29.04.2014 Aufrufe

Ein Magazin über Uhren und Schmuck - Nansen & Piccard

Ein Magazin über Uhren und Schmuck - Nansen & Piccard

Ein Magazin über Uhren und Schmuck - Nansen & Piccard

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

»Newton lag falsch«<br />

Der Philosoph Jim Holt<br />

beschäftigt sich gern<br />

mit den ganz großen Fragen<br />

des Lebens. Seine<br />

Meinung zur Zeit: nichts<br />

als Illusion<br />

Interview<br />

Lars Jensen<br />

Fotos<br />

Roderick<br />

aichinger<br />

Herr Holt, Sie haben den Bestseller<br />

Why Does the World Exist? geschrieben.<br />

Da können Sie sicher auch die<br />

Frage beantworten: Was ist Zeit?<br />

Jim Holt: Diese Frage stellen sich derzeit mehr<br />

Wissenschaftler denn je. Scheint ein Trend<br />

zu sein. An der New York University, der besten<br />

Philosophie-Fakultät der englischsprachigen<br />

Welt, beschäftigen sich ganze<br />

Abtei lungen mit dem Problem der Zeit.<br />

Warum ist die Suche nach der Erklärung<br />

der Zeit so faszinierend?<br />

Weil Zeit ein verdammtes Mysterium ist! Die<br />

Wissenschaft sagt, dass unsere Wahrnehmung<br />

von Zeit eine Illusion ist. Aber sie ist<br />

die bedeutendste Koordinate unseres Lebens,<br />

des subjektiven Seins. Wir schwimmen<br />

– oft gegen unseren Willen – im Strom<br />

der Zeit unserem Tod entgegen, dem großen<br />

Nichts.<br />

Was ist so falsch an unserer Zeitwahrnehmung?<br />

Wir glauben im Prinzip immer noch Isaac<br />

Newton. Der behauptete, dass Zeit gleichmäßig<br />

vergeht, dass ihr ein kontinuierlicher<br />

Prozess zugr<strong>und</strong>e liegt, in dem aus Zukunft<br />

erst Gegenwart, dann Vergangenheit wird. Der<br />

menschliche Sinn für Zeit funktioniert<br />

allerdings ganz anders. Wenn wir jung sind,<br />

vergeht die Zeit langsam. <strong>Ein</strong> Sommer dauert<br />

eine Ewigkeit. Psychologen haben dieses<br />

Phänomen untersucht <strong>und</strong> die Faustregel<br />

aufgestellt, dass wir bereits mit unse rem achten<br />

Lebensjahr zwei Drittel unserer subjektiven<br />

Lebenszeit hinter uns gebracht haben.<br />

So stark verändert sich unsere Wahrnehmung.<br />

Lässt man 20-Jährige schätzen, wie lange<br />

eine Minute dauert, liegen sie meist<br />

richtig. 60-Jährige irren sich oftmals um bis<br />

zu 30 Sek<strong>und</strong>en. Es war nicht nur ein Witz,<br />

als die Schriftstellerin Fran Lebowitz einmal<br />

sagte: »Wenn du die 50 <strong>über</strong>schreitest, ist<br />

alle drei Monate Weihnachten.«<br />

Wissen wir, wie das Gehirn die Zeit misst?<br />

Es gibt im mittleren Gehirn ein Neuronen-<br />

Cluster, das die Zeit registriert. Wenn uns<br />

etwas Traumatisches passiert, ein Unfall zum<br />

Beispiel, wird diese Hirnregion mit Dopamin<br />

<strong>über</strong>schwemmt. Es kommt zu enormen<br />

Verzerrungen in der Wahrnehmung. <strong>Ein</strong>e<br />

Sek<strong>und</strong>e kann sich wie eine Minute anfühlen.<br />

Also lag Newton falsch.<br />

So ist es. Der Fluss der Zeit hat Stromschnellen<br />

<strong>und</strong> Dämme. Viele Experten behaupten<br />

sogar, dass die Zeit <strong>über</strong>haupt nicht fließt,<br />

sondern statisch ist – wie ein gefrorener See.<br />

Wie bitte?<br />

Die Idee, Zeit in Vergangenheit <strong>und</strong> Zukunft<br />

einzuteilen mit der Gegenwart als Brücke<br />

dazwischen, ist eine Illusion, die unser Leben<br />

vereinfacht.<br />

Aber wir sitzen doch gerade jetzt zusammen.<br />

Wie definieren Sie sonst Gegenwart?<br />

Das ist eine Funktion im Gehirn, die Informationen<br />

<strong>und</strong> Sinnesdaten eines Zeitraums<br />

von etwa drei Sek<strong>und</strong>en sammelt <strong>und</strong> erlebbar<br />

macht. Der Psychologe William James<br />

nannte dies die »trügerische Gegenwart«.<br />

Aha.<br />

Schon <strong>Ein</strong>stein bewies, dass die <strong>Ein</strong>teilung der<br />

Zeit in früher, jetzt <strong>und</strong> demnächst vom<br />

Blickwinkel des Individuums abhängt. Wenn<br />

ich in den Sternenhimmel blicke, sehe ich<br />

Licht, das vor Tausenden Jahren produziert<br />

wurde. Daraus schloss <strong>Ein</strong>stein, dass alle<br />

Zeit statisch ist. Alle Momente sind gleichwertig,<br />

egal ob sie von unserem Standpunkt<br />

aus in der Vergangenheit oder Zukunft liegen.<br />

Was bedeutet das für uns?<br />

Tja, zunächst einmal wendet sich diese Erkenntnis<br />

total gegen unsere tägliche Erfahrung<br />

mit der Zeit. Selbst <strong>Ein</strong>stein konnte für<br />

sich keinen Nutzen aus dem Gedanken ziehen.<br />

Er versuchte es trotzdem: Als sein bester<br />

Fre<strong>und</strong> Michele Besso starb, schrieb er der<br />

Witwe einen Brief. Zeit sei eine <strong>Ein</strong>bildung,<br />

Michele würde in alle Ewigkeit existieren.<br />

Bessos Witwe solle sich vom Konzept der Zeit<br />

trennen. <strong>Ein</strong> schwacher Trost für die Frau.<br />

Wochen später starb auch <strong>Ein</strong>stein.<br />

Warum ist das menschliche Gehirn<br />

nicht in der Lage, das Konzept von<br />

der statischen Zeit zu akzeptieren?<br />

Die Wissenschaft versucht, die objektiven<br />

Gr<strong>und</strong>lagen zu erklären, aber für unsere<br />

Gehirne ist es einfacher, der subjektiven Wahrnehmung<br />

zu folgen. Viele Elemente unserer<br />

Lebenswelt, wie der Gedanke, dass wir dem<br />

Tod entgegenleben, sind primitive Konzepte.<br />

Aber sie helfen uns zu funktionieren.<br />

Haben Sie schon mal versucht, so zu<br />

leben, als sei die Zeit statisch?<br />

Dann wäre ich wohl noch unausstehlicher,<br />

als ich ohnehin bin. Der Oxford-Professor<br />

Derek Parfit erfand aber mal den Charakter<br />

»Herr Zeitlos«. Wenn »Herr Zeitlos« kurz<br />

vor dem Tod steht, so die Idee, empfindet er<br />

keine Angst, denn alle vergangenen Erlebnisse<br />

sind für ihn genauso bedeutsam wie<br />

die künftigen. Egal ob man noch zehn<br />

Sek<strong>und</strong>en oder zehn Jahre zu leben hat.<br />

Eigentlich ein schöner Gedanke.<br />

Klingt jedenfalls aufbauender als: Unsere<br />

mensch lichen Körper nehmen einen sehr<br />

begrenzten Raum des Universums ein <strong>und</strong><br />

eine ebenso begrenzte Zeit.<br />

Berücksichtigen Sie Ihre Erkenntnisse im<br />

Alltag?<br />

Nein. Es gibt zwei Sorten Philosophen: Personen<br />

wie Wittgenstein, deren Denken jede<br />

Handlung bestimmt. Er konnte nicht mal<br />

eine Suppe bestellen, ohne <strong>über</strong> die Korrektheit<br />

seiner Sprache zu reflektieren. Dann<br />

gibt es Personen wie David Hume, der zu<br />

radikalen Erkenntnissen kam: Das Selbst existiert<br />

nicht, genauso wenig Moral. Er lebte<br />

ein unbeschwertes Leben, ohne ständig <strong>über</strong><br />

die Konsequenz seiner Arbeit nachzudenken.<br />

Zur zweiten Kategorie gehöre ich.<br />

Fürchten Sie den Tod?<br />

Das Universum existierte 13,8 Milliarden<br />

Jahre ohne mich. Dann hatten meine Eltern<br />

Sex, <strong>und</strong> zufällig fand dieses eine Spermium<br />

den Weg zur Eizelle. Wenn dieses Spermium<br />

von einem anderen <strong>über</strong>holt worden wäre,<br />

wäre eine andere Person auf die Welt gekommen.<br />

Dass wir existieren, ist ein höchst unwahrscheinlicher<br />

Gewinn in der genetischen<br />

Lotterie des Universums. Irgendwann verschwinden<br />

wir wieder.<br />

Wann begann die Zeit?<br />

Vor 13,8 Milliarden Jahren fand das Ereignis<br />

statt, das wir Urknall nennen: eine Explo sion,<br />

in der sich aus dem Nichts das Universum<br />

68 Stil Leben

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!