Handout Böhm - Landentwicklung
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7. Österreichischer Agenda 21 Gipfel, Graz 2012<br />
Projektlounge 5<br />
Mehr Zukunft - mehr Lebensqualität<br />
Neue Anreize für Gemeinden – Vielfalt – attraktive Zuzugsgemeinden<br />
Lebenswerte Grätzln – Grätzlgarten 9<br />
Wien ist eine wachsende Stadt, der in den folgenden zwei Jahrzehnten ein EinwohnerInnenzuwachs von über<br />
20% prognostiziert wird. Diese Entwicklungen werden sich in allen Bereiche in der Stadt auswirken und daher<br />
auch die im internationalen Vergleich aktuell sehr hohe Lebensqualität beeinflussen. Diese Veränderungen den<br />
BürgerInnen zu vermitteln und sie vielmehr noch mit ihnen gemeinsam zu gestalten, stellt die Gemeinde Wien<br />
dabei vor große, aber notwendig zu lösende Herausforderungen, wenn ein attraktives Lebensumfeld für alle<br />
Bevölkerungsgruppen gewährleistet bleiben soll.<br />
Mit der LA21 steht der Gemeinde Wien bereits ein Instrument der BürgerInnenbeteiligung für die nachhaltige<br />
Stadtentwicklung zur Verfügung. Hier können auf der untersten politischen Ebene, den Bezirken, BewohnerInnen<br />
ihre Ideen direkt in Zusammenarbeit mit der Bezirksvertretung in Projekte umsetzen. Ziel ist, die Bezirke und<br />
damit die Lebensqualität gemeinsam nachhaltig weiter zu entwickeln. Schwerpunkte sind dabei die Gestaltung<br />
des Öffentlichen Raumes sowie den guten Dialog zwischen den Generationen und Kulturen vor Ort zu fördern.<br />
Dabei wurde gerade in den letzten Jahren ein Thema in Wien besonders stark - der Wunsch nach<br />
Gemeinschafts- und Nachbarschaftsgärten.<br />
Gemeinschaftsgärten in der Stadt<br />
Die Idee hat ihren Ursprung in der Community Garden-Bewegung, die bereits in den 70ern in New York/USA<br />
entstanden ist. Mittlerweile hat sie sich unter dem Begriff „Urban Gardening“ auch in Europa verbreitet, vor allem<br />
in den großen Hauptstädten wie London, Berlin und Paris. Das Ziel ist, eine Grünfläche in den meist dicht<br />
verbauten städtischen Gebieten gemeinsam mit einer Gruppe von Leuten aus der Umgebung zu erhalten – zu<br />
bepflanzen und damit nutzbar zu machen. Dabei wird meist nach biologischen Grundsätzen gegärtnert und der<br />
Gedanke der gemeinschaftlichen Nutzung und Verantwortung dafür sowie interkulturelle Aspekte betont. Das<br />
Kennenlernen von NachbarInnen spielt dabei eine ebenso wichtige Rolle wie etwas über landwirtschaftliche<br />
Prozesse zu lernen, günstig Bio-Gemüse ernten zu können, etwas mit den eigenen Händen zu tun und wieder zu<br />
wissen, was man isst. Insofern tragen diese Gärten als Begegnungsstätten zur besseren Verständigung<br />
zwischen verschiedensten Gruppen an BewohnerInnen bei, stärken das Zugehörigkeitsgefühl in der Nachbarschaft<br />
und sind gleichzeitig wichtige Lernfelder für gesunde Ernährung. Und ganz nebenbei werden auch<br />
körperliche Aktivitäten im Freien durchgeführt. Ein ideales städtisches Projekt!<br />
Daher fördert die Stadtverwaltung seit 2011 je einen Pilotgarten pro Bezirk mit €3.600,- sowie Beratungs- und<br />
Sachleistungen. Am Beispiel des Grätzlgartens 9 im 9. Bezirk Alsergrund lässt sich darstellen, wie ein solches<br />
Projekt als Brücke zwischen alt und jung, altem Wissen und neuen Interessen, unterschiedlichen kulturellen<br />
Erfahrungen und auch zwischen Stadt und Land entstehen kann und welche Erfordernisse es dafür bedarf.<br />
LA21 Wien-Alsergrund - GRÄTZLGARTEN 9<br />
Wie alles anfing<br />
Der Startschuss für das Projekt 'Gemeinschaftsgarten am Alsergrund' fiel im Herbst 2010 bei einem Initialtreffen<br />
der LA21 und einer Gruppe von InteressentInnen. Es folgten mehrere Monate der – zunächst erfolglosen -<br />
Flächensuche, bis Anfang 2011 endlich ein geeignetes Grundstück gefunden werden konnte, dessen Eigentümer<br />
dem Projekt zumindest nicht abgeneigt waren. Es handelte sich um eine kleine Restfläche am UniCampus des<br />
alten AKH, die zuletzt jahrelang brach gelegen war, und keine gewinnbringende Verwertungsmöglichkeit<br />
darstellte.<br />
Die folgenden Vertragsverhandlungen mit der Bundesimmobiliengesellschaft zogen sich über weitere Monate<br />
hin. Im Herbst 2011 war es dann endlich so weit, dass der Vertrag unterschrieben werden konnte, und die<br />
AgendaGruppe – mittlerweile war der Verein 'Grätzlgarten Alsergrund' entstanden – konnte vor Ort mit den<br />
Arbeiten beginnen.<br />
GärtnerInnen und Förderer<br />
Die Gruppe der GärtnerInnen besteht nun aus 22 Personen (und deren Kindern), die sich 15 'Parzellen' teilen.<br />
Die meisten sind EinwohnerInnen des Alsergrunds, der Rest stammt aus den angrenzenden Bezirken, viele<br />
wohnen in weniger als 10 Minuten Gehdistanz. Das Altersspektrum reicht von Anfang 20 bis Mitte 50, bei den<br />
Kindern von 0-14, das berufliche Spektrum erstreckt sich von der StudentIn über Kreativ- und Sozialberufe bis<br />
zur UniversitätslektorIn und dem Juristen. Große Unterschiede gibt es auch in der gärtnerischen Vorerfahrung:<br />
Während manche schon jahrelang gärtnerisch aktiv waren und nun endlich eine Fläche in der Stadt gefunden<br />
haben, haben anderen noch keine Gartenpraxis, aber umso mehr Neugier und Enthusiasmus, Vieles zu lernen.
GärtnerInnen beim Umgraben im Herbst<br />
Die Zaunmontage will geübt sein!<br />
Wir bauen drei große Hochbeete<br />
Töpfe am Zaun als Einladung für PassantInnen
Die Grube fürs Frühbeet wird später mit Pferdemist gefüllt<br />
Saatgut tauschen und Pflänzchen setzen<br />
Auch in Kübeln und Töpfen kann man pflanzen<br />
Es wächst und wächst – Der Garten Anfang Juni
Die Finanzierung des Projekts wird in erster Linie durch Mitgliedsbeiträge sichergestellt, für die Erschließung der<br />
Fläche und die Grobarbeiten konnten wir eine Förderung der Stadt Wien (MA42) in Anspruch nehmen.<br />
Zahlreiche Sponsoren, die uns mit Werkzeug und Pflanzmaterial unterstützten, konnten gewonnen werden,<br />
Kleinprojekte wurden zusätzlich mit Mitteln aus dem Agenda-Budget gefördert.<br />
Ziele und persönliche Motivationen<br />
Ein Garten, mitten in der Stadt – ein Stück Land, das mit anderen zusammen selbständig bewirtschaftet werden<br />
kann, das die Möglichkeit bietet, landwirtschaftliche Prozesse auszuprobieren und zu verfolgen, und am Ende<br />
vielleicht auch noch eine Ernte abwirft: Das war die ursprüngliche Idee. Zahlreiche andere Gartenprojekte waren<br />
Vorbild, und der Wunsch, ebenso etwas auf die Beine zu stellen, eine starke Motivation. Es sollte ein Ort werden,<br />
der vom Tun geprägt ist, und diejenigen prägt, die auf ihm und an ihm werken. Ein Ort, der Bestand hat und<br />
vielen Menschen ermöglicht sich zu beteiligen und selbst mit zu gestalten.<br />
Es ist schwieriger als gedacht<br />
Herausforderungen gab es von Anfang an: organisatorische, technische, soziale und natürlich persönliche.<br />
Von der organisatorischen Seite war mit der Flächensuche erst der Anfang geschaffen: es folgten unzählige<br />
Telefonate und E-Mails, es war Überzeugungsarbeit zu leisten, der Vertrag musste ausverhandelt, ein Verein<br />
gegründet und Förderansuchen geschrieben werden. Und das alles unter einem gewissen Zeitdruck, einerseits<br />
durch Fristen, andererseits durch die Abläufe im Gartenjahr. Die technischen Problemstellungen waren dank<br />
unseres handwerklichen Engagements überschaubar: der Zaun war schnell aufgebaut, auch die Hochbeete<br />
ließen sich bewältigen; einzig an der Verpflanzung eines größeren Baumes wären wir fast gescheitert und<br />
mussten professionelle Hilfe in Anspruch nehmen.<br />
Die 'echte' Herausforderung stellt nach wie vor das soziale Miteinander dar. Wenn über 20 Menschen mit teils<br />
sehr unterschiedlichen Vorstellungen und Ansprüchen aufeinandertreffen und in basisdemokratischen Prozessen<br />
Entscheidungen treffen sollen, sind Konflikte aller Art vorprogrammiert. Oft sind es die vermeintlichen<br />
Kleinigkeiten, die eine Situation zum Kippen bringen können, manchmal auch die grundlegenden Fragen, die<br />
sich einfach nicht befriedigend klären lassen. Dabei ist jedeR einzelne gefordert, mit größtmöglicher Offenheit<br />
und Toleranz den anderen und ihren Ideen und Vorstellungen zu begegnen – die persönliche Herausforderung<br />
für jedeN von uns. Das Gärtnern – der eigentliche Inhalt unseres Tuns – wurde dabei zeitweise zur Nebensache,<br />
und wir hoffen, dass die nächste Saison stärker davon geprägt sein wird, als von den zahllosen anderen<br />
Aufgaben!<br />
Erste Erfahrungen<br />
Die Kommunikation innerhalb der Gruppe (und nach außen) und das Verfolgen eines gemeinsamen Ziels sind<br />
entscheidend für das Gelingen eines solchen Projekts. Das gemeinsame Ziel, die übergeordnete Idee, sollte<br />
dazu von Anfang an für alle klar erkennbar sein, um spätere Grundsatzdiskussionen zu vermeiden. Klare<br />
Spielregeln für alle Mitwirkenden mögen zeitweise anstrengend sein oder übertrieben erscheinen, helfen aber<br />
ebenfalls, mögliche Konflikte schnell in den Griff zu kriegen.<br />
Gleichzeitig sollen sich alle Beteiligten möglichst frei 'bewegen' können und ihre Ideen und Vorstellungen<br />
umsetzen können, denn daraus resultiert ein guter Teil der Zufriedenheit, die man bei einem solchen Projekt<br />
erlangen kann.<br />
Wünsche an die Politik<br />
Das Programm der Wiener Stadtregierung – ein Gemeinschaftsgarten pro Bezirk – ist ein schöner Anfang, aber<br />
sicher nicht mehr als das. In den letzten Monaten haben wir die Erfahrung gemacht, dass die Nachfrage immer<br />
größer wird, immer mehr Menschen Lust bekommen, sich zu beteiligen, aber das Engagement der Stadt kaum<br />
über ein Bekenntnis und einen kleinen Fördertopf hinausgeht.<br />
Gleichzeitig sind die Erwartungen an die umgesetzten Projekte sehr groß. Gemeinschaftsgärten werden nicht nur<br />
als grünes Aushängeschild in einer Stadt mit schwindendem Grünraum benutzt, sie sollen auch als Problemlöser<br />
und Katalysator für soziale Spannungen herhalten. Das ist mit Sicherheit nicht mehr als Wunschdenken, denn<br />
mehr als einen kleinen Beitrag für einen sehr kleinen Teil der Bevölkerung können die Gärten unter den<br />
derzeitigen Gegebenheiten nicht leisten.<br />
Es bräuchte mehr! Es braucht mehr Flächen, nicht nur die unverwertbaren Reste, mehr personelle Ressourcen<br />
zur Betreuung und Moderation und mehr Förderung, um allen gesellschaftlichen Schichten den Zugang zu<br />
ermöglichen. In anderen Metropolen (z.B.: Paris) erwirbt die Stadt selbst Grundstücke, um sie Stadtgärtnern zur<br />
Verfügung zu stellen ein Zustand, von dem wir derzeit nur träumen können. Bleiben wir realistisch, und hoffen,<br />
dass das Thema – unabhängig von politischen Entwicklungen – präsent bleibt, und dazu beiträgt, das Stadtbild<br />
von Morgen mit zu prägen.<br />
Sebastian Schubert - Verein Grätzlgarten 9<br />
graetzlgarten.alsergrund@gmx.at<br />
http://graetzlgarten9.weebly.com/<br />
Ulli Böhm – Verein LA21 Wien<br />
boehm@la21wien.at<br />
http://la21wien.at/