, deren weitere<br />

Analyse außerhalb unserer Betrachtung<br />

fällt - so wird man finden, daß meist niedriger<br />

Stand des Zinses den Perioden der<br />

Prosperität oder des Extraprofits entspricht,<br />

Steigen des Zinses der Scheide<br />

zwischen der Prosperität und ihrem Umschlag,<br />

Maximum des Zinses bis zur äußersten<br />

Wucherhöhe aber der Krisis. (...) Der<br />

Zinsfuß erreicht seine äußerste Höhe während<br />

der Krisen, wo geborgt werden muß,<br />

um zu zahlen, was es auch koste.« (MEW<br />

25: 372f.)<br />

Dies hat - im ersten Zugriff - zur Folge,<br />

dass das Verleihgeschäft als eine Art<br />

»Durchlauferhitzer « und Krisenverschärfer<br />

wirkt, eine These, die man mit der<br />

Krise der New Economy und dem Platzen<br />

der Spekulationsblase nur unterstützen<br />

kann. Allerdings betont <strong>Marx</strong> zwei Faktoren,<br />

die den Zuwachs des Zinsfußes vermindern:<br />

71


1. Die Erbschaft von Geld und damit<br />

von potenziellem Geldkapital akkumuliert<br />

sich auf Dauer. Geldbesitzer und<br />

Produktionskapitalisten stützen den<br />

Akkumulationsprozess. Die Konkurrenz<br />

unter den Geldkapitalisten steigt.<br />

Wer sich die sich weiter dramatisch<br />

entwickelnde Ungleichheit in der Verteilung<br />

des Reichtums in den Privathaushalten<br />

der Bundesrepublik in der<br />

heutigen Zeit ansieht, weiß auch, dass<br />

die Umverteilungsmechanismen und<br />

die Rekrutierung des Geldes als Kapital<br />

bestens funktioniert, in den seltensten<br />

Fällen zum Vorteil der privaten Haushalte.<br />

2. Die zweite Entwicklung ist der Entwicklung<br />

des Kreditsystems geschuldet,<br />

das die zunehmende Zentralisierung<br />

von privaten Geldern als Geldkapital<br />

aus allen Klassen der Gesellschaft organisiert<br />

und voran treibt. Auch diese<br />

Entwicklung drücke den Zinsfuß.<br />

Der zweite Faktor wird in dem wesentlichen<br />

Kapitel des Kredit- und Bankenwesens<br />

weitergeführt, das <strong>heute</strong> - in Zeiten<br />

eines global agierenden Finanzsektors zentrale<br />

Bedeutung erlangt.<br />

Auch bezogen auf die Banken führt <strong>Marx</strong><br />

die Analyse auf einen einfachen Kern zurück:<br />

»Mit der Entwicklung des Handels<br />

und der kapitalistischen Produktionsweise,<br />

die nur mit Rücksicht auf die Zirkulation<br />

produziert, wird diese naturwüchsige<br />

Grundlage des Kreditsystems erweitert,<br />

verallgemeinert, ausgearbeitet. Im großen<br />

und ganzen fungiert das Geld hier nur als<br />

Zahlungsmittel, d. h., die Ware wird<br />

verkauft nicht gegen Geld, sondern gegen<br />

ein schriftliches Versprechen der Zahlung<br />

an einem bestimmten Termin.« (MEW<br />

25: 413).<br />

Damit greift ein weiterer Akteur in den<br />

Wechsel von Geld(kapital) ein: »Im Anschluß<br />

an diesen Geldhandel entwickelt<br />

sich die andere Seite des Kreditwesens, die<br />

Verwaltung des zinstragenden Kapitals<br />

oder Geldkapitals, als besondere Funktion<br />

der Geldhändler. Das Borgen und Verleihen<br />

des Geldes wird ihr besondres Geschäft.<br />

Sie treten als Vermittler zwischen<br />

dem wirklichen Verleiher und dem Borger<br />

von Geldkapital. (...) Ihr Profit besteht im<br />

allgemeinen darin, daß sie zu niedrigen<br />

Zinsen borgt, als sie ausleiht.« (MEW 25:<br />

415f.) Dabei gibt es beim Kreditgeld (<strong>heute</strong><br />

Buchgeld genannt) eine Verdoppelung<br />

(vgl. MEW 25: 413ff.): Einerseits wechselt<br />

das tatsächliche Geldkapital seinen Besitzer,<br />

andererseits gibt es einen Schuldschein, der<br />

seinerseits weiter gehandelt werden kann.<br />

Damit entsteht Geld »aus dem Nichts« heraus<br />

und kann ebenso schnell wieder verschwinden,<br />

wenn es beim Borger eingelöst<br />

wird: »Zahle ich 100 Euro Bargeld auf mein<br />

Konto ein, dann befinden sich die 100 Euro<br />

Bargeld in der Kasse der Bank (und können<br />

von der Bank z. B. für einen Kredit verwendet<br />

werden); zugleich wächst mein Kontoguthaben,<br />

über das ich per Scheck oder<br />

Überweisung verfügen kann, um 100 Euro.<br />

Zusätzlich zu den 100 Euro Bargeld, die aus<br />

meiner Tasche in die Kasse der Bank wanderten,<br />

sind also 100 Euro Buch- oder Kreditgeld<br />

auf meinem Konto neu entstanden.«<br />

(Heinrich 2004: 160)<br />

Kreditgeld ist vor allem ein Phänomen des<br />

Bankenwesens, zumal das Bargeld, das eine<br />

Bank halten muss, sehr gering ist. Zudem<br />

kann die Zentralbank frei von Beschränkungen<br />

von einem materiellen Gegenwert<br />

72<br />

Die Weiterentwicklung zum Kapital <strong>Argumente</strong> 3/20<strong>11</strong>


Geld produzieren und damit den Banken<br />

Kredite verschaffen. Durch den Wegfall<br />

der Koppelung an materielle Ressourcen<br />

(Goldreserven) haben die Banken an Flexibilität<br />

gewonnen, ohne dass dies Krisen<br />

verhindern könnte. Diese Flexibilität<br />

schafft zugleich einen neuen Machtfaktor<br />

der Kreditvergabe. Zugang zu Kapital und<br />

die kapitalistische Steuerung funktioniert<br />

zunehmend über Kreditgeld. Dabei müssen<br />

die Geldvermittler selbst Gewinnzusagen<br />

einhalten - das Geschäft stellt sich für<br />

sie ebenso als gefährlich heraus. Die Diskussion<br />

um die Sicherheit bei der Vergabe<br />

von Krediten ist dann auch ein wesentliches<br />

Thema für Banken, wie die Verhandlungen<br />

von Basel I und II zeigen.<br />

Ein zweiter Weg sich Kapital zu schaffen<br />

ist das Aktienkapital. Aktien sind Unternehmensanteile,<br />

mit denen man einen Anspruch<br />

gegen das Unternehmen erwirbt<br />

(Stimmrecht auf der Aktionärsversammlung)<br />

und ein Anteil am Gewinn (Dividende).<br />

Allerdings handelt es sich bei Aktien<br />

nicht um einen festen Unternehmensanteil,<br />

sondern einen relativen: Verkauft man<br />

seinen Anteil, so tut man das zu den aktuellen<br />

marktüblichen Preisen der Börse, die<br />

mit dem wahren Wert des Unternehmens<br />

nichts zu tun haben. Die Börsenkurse richten<br />

sich viel mehr nach den Erwartungen<br />

an die Gewinne des Unternehmens in der<br />

Zukunft. Damit handelt es sich bei Aktien<br />

ebenso um eine Verdoppelung des Kapitals<br />

(vgl. Heinrich 2004: 163): Das an das Unternehmen<br />

fließende tatsächliche Kapital,<br />

das in den Produktionsprozess eingebracht<br />

wird und andererseits das Zahlungsversprechen<br />

an den Aktienbesitzer.<br />

<strong>Marx</strong> fasst die Ansprüche (Kreditgeld, Aktien,<br />

fest verzinsliche Wertpapiere) als «fiktives<br />

Kapital» zusammen. Das fiktive Kapital<br />

»beschleunigt daher die materielle Entwicklung<br />

der Produktivkräfte und die Herstellung<br />

des Weltmarkts« (MEW 25: 457).<br />

Gleichzeitig ist es aber auch der »Haupthebel<br />

der Überproduktion und Überspekulation<br />

im Handel« (MEW 25: 457) und »beschleunigt<br />

die gewaltsamen Ausbrüche<br />

dieses Widerspruchs, der Krisen« (MEW<br />

25: 457): »Das Kreditwesen beschleunigt<br />

daher die materielle Entwicklung der Produktivkräfte<br />

und die Herstellung des Weltmarkts,<br />

die als materielle Grundlagen der<br />

neuen Produktionsform bis auf einen gewissen<br />

Höhegrad herzustellen, die historische<br />

Aufgabe der kapitalistischen Produktionsweise<br />

ist. Gleichzeitig beschleunigt<br />

der Kredit die gewaltsamen Ausbrüche<br />

dieses Widerspruchs, die Krisen, und damit<br />

die Elemente der Auflösung der alten Produktionsweise.«<br />

(MEW 25: 457) Zwar<br />

kann dieses Kapital eingelöst werden, es<br />

materialisiert sich aber nur, wenn Geld aus<br />

dem Zirkulationsprozess herausgenommen<br />

wird. In welcher Höhe es sich materialisiert<br />

bzw. materialisieren kann, ist dabei<br />

nicht festgelegt. Diese Entkoppelung<br />

vom tatsächlichen Wertschöpfungsprozess<br />

führt dazu, dass fiktives Kapital an der Börse<br />

in kürzester Zeit geschaffen, aber auch<br />

vernichtet werden kann. Zur Unsicherheit<br />

führt das vor allem dann, wenn Unternehmen<br />

damit in kurzer Zeit eingeplantes Kapital<br />

für die Investition verlieren oder wenn<br />

sie Aktienwerte als Sicherheit für Kredite<br />

einbringen wollen (vgl. Heinrich 2004:<br />

164). Die Steuerung des fiktiven Kapitals<br />

wird so immer mehr zur Steuerung des Kapitalflusses<br />

allgemein.<br />

Insofern bildet das fiktive Kapital eine weitere<br />

Quelle für kapitalistische Krisen, da es<br />

die Möglichkeit, die Zirkulation von Kapi-<br />

73


tal zu unterbrechen, noch weiter erhöht.<br />

Damit wäre in einer weiter gefassten Krisendefinition<br />

zunächst festzustellen, dass<br />

die Unterbrechung der Kapitalzirkulation<br />

als Krise auftritt: Wie allerdings konkret<br />

die Gründe der Krise sind, lässt sich nur bei<br />

genauerer Analyse der jeweiligen Krise<br />

feststellen.<br />

Festzuhalten bleibt, dass fiktives Kapital<br />

nicht automatisch krisenverschärfend wirken<br />

muss: Es ermöglicht auch, dass in neuen<br />

innovativen Branchen schneller Kapital<br />

zur Verfügung steht. Betrachtet man sich<br />

aber andererseits, wie stark Aktienmärkte<br />

in die Unternehmenssteuerung eingreifen<br />

und Arbeitsplätze vernichten, wird der Unsicherheitsfaktor<br />

und die krisenverschärfende<br />

Wirkung sehr viel höher zu bewerten<br />

sein. So sollte man aus dem Kreditsystem<br />

keinen Heilsbringer machen: »Die dem<br />

Kreditsystem immanenten doppelseitigen<br />

Charaktere; einerseits die Triebfeder der<br />

kapitalistischen Produktion, Bereicherung<br />

durch Ausbeutung fremder Arbeiter, zum<br />

reinsten und kolossalsten Spiel- und<br />

Schwindelsystem zu entwickeln (...); andrerseits<br />

aber die Übergangsform zu einer<br />

neuen Produktionsweise zu bilden, - diese<br />

Doppelseitigkeit ist es, die den Hauptverkündern<br />

des Kredits (...) ihren angenehmen<br />

Mischcharakter von Schwindler und<br />

Prophet gibt.« (MEW 25: 457)<br />

Mit einem weiter gefassten Krisenbegriff<br />

verbindet sich auch, dass sich eine Zusammenbruchstheorie<br />

nicht mehr anbietet:<br />

Eine finale Krise, die durch den tendenziellen<br />

Fall der Durchschnittsprofitrate zustande<br />

kommen soll, ein natürlich ablaufender<br />

Prozess des Zusammenbruchs ist<br />

eben nicht vorhersagbar. Das erhöht den<br />

Druck, politisch aktiv zu werden.<br />

74<br />

Die Weiterentwicklung zum Kapital <strong>Argumente</strong> 3/20<strong>11</strong>


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