Reader zur Tagung - Deutsches Polen Institut
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Dr. Daniel Schümann (Bamberg)<br />
Theorietransit. Deutsche Vermittlung beim Transfer evolutionären Denkens ins geteilte <strong>Polen</strong><br />
Daniel Schümann (geb. 1973) studierte 1994-2000 Slavistik, Germanistik und Anglistik in Bamberg,<br />
Kazan’ und London. Abschluss mit Magister und Staatsexamen. Seit 2000 Wissenschaftlicher Mitarbeiter<br />
und Wissenschaftlicher Assistent an der Universität Bamberg. 2003 Promotion in Slavischer<br />
Philologie und Anglistik. Studien-, Praktikums und Forschungsaufenthalte in Cambridge, London,<br />
Toruń, Warszawa, Kraków, Wrocław und Poznań. Derzeit Arbeit an einem Habilitionsprojekt zu den<br />
Darwin-Diskursen in <strong>Polen</strong>. Mittelbauvertreter im Fakultätsrat der Fakultät »Geistes- und Kulturwissenschaften«.<br />
Mitglied im Verband der Hochschullehrer für Slavistik.<br />
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts<br />
herrschten in <strong>Polen</strong> äußerst ungünstige Bedingungen<br />
für die Entwicklung eines polnischsprachigen<br />
Hochschulwesens. Im russischen<br />
Teilungsgebiet waren die Universitäten<br />
Warschau und Wilna nach dem Novemberaufstand<br />
geschlossen worden, in den von<br />
Preußen annektierten Territorien fehlte überhaupt<br />
eine Hochschule; die zwar traditionsreiche<br />
doch im 19. Jahrhundert nur mehr regional<br />
bedeutsame Jagiellonen-Universität in<br />
Krakau war in ihrer Entwicklung durch kirchliche<br />
und konservative Kreise eingeschränkt.<br />
Dies erklärt, dass neue wissenschaftliche Theorien<br />
wie die Evolutionslehre in <strong>Polen</strong> erst mit<br />
einer Verspätung von etwa einem Jahrzehnt<br />
im Vergleich etwa zu den deutschen Ländern<br />
öffentlich wahrgenommen wurden.<br />
Dass die polnische Reaktion auf die neuen<br />
Ideen nach dieser Phase der Verzögerung<br />
jedoch um so heftiger ausfiel, lässt sich einerseits<br />
mit dem ideologischen Vakuum begründen,<br />
welches nach dem gescheiterten<br />
Januaraufstand von 1863 herrschte. Zum anderen<br />
hat dies auch damit zu tun, dass die<br />
aus der aufstrebenden Weltmacht England<br />
nach <strong>Polen</strong> gelangenden Erscheinungsformen<br />
der Evolutionstheorie in dem geteilten<br />
Land durch eine Art deutsches Prisma rezipiert<br />
wurden, welches die Wirkung potenzierte.<br />
Infolge der geringen Verbreitung von Englischkenntnissen<br />
sowie der zunehmenden<br />
Präsenz polnischstämmiger Studenten an<br />
deutschen Universitäten wurden z. B. die<br />
Ideen von Charles Darwin in <strong>Polen</strong> vor allem<br />
in Form von Zusammenfassungen deutscher<br />
Darwin-Auslegungen bekannt.<br />
Neben deutschen Vulgärmaterialisten wie<br />
Ludwig Büchner und Carl Wilhelm Vogt, die<br />
das Darwin-Bild am Anfang prägten, wurde<br />
ab Beginn der 1870er Jahre vor allem der Jenenser<br />
Zoologe Ernst Haeckel für viele polnische<br />
Positivisten zu einer unangefochtenen<br />
Autorität in Sachen Evolutionstheorie. Hinzu<br />
kamen weitere heute weniger bekannte Autoren<br />
wie Gustav Jaeger und Jürgen Bona<br />
Meyer, die z. T. auch dem Lager der Konservativen<br />
als Gewährsleute dienten. Durch diese<br />
eigentümliche Form des ›Theorietransits‹<br />
sowie durch das Fehlen einer breiten naturwissenschaftlich<br />
gebildeten Elite lässt sich erklären,<br />
dass die Evolutionstheorie in <strong>Polen</strong> von<br />
Anfang an vor allem im Sinne ihrer sozialdarwinistischen<br />
Implikationen aufgenommen<br />
wurde. Insbesondere die Vorstellungen von<br />
›Daseinskampf‹ und natürlicher Selektion<br />
wurden dabei zu einem Katalysator nationaler<br />
Selbstfindungsdiskurse.<br />
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